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Christian Schäfer
Patientencompliance – Messung, Typologie, ErfolgsfaktorenDurch verbesserte Therapietreue Effi zienzreserven ausschöpfen
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1. Aufl age 2011
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Lektorat: Guido Notthoff
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-8349-2483-4
Executive Summary
Ziel der Studie war es, den Erfolg der Patientencompliance moglichst umfassend zu er-
klaren. Zur Erforschung des Complianceverhaltens von Patienten wurden Wirkungszusam-
menhange zwischen den folgenden acht Konstrukten eingehend untersucht: Verhaltensab-
sicht zum Complianceverhalten, Verhaltenskontrolle, Therapiewirksamkeit, Therapiebar-
rieren, emotionale Einstellung zur Therapie, Gesundheitsmotivation, Vertrauensverhaltnis
zum Arzt und soziales Patientenumfeld. Ferner wurden im Rahmen einer situativen Analy-
se kontextbezogene Faktoren des Patienten, der Krankheits- und Therapiesituation beruck-
sichtigt. Die gewahlte Konzeptualisierung bietet erstmals tiefere Einblicke in Verhaltenszu-
sammenhange, welche final in die Therapietreueentscheidung eines Patienten munden.
Im Rahmen der empirischen Untersuchung wurden anhand eines standardisierten Frage-
bogens deutschlandweit 1.035 Bluthochdruckpatienten im Zeitraum September 2007 bis
Januar 2008 zu ihrem Therapietreueverhalten befragt. Die Untersuchung mundet in dem
Ergebnis, dass alle gewahlten Determinanten einen erheblichen Beitrag zur Erklarung des
Therapietreueerfolgs eines Bluthochdruckpatienten leisten konnen. Der mit Abstand stark-
ste Impuls auf die Patientencompliance geht von der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle
eines Patienten aus, gefolgt von den Therapiebarrieren, dem Vertrauen zum Arzt und dem
sozialen Patientenumfeld. Weiterhin konnte nachgewiesen werden, dass die Kausalbezie-
hungen der einzelnen Determinanten von der Kontextvariable des Geschlechts und dem
Versicherungsstatus erheblich beeinflusst werden. Durch die empirische Uberprufung des
Modellbezugsrahmens und die Berucksichtigung eines situativen Analyseansatzes konnten
geeignete Stellgroßen fur ein wirksames Compliance-Management identifiziert werden.
In einem zweiten Schritt wurde die erhobene Stichprobe hinsichtlich der strukturellen Uber-
einstimmung einzelner Verhaltensmuster uberpruft. Im Rahmen der vorgenommenen Pati-
entensegmentierung ließen sich vier Patientencluster ableiten, welche sich durch signifikante
Niveauunterschiede in den Gestaltungsdeterminanten auszeichneten. Der Hauptunterschied
zwischen den Patiententypologien besteht darin, dass compliante Patienten im Vergleich zu
non-complianten uber eine signifikant hohere Gesundheitsmotivation und Selbstwirksam-
keit verfugen. Die wahrgenommene personliche Betroffenheit durch die Krankheit ist bei
vi
therapietreuen Patienten deutlich hoher, wodurch in der Folge ein intensiveres Informati-
onsverhalten zum Thema Bluthochdruck zu beobachten ist. Non-compliante Patienten sind
hingegen gering involviert und informieren sich verhaltnismaßig wenig uber ihre Erkran-
kung, was sich in einem niedrigeren medizinischen Wissensstand und erheblich großeren
Problemen der Therapieintegration in den Lebensalltag niederschlagt.
Weiterhin ist es in der vorliegenden Studie gelungen, mit dem Patienten Compliance Index
(PCI) ein innovatives Messinstrumentarium zur standardisierten Messung des Niveaus der
Therapietreue zu entwickeln. Der Definition des PCI folgend verhalten sich 38% der Stu-
dienteilnehmer compliant, 43% partiell-compliant und die restlichen 19% non-compliant.
Der Pharmaindustrie steht mit dem entwickelten PCI ein neues Instrument zur Verfugung,
um ein klar uberlegenes Therapieergebnis eines Medikaments im Real-Life-Cycle wissen-
schaftlich fundiert nachzuweisen.
Auf Grundlage eines konservativen, durchschnittskostenbasierten Schatzansatzes wurde eine
gesundheitsokonomische Evaluation der Kosten durch unzureichende Compliance von Hy-
pertonikern vorgenommen. Diese summieren sich auf dem Indikationsgebiet der Hypertonie
fur das deutsche Gesundheitssystem auf rund Euro 1 Mrd. pro Jahr. Aus gesamtwirtschaft-
licher Perspektive erscheint es angesichts dieser enormen Summe angebracht, an gezielten
Interventionsmaßnahmen zum Abbau der Opportunitatskosten der Non-Compliance zu ar-
beiten.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Studienergebnisse konkrete Interventions-
punkte eines effektiven Compliance-Managements im Therapieverlauf aufzeigen. Die dis-
kutierten Handlungsempfehlungen und Stellgroßen, welche das Complianceverhalten de-
terminieren, bieten vielfaltige Moglichkeiten fur eine zielgruppenspezifische Patientenan-
sprache der vier identifizierten Patiententypen. Die klaren Untersuchungsergebnisse sind
eine Aufforderung an die Entscheidungstrager im Produktmanagement pharmazeutischer
Unternehmen, an Verantwortliche in Politik und Krankenversicherungen und auch an Arz-
te und weitere Beteiligte unseres Gesundheitswesens: Die identifizierten Barrieren mussen
abgebaut werden. Nur so kann die Grundlage fur eine hohere gesamtgesellschaftliche Pati-
entencompliance geschaffen werden.
Geleitwort
Das deutsche Gesundheitswesen unterliegt in den letzten Jahren drastischen Veranderun-
gen. Aufgrund immer engerer finanzieller Spielraume der Gesundheitsversorgung werden
zunehmend Fragen nach bisher nicht erschlossenen Effizienzreserven gestellt. So verspricht
man sich von einer gesteigerten Therapietreue (engl. Compliance) des Patienten bessere
Behandlungserfolge bei gleichzeitig geringeren Kosten.
Fur viele Gesundheitsmarktteilnehmer avanciert daher das Therapietreuemanagement des
Patienten sowohl zum kritischen Erfolgsfaktor fur den Behandlungserfolg des Patienten als
auch fur den eigenen Markterfolg. So versprechen sich Arzte und Krankenversicherungen
durch eine bessere Compliance gesundere und zufriedenere Patienten. Auch die pharma-
zeutische Industrie hat ein starkes Interesse an einer hohen Therapietreue. Sie verspricht
sich durch eine hohe Therapietreue eine nachhaltig verbesserte Lebensqualitat des Patien-
ten, was sich positiv in durch das Institut fur Qualitat und Wirtschaftlichkeit im Gesund-
heitswesen (IQWIG) vorgenommenen Nutzenbewertungen von innovativen Medikamenten
niederschlagen sollte.
Haufig sind Misserfolge im Bereich des Therapietreueverhaltens multikausal determiniert.
Vor diesem Hintergrund scheint eine exaktere Kenntnis der Einflussfaktoren auf das The-
rapieverhalten im Patientenalltag unabdingbar.
Die Studie von Dr. Schafer greift das Phanomen der Patientencompliance auf. Gestutzt
auf eine umfassende Betrachtung der Triebkrafte der skizzierten Diskussion entwickelt er
zunachst eine theoretische Basis fur das allgemeine Verstandnis dieses Phanomens. Hierbei
greift er auf ein breites Spektrum verhaltenswissenschaftlicher Theorien zuruck.
Hierauf aufbauend wird ein sieben Facetten der Therapietreue berucksichtigendes Verhal-
tensmodell konzeptualisiert. Die Konfrontation des theoretischen Modells mit den empiri-
schen Daten erfolgt auf Basis einer eindrucksvollen Datengrundlage. Durch Kooperationen
mit der Deutsche Herzstiftung e.V., 66 Apotheken und 32 Selbsthilfegruppen ist es dem
Verfasser gelungen, Daten von mehr als 1.000 Bluthochdruckpatienten zu gewinnen.
viii
Die Ergebnisse der Studie von Dr. Schafer zeigen Defizite der Behandlungssituation auf,
weisen aber auch auf konkrete Losungsmoglichkeiten hin, wie man den Patienten zu einem
besseren und konsequenterem Umgang mit seiner Therapie bewegen kann. Der Verfasser
legt interessante Erkenntnisse im Hinblick auf Determinanten und Niveaubetrachtung der
Patientencompliance vor. Uberraschend ist in diesem Zusammenhang insbesondere das Er-
gebnis, dass sich eine von Vertrauen in den behandelnden Arzt gepragte Behandlungssitua-
tion insbesondere auf die Therapietreue von Mannern positiv auswirkt.
Erwahnenswert ist schließlich die Typologisierung der Patienten anhand ihrer Therapie-
treue. Es konnte vier trennscharfe Patientencluster herausbilden werden, die es Professio-
nellen aus dem Gesundheitswesen ermoglichen, chronisch Kranke moglichst bedarfsgerecht
im Umgang mit ihrer Therapie anzusprechen und zu unterstutzten. Weiterhin gelingt es
dem Verfasser auf Grundlage eines robusten gesundheitsokonomischen Schatzansatzes, die
Kosten unzureichender Therapietreue fur das Indikationsgebiet des Bluthochdrucks zu er-
mitteln. Die okonomische Analyse verdeutlicht eindrucksvoll die Dimension des Problems
unzureichender Therapietreue.
Insgesamt kann der Studie von Dr. Schafer bescheinigt werden, dass sie ein aktuelles Thema
theoretisch fundiert und empirisch mit großter Sorgfalt untersucht. Die auf diese Weise
erzielten Erkenntnisse sind in dieser Form als neu einzustufen. Daher ist die Lekture dieses
Buches fur Wissenschaftler und Praktiker aus dem Gesundheitswesen gleichermaßen zu
empfehlen. Insofern ist der Arbeit eine weite Verbreitung zu wunschen.
Univ.-Prof. Dr. rer. pol. Frank Huber, Universitat Mainz
Univ.-Prof. Dr. med. Hellmut Oelert, Deutsche Herzstiftung e.V.
Vorwort
Die vorliegende Studie ist am Lehrstuhl fur ABWL und Marketing von Univ.-Prof. Dr.
Frank Huber an der Mainz School of Management and Economics (MSME) der Johannes
Gutenberg-Universitat Mainz entstanden. Nicht zuletzt aufgrund der Unterstutzung einer
Reihe von Personen war es moglich, das vorliegende Buch zu verfassen.
Fur die erhaltene Unterstutzung danke ich in besonderer Weise Herrn Univ.-Prof. Dr. Frank
Huber, der mich an die interessanten und hochaktuellen Gebiete der Versorgungsforschung
und des Compliancemanagements herangefuhrt hat. Er stand mir als Forderer meiner Ar-
beit stets hilfreich zur Seite.
Ferner mochte ich mich bei dem gesamten Lehrstuhlteam fur ihre konstruktiven fachli-
chen Anregungen und die sonstige Unterstutzung meines Forschungsprojekts bedanken. Es
ist mir wichtig, namentlich Johannes Vogel, Dr. Isabel Matthes, Vanessa Vetter, Imma
Baumgartner sowie Frederik Meyer hervorzuheben.
Besonderer Dank gilt außerdem der Deutsche Herzstiftung e.V., welche die Durchfuhrung
des Projekts durch die Vergabe eines Jahresstipendiums im Rahmen der Initiative”Stipen-
dien heute fur die Medizin von morgen“ unterstutzt hat. Insbesondere mochte ich mich bei
dem Vorstandsmitglied, Univ.-Prof. Dr. med. Hellmut Oelert und der stv. Geschaftsfuhre-
rin, Renate Horst, fur ihr Engagement bedanken.
Weiterhin bedanke ich mich bei dem Prasidenten des Bundesverbandes der Pharmazeu-
tischen Industrie (BPI), Dr. Bernd Wegener, fur fruchtbare Diskussionen zu moglichen
Auswirkungen der Forschungsergebnisse auf die Marketingpraxis.
Mainz, im Juni 2010
Dr. Christian H. Schafer
Email: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis xvii
Tabellenverzeichnis xix
Abkurzungsverzeichnis xxiii
1. Gesundheitsokonomische Relevanz der Patientencompliance 1
1.1 Therapietreue des Patienten als Effizienzreserve im Gesundheitswesen . . . . 1
1.2 Auswirkungen eines veranderten Rollenverstandnisses des Patienten . . . . . 4
1.3 Offene Fragen der Versorgungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.4 Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2. Grundlagen der Patientencompliance 15
2.1 Bluthochdruck - Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.1.1 Definition und Klassifikation der Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . 16
2.1.2 Therapieformen der Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2 Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.2.1 Compliance - Ein Begriff im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.2.2 Compliance versus Non-Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.2.3 Ausmaß und Folgen der Non-Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.2.4 Methoden der Compliancemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.3 Bestandsaufnahme der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.3.1 Merkmale des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.3.2 Merkmale des Vertrauens in den Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.3.3 Merkmale der Erkrankung und des Therapieschemas . . . . . . . . . 44
2.3.4 Ubersicht einzelner Studien zur Patientencompliance . . . . . . . . . 48
xiii
xiv Inhaltsverzeichnis
3. Konzeptualisierung eines Modells zur Erklarung von Complianceverhal-
ten 53
3.1 Grundlagen und Ausrichtung des Modellbildungsprozesses . . . . . . . . . . 53
3.2 Zur Tauglichkeit des Health-Belief-Modells als theoretische Basis . . . . . . . 54
3.2.1 Berucksichtigung der gestiegenen Aktivitat des Patienten im medizi-
nischen Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.2.2 Selektion von theoretischen Ansatzen zur Erklarung von Complian-
ceverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
3.3 Erklarung der Patientencompliance mit Hilfe des Health Belief Modells . . . 70
3.3.1 Einfluss der Einstellung auf das Complianceverhalten . . . . . . . . . 71
3.3.2 Einfluss der Gesundheitsmotivation auf das Complianceverhalten . . 78
3.3.3 Einfluss des Vertrauensverhaltnisses zum Arzt auf das Compliance-
verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3.3.4 Einfluss der sozialen Norm auf das Complianceverhalten . . . . . . . 86
3.4 Kontext fur die Untersuchung situativer Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . 90
3.4.1 Krankheitsbezogene Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
3.4.2 Soziodemografische Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
3.5 Zusammenfassung der Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
3.6 Vorgehensweise bei der Spezifizierung der Modellkonstrukte . . . . . . . . . . 100
4. Empirische Uberprufung der unterstellten Wirkungszusammenhange 115
4.1 Methodische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
4.1.1 Wahl einer geeigneten Methode zur Modellschatzung . . . . . . . . . 115
4.1.2 Grundlagen von Strukturgleichungsmodellen . . . . . . . . . . . . . . 117
4.1.2.1 Abgrenzung verschiedener Schatzverfahren . . . . . . . . . . 120
4.1.2.2 PLS-Methode - Schatzung linearer Strukturgleichungsmodelle124
4.1.2.3 Evaluation der Gute auf Messmodellebene . . . . . . . . . . 126
4.1.2.4 Evaluation der Gute auf Strukturmodellebene . . . . . . . . 128
4.1.2.5 Gruppenvergleich - Einfluss moderierender Variablen . . . . 131
4.1.3 Die Clusteranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
4.1.3.1 Prozessschritte der Clusteranalyse . . . . . . . . . . . . . . 133
4.1.3.2 Auswahl des Fusionsalgorithmus und des Abbruchkriteriums 135
4.2 Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
4.2.1 Studien- und Fragebogendesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
4.2.2 Datenerhebung der Hauptuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Inhaltsverzeichnis xv
4.2.3 Struktur der Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.3 Zur Eignung der Modellkonstrukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
4.3.1 Verhaltensabsicht gg. therapietreuem Verhalten . . . . . . . . . . . . 152
4.3.2 Barrieren der Therapieintegration in den Lebensablauf . . . . . . . . 154
4.3.3 Wirksamkeit von therapiekonformem Verhalten . . . . . . . . . . . . 156
4.3.4 Affektive Einstellungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
4.3.5 Wahrgenommene Verhaltenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
4.3.6 Gesundheitsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
4.3.7 Vertrauensverhaltnis zum Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
4.3.8 Soziale Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
4.4 Wirkungszusammenhange des Basismodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
5. Untersuchung moderierender Effekte des Complianceverhaltens 177
5.1 Krankheitsinvolvement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
5.2 Behandlungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
5.3 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
5.4 Krankenversicherungsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
6. Patientenmarktsegmentierung und Patienten-Compliance-Index 193
6.1 Ergebnisse der Clusteranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
6.2 Patienten-Compliance-Index (PCI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
6.3 Beschreibung der Patiententypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
6.3.1 Der selbstbewusst compliante Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
6.3.2 Der engagiert partiell-compliante Patient . . . . . . . . . . . . . . . . 204
6.3.3 Der unmotiviert partiell-compliante Patient . . . . . . . . . . . . . . 206
6.3.4 Der unsichere non-compliante Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
7. Gesundheitsokonomische Evaluation des Schadens der Non-Compliance 209
8. Wie Versorgungsforschung Transparenz schafft 211
8.1 In Pharmaunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
8.2 In gesetzlicher und privater Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 215
8.3 In der Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
9. Implikationen fur das Compliance-Management 221
xvi Inhaltsverzeichnis
9.1 Managementorientierte Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
9.2 Forschungsorientierte Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
10.Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse 241
A. Verweise 247
A.1 Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
A.2 Codierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
A.3 Eignung der Modellkonstrukte - Moderatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
A.4 Ubersicht der Wirkungszusammenhange in den Moderatormodellen . . . . . 269
A.5 Gruppenvergleich zwischen Online- und Offlinestichprobe . . . . . . . . . . . 278
Literaturverzeichnis 281
Abbildungsverzeichnis
1 Strategien der medikamentosen Hochdruckbehandlung . . . . . . . . . . . . . 19
2 Bedeutungsanderung des Begriffs Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3 Schematische Darstellung unterschiedlicher Compliancemuster; es ist jeweils
eine Verordnung mit 3 x taglicher Daueranwendung und einer Compliance
von 50% unterstellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4 Beziehung zwischen Ausmaß der Compliance und Schweregrad der Erkrankung 45
5 Abnahme der Compliance mit steigender Dauer der Erkrankung bzw. Therapie 46
6 Abhangigkeit der Compliance von der Dosisfrequenz . . . . . . . . . . . . . . 47
7 Das hierarchische Modell intrinsischer und extrinsischer Motivation . . . . . 59
8 Das Modell gesundheitlicher Uberzeugungen - Health Belief Model . . . . . . 61
9 Die Theorie des geplanten Verhaltens - Theory of Planned Behavior . . . . . 66
10 Modifikation des Health Belief Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
11 Basismodell zur Erklarung von Complianceverhalten . . . . . . . . . . . . . 97
12 Formatives Messmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
13 Reflektives Messmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
14 Prozessablauf der Clusteranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
15 Uberblick verschiedener Clustermethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
16 Geographische Verteilung der Studienteilnehmer in Deutschland . . . . . . . 151
17 Uberblick des Basismodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
18 Boxplot des Merkmals Krankheitsinvolvement (Likert-Skala 1-7) . . . . . . . 178
19 Modellvergleich hinsichtlich des Krankheitsinvolvements: KIH vs. KIN . . . 181
20 Boxplot des Merkmals Behandlungsdauer (in Jahren) . . . . . . . . . . . . . 182
21 Modellvergleich nach der Lange der Behandlungsdauer: BDH vs. BDN . . . . 183
22 Modellvergleich hinsichtlich des Geschlechts: GEM vs. GEW . . . . . . . . . 186
23 Modellvergleich hinsichtlich des Geschlechts: GKV vs. PKV . . . . . . . . . 189
24 Elbow-Kriterium des Ward-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
xvii
xviii ABBILDUNGSVERZEICHNIS
25 Grafische Darstellung der Compliancetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
26 Haufigkeitsverteilung der Patienten nach dem Kriterium des PCI . . . . . . 200
27 Fragebogen Seite 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
28 Fragebogen Seite 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
29 Fragebogen Seite 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
30 Modellvergleich hinsichtlich des Umfragedesigns: ONL vs. OFF . . . . . . . . 280
Tabellenverzeichnis
1 Definition und Klassifikation von Blutdruckbereichen in mmHg . . . . . . . 17
2 Verordnungen und Marktanteile der Medikamentengruppen (deutscher Markt) 20
3 Compliance und vorgeschlagene Synonyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
4 Direkte Methoden der Compliancemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
5 Indirekte Methoden der Compliancemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
6 Ausgewahlte patientenseitige Einflussfaktoren fur Compliance . . . . . . . . 38
7 Einzelne Krankheitsbilder und das Ausmaß der Non-Compliance . . . . . . . 44
8 Literaturuberblick - Studien im Compliancekontext . . . . . . . . . . . . . . 49
9 Literaturuberblick - Studien im Compliancekontext . . . . . . . . . . . . . . 50
10 Literaturuberblick - Studien im Compliancekontext . . . . . . . . . . . . . . 51
11 Literaturuberblick - Studien im Compliancekontext . . . . . . . . . . . . . . 52
12 Charakteristisches Verhalten in Abhangigkeit der Intensitat des Involvements 92
10 Hypothesen 1-10 im Uberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
11 Hypothesen 11-22 im Uberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
12 Konzeption der Verhaltensabsicht gegenuber therapieforderlichem Verhalten 102
13 Konzeption von Barrieren der Therapieintegration in den Lebensablauf . . . 104
14 Konzeption der Wirksamkeit von therapiekonformem Verhalten . . . . . . . 105
15 Konzeption der affektiven Einstellungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . 107
16 Konzeption der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle . . . . . . . . . . . . . 108
17 Konzeption der Gesundheitsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
18 Konzeption des Vertrauensverhaltnisses zwischen Patient und Arzt . . . . . . 111
19 Konzeption der subjektiven Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
20 Konzeption des Krankheitsinvolvements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
21 Vergleich des LISREL- und PLS-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
22 Gutekriterien fur Strukturgleichungsmodelle auf Messmodellebene . . . . . . 129
23 Gutekriterien fur Strukturgleichungsmodelle auf Strukturmodellebene . . . . 130
24 Ansatzpunkte zur Verbesserung eines Fragebogens durch einen Pretest . . . 142
xix
xx TABELLENVERZEICHNIS
25 Stichprobenstruktur hinsichtlich soziodemographischer Merkmale . . . . . . . 149
26 Stichprobenstruktur hinsichtlich krankheitsbezogener Merkmale . . . . . . . 150
27 Faktorladung und t-Werte der Verhaltensabsicht gg. therapietreuem Verhalten152
28 Gutekriterien des Konstrukts Verhaltensabsicht gg. therapietreuem Verhalten 153
29 Gewichte und t-Werte der Barrieren einer Therapie . . . . . . . . . . . . . . 154
30 Gutekriterien des Konstrukts Barrieren der Therapieintegration . . . . . . . 155
31 Faktorladung und t-Werte der wahrgenommenen Therapiewirkung . . . . . . 156
32 Gutekriterien des Konstrukts wahrgenommenen Therapiewirkung . . . . . . 157
33 Faktorladung und t-Werte der affektiven Einstellungskomponente . . . . . . 158
34 Gutekriterien des Konstrukts affektive Einstellungskomponente . . . . . . . . 158
35 Faktorladung und t-Werte der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle . . . . 159
36 Gutekriterien des Konstrukts wahrgenommene Verhaltenskontrolle . . . . . . 160
37 Faktorladung und t-Werte der Gesundheitsmotivation . . . . . . . . . . . . . 161
38 Gutekriterien des Konstrukts Gesundheitsmotivation . . . . . . . . . . . . . 161
39 Gewichte und t-Werte des Vertrauensverhaltnisses zum Arzt . . . . . . . . . 162
40 Gutekriterien des Konstrukts Vertrauensverhaltnis zum Arzt . . . . . . . . . 163
41 Faktorladung und t-Werte der sozialen Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
42 Gutekriterien des Konstrukts soziale Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
43 Wirkungsbeziehungen im Basismodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
44 Totaleffekte auf das Zielkonstrukt Verhaltensabsicht im Basismodell . . . . . 174
45 Prufung des Moderatoreinflusses des Krankheitsinvolvements . . . . . . . . . 180
46 Prufung des Moderatoreinflusses der Behandlungsdauer . . . . . . . . . . . . 184
47 Prufung des Moderatoreinflusses des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . 187
48 Prufung des Moderatoreinflusses des Versicherungsstatus . . . . . . . . . . . 190
49 Clusterhistorie des Ward-Verfahrens mit Abbruchkriterien . . . . . . . . . . 195
50 Mittelwerte der auf den Wertebereich 0-100 normierten Clustervariablen . . . 196
51 Beschreibung der Patientenprofile anhand ihrer Verhaltensmerkmale . . . . . 201
52 Beschreibung der Patiententypen anhand verschiedener Merkmale . . . . . . 202
53 Kostenschatzung der Non-Compliance fur das Indikationsgebiet der Hypertonie209
54 Codierung der Indikatoren und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
55 Faktorladung und t-Werte der Verhaltensabsicht gg. therapietreuem Verhalten253
56 Gutekriterien des Konstrukts Verhaltensabsicht gg. therapietreuem Verhalten 254
57 Faktorladung und t-Werte der Barrieren einer Therapie . . . . . . . . . . . . 255
58 Gutekriterien des Konstrukts Barrieren einer Therapie . . . . . . . . . . . . 256
TABELLENVERZEICHNIS xxi
59 Faktorladung und t-Werte der wahrgen. Theapiewirkung . . . . . . . . . . . 257
60 Gutekriterien des Konstrukts wahrgen. Therapiewirkung . . . . . . . . . . . 258
61 Faktorladung und t-Werte der affektiven Einstellungskomponente . . . . . . 259
62 Gutekriterien des Konstrukts affektive Einstellungskomponente . . . . . . . . 260
63 Faktorladung und t-Werte der wahrgen. Verhaltenskontrolle . . . . . . . . . 261
64 Gutekriterien des Konstrukts wahrgen. Verhaltenskontrolle . . . . . . . . . . 262
65 Faktorladung und t-Werte der Gesundheitsmotivation . . . . . . . . . . . . . 263
66 Gutekriterien des Konstrukts Gesundheitsmotivation . . . . . . . . . . . . . 264
67 Gewichte und t-Werte des Vertrauensverhaltnisses zwischen Patient und Arzt 265
68 Gutekriterien des Konstrukts Vertrauensverhaltnis zwischen Patient und Arzt266
69 Faktorladung und t-Werte der sozialen Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
70 Gutekriterien des Konstrukts soziales Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
71 Wirkungsbeziehungen im Modell Krankheitsinvolvement hoch . . . . . . . . 270
72 Wirkungsbeziehungen im Modell Krankheitsinvolvement niedrig . . . . . . . 271
73 Wirkungsbeziehungen im Modell Behandlungsdauer hoch . . . . . . . . . . . 272
74 Wirkungsbeziehungen im Modell Behandlungsdauer niedrig . . . . . . . . . . 273
75 Wirkungsbeziehungen im Modell Geschlecht mannlich . . . . . . . . . . . . . 274
76 Wirkungsbeziehungen im Modell Geschlecht weiblich . . . . . . . . . . . . . 275
77 Wirkungsbeziehungen im Modell online Umfrage . . . . . . . . . . . . . . . . 276
78 Wirkungsbeziehungen im Modell offline Umfrage . . . . . . . . . . . . . . . . 277
79 Prufung des Moderatoreinflusses des Umfragedesigns . . . . . . . . . . . . . 279
Abkurzungsverzeichnis
allg. allgemein
bzgl. bezuglich
BMGS Bundesministerium fur Gesundheit und Soziales
bzw. beziehungsweise
ca. circa
DEV durchschnittlich erfasste Varianz
d.h. das heißt
DHL Deutsche Hochdruck Liga e.V.
dt. deutsche
DV Diskriminanzvaliditat
ECHF European Health Care Foundation
et al. und andere
evtl. eventuell
FL Faktorladung
Gew. Gewicht
gg. gegenuber
ggfs. gegebenenfalls
GKV gesetzliche Krankenversicherung
GKV-WSG GKV-Wettbewerbsstarkungsgesetz
GMG GKV-Moderisierungsgesetz
H Hypothese
HBM Health Belief Model
HCCQ Health-Care Climate Questionnaire
HWG Heilmittelwerbegesetz
xxiii
xxiv ABKURZUNGSVERZEICHNIS
i.S.v. im Sinne von
inkl. inklusive
KR Konstruktreliabilitat
KV Krankenversicherung
LISREL Linear Structural Relationship
MIMIC Multiple Indicators Multiple Causes
Mio. Millionen
mmHg Millimeter Quecksilbersaule
Morbi-RSA morbiditatsorientierter Risikostrukturausgleich
Mrd. Milliarden
n.s. nicht signifikant
o.S. ohne Seite
PBC Perceived Behaviour Control
PCI Patienten-Compliance-Index
PKV private Krankenversicherung
PLS Partiel Least Squares
PRM Patienten-Relationship-Management
PSK Pill skipp
RKI Robert-Koch-Institut
S. Seite
sog. sogenannte
TPB Theory of Planned Behavior
u.a. unter anderem
VIF Variance Inflation Factor
vgl. vergleiche
Vol. Volume
vs. versus
WHO Weltgesundheitsorganisation
z.B. zum Beispiel
z.T. zum Teil
Kapitel 1
Gesundheitsokonomische Relevanz
der Patientencompliance
1.1 Therapietreue des Patienten als Effizienzreserve
im Gesundheitswesen
Die aktuelle Situation des deutschen Gesundheitswesens ist durch zahlreiche Gesundheits-
reformen1 wahrend der letzten Jahre gekennzeichnet, welche z.T. mit tiefgreifenden Ein-
schnitten einhergingen. Hauptmerkmal dieser Umbruchphase und Neuorientierung des Ge-
sundheitssektors ist es, dass dem bisher wenig beachteten Marktteilnehmer Patient fort-
laufend hohere Aufmerksamkeit zu Teil wird. Er avanciert”... zu einem immer verhei-
ßungsvolleren Akteur auf dem deutschen Pharmamarkt“2. Sowohl in der gegenwartigen
wissenschaftlichen als auch der gesundheitspolitischen Diskussion werden Schlagworte wie
Patientenorientierung, Patientenmundigkeit, Patientenverhalten und Patientencompliance
zunehmend inflationar verwendet. Die genannten Begriffe verdeutlichen den Paradigmen-
wechsel im deutschen Gesundheitswesen und fordern zum einen ein starkeres Mitsprache-
recht des”modernen Patienten“3 ein, weisen aber auch auf die gestiegene Verantwortung
des einzelnen Patienten fur das Gelingen der Therapie hin.
Werden Fragen nach potenziellen Einsparpotenzialen unseres Gesundheitssystems gestellt,
ist ein zunehmender politischer Druck in Hinblick auf den Aspekt der Therapietreue des ein-
zelnen Patienten zu verzeichnen. Je hoher die Therapietreue eines Patienten ist, desto gerin-
ger ist die Wahrscheinlichkeit, dass durch eine notwendige Anschlusstherapie oder entstan-
dene Komplikationen Folgekosten entstehen. Complianceverhalten umfasst in diesem Zu-
1Vgl. BMGS (2008c), S. 1.2Wollstein, H. (2003), S. 28.3Deber, R.B., Kraetschmer, N., Urowitz, S., Sharpe, N. (2005), S. 350.
1C. Schäfer, Patientencompliance – Messung, Typologie, Erfolgsfaktoren, DOI: 978-3-8349-6334-5_1, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
2 1. Gesundheitsokonomische Relevanz der Patientencompliance
sammenhang die Bereitschaft des Patienten, den arztlichen Anweisungen und Ratschlagen
z.B. zur Medikamenteneinnahme, zur Ernahrung oder zur Veranderung des Lebensstils ak-
tiv zu folgen.4
Die Argumente fur eine hohere Therapietreue erscheinen naheliegend und in der Praxis ein-
fach auszufuhren. Deshalb muss man sich die Frage stellen, warum nicht schon fruher uber
gezielte Programme zur Forderung der Compliance nachgedacht wurde. Ein in der Litera-
tur haufig angefuhrtes Argument ist, dass der Kostendruck unseres Gesundheitswesens erst
in den letzten Jahren ein Niveau erreicht hat, welcher Gesundheitsleistungen zunehmend
unter Kosten-Nutzen- und Wirtschaftlichkeits-Gesichtspunkten beurteilt.5
Im Rahmen der vorliegenden Studie soll die hohe Relevanz des Compliance- bzw. Therapie-
treue-Managements am Beispiel der Patientengruppe der Hypertoniker in Deutschland
untersucht und dargestellt werden. Unterschiedlichen Studien zufolge halten sich nur rund
30-40% aller ca. 20 Mio. Hypertoniker strikt an die Verordnungen des Arztes, was die Di-
mension des Problems verdeutlicht.6 Mogliche Folgen mangelnder Therapietreue, auch Non-
Compliance genannt, konnen das Ausbleiben des therapeutischen Effekts, die Zunahme von
Komplikationen, Folgekrankheiten, die Gefahr einer Medikamentenabhangigkeit oder The-
rapieversagen sein.7 Der Therapieerfolg hangt somit zu einem entscheidenden Teil von dem
Patienten selbst ab, indem dieser sich therapiekonform verhalt. Daher wird Compliance fur
Hypteroniker zu dem Erfolgsfaktor, um langfristig einen normalen Gelegenheitsblutdruck
zu erreichen.
Hohe Bedeutung kommt dem Thema der Therapietreue nicht nur aus medizinischer Per-
spektive zu. Die Gesamtkosten der Non-Compliance, welche dem deutschen Gesundheits-
system aufgrund mangelhafter Therapietreue vor allem chronisch kranker Menschen ent-
stehen, werden von verschiedener Seite auf rund 10 Mrd. Euro jahrlich beziffert.8 Die
angefuhrten Zahlen belegen die hohe okonomische Relevanz des Themas und legen eine
weitere Intensivierung der Versorgungsforschung auf diesem Gebiet nah. Ein verbessertes
Therapietreue-Management konnte entscheidend dazu beitragen, die Gesundheitskosten im
Allgemeinen zu senken und die Lebensqualitat des einzelnen Patienten zu steigern.9
Den Krankenversicherungen wurden durch eine gesteigerte Compliance aufgrund der sin-
kenden Zahl von Folgeerkrankungen geringere Kosten entstehen. Insbesondere im Fall der
4Vgl. WHO (2003), o.S., Fittschen, B. (2002), S. 60f.5Vgl. Rychlik, R. (2005), S. 2f.6Vgl. Robert-Koch-Institut (2008b), S. 1, Gasse, C., Stieber, J., Doring, A., Liese, A., Keil,
U. (2001).7Vgl. Sonnenmoser, M. (2002), S. 14.8Vgl. European Health Care Foundation (2006), Kehl, T. (2009), S. 25.9Vgl. Wasem, J. (2005), S. 3f.
1.1 Therapietreue des Patienten als Effizienzreserve im Gesundheitswesen 3
Hypertonie ist das Einsparpotenzial sehr groß, da ein langfristig zu hoher Blutdruck ko-
stenintensive Risiken wie Herzinfarkte oder Schlaganfalle mit sich bringt. Des Weiteren
konnte sich der Patient einer hoheren Lebensqualitat erfreuen und der Arzt hatte auf eine
gestiegene Erfolgsquote bei den von ihm therapierten Patienten zu verweisen. Weiterhin
ergaben sich fur die Pharmaindustrie in Zeiten”... of decreasing product launches and pa-
tents coming to an end“10 durch eine gesteigerte Therapietreue des Patienten nachhaltige
Potenziale fur steigende Umsatze bereits zugelassener Medikamente.
Die vorgetragenen Argumente belegen, dass eine gesteigerte Compliance des Patienten auf
dem Gesundheitsmarkt zu einer”Win-win-Situation“11 oder, okonomisch ausgedruckt, zu
einem neuen Pareto-Optimum12 fuhren konnte, in welchem sich alle beteiligten Parteien
unter den angefuhrten Argumenten besser stellen wurden. Konzepte zur Steigerung der
Compliance werden als probate Strategien fur die Genesung des finanziell kollabierenden
Gesundheitssystems gehandelt.13 Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die Tatsache,
dass das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem nicht nur an einem Einnahmen- und
Ausgabenproblem, sondern zudem an dem angefuhrten Effizienz- und Qualitatsproblem
krankt.14
In diesem Zusammenhang stellt die wenig vorhandene Transparenz gesundheitsbezogener
Leistungen hinsichtlich des Qualitats-, Kosten- und Nutzengesichtspunkts ein Kernproblem
unseres Gesundheitswesens dar. Hier konnen compliancefordernde Strategien ansetzen, wel-
che zu einer starker nutzenorientierten, effizienteren Mittelverwendung und einer Dampfung
der Kostenentwicklung fuhren.15
Fuhrt man sich vor Augen, dass der Patient das zentrale Bindeglied aller Beteiligten im
Gesundheitssystem ist, erkennt man, dass diesem Marktteilnehmer im Kampf gegen Effizi-
enzmangel und Ressourcenverschwendung eine wichtige Kompetenz und Verantwortung zu-
kommt.16 Denn Effizienzsteigerungen konnen nur mit dem Patienten, nicht gegen ihn durch-
gesetzt und realisiert werden.17 Somit knupfen sich an eine gesteigerte Therapietreue des
Patienten Hoffnungen auf eine rationalere und effizientere Nutzung der vom Gesundheits-
10Eversole, K. (2008), S. 1.11Kartte, J., Neumann, K. (2008), S. 31.12Vgl. Breyer, F., Kolmar, M. (2001), S. 16.13Vgl. Heissel, A. (2002), S. 1, Wasem, J. (2005), S. 4f.14Vgl. Farhauer, O., Borchardt, K. (2004), S. 5, Dietz, B. (2006), S. 3.15Vgl. Eagle, K., Kline-Rogers, E., Goodmann, S.G., Gurfinkel, E.P., Avezum, A., Flather,
M.D., Granger, C.B., Erickson, S., White, K. (2004), S. 73f., Nolting, H.-D., Hagenmeyer,
E.-G., Haussler, B. (2004), S. 15.16Vgl. Dierks, M.L., Siebeneick, S., Roseler, S. (2001), S. 12, Dietz, B. (2006), S. 3, Reibnitz,
C., Schnabel, P.-E., Hurrelmann, K. (2001), S. 265f.17Vgl. Badura, B. (2000), S. 34f.
4 1. Gesundheitsokonomische Relevanz der Patientencompliance
sektor angebotenen Therapiemoglichkeiten. Hierzu gilt es jedoch, den Patienten zunachst
in die Lage zu versetzen, den eigenen gesteigerten Nutzen von therapietreuem Verhalten
wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang merkt Kolodinsky Folgendes an: “It has been
suggested that one way to contain costs and increase the quality of medical care in the Uni-
ted States is to increase medical consumerism [...]. By becoming more informed, consumers
may be able to make more intelligent decisions about the quality and quantity of medical
care they consume.“18 Diese Aufgabe konnen gezielte Compliance-Managementprogramme
ubernehmen. Fur die Initiierung eines erfolgreichen Therapietreueprogramms ist es zunachst
notwendig, vielversprechende Erfolgsfaktoren aufzudecken, welche einen Patienten veran-
lassen, sich uberhaupt therapietreu zu verhalten.
Bevor sich die vorliegende Studie mit der zentralen Frage der unterschiedlichen Deter-
minanten des Therapietreueverhaltens eines Patienten befasst, sollen weitere einfuhrende
Hintergrundinformationen zur aktuellen Diskussion um den Marktteilnehmer Patient auf
dem deutschen Gesundheits- und Pharmamarkt gegeben werden.
1.2 Auswirkungen eines veranderten Rollenverstand-
nisses des Patienten
Das klassische Rollenverstandnis des Patienten im Kontext des arztlichen Behandlungspro-
zesses unterliegt seit den fruhen 1990er Jahren einem stetigen Wandel. Ausgelost durch
eine Kombination gesellschaftlicher, technologischer, okonomischer und gesundheitspoliti-
scher Veranderungen haben sich die Ambitionen und das Selbstverstandnis des Patienten
hin zu einem starkeren Mitspracherecht und gestiegener Mundigkeit etwa im Rahmen ei-
ner Therapieentscheidung verschoben.19 Infolge der gestiegenen Informiertheit und hoheren
Wachsamkeit des Patienten hinsichtlich gesundheitsbezogener Themen, wurde das latente
Informationsungleichgewicht zwischen behandelndem Arzt und seinem Patienten ein Stuck
weit zugunsten des Patienten verschoben.20
Das Verstandnis der Arzt-Patient-Interaktion befindet sich seither im Fluss und entwickelt
sich zunehmend hin zu einer gleichberechtigteren Arzt-Patient-Partnerschaft und weg von
einem einseitig weisungsbezogenen Patientenverhalten.21 Dieses Patientenverstandnis ver-
korpert den modernen Patienten, der nicht blind und ohne zu fragen arztlichen Weisungen
18Kolodinsky, J. (1993), S. 193.19Vgl. Salmon, P., Hall, G.M. (2004), S. 53, Hohensohn, H. (1998), S. 35, Simon, M. (2005),
S. 3.20Vgl. Prahalad, C.K., Ramaswamy, V. (2004), S. 23f., Homburg, C., Dietz, B. (2006), S. 288.21Vgl. Eggert, B. (2006), S. 81f., BMJ (2008), S. 5.
1.2 Auswirkungen eines veranderten Rollenverstandnisses des Patienten 5
folgt.22 Dass Fragestellungen nach den Auswirkungen des veranderten Patientenverstand-
nisses von verschiedenen Marktteilnehmern unseres Gesundheitswesens auch unter Marke-
tingaspekten zunehmend in den Fokus des Interesses geruckt sind, zeigen die Beitrage von
Hausmann23 im Journal of the Academy of Marketing Science, der Artikel von Dellande et
al.24 im Journal of Marketing und der Beitrag von Illert et al.25 in Die Pharmazeutische
Industrie.
Im Zuge der zu beobachtenden Emanzipierung des Patienten zu einem mundigen Verbrau-
cher von Gesundheitsleistungen werden diesem zunehmend Attribute aus der Konsumen-
tenverhaltensforschung wie”selbstbewusst, selektiv, problembewusst, skeptisch, preisbe-
wusst und qualitatsbewusst“26, zugeschrieben. Barth folgend ist”der Patient [...] mundiger
Burger und zunehmend kritischer Verbraucher in Personalunion“27. Festmachen lasst sich
diese Entwicklung bspw. an dem zunehmenden Druck des Patienten auf das Verschrei-
bungsverhalten des Arztes.28 So fordert der Patient vielfach die Verordnung eines speziellen
Medikaments, verbunden mit der Drohung, bei Nichterteilung des geforderten Rezepts den
Arzt zu wechseln.29
Unterstutzung fur eine starkere Patientenorientierung und -integration innerhalb unse-
res Gesundheitswesens kommt vonseiten des Gesetzgebers, welcher den Patienten in den
zuruckliegenden Gesundheitsreformen zunehmend in den Mittelpunkt der Reformbemuhun-
gen geruckt hat. Im Jahre 2004 wurden mit dem GKV-Modernisierungsgesetz30 (GMG) und
im Jahr 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstarkungsgesetz31 (GKV-WSG) die Verbraucher-
22Vgl. Deber, R.B., Kraetschmer, N., Urowitz, S., Sharpe, N. (2005), S. 350, Fink-Anthe, C.
(2005), S. 375f.23Vgl. Hausman, A. (2004).24Vgl. Dellande, S., Gilly, M.C., Graham, J.L. (2004).25Vgl. Illert, G., Komischke, B., Loffler, C., Seiter, S. (2004), S. 719.26Dietz, B. (2006), S. 1, Wiswede, G. (1991), S. 27.27Barth, D. (1999), S. 163.28Vgl. Simon, D., Harter, M. (2005), S. 3f.29Vgl. Harms, F., Druner, M. (2003), S. 194.30Es wurde festgestellt, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Landern trotz hoher Aus-
gaben im Gesundheitswesen eine zu geringe Qualitat und Effizienz erreicht. Ein zentrales
Ziel des GKV-Modernisierungsgesetzes besteht darin, die Qualitat und Wirtschaftlichkeit
des Gesundheitswesens zu steigern. Dazu braucht es einen strukturellen Wandel und eine
Neuordnung der Finanzierung. Dies beinhaltet mehr Transparenz, mehr Mitverantwortung
und starkere Beteiligungsrechte fur Versicherte, mehr Wettbewerb sowie Entburokratisie-
rung aufseiten der Kostentrager und Leistungserbringer. Vgl. BMGS (2008b), S. 1.31Der eingeleitete Weg, den Wettbewerb um Qualitat und Wirtschaftlichkeit zwischen Krank-
versicherern und den Leistungserbringern zu intensivieren, wird durch das GKV-WSG fort-
gesetzt. Neben der verbesserten Transparenz von Angeboten, Leistungen und Abrechnungen
erweitert es daruber hinaus die Wahl- und Entscheidungsmoglichkeiten der Versicherten.
Vgl. BMGS (2008a), S. 1f.
6 1. Gesundheitsokonomische Relevanz der Patientencompliance
und Patientenrechte gestarkt, was die Position des Patienten gegenuber den anderen Ak-
teuren auf dem Gesundheitsmarkt deutlich verbessert hat. In Anlehnung an die Patienten-
charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welche eine starkere Patientenorientierung
im Gesundheitswesen fordern mochte, hat der Deutsche Bundestag 1999 seinerseits eine Pa-
tientencharta fur Deutschland verabschiedet. In dieser wird der gewunschte Umgang mit
dem Patienten im deutschen Gesundheitswesen formuliert und es werden die Rechte und
Pflichten des Patienten hervorgehoben.32
Im Zuge der beschriebenen Gewichtsverschiebung der Akteure auf dem deutschen Gesund-
heitsmarkt ruckt der Patient zunehmend in den Fokus absatzpolitischer Bemuhungen der
Pharmaindustrie. Der moderne Patient ist besser informiert und partizipiert mit seinem
behandelnden Arzt - im Sinne des Shared Decision Making33 - selbstbewusst an der Aus-
richtung einer geeigneten Therapie. Die Eigenstandigkeit wird noch verstarkt durch die
zunehmende finanzielle finanzielle Eigenbeteiligung der GKV-Versicherten an den Arznei-
mittelkosten. Hier sitzt der Hebel fur marketingpolitische Aktivitaten. Folgerichtig ist der
Patient nicht mehr nur Leistungsnehmer, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil ne-
ben dem Arzt auch Leistungsentscheider und uber Medikamentenzuzahlungen ebenfalls
direkter Leistungstrager von Gesundheitsleistungen.34 Infolge der Starkung des Patienten
als Endverbraucher pharmazeutischer Erzeugnisse im Sinne des Nachfragers, Konsumen-
ten und Finanziers in Personalunion wird die Notwendigkeit der Etablierung von gezielten
Patienten-Relationship-Programmen zum Aufbau einer langfristigen Geschaftsbeziehung
zum Endverbraucher fur die Arzneimittelhersteller relevant.35
Es ist notwendig, eine moglichst exakte Vorstellung von den Determinanten zu haben, die
das Complianceverhalten beeinflussen.36 Mit diesem Wissen konnten gezielte Patienten-
Relationship-Maßnahmen angestoßen werden, die ein striktes Therapietreueverhalten des
Patienten zum Ziel haben. Nur wenn sich das Therapietreueverhalten kausal nachvollzieh-
bar begrunden lasst, konnen zielfuhrende Interventionsmoglichkeiten zur Erreichung einer
hoheren Therapietreue abgeleitet werden. Roner merkt in eyeforpharma an, dass”Bet-
ter understanding how patients view their illness could open up significant opportunities
for the pharma industry to improve patient adherence/compliance to medication“37. Eine
fokussierte Ansprache der scheinbar neuen Zielgruppe Patient im Rahmen eines Patienten-
Relationship-Management (PRM) bietet der Pharmaindustrie und Krankenversicherungen
32Vgl. Moller, B. (2002), S. 26, BMJ (2008), S. 7f.33Vgl. Sachverstandigenrat fur die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002), S. 107.34Vgl. Solbach, M.C. (2000), S. 21, Dietz, B. (2006), S. 11f.35Vgl. Loden, J., Schooler, C. (2000), S. 90.36Vgl. Schafer, C. (2010b), S. 92f.37Roner, L. (2008), S. 1.
1.2 Auswirkungen eines veranderten Rollenverstandnisses des Patienten 7
die Chance, durch planvolle Serviceangebote und -programme nicht nur die Patienten
starker in Entscheidungsprozesse fur ein spezielles Medikament einzubinden, sondern zu-
dem die Compliance und somit den Behandlungserfolg durch ein einschlagiges Medikament
zu verbessern.38
Vor dem Hintergrund der Aktualitat des zum 01. Januar 2009 neu eingefuhrten Gesund-
heitsfonds39 und des angepassten morbiditatsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-
RSA)40 wird der Druck zur Intensivierung der Versorgungsforschung zur Erreichung einer
hoheren Patientencompliance sowohl auf die Pharmaindustrie als auch auf die gesetzliche
Krankenversicherung steigen. Eine bessere Datengrundlage zur Patientencompliance sollte
beiden Marktteilnehmern bspw. in Rabattverhandlungen stichhaltige Argumente fur ihre
Preisverhandlungen liefern. So ist es fur Pharmaunternehmen wunschenswert, ein klar uber-
legenes Therapieergebnis eines Medikaments im Real-Life-Cycle fundiert nachzuweisen.41
Ein gutes Therapieergebnis ist ein Argument fur die gesetzliche Krankenversicherung, da
dies vor allem die langfristigen Therapieausgaben insbesondere fur chronisch kranke Pa-
tienten senkt.42 Liegen die langfristigen Ausgaben fur einen Patienten unterhalb der vom
Gesundheitsfonds fur eine entsprechende Morbiditat zugewiesenen Mittel, profitiert auch
die Krankenversicherung von der gelungen Therapie.43 Weiterhin stellen sich die versicher-
ten Patienten dieser Krankenversicherung besser, da neben einer besseren Gesundheit die
Erhebung von Zusatzbeitragen zur Deckung von uber den Zuweisungen des Gesundheits-
fonds liegenden Therapiekosten entfallt.
Angesichts der Aktualitat und hohen Praxisrelevanz des Themas Therapietreue von Pa-
tienten ist es uberraschend, dass die derzeitige Diskussion weitestgehend ohne empirische
Grundlage gefuhrt wird. In verschieden Literaturbeitragen wird wiederholt uber Strategien
zur Complianceforderung oder Compliance-Management diskutiert, ohne zu erlautern, was
genau unter den genannten Konzepten zu verstehen ist.44 Auch eine Ubersicht oder einen
Leitfaden zur systematischen Erarbeitung und Herleitung von Compliance-Management-
Programmen fehlt in der Literatur ganzlich. Hierzu ware es zunachst notwendig, Erfolgs-
faktoren des Therapietreueverhaltens von Patienten aufzudecken, um im nachsten Schritt
uber Interventions- und Kommunikationsmaßnahmen45 zur Erhohung der Compliance nach-
denken zu konnen. Hohensohn merkt an, dass”in der Literatur zum Pharmamarketing zu-
38Vgl. Illert, G., Komischke, B., Loffler, C., Seiter, S. (2004), S. 719.39Vgl. Bundesversicherungsamt (2008), S. 1f., Kaluweit, I. (2008), S. 14.40Vgl. Ballhaus, J., Seibold, M. (2009), S. 15f.41Vgl. Kehl, T. (2009), S. 25, Ballhaus, J., Seibold, M. (2009), S. 18f.42Vgl. Schafer, C. (2010a), S. 46f.43Vgl. Schafer, C. (2009a), S. 179.44Vgl. Schroder-Bernhardi, D., Wald-Eßer, D. (2006), S. 12f.45Vgl. Harms, F., Ganshirt, D. (2006), S. 673f.
8 1. Gesundheitsokonomische Relevanz der Patientencompliance
nehmend Hinweise auf die wachsende Bedeutung des Patienten zu finden sind“46, jedoch
kaum uber die Betonung des Patienten als neuen Marktteilnehmer hinausgegangen wird.
Vor dem Hintergrund des eingangs diskutierten Effizienzsteigerungspotenzials fur das deut-
sche Gesundheitswesen, welches durch eine gesteigerte Compliance und die sich hieraus ab-
leitende”Win-win-Situation“ aller beteiligten Teilnehmer unseres Gesundheitssystems aus-
geschopft werden konnte, erscheint die Frage angebracht, weshalb bis heute kaum Anstren-
gungen hinsichtlich eines gezielten Compliance-Managements mit Fokus auf den Patienten
unternommen wurden. Folgt man Moormann, konnte durch die Ubertragung herkommli-
cher Verfahren der Konsumentenverhaltensforschung auf das Pharmamarketing wichtiges
Wissen hinsichtlich des Informations- und Entscheidungsverhaltens von Patienten generiert
werden. Moormann merkt an, dass”consumer research can make important contributions
to the study of health and the resolution of health problems.“47
Verschiedene Autoren weisen zurecht darauf hin, dass in der Debatte um das Therapie-
treueverhalten des Patienten zwar intensiv uber das Thema Compliance diskutiert wird,
jedoch bisher kaum Grundlagenforschung auf diesem Gebiet betrieben worden ist.48 Einen
Beitrag, dieses wissenschaftliche Vakuum zu fullen, soll das vorliegende Forschungsprojekt
leisten.
Wenn Therapietreue mehr als ein Motto oder Mythos sein und sich daraus ein wissen-
schaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt ableiten lassen soll, ist es fur den deutschen
Gesundheitsmarkt von zentraler Bedeutung, empirisch fundierte Erkenntnisse uber das Pa-
tientenverhalten zu erlangen. Die vorgebrachten Grunde erklaren, warum es sinvoll ist,
eine erste bundesweite bevolkerungsbasierte Patientenverhaltensstudie zur Therapietreue
durchzufuhren, um Erfolgsfaktoren, Einflussgroßen und Auswirkungen fur bestimmte Ver-
haltensmuster, welche zu einer gesteigerten Compliance fuhren, offen zu legen.
46Hohensohn, H. (1998), S. 1.47Moormann, C. (2002), S. 152.48Vgl. Eversole, K. (2008), S. 1, Dietz, B. (2006), S. 4, Roner, L. (2008), S. 1.
1.3 Offene Fragen der Versorgungsforschung 9
1.3 Offene Fragen der Versorgungsforschung
Um das Thema der Therapietreue moglichst umfassend und ganzheitlich zu betrachten, ist
es zunachst notwendig, ein einheitliches Begriffsverstandnis der Schlagworte Compliance,
Therapietreue, Accordance oder Adharenz abzuleiten. Die aktuelle Diskussion ist durch
die synonyme Verwendung der aufgefuhrten Schlagworte gekennzeichnet, da sich bis heu-
te sowohl im Englischen als auch im Deutschen keine eindeutige und allgemein akzeptierte
Definition des Begriffs Compliance durchgesetzt hat.49 Die mangelnde Homogenitat des Be-
griffs der Compliance und die hiermit einhergehende fehlende Konzeptualisierung birgt die
Gefahr von Fehlinterpretationen und letztendlich verzerrten Ergebnissen.50 Die erste For-
schungsfrage zielt darauf ab, auf konzeptioneller Ebene ein einheitliches Begriffsverstandnis
von Compliance zu schaffen und die wichtigsten Determinanten des Begriffs aufzuzeigen.
Basierend auf dieser Begriffsauslegung soll im weiteren Verlauf der vorliegenden Analyse
die Konzeptualisierung von Compliance erfolgen. Die erste Forschungsfrage lautet:
1. Forschungsfrage
Wie lasst sich das Konstrukt der Compliance konzeptualisieren?
Ausgangspunkte fur das Interesse und die Notwendigkeit einer verhaltenstheoretischen Ana-
lyse der Patientencompliance sind die von verschiedenen Autoren angeprangerten For-
schungslucken fur ein moglichst ganzheitliches und kausal begrundbares Verstandnis des
Therapietreueverhaltens von erkrankten Menschen.51 Einzelne Aspekte des Patientenver-
haltens im Therapieverlauf wurden in verschiedenen Studien der Medizin52, der Sozial-
wissenschaften53 sowie der Okonomie54 auf unterschiedlichen Wegen untersucht. Ein in-
terdisziplinarer Forschungsansatz zur Klarung von verhaltensauslosenden Stimuli fur ein
bestimmtes Patientenverhalten wurde bisher nicht gewahlt. In einigen Studien werden in-
terdisziplinare Ansatze zwar implizit angenommen, eine systematische Untersuchung fehlte
jedoch haufig.55
Den zitierten Studien ist gemein, dass sie lediglich einzelne Aspekte im Therapieverhaltens-
kontext analysiert haben, jedoch eine globale Beleuchtung des Patientenverhaltens vermis-
49Vgl. Kyngas, H. (2000), Heuer, H.O., Heuer, S.H. (1999a) S. 7.50Vgl. Heuer, H.O., Heuer, S.H. (1999a), S. 7, Fittschen, B. (2002), S. 60.51Vgl. Eversole, K. (2008), S. 1, Scheibler, J. (2004), S. 9.52Vgl. Ayalon, L., Gross, R., Tabenkin, H., Porath, A., Heymann, A., Porter, B. (2006), Gasse,
C., Stieber, J., Doring, A., Liese, A., Keil, U. (2001), Chanudet, X., De Champvallins, M.
(2001), Bone, L.R., Levine, D.M., Parry, R.E., Morisky, D.E., Green L.W. (1984).53Vgl. Fittschen, B. (2002), Nell, M. (1993).54Vgl. Homburg, C., Dietz, B. (2006), Landgraf, R., Huber, F., Bartel, R. (2006).55Vgl. Kuhnemund, H. (2006), S. 171f., Hannig, J. (2004), S. 20f.
10 1. Gesundheitsokonomische Relevanz der Patientencompliance
sen lassen. Gerade die Analyse von Ursache-Wirkungsbeziehungen und Ruckkopplungen
zwischen den unterschiedlichen, das Verhalten pragenden Determinanten sollte von hohem
Interesse sein, um mogliche Erfolgsfaktoren der Therapietreue aufdecken zu konnen. In
den seltensten Fallen lasst sich nur eine sichere Ursache fur das jeweilige Ausmaß und
die Form der Non-Compliance ermitteln.56 In diesem Zusammenhang werden in der Li-
teratur weitere Forschungsbemuhungen zur Untersuchung wechselseitiger Effekte zwischen
den einzelnen Determinanten gefordert.57 Um diese Forschungslucke zu schließen, wird ein
moglichst globaler, Interaktionen berucksichtigender Forschungsansatz gewahlt, um ein tie-
fes Verstandnis der Erfolgsfaktoren des Therapietreueverhaltens zu erlangen.58 Das offen-
sichtliche Forschungsdefizit soll im Rahmen der Beantwortung der zweiten Forschungsfrage
reduziert bzw. beseitigt werden.
2. Forschungsfrage
Welche Einflussfaktoren determinieren den Erfolg der Compliance und wie beeinflussen
sich die einzelnen Determinanten untereinander?
Ein weiteres Ziel der vorliegenden Studie liegt in der Identifikation der Erfolgsauswirkung
unterschiedlicher Kontextfaktoren. Es ist von Interesse, herauszufinden, ob in Abhangigkeit
krankheits- bzw. patientenspezifischer Einflussgroßen die Effektstarke der Erfolgswirkung
einzelner Verhaltensdeterminanten variiert.59 Aus den Ergebnissen einer solchen Unter-
suchung lassen sich hilfreiche Anhaltspunkte fur ein moglichst effektives und effizientes
Compliancemanagement ableiten. Die dritte Forschungsfrage lautet:
3. Forschungsfrage
Wie unterscheiden sich die Erfolgsfaktoren der Compliance bei unterschiedlichen Kon-
textfaktoren?
Hilleke-Daniel und Homburg & Dietz folgend, ist im Zuge einer moglichst zielgerichte-
ten und effizienten Patientenkommunikation des Pharmamarketing eine problembezogene
Patientensegmentierung notwendig.60 Durch die Ableitung eines Patientenportfolios ließen
sich, aus den Erkenntnissen der Untersuchungen zu den ersten drei Forschungsfragen, geziel-
te Patienten-Relationship-Maßnahmen fur unterschiedliche Patiententypen entwickeln. Da
bisherige Untersuchungen verschiedener Patiententypologien weitestgehend ohne empirische
56Vgl. Heuer, H.O., Heuer, S.H. (1999d), S. 54f.57Vgl. Dietz, B. (2006), S. 222, Roner, L. (2008), S. 1.58Vgl. Schafer, C. (2009b), S. 17.59Vgl. Schafer, C. (2010a), S. 49.60Vgl. Hilleke-Daniel, K. (1989), S. 20f., Homburg, C., Dietz, B. (2006), S. 290f.