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Seite 1 Martin Urbanek Cara, die Weihnachtsfichte Eine traurige Geschichte ohne absehbares Ende Zum Teil frei erfunden

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Martin Urbanek

Cara, die Weihnachtsfichte

Eine traurige Geschichte ohne absehbares Ende

Zum Teil frei erfunden

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in Sonntagmorgen knapp vor Weihnachten wird mir immer in Erinnerung bleiben.

Es war ein milder und sonniger Tag, ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Die Sonnenstrah-len drangen mit voller Kraft durch die großen Glasflächen der Türe, durch die man vom Schlafzimmer aus auf einen kleinen Balkon und weiter in den Garten mit seinen vielen immergrünen Eiben und Lorbeergewächsen blicken konnte.

Knapp nach neun Uhr stand ich auf und duschte mich abwechselnd kalt und warm, um wieder so richtig munter zu werden. Dann ging ich hinunter in die Küche, wo bereits die beiden Kinder Anna und Felix bei Orangensaft und belegten Brötchen versammelt wa-ren.

Anna war schon 12 Jahre alt und es war nicht schwer sie zu überzeugen, dass man den wundervollen Wintertag für einen Spaziergang im Freien nützen sollte. Bei dem neun-jährigen und stets mit Spielen auf allen erdenklichen elektronischen Geräten und Comic-Heften beschäftigten Felix war schon mehr Überzeugungsarbeit erforderlich, um ihn zu einem Sonntagsausflug zu bewegen.

Schließlich hatten Anna und ich die Oberhand gewonnen und ich verstaute Kinder und Winterbekleidung im Fahrzeug. Dann fuhren wir eine dreiviertel Stunde lang bei unge-wöhnlich geringem Verkehrsaufkommen über Autobahnen und Landstraßen durch eine schneefreie, ja fast frühlinghafte Landschaft. Die Wiesen und Felder mit ihren Winter-saaten leuchteten in den warmen Farben, die ihnen die Strahlen der tiefstehenden Sonne verliehen.

Schließlich erreichten wir über eine geschotterte Straße einen Parkplatz inmitten eines Mischwaldes weit abseits bedeutender Verkehrswege und menschlicher Siedlungen. Die Gegend war mir schon seit meiner Kindheit bekannt. Meine Eltern hatten mich oft dorthin auf ihren Wochenendausflügen mitgenommen. Später suchte ich diesen entlegenen Landstrich gerne auf und ging stundenlang den kleinen Bach entlang, wenn ich in Lebenskrisen, aus Kummer oder einfach nur Ruhe suchend mit meinen Gedanken allein sein wollte.

Ich erinnere mich auch noch, dass Anna mir voller Begeisterung von der Schule und der neuen Deutsch- und Geschichtelehrerin erzählte, die es immer verstand, den Unterricht möglichst kurzweilig und spannend zu gestalten. Felix blieb immer etwas zurück, er trappte schweigend vor sich hin, hielt oft inne und war in das Display seines Smartpho-nes vertieft, wobei er das Rätselspiel, das er früh am Morgen begonnen hatte, zu lösen versuchte.

Wir waren schon fast eine Stunde lang auf dem schmalen Weg den Wasserlauf entlang gewandert, als die Stille jäh durch das ferne Kreischen von Motorsägen und dumpfen Schlägen gestört wurde. Als wir weitergingen, gelangten wir zu einer Lichtung, auf der

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Forstarbeiten im Gange waren. Die Arbeiter in orangen Anzügen waren damit beschäf-tigt, die Bäumchen einer Jungwaldkultur aus kleinen und dicht gesetzten Tannen und Fichten zu roden. Auf der Forststraße war ein großer Lieferwagen geparkt, neben dem ein Mann eine Maschine bediente, mit der die gefällten Bäumchen in Netze aus Kunst-stoff eingewickelt wurden.

Der Boden war von Spänen bedeckt und über der gesamten Flur lag der Geruch nach frischem Harz. Ein Arbeiter stopfte Äste und ganze Bäumchen, die wegen ihres schiefen Wuchses nicht zu gebrauchen waren, in den Trichter einer Häckselmaschine, die das Holz zerkleinerte und automatisch in Plastiksäcke abfüllte.

Der Vorarbeiter der Truppe erklärte mir, dass die Tannen und Fichten für den Verkauf als Weihnachtsbäumchen in der Gartenabteilung eines großen Baumarktes bestimmt waren. Dieser hatte eine Lieferung nachbestellt und jetzt knapp vor dem großen Fest müsse es rasch gehen. Die Bäumchen sollten spätestens am folgenden Tag zu Beginn der Öffnungszeit des Baumarktes im Handel sein.

Ich betrachtete die gesunden und regelmäßig gewachsenen Bäumchen. Dann hielt ich vor einer kleinen Fichte inne. Diese war von kräftigem Wuchs und einer vollendeten Gestalt, wie ich sie in all den Jahren auf Märkten für Weihnachtsbäume noch nicht gesehen hatte. Ein sanfter Wind bewegte die Äste des Bäumchens und mir war, als wollten sie mir etwas sagen.

Ich berührte einen der seidig glatten Zweige an einem frischen Austrieb aus dem letzten Frühjahr, als plötzlich einer der Forstarbeiter neben mir die Kettesäge anwarf. In weni-gen Minuten würde das wunderschöne Bäumchen unter kreischendem Lärm umfallen und gleich danach über den Waldboden zur Bindemaschine geschleift werden. Dann würde man es wie Schlachtvieh in einem Massentransport in die Großstadt führen. Im besten Fall könnte es als wenig beachteter Statist für ein paar flüchtige Festtage und mit billigem Klunker behangen seine Schönheit in einem grausamen Todeskampf ein letztes Mal schweigend zur Schau stellen.

Das schlimmste Szenario war gar nicht auszudenken: Wenn die kleine Fichte bis zum Kassaschluss am Weihnachtsabend noch immer keinen Abnehmer gefunden hätte, würde man sie in eine Häckselmaschine stopfen und binnen Sekunden zu Biomasse verarbeiten. Über mehrere Jahre hinweg hatte das Bäumchen in einem erfolgreichen Ringen ums Überleben extremer Witterung und Schädlingen getrotzt und sich prächtig entfaltet. Wenn man es gewähren ließe, hätte es gewiss eine große Zukunft vor sich und könnte alle derzeit lebenden Menschen um Generationen überleben … als stolzer Baum mit einer Wuchshöhe von bis zu 150 Fuß inmitten eines Hochwaldes.

Noch nie zuvor hatte ich das Fällen eines Baumes oder das Sterben einer Pflanze von dieser Seite betrachtet. Über Holz, Schnittblumen, Obst und Gemüse hatte ich niemals nachgedacht, all das als selbstverständlich in Kauf genommen.

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Angesichts der immer näher kommenden Kettensägen handelte ich spontan, ging hin-über zum Vorarbeiter und fragte ihn, ob ich das Bäumchen nicht selbst mitnehmen könne. Unverzüglich bejahte er meine Frage. Schon öfter hatten sich Spaziergänger mit einem solchen Anliegen an ihn gewandt.

„Machen wir!“, rief er. „Ein Bäumchen können wir gerne abschreiben. Wir verbuchen es einfach als nicht absetzbar wegen des schlechten Wuchses. Wir hätten es genauso gut in den Häcksler stecken können. Kostet 25 Dollar, am Christbaummarkt hätten Sie mit Steuer dafür mindestens das Doppelte bezahlt.“

Schon deutete er einem der Arbeiter, die kleine Fichte für mich zu fällen. Ich hielt ihn zurück und fragte, ob ich das Bäumchen nicht auch mit Wurzelballen haben könne, um es nach den Weihnachtsfeiern im Garten einpflanzen zu können.

„Hmm, fürs Ausgraben müsste ich Ihnen aber 20 Dollar extra verrechnen“, antwortete er. Ich hatte den Eindruck, dass er mich für einen Spinner hielt. Trotzdem waren bereits drei Arbeiter mit Spaten und Krampen unterwegs, um das Bäumchen für mich auszugra-ben. Das war kein leichtes Unterfangen, da die Fichten ein flaches und weit verzweigtes Wurzelwerk besaßen und zum Ausgraben ein beachtlicher Aushub notwendig war. Der Wurzelballen war daher auch ziemlich groß.

Zwei Arbeiter hoben das Bäumchen auf und trugen es hinüber zum Lieferwagen, wo sie Fichte und Wurzelballen in ein Netz einspannen. Nachdem ich letztendlich 60 Dollar bezahlt hatte, fuhren sie mich, die Kinder und das Bäumchen mit dem Lieferwagen zum Parkplatz, wo ich mein Fahrzeug abgestellt hatte. Dort angekommen legte ich die hinte-ren Sitze meines Vans um und stopfte den Baum von hinten in den Kofferraum.

Auf der Fahrt nach Hause beriet ich mit Anna und Felix, wie wir mit dem Bäumchen verfahren sollten. Einerseits wollten wir einen Christbaum, andererseits musste man die Fichte sobald als möglich im Garten einsetzen. Felix verstand meine Handlungsweise zunächst gar nicht. Letztendlich willigte aber auch er ein, dass wir das Bäumchen unver-züglich einpflanzen sollten. Deshalb gab es im Wohnzimmer diesmal keinen Weih-nachtsbaum. Allerdings hatten wir im Keller eine Girlande aus hundert bunten Lämp-chen, mit der wir das Bäumchen während der Festtage schmücken konnten.

Als wir daheim angekommen waren hob ich im Garten nicht weit von der Hausmauer und einer mit Steinplatten gepflasterten Sitzecke eine großzügige Grube aus. So würden wir das prachtvolle Bäumchen vom Küchenfenster und von der Sitzgarnitur aus zu jeder Jahreszeit bewundern können.

Anna und Felix wollten dem Baum unbedingt einen Namen geben. Anna bestand auf einem weiblichen Namen und sie schlug dafür „Cara“ vor: “ ‚Cara‘, das bedeutet auf Spanisch so viel wie ‚die Kostbare‘ „ erklärte sie uns mit stolzer Miene. Felix war sofort einverstanden und so bekam die Fichte eine wertschätzende Bezeichnung, die Anna im Spanischunterricht gelernt hatte.

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Nachdem der kleine Nadelbaum mit ausreichend Wasser aus dem Gartenteich und einem Gemisch aus Garten- und Pflanzerde fest im Boden verankert war, umhüllten wir ihn mit der Lichterschleife und hängten drei Christbaumkugeln an seine Zweige.

Am Weihnachtsabend erstrahlt das Bäumchen in voller Lichterpracht. Da es immer noch sehr mild war, verbrachten wir, mit warmen Jacken ausgestattet, mehr als eine Stunde im Garten und erfreuten uns an dem ungewohnten Anblick.

Die Feiertage waren bald vorbei und es folgten einige frostige Wochen mit Kälte und Schnee. Im Frühjahr warteten wir gespannt, ob das Bäumchen austreiben würde, als Zeichen, dass es das Umpflanzen und den Winter gut überstanden hatte. Unsere Geduld wurde belohnt, als im Mai die Knospen an den Enden der Zweige unter den kräftigen Strahlen der Frühlingsonne aufplatzten und innerhalb von nicht einmal zwei Wochen gesunde, zarte, hellgrüne, mehr als 5 Inch lange Vorschübe daraus hervorwuchsen.

Ich hatte Cara lieb gewonnen und hätte gerne mehr mit ihm kommuniziert. Ich war näm-lich mittlerweile überzeugt, dass sie so etwas wie Gefühle entwickeln konnte, die sie aber aufgrund ihrer Pflanzennatur nicht mitteilen konnte. Trotzdem erzitterte das Bäum-chen immer, wenn ein Windstoß kam, und ich redete mir ein, es wolle sich auf diese Weise bei mir bedanken oder etwas aus seinem Erfahrungsschatz erzählen, der sich aus seinen Erlebnissen auf der Waldlichtung ergab. Gewiss hatte es Tiere und auch Spaziergänger gesehen, die sich unbeobachtet wähnten und deren schöne oder auch finstere Geheimnisse nur den Pflanzen in ihrer Umgebung bekannt waren. Immer am selben Platz gefangen war es bei Tag und Nacht und zu jeder Jahreszeit geduldig den Unbilden einer Witterung ausgesetzt gewesen, wie sie sich unserer Vorstellungskraft entzieht.

Die Jahre zogen dahin und Cara wuchs, wobei sie jährlich mehr von ihrer formvollen-deten Gestalt entfaltete und uns damit erfreute. Anfangs konnte ich es kaum erwarten, bis sie jeden Mai ihre frischen Austriebe zeigte. Dies verstand ich jedes Mal als ein stummes Zeichen an uns Menschen, dass es ihr wohl erging und sie sich bei ihren Rettern bedanken wolle. Manchmal, wenn ich im Sommer im Schaukelstuhl saß glaubte ich, im Spiel aus Licht und Schatten in den Zweigen des Bäumchens freundliche und mir wohl-gesonnene Gesichter erkennen zu können.

Doch schließlich und noch einmal viele Jahre später nahmen die Ereignisse eine Wen-dung, wie ich sie selbst in meinen finstersten Träumen nie befürchtet hätte. Die Kinder waren schon längst aus dem Haus. Von Anna wusste ich nicht mehr, wo auf der Welt sie sich aufhielt und wie es ihr erging. Wir waren nicht im Streit auseinandergegangen. Sie hatte einen erfolgreichen Journalisten kennengelernt und zog mit ihm durch alle Kon-tinente dieser Erde. Irgendwann hatte sie aufgehört, mich anzurufen und mir zu schrei-ben. Felix war schon über 30 und immer noch mit seinem Studium der Medizin beschäf-tigt. Nur zu ganz besonderen Anlässen besuchte er mich, wobei ich ihm Geld überlassen musste, damit er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.

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Meinen Arbeitsplatz als Architekt hatte ich verloren, nachdem die Agentur, in der ich beschäftigt war, Konkurs anmelden musste. Nun verdiente ich meinen Unterhalt mit Ent-würfen von Einfamilienhäusern für Kunden, die meist um jeden Cent feilschten, da sie selbst mit Krediten überlastet waren. Eine schmerzhafte und fortschreitende Gelenkser-krankung hatte mir Einiges von meiner einstigen Mobilität und Fröhlichkeit genommen und so verbrachte ich die meiste Zeit in Haus und Garten, wo ich auch meinen Arbeits-platz hatte.

Von meinem Arbeitszimmer im ersten Stock aus konnte ich die massiven Äste der Fichte beobachten, wie sie im Wind wie die Pendel eines archaischen Uhrwerks an meinem Fenster hin und her schwangen und mir jede Sicht und Sonne raubten.

Aus dem kleinen Fichtchen Cara war ein riesiger Baum geworden, dessen Spitze weit über das Dach des Hauses hinausragte. Bei jeder Luftbewegung schlugen die Äste gegen Mauern und Dachrinne, wobei ganz unterschiedliche und merkwürdige Klänge entstan-den, die mich oft des Nachtens aufschreckten, als kämen sie von fremden Eindringlin-gen.

Das flache Wurzelwerk des Nadelbaumes hatte sich ausgebreitet und die Steinplatten der Sitzecke aus den Verankerungen gerissen. Dort verweilte ich auch kaum mehr, weil der einst so wundervolle Platz, wo ich einige der schönsten Stunden meines Lebens ver-bracht hatte, selbst an Sonnentagen im eiskalten Schatten der mächtigen Fichte lag.

Die einst so vollendete Gestalt des Baumes hatte sich gewandelt. Die unteren Äste waren abgestorben und hatten den Blick auf einen nackten Stamm freigegeben, dessen Umfang beachtliche Ausmaße angenommen hatte. Die Stummel der abgebrochenen Äste ragten wie knöcherne Finger aus der schuppigen Rinde heraus. Die durstigen Wurzeln entzo-gen dem Boden die Feuchtigkeit und ließen in weitem Umkreis keinen weiteren Pflan-zenwuchs zu.

Die Gier des Baumes nach Raum, Licht und Nahrung war unermesslich geworden und diese lebensspendenden Ressourcen wollte er in seinem Revier, dem Garten, mit nichts und niemandem mehr teilen. Stattdessen stellte er seine Dominanz durch Unmengen an dürren Nadeln zur Schau, die er täglich abschüttelte und die eine Menge an zusätzlicher Arbeit verursachten.

Eines Tages war ich bei Freunden eingeladen. Auf ihrem Anwesen herrschten Sonne und Fröhlichkeit. Es war ein stetiges Kommen und Gehen von Gästen, die sich zwischen den niedrigen Stauden und Sträuchern des Gartens unterhielten oder sich bei einem Schlummer in der herbstlichen Sonne entspannten.

Wieder zu Hause angekommen umfing mich die Düsternis und Einsamkeit des eigenen Anwesens und mir kam vor, als wäre all diese Schwermut im Laufe der Zeit langsam angeschwollen. Die Tristesse, so hatte es den Anschein, war in demselben Ausmaß ge-wachsen, in dem auch die Fichte immer höher geworden war.

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Als wollte der Baum meine Gedanken unterstreichen, wirbelte er sein Astwerk in einem brausenden Windstoß durcheinander. Dann verstummte die Fichte Cara, wobei die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ein flüchtiges Grinsen in ihr finsteres Gehölz malten.

In der darauffolgenden Nacht konnte ich kaum schlafen und es plagten mich beklem-mende Gedanken. Wie schön wäre es doch, wenn ich noch einmal in meinem Leben eine Wende herbeiführen und mich aus der allmählich angehäuften Düsterkeit meines Daseins befreien könnte. Ich sehnte mich nach mehr Licht, Frohsinn und menschlicher Zuwendung, wie ich es im Garten meiner Freunde beobachtet hatte.

Während ich diesen Gedanken folgte, tauchte in meiner Vorstellung immer wieder das Bild des übermächtigen Nadelbaums auf. Wie befreiend und hell wäre doch der Anblick des Gartens ohne diesen Koloss. Immer, wenn ich mir diese Frage stellte und nach einem Ausweg aus dem Dilemma rang, vernahm ich von draußen das Schlagen und Klappern der Fichte als wollte sie mir etwas dazu mitteilen.

Schließlich im Morgengrauen fasste ich einen radikalen Entschluss und setzte mich an meinen Arbeitsplatz vor den großen Bildschirm meines Standcomputers. Durch das Fens-ter konnte ich das Wedeln von Caras Ästen beobachten. Mir schien als wolle sie gegen meine unumstößlichen Absichten mit aller Vehemenz aufbegehren.

Ich zog die Jalousie herunter, um jeden Blickkontakt mit dem Nadelgehölz zu vermeiden und drehte das Licht an. Sodann begab ich mich auf die Internetseiten des „Amtes für Baumschutz“ und füllte ein Antragsformular auf Baumentfernung aus. Das Fällen eines Baumes bedurfte der Zustimmung der zuständigen Behörde. Als alle Daten eingetragen waren, zögerte ich mit dem Versenden des Formulars und besorgte mir einen Kaffee aus der Küche.

Noch einmal ließ ich die Ereignisse der letzten Jahrzehnte an mir vorbeiziehen: wie Alles an einem wunderschönen Wintertag begonnen hatte und was in der Zwischenzeit mit mir selbst und dem kleinen, wohlgeformten Bäumchen geschehen war. Wie sehr hatten wir uns aneinander gewöhnt und nicht bemerkt, dass eine heile Welt gemächlich und Stück für Stück in sich zusammenbrach.

Ich war mittlerweile vereinsamt und der Nadelbaum hatte seine ursprüngliche Anmut und den Respekt vor allen anderen Kreaturen in seinem Gartenrevier verloren.Nun ver-breitete er in seiner Umgebung zunehmend Düsternis und Häme. Trotzdem: Einen sol-chen Baum, der über so lange Jahre gewachsen und gesund geblieben war konnte man doch nicht ohne lange abzuwägen per Knopfdruck beseitigen lassen.

Andererseits: wenn ich nicht jetzt den Mut aufbrächte, eine Entscheidung mit schweren Folgen zu treffen, dann würde die Misere niemals ein Ende finden. Ich musste es tun, auch wenn ich mir die Leere, die dieser Baum hinterlassen würde, zunächst nicht vorstel-len konnte.

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Ich atmete durch und klickte auf den Formularschalter „Absenden“. In diesem Augenblick donnerte ein mächtiger Ast der Fichte gegen die Dachrinne, als wollte er sie aus der Verankerung reißen. Ich erschauderte wie nie zuvor in meinem Leben und meine Hände begannen zu zittern. Ich musste sofort weg von hier!

Noch in der Hausbekleidung rannte ich hinunter in die Garage und war erleichtert, als sich endlich beide Tore geöffnet hatten. Hastig verließ ich das Grundstück und fuhr eine Zeit lang ohne bestimmtes Ziel vor Augen durch die anliegenden Stadtviertel. Schließlich landete ich in einem Park und setzte mich auf eine Bank. Wieviel Zeit ich dort verbracht hatte erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich eine Kreditkarte dabei hatte und die folgenden zwei Nächte in einem ziemlich heruntergekommenen Hotel ver-brachte. Tagsüber lief ich ziellos durch die Straßen und kehrte gelegentlich in Lokalen ein, um eine schnelle Mahlzeit oder einen Kaffee zu bestellen.

Als ich wieder zu Hause ankam und die neuen Benachrichtigungen am Standcomputer überprüfte, fand ich bereits eine Antwort auf mein Schreiben an das Amt für Baumschutz vor. Die Beamten hatten sich für den darauffolgenden Dienstag angekündigt und wollten mein Ansuchen dahingehend prüfen, ob durch die übergroße Fichte tatsächlich eine Gefahr für Personen und Sachwerte ausging. Damit hatte ich den Antrag ja begründet.

In der Zwischenzeit hoffte ich insgeheim immer noch, dass mein Ansuchen abgelehnt würde und die von mir angeführten Gründe für eine Vollstreckung des Todesurteils an Cara nicht ausreichen würden. Bis dann am Dienstagmorgen zwei Männer zu Besuch kamen. Sie hatten meinen Antrag und eine ganze Menge sonstiger Zettel und Pläne bei sich.

Sie begutachteten den Baum und ich zeigte ihnen die Schäden an Hausmauer, Dach-rinne und Sitzecke, die durch die Äste und Wurzeln verursacht worden waren. Verständ-nisvoll folgten sie meinen Ausführungen und genehmigten die Fällung des Nadelbaums, allerdings mit der Auflage, dass ich eine Ersatzpflanzung vornehmen müsse.

Da der Vollzug des Urteils wegen einiger morscher Äste als sehr dringlich angesehen wurde, dauerte es nur zwei Tage, bis die Arbeiter einer Gärtnerei mit Seilen und Ketten-sägen bewaffnet anrückten. Nun hatte ich mich mit der Situation abgefunden und ich hatte jegliche Angst vor weiteren Protesten des Nadelbaums gegen meine Entscheidung verloren. Der Baum hatte in den letzten Tagen keine Zeichen des Unmuts von sich gege-ben und ich war froh, dass Alles noch an diesem Tag vorbei sein würde.

Trotzdem verkroch ich mich im Haus, als die Arbeiter die Seile anlegten und mit ihren Maschinen die alte Fichte bestiegen. Das Kreischen der Motorsägen dauerte nicht ein-mal eine ganze Stunde lang. Dann kam einer der Männer zu mir ins Wohnzimmer und meldete, dass sie nun ihr Werk vollbracht hätten. Mit klopfendem Herzen folgte ich ihnen ins Freie.

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Was ich nun sah, grub sich tief in mein Gedächtnis ein und ich werde diesen Anblick Zeit meines Lebens nie mehr vergessen:

Der Platz an dem die Fichte gestanden hatte war mit frischen Tannennadeln, Rindestü-cken und Zweigen übersäht. Es roch nach frischem Holz. Wie wild durcheinanderge-würfelt lagen massive Trümmer des Stammes und dicker Äste in der Gegend umher. Frisches Harz quoll aus tausenden Wunden, wo die Rinde, die Haut des Baumes, schwer verletzt worden war. Überall fanden sich tiefe Einschnitte.

Was ich da sah gemahnte mich an die Bilder eines grauenhaften Massakers, das Extremisten unlängst in einem Dorf irgendwo in Afrika angerichtet hatten und von dem Fotos auf Internetseiten zu sehen waren, bevor man sie nach sehr kurzer Zeit wieder entfernte. Dann wieder stiegen in mir Erinnerungen an eine Führung durch einen Schlachthof auf, den unser Architekturbüro neu gestalten hätte sollen. Dort waren die Gliedmaßen und Eingeweide von Tieren herumgelegen, die ich wenige Minuten davor noch vor der Schlachtstraße in Erwartung ihres gewaltsamen Todes beobachtet hatte.

Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich mir einredete, dass täglich hunderttausende Bäume auf der Welt gefällt würden und dass Holz und Biomasse als hochwertige und begehrte Rohstoffe vor allem bei ökologisch denkenden Natur- und Umweltschützern hoch im Kurs lagen. Also musste ich wohl irren, wenn ich die Taten an meiner Fichte mit den alltäglichen brutalen Gemetzeln in Schlachthöfen gleichsetzte.

Der Rest war rasch erledigt. Die Arbeiter schlichteten die Holztrümmer auf einen Lastwa-gen und stopften Zweige, Späne und Rindenstücke in Säcke.

Als ich wieder allein war, schmerzte mich die gähnende Leere, welche die Arbeiter hinterlassen hatte. Ich versuchte, alle trüben Gedanken nicht an mich herankommen zu lassen und fuhr in eine nahegelegene Baumschule, um ein Bäumchen für eine Ersatz-pflanzung zu besorgen. Meine Wahl fiel auf eine wunderschöne, exotische Araukarie, die von der Form her einem kleinen Nadelbäumchen sehr ähnlich war. Der Verkäufer garantierte mir, dass es sich um eine kleinwüchsige Art handelte, ein wahres Schmuck-stück für kleinere Gärten.

Ich setzte die Araukarie ein und fand sehr rasch Wohlgefallen an dem ungewohnten Anblick. Nun konnte ich daran gehen, die Schäden, welche die Fichte verursacht hatte, zu beheben.

In der Abenddämmerung ging ich noch einmal hinaus in den Garten und betrachtete die einschneidenden Veränderungen, die dieser Tag mit sich gebracht hatte. Der Himmel mit seinen Schäfchenwolken erstrahlte noch in den rötlichen Farben der bereits hinter dem Horizont versunkenen Sonne. Jetzt konnte man den Himmel wieder gut beobachten, die Äste der Fichte hatten einen derartigen Ausblick verwehrt. Nun würde ich auch mein Leben neu gestalten, die Zukunft erschien mir plötzlich so farbenfroh und frei, wie das herrliche Firmament über mir.

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Zunächst freute ich mich über das neue Bäumchen. Nun würde es ganz prächtig gedei-hen, die Fichte warf ja keine Schatten mehr. Dann schweifte mein Blick hinüber zu dem finstern Baumstumpf, wo noch am Morgen der Nadelbaum gestanden hatte.

Und plötzlich fand ich mich wieder an jenem wundervollen Wintermorgen. Felix spielte auf seinem Smartphone und Anna schilderte mit glänzenden Augen, was sie unter der Woche in der Schule erlebt hatte. Dann fühlte ich das zarte Zweiglein des Nadelbau-mes, als ich es zum ersten Mal anfasste. Und ich feierte noch einmal Weihnachten mit Jacke in einer milden Winternacht und erfreute mich an diesem von uns geretteten Weih-nachtsbaum mit seiner Lichtergirlande und seinem Christbaumschmuck.

Ich dachte an das sanfte Zittern der Zweige, an die liebevollen und dankbaren Gesich-ter, die ich in den gleißenden und sich stets verändernden Flecken des Sonnenlichts auf seinen Zweigen erkannt hatte. Die kleine Fichte hatte mich in den schönsten Tagen mei-nes Lebens begleitet und sie hatte mitansehen müssen, wie mir das Schicksal im Laufe der Zeit immer mehr zusetzte. Der Baum der am Morgen in kurzer Zeit gefällt worden war, war nicht mehr derselbe, den ich einst in den Garten gepflanzt hatte. Und ich selbst war nur noch ein trauriger Schatten dessen, was ich einmal war und was ich mir für die Zukunft erhofft hatte. Die Pflanze war nun von ihrer Hässlichkeit und Arroganz befreit, in die sie hineingewachsen war. Ich hingegen musste einen Weg finden, den Rest des Lebens für mich erträglich zu gestalten.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren brach ich in Tränen aus. Nun musste es besser werden, unbedingt. Ein zweites Leben hat die Natur nicht vorgesehen und man ist geradezu verpflichtet aus dem, was einem davon noch übrigbleibt, das Nützlichste herauszuholen, für sich selbst und für seine Mitmenschen! So fasste ich die allerbesten Vorsätze und ging getrost und innerlich gefestigt die Treppe hinauf in mein Schlafzimmer.

Seit diesem Abend sind wieder viele Jahre vergangen und ich nehme mir gerade die Zeit, meine Erinnerungen am Standcomputer einzutippen. Von Anna habe ich nie wieder etwas erfahren und Felix wohnt jetzt in Monterey, tausende Meilen von hier entfernt. Einmal im Jahr, zu Weihnachten ruft er mich an. Geld braucht er jetzt keines mehr. Er hat eine gute Position als Chirurg an einem renommierten Krankenhaus gefunden.

Meine Gelenksbeschwerden sind schlimmer geworden und ich verbringe die meiste Zeit im Rollstuhl. Ein Behindertenaufzug und eine Hilfskraft, die mehrmals in der Woche ver-beikommt, ermöglichen es mir, weiterhin im Haus zu wohnen und manchmal Aufträge von Kunden mit geringem Budget auszuführen.

Ja, die Vorsätze alles noch einmal umzukrempeln hatte ich, damals an dem Tag, als ich glaubte, mich für alle Zeit von Cara, meinem unbezähmbar gewordenen Weihnachts-bäumchen getrennt zu haben. Aus all den Vorsätzen ist nichts geworden, auch nicht aus der kleinen Araukarie, der Ersatzpflanzung für die alte Fichte. Sie hat einen sehr strengen Winter nicht überstanden.

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Was mir aber in meiner Einsamkeit hilft, bei Tag und bei Nacht, ist das immer wieder-kehrende Klopfen und Schlagen an die Hausmauer vor meinem Arbeitszimmer und ein Kratzen an der Dachrinne, als wären dort Äste, die der Wind bewegt. Manchmal er-kenne ich vor meinem Fenster flüchtige Schatten die wie ein riesiges Pendel, aber mit hoher Geschwindigkeit hin- und hergleiten.

Wenn ich dann hinauskomme in den Garten sehe ich einen Baumstumpf vor mir, den letzten Überrest von Cara, der mich an sehr schöne Zeiten erinnert. Was mich besonders freut ist, dass der Strunk im Laufe der vielen Jahre nicht vermorscht ist. In den inneren Jahresringen entdecke ich immer wieder freundliche Gesichter. Die Muster bei den jün-geren Ringen ergeben stets ein hämisches und bedrohliches Grinsen.

Welche Grimassen würde wohl das restliche Holz ergeben, wenn man die Fichte hätte wachsen lassen? Dann streiche ich mit der Hand ganz langsam über den Stumpf mit all seinen Jahresringen, die in denen auch mein eigenes Leben begraben liegt und spreche das Holz mit Caras Namen an.

Ganz selten ist es mir, als käme aus der Erde, tief unten zwischen den abgestorbenen Wurzeln mit schwacher Stimme mein Name zurück: „John!“

Ja, so haben sie mich genannt und dann merke ich, dass die alte Weihnachtsgschichte von Cara und mir immer noch nicht ganz zu Ende ist.