das geheimnis der gottesliebe

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ISTANBUL 1430/2009

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Osman Nuri TopbaşDas Geheimnis der GottesliebeTürkischer Originaltitel: Muhabbetteki SırEnglischer Titel: The Secret in the Love or God

Aus dem Englischen unter Zuhilenahmedes türkischen Originaltextes übersetzt vonAbd al-Haidh Wentzel

ISBN: 978-9944-83-118-5

Herausgegeben von:Erkam Verlag

İkitelli Organize Sanayi BölgesiTurgut Özal Cd. No: 117/2Başakşehir, Istanbul, TürkeiTel: 0090 212 6710700Fax: 0090 212 6710717E-Mail: [email protected]: http://www.worldpublishings.com/de

© copyright Erkam Verlag 2009/1430 HAlle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,der otomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung

 vorbehalten.

Covergestaltung & Satz: Rasim Shakirov (World Graphics)Druck: Erkam Druckerei, Istanbul

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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor ......................................................................................... 6

Vorwort ...................................................................................................... 9

Das Geheimnis der Gottesliebe ............................................................. 13

 Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch ................................. 30 Al-Istiqāma – Rechtschaene Beharrlichkeit au dem Wege Allāhs ..... 47

Zusammensein mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen .......... 63

 Al-Ikhlās – Vollkommene Aurichtigkeit gegenüber Allāh .............. 74

Khau wa Rajā’ – Furcht und Honung .............................................. 90

 Al-Ghala – Die Achtlosigkeit ............................................................. 107

Die Schönheit im Antlitz des Todes ................................................... 119

Rizq – Lebensunterhalt ........................................................................ 134Licht und Dunkelheit ........................................................................... 150

Ihsān wa Murāqaba – Vorzüglichkeit und Wachsamkeit ............... 163

Die menschliche Wirklichkeit ............................................................ 178

Īthār – Selbstlosigkeit ........................................................................... 185

Der Islam gibt der Menschheit neues Leben .................................... 198

Die Bedeutung rechten Verhaltens im Tasawwu ............................ 214

 Mahabba – Liebe .................................................................................. 229

Geht es nicht ohne asawwu ? .......................................................... 247

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Über den Autor

Osman Nuri Topbaş wurde im Jahr 1942 in Istanbul imStadtteil Erenköy als Sohn des Musa Topbaş und seinerFrau Fatma Feride Hanim, der Tochter des H. Fahri Kigili,

geboren. Er besuchte zuerst die Erenköy Zihni Paşa Grundschule

und anschließend, ab 1953, das Istanbul Imam Hatip Gymnasium,eine der ührenden Bildungseinrichtungen jener Tage, an der solchallseits anerkannte Lehrer wie M. Celaleddin Ökten, Mahir İz undNureddin Topçu unterrichteten. In jener Zeit studierte er zudemunter der Anleitung von M. Zekai Konrapa, Yaman Dede (Abdül-kadir Keceoğlu), Ahmet Davutoğlu, Mahmud Bayram und Ali RızāSağman. In jenen Tagen machte er die Bekanntschat des berühm-

ten Dichters und Denkers Necip Fazil, dessen Freundeskreis er sichanschloss. Er besuchte dessen Vorträge, las seine Zeitschrit BüyükDoğu und wurde zu einem begeisterten Anhänger seiner Ideen.1960 schloss Osman Nuri, gleichzeitig mit seinem gleichaltrigenOnkel Abidin Topbaş, erolgreich das Gymnasium ab.

Nach dem Abitur war er ür einige Zeit in Handel und Pro-duktion aktiv, bis er 1962 zum Militärdienst einberuen wurde, dener in Tillo bei Siirt als Reserveoizierslehrer absolvierte. Währendseiner Zeit in der Armee bereiteten ihm das Unterrichten und derUmgang mit Menschen große Freude.

Nachdem er seinen Militärdienst abgeschlossen hatte, wandtesich Osman Nuri Topbaş wieder den Handelsgeschäten zu, ohnedabei jedoch seine Neigung zur Gelehrsamkeit und seine Hinwen-dung zu den Menschen auzugeben. Er war ein aktives Mitglied derİlim Yayma Cemiyeti (Gesellschat zur Verbreitung von Wissen),

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Über den Autor

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und seine Geschätsräume glichen eher dem Büro einer Wohltä-tigkeitsorganisation oder rommen Stitung, an der Stipendien ürStudenten vergeben und Unterstützung ür Bedürtige verteilt wer-den. Gleichzeitig war er verantwortlich ür die von seiner Familiebetriebenen sozialen Dienste. Seine wohltätigen Aktivitäten setzteer unter dem Dach der 1985 gegründeten Hüdāyi Stitung ort. Da-bei war er nicht nur eine treibende Krat bei deren Gründung, son-dern er war auch derjenige, der sich daür stark machte, die Diensteder Stitung auch Studenten aus den Nachbarländern zugute kom-

men zu lassen.1990 begann Osman Nuri Topbaş inolge seines regen Interes-

ses an religiösen Studien und seiner Liebe zur Dichtkunst, selbst zuschreiben. Zu seinen in Istanbul veröentlichten Werken zählen:

1. Bir esti Su (1996), ins Deutsche übersetzt unter dem Titel:Ein Krug voll Wasser aus den Gärten des Mathnawi.

2. Rahmet Esintileri (1997), ins Deutsche übersetzt unterdem Titel: Muhammad, der Prophet der Barmherzigkeit –Szenen aus seinem Leben

  3. Nebiler Silsilesi I-IV (1997-1998).4. arihten Günümüze İbret Işıkları (1998).5. Abide Şahsiyetleri ve Müessesleriyle Osmanlı (1999).6. İslam İman İbadet  (2000), ins Deutsche übersetzt unter

dem Titel: Der Islam – innere Wirklichkeit und äußereForm

  7. Muhabbetteki Sır (2001). Das dieser Übersetzung zugrun-de liegende Werk.

8. İmandan İhsana asavvu (2002).9. Vakı-İnak-Hizmet  (2002), ins Deutsche übersetzt unter

dem Titel: Das Stifungs- und Spendenwesen im Islam10. Son Nees (2003).

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Seine Werke wurden in eine Reihe von Sprachen übersetzt. Darü-ber hinaus hat Osman Nuri Topbaş seine Ideen und Visionen alsLehrer in Seminaren, als Redner au Konerenzen, sowie als Vorsit-zender einer Reihe von Gremien mit Menschen an vielerlei Ortenund in vielen verschiedenen Ländern geteilt. Osman Nuri Topbaşist verheiratet und hat vier Kinder.

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Vorwort

Aller Lobpreis gebührt Allāh, dem Erhabenen, der uns, Sei-ne machtlosen Diener, mit den Freuden und dem Friedenwahren Glaubens gesegnet hat! Sein Segen und Sein Friede

seien au dem unermesslichen Stolz des Universums, dem Prophe-

ten Muhammad, der die Menschheit aus der tiesten Dunkelheitzu grenzenlosem Licht geührt hat. Allāh, der Allmächtige, hat derMenschheit ein einzigartiges Geheimnis geschenkt: Er hat sie ausLiebe erschaen. Aus diesem Grund inden wir immer Niedergang,wo es keine Liebe gibt, während überall dort, wo Liebe wirkt, Voll-kommenheit in Erscheinung tritt. So, wie der ehrwürdige MeisterRūmī es in seinem Mathnawī erklärt, wenn er sagt:

 Allāh üsterte ein Geheimnis ins Ohr einer Wolke, und aus ih-ren Augen stürzte das Wasser wie aus Schläuchen hervor. Er vertraute dem Ohr einer Rose ein Geheimnis an, und verliehihr damit königliche Farben und Duf. Er teilte einem Stein einGeheimnis mit, und dieser verwandelte sich in der Verborgen-heit der Mine in glänzend schimmernden Achat. Auch dem

 Menschen vertraute Er ein Geheimnis an. Diejenigen, die die-ses Geheimnis bewahren, hebt Er empor in die Ewigkeit.

Dieses Geheimnis ist das Geheimnis der Liebe. Dies ist der Grund,weshalb der einzige Weg ür den Menschen, des WohlgeallensAllāhs, des Allmächtigen, und der Fürsprache des Propheten – Se-gen und Friede seien au ihm – teilhatig zu werden und au dieseWeise das Heil des Diesseits und des Jenseits zu erlangen, in jener

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Wahrheit besteht, die sich im Geheimnis der Liebe verbirgt. Werdiese Wahrheit erkannt hat und ihren Regeln olgt, erährt in sei-nem Herzen die gleiche Intensität an sehnsüchtiger Verzückungund die selbe reudige Empindung wie jener Palmstamm, der ausLiebe zum Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –

 voller Sehnsucht wehklagte.1 Eine solche Stue von Liebe zu leben, verleiht dem Menschen Vollkommenheit, macht ihn zur Krone derSchöpung und leitet ihn au den geraden Weg rechtschaener Be-harrlichkeit [istiqāma].

Doch au dem rechten Weg zu bleiben, ist nur durch das Zu-sammensein [suhba] mit den Rechtschaenen und Wahrhatigenerreichbar. Erst inolge dieses Zusammenkommens ist es möglich,das rechte Verhältnis im Ausgleich zwischen den Kräten der Seeleund des Körpers herzustellen, bis schließlich die Seele als Sultanüber den Körper, als ihren Diener, herrscht. Dann kann das Herz– jener Ort, au dem der göttliche Blick des Allmächtigen ruht – in-

neren Frieden und Erleichterung erahren, weil es in die Lage ver-setzt wird, zur Wahrheit [al-Haqq] zu inden.Au dem Weg zur Vervollkommnung sieht sich der Gottes-

diener verschiedenen Prüungen seines Glaubens ausgesetzt. Au  jeder Stue seiner Reise in die Ewigkeit wird er dabei entsprechenddem Maß seiner Aurichtigkeit behandelt. Der Schlüssel zur Barm-herzigkeit Allāhs liegt hierbei in dem Spagat zwischen Furcht undHonung – einer wichtigen „Munition“, um im Kamp gegen Gier,

Neid und Ambitionen die Oberhand zu gewinnen und dadurchzu innerer Zuriedenheit zu gelangen! Ein Gottesdiener, der dieseStue erreicht hat, lebt in einem Zustand ständiger Wachsamkeitgegenüber den Geahren der Achtlosigkeit [ ghaa] und dient sei-nem Herrn mit einem stets aumerksamen, reinen Herzen. Durch

1. Überlieert von al-Bukhārī und Muslim in ihren Sahīhs und al-Tirmidhī, IbnMājah, Abū Ya‘lā und al-Dārimī in ihren Sunan.

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Vorwort

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Beobachtung des Egos [nas] stärkt er das Herz und lernt, seinenZorn zu kontrollieren.

Au diese Weise begreien jene, die in der Lage sind, „wahreRingkämper“ zu sein, wie sie in dem Ausspruch des Propheten– Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – beschrieben sind,2 die göttliche Weisheit, welche Leben und Tod zugrunde liegt. Siesetzen nicht länger au die vergänglichen Freuden dieser Welt, son-dern sie sind ausschließlich bemüht, rechtschaene Werke zu ver-richten und ein Leben zu ühren, dessen Zierden Wissen, Erkennt-

nis, Dienerschat und Gottesdienst sind. Weil ein derartiges Lebendas Herz mit Liebe zu Allāh erüllt, begreit der Gottesdiener denwahren Sinn und die Schönheit des Todes und erkennt in ihm diesehnsüchtig erwartete Vereinigung mit dem Geliebten.

Die wahrhat Gläubigen verdienen tagsüber zum Wohlgeal-len Allāhs ihren materiellen Lebensunterhalt au zulässige Weisedurch rechtschaenes Handeln und erwerben ihre spirituelle Nah-

rung von der Tael des All-Barmherzigen durch ihre Gebete imschützenden Dunkel der Nacht. Aus diesem Grunde machen siesich weder Sorgen über ihre vergängliche materielle Versorgung,noch werden sie von anderen weltlichen Ängsten geplagt. Ihre vonGottvertrauen und Hingabe erüllten Seelen sind wie Wolken, dieüberall – Leben spendenden Regentropen gleich – Barmherzig-keit verbreiten. Sie sind Quellen von Zuriedenheit und Segnungenür die Gesellschat, und sie verwandeln ihre Familien, die deren

Grundsteine bilden, in Gärten des Paradieses in dieser Welt.In dieser Welt der Prüungen, mit ihren gottgegebenen Erschei-

nungen eines ununterbrochenen erbitterten Kampes zwischenLicht und Finsternis, beziehen jene, die diesen Paradiesgärten ent-stammen, immer Stellung au Seiten des Rechts und der Wahrheit– gemäß dem geraden Weg, den die göttlichen Gebote weisen. Sie

2. Überlieert von al-Bukhārī und Muslim in ihren Sahīhs.

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beolgen die Bestimmungen des Edlen Qur’ān [al-Qur’ān al-karīm]begeistert und voll innerer Hingabe und bemühen sich, das stilleund wortlose Buch des Universums zu entziern und seine Weis-heiten, Mysterien und Wahrheiten zu enträtseln. Dabei werden sieselbst zu Spiegeln jenes spirituellen Erblühens und Wohlergehens,das ihnen gewährt wird. Dies ist der vortreliche Zustand eines„lebenden Qur’ān“; und ürwahr, all jene rechtschaenen Kämpe– angeangen von der Schlacht von Badr, bis hin zu den von unse-ren osmanischen Vorahren ausgetragenen Geechten – sind nichts

anderes, als Anstrengungen, diesen Zustand zu erreichen und zubewahren.

Dies ist eine kurze Zusammenassung dieses bescheidenenWerkes, welches ich  Aus den Gärten des Herzens: Das Geheimnisder Gottesliebe genannt habe.

Möge unser Herr uns die Maniestation göttlicher Gnadenga-ben und inspirierter Spiritualität zuteil werden lassen! Möge Allāhunser Inneres mit der begeisterten Verzückung wahren Glaubenserüllen und unsere Herzen vom Licht des Qur’ān erstrahlen lassen,au dass in ihnen Quellen der Erkenntnis und Weisheit entsprin-gen, die unser Bewusstsein mit Seiner Liebe, Seiner Barmherzigkeitund Seinem Mitgeühl durchdringen!

Āmīn!

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Einer der Gottesreunde berichtete: „Einmal kam ich in eineweite, unbewohnte Ebene. Dort begegnete ich einem einsa-men Hirten. Ich sah, wie er, in tieer Gottesurcht versun-

ken, sein Gebet verrichtete, während Wöle seine Herde hüteten.

Dies verwunderte mich sehr, sodass ich ihn, nachdem er sein Gebetbeendet hatte, ansprach und ihn ragte:

‚O Hirte, wie ist es dazu gekommen, dass die Wöle zu Freun-den der Schae geworden sind? Wie kommt es, dass sie ihreindseliges und bestialisches Wesen augegeben haben undstattdessen vertrauenswürdig und liebevoll geworden sind?‘

Der rechtschaene Hirte, dessen Angesicht hell vom Glanz derNiederwerungen des Gebetes erstrahlte, antwortete:

‚O einsamer Wanderer! Du musst wissen, dass das Geheimnis,welches die Freundschat der Wöle mit den Schaen erklärt,au der Freundschat zu dem eigentlichen, wahren Herrn derHerde gründet. Das heißt, dass dieser Zustand eines der Ge-heimnisse der Liebe widerspiegelt.‘ “

Diese Geschichte birgt in sich das Geheimnis, dass es – aus derSicht der seelischen Entwicklung des Menschen – keine wirksa-mere Krat als die Liebe gibt. Besonders wenn diese Liebe sich zuleidenschatlicher Hingabe steigert, verbrennt ihr Licht sämtlicheirdischen Wünsche und Begierden. Alle Schleier der Dunkelheit

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werden gelütet und dem Herzen3 werden endlose, erhabene Er-ahrungen zuteil.

Wie in den Worten des berühmten Ausspruchs „Ich war ein verborgener Schatz; und um erkannt zu werden, erschu Ich inMeiner Liebe diese Schöpung.“4 zum Ausdruck kommt, ist eineder höchsten Eigenschaten dieses „verborgenen Schatzes“ Seineabsolute, liebevolle Güte.

Allāh, der Schöper aller Dinge, hat sie allesamt als Zeichen Sei-ner grenzenlosen Kunstertigkeit und Vollkommenheit erschaen.

Die Existenz des Menschen – des Meisterwerks göttlicher Schöper-krat – ist eine beispiellose Maniestation von Liebe und Zuneigung.Der Sinn der Erschaung dieser Welt besteht keineswegs allein dar-in, sie mit herrlichen, grünen Landschaten, tieen Tälern, gewaltigenWüsten und erhabenen Gebirgen zu schmücken: Der wahre Schöp-ungsgrund der Erde und aller Kreaturen au ihr ist der Mensch. Erist dazu erschaen, ein Quell der Liebe und die Quintessenz des Uni-

 versums zu sein.Die Liebe ist eine Eigenschat, die in jedem Lebewesen als

naturgegebene Anlage existiert, weil die Liebe der ursprünglicheGrund seiner Erschaung ist. Selbst an Skorpionen lässt sie sicherkennen, wenn man beobachtet, wie ein Skorpionweibchen behut-sam seine Jungen hin- und herträgt. Diese Veranlagung zur Liebeist am stärksten im Menschen ausgeprägt, der das ehrwürdigstealler Geschöpe ist. In dieser Welt, die voller Versuchungen und

3. Im Islam ist das (spirituelle, nicht das physische) Herz das Organ der Wahr-nehmung spirituellen und metaphysischen Wissens. In Bezug au eine derbedeutendsten Visionen des Propheten – Segen und Friede seien au ihm –sagt Allāh: {Das Herz log nicht, in dem was es sah! } (53:11). Und an andererStelle im heiligen Qur’ān heißt es: {Denn wahrlich, es sind nicht die Augen,die blind sind, sondern die Herzen in der Brust sind blind! } (22:46; siehe auch2:9-10; 2:74; 8:24; 26:88-89; 48:4; 83:14. Insgesamt wird das Herz mit seinenSynonymen im Qur’ān über hundert Mal erwähnt).

4. Ismā‘īl Hakki Bursevī in Kenz-i Mahī .

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Heimsuchungen ist, erwirbt der Mensch den Lohn seiner Liebeentsprechend dem Wert dessen, au den oder das sich seine Lieberichtet. Das bedeutet, dass das Herz des Menschen, das mit einerFähigkeit zur grenzenlosen Liebe erschaen wurde, nur dann Voll-kommenheit erreichen kann, wenn der Mensch dieses Potential derLiebe ganz Allāh zuwendet. Andernalls wird er unweigerlich nie-dere und letztendlich nutzlose Ziele verolgen, so dass sein Lebenin Enttäuschung und Unglück endet. Wenn der Mensch hingegenseine Veranlagung zu lieben Allāh und denen, die Allāh liebt, wid-

met, kann er sein Potential zur geistigen Entwicklung nutzen undsich im spirituellen Sinne voll entalten.

Gleichzeitig wird der Mensch von Allāh dahingehend geprüt,ob er andere oder anderes liebt. Aus diesem Grunde hat Allāh demMenschen neben den positiven auch negative Veranlagungen ge-geben. Allāh, der Erhabene, hat den Menschen etwas von SeinenEigenschaten der absoluten Existenz, absoluter Schönheit und

absoluter Güte verliehen, sie jedoch zugleich mit deren Gegen-sätzen, absolutem Nicht-Sein, absoluter Hässlichkeit und absolu-ter Schlechtigkeit versehen. So heißt es in einem Vers des EdlenQur’ān:

{Bei der Seele und bei Dem, der ihr ihre Gestalt verliehen und ihr dann Sündhafigkeit und Gottesurcht eingegeben hat…}5

So ist der Mensch während seines ganzen Lebens diesen gegensätz-lichen Anziehungskräten unterworen. Das Schlimmste, was einemMenschen geschehen kann, ist, dass er ganz und gar unter den Ein-luss der negativen Kräte gerät. Wenn dies geschieht, wird er mit derBlindheit der Selbstherrlichkeit und des Stolzes au sein eigenes Tungeschlagen. Durch diesen Mangel wird er unähig, seine menschliche

5. Qur’ān, 91:7-8.

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Schwäche und Unvollkommenheit zu erkennen. Dieser Zustand isteine der schlimmsten Formen von Achtlosigkeit und eine geährlichespirituelle Krankheit, weil diese Haltung eine völlige Entremdungdes Menschen von der Erkenntnis der göttlichen Allmacht mit sichbringt.

Die wahre Bedeutung des Ausspruchs „Stirb, bevor du stirbst!“besteht darin, sich vor alschen Haltungen und schlechten Ange-wohnheiten in Sicherheit zu bringen und nicht jenen negativenKräten in die Falle zu gehen und letztlich in ihrem Strudel unter-

zugehen. Der ehrwürdige Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī sagt:

Solange sich das Wasser unter dem Schi bendet, stellt es einetragende Kraf dar. Wenn es jedoch das Innere des Schies üllt,

 ührt es zu dessen Untergang! Das Gleiche gilt ür das Feuer,welches das Schi antreibt. Solange es den Kessel erhitzt, treibt es das Schi an, wenn es jedoch das Schisdeck erasst, geht das

Schi in Flammen au.

Ein Gottesdiener nähert sich seinem Herrn in dem Maße, wie erden Einluss negativer Kräte reduziert. Die einzige Methode, dieszu erreichen, besteht darin, seine Liebe – so viel die Fähigkeit sei-nes Herzens es ermöglicht – ganz und gar Allāh zuzuwenden. Da-bei gibt es jedoch eine Reihe von Geahren, wenn man versucht,sein Herz ganz Allāh zuzuwenden. Das Herz könnte an einem ge-wissen Punkt in Flammen augehen, als wäre es mit einer Hoch-spannungsleitung verbunden, sodass der Mensch dabei sein Lebenlassen kann. Das In-Erscheinung-Treten Allāhs ür den ProphetenMūsā – au ihm sei der Friede – lieert hierür ein gutes Beispiel:

Allāh, der Allmächtige, sprach am Berge Sinai zu Mūsā – au ihmsei der Friede – mit der Eigenschat Seines Ewigen Wortes. Dabei

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 verlor sich Mūsā – ergrien von der spirituellen Anziehungskratder göttlichen Ansprache, die ihn, anders als alles Menschenwortganz ohne Buchstaben und Worte, erreichte – vollkommen in lei-denschatlichem Verlangen und überwältigender Gottesliebe. Dabegehrte er, Allāh, den Allmächtigen, zu sehen. Doch es wurde ihmgeantwortet: {Du kannst Mich nicht sehen! }6

Als er dennoch au diesem Wunsch bestand, ließ Allāh ihnwissen, er solle seinen Blick, geschützt durch einen Schleier, au den Berg richten. Als darauhin ein winziger Strahl vom göttlichen

Licht des Herrn au den Berg tra, zerbarst dieser. Angesichts diesesurchterregenden Ereignisses verlor Mūsā – au ihm sei der Friede– das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, bat er Allāh, denAll-Verzeihenden, um Vergebung.

Wie diese, selbst das spirituelle Fassungsvermögen eines dergroßen Propheten übersteigende, gewaltige Maniestation desGöttlichen zeigt, verlangt also die Liebe zu Allāh ein behutsames

und graduelles Vorgehen. Dabei bedar es einiger vorbereitenderÜbungen, um die Fähigkeit, Allāh zu lieben, zu entwickeln. Dasbedeutet, dass man sich in die spirituelle Gegenwart jener Freundedes All-Erhabenen, die sich von der Herrschat ihres Egos bereithaben, begeben sollte, um mit ihnen die Stuen der notwendigenÜbungen zu durchschreiten. Nur so kann das Herz die ihm in-newohnenden Anlagen zur Liebesähigkeit entalten und durchLäuterung von negativen Eigenschaten bereit werden, sodass es

schließlich einen Zustand erreicht, in dem es die göttliche Liebewie ein glänzend polierter Spiegel relektiert.

Die Liebe zu den Eltern, zum Ehemann, zur Eherau oder zuunseren Kindern, sowie die dem Menschen gegebenen materiellenund spirituellen Möglichkeiten und Gaben, sind allesamt Ausdruck der Gnade und Großzügigkeit Allāhs gegenüber Seinen Dienern.

6. Qur’ān, 7:143.

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Doch sollten all diese verschiedenen Formen der Liebe stets alsLiebe um Allāhs willen und als Mittel au dem Wege zu Allāh be-trachtet werden. Wir düren nicht zulassen, dass unsere Herzen zuGeangenen der Liebe zu Menschen oder Materie werden, denn diewahre leidenschatliche Liebe zur absoluten Schönheit Allāhs dul-det neben sich keine Liebe zu unvollkommenem Stückwerk. Wersein Herz an Bruchstücke verliert, dem bleibt das vollkommeneGanze au Dauer verwehrt. Das heißt, wer sein Herz an diese Welt

 verschwendet, wird keine Gottesliebe erahren können. Der ehr-

würdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī bringt diesen Sachverhalt in denolgenden Versen trelich zum Ausdruck, wenn er sagt:

Diejenigen, die ihr Herz an diese Welt verschenken, gleicheneinem Jäger, der einem Schatten nachjagt. Wie kann er einenSchatten angen?   Einer von jenen, die keinen Verstand besitzen, hielt den

Schatten des Vogels ür den Vogel selbst und mühte sich, ihn zu angen. Und selbst der Vogel au dem Ast wunderte sich, was jener da vollührte.

Jeder mit Verstand begabte, der über sein Ende nachdenkt, wirdleicht begreien, dass es notwendigerweise zum Sinn der Schöpunggehört, dass man sein Streben nach Genüssen und Vergnügungen,sowie die Liebe zu weltlichen Dingen, einschränken und seine Lie-be dem Allmächtigen zuwenden muss.

Die absolute Schönheit ist die Schönheit Allāhs – alle anderenFormen von Schönheit, die wir erahren düren, sind nichts weiterals ein Abglanz Seiner göttlichen Schönheit.

Ein wunderbares Beispiel daür ist die Liebe zwischen Lay-la und Majnūn. Hätte sich Majnūns Herz ganz und gar au Lay-la ixiert, wäre sie ür ihn zu einem Götzen geworden. Doch die

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Liebe zu Layla spielte ür Majnūn nur eine vorübergehende Rolle.Nachdem Majnūns Herz eine Stue der Liebe erreicht hatte, die ihmermöglichte, Gottesliebe zu empinden, verlor seine Beziehung zuLayla in seinen Augen an Bedeutung. Auch wenn er zu Beginn sei-nes Weges vollkommen au Layla ixiert war, gelang es ihm schließ-lich doch, sein Herz ganz seinem erhabenen Herrn zuzuwenden.

Jede Form von Liebe ist deshalb in dem Maße erstrebenswert,in dem das, worau sie gerichtet ist, annehmbar ist – ansonstenbringt diese Liebe dem Herzen letztendlich nur Schaden und Ver-

lust. Das Herz sollte jedoch – nachdem es die Segnungen dieser verschiedenen Formen von Liebe erahren hat, wie ein ruchtba-res Stück Erde den Segen ergiebigen Regens – hin zum wahrenGeliebten seines Weges ziehen. Denn eine Geahr liegt darin, zugroße Nähe oder Vertrautheit zu jenen auzubauen, die der Liebenicht würdig sind; noch schlimmer jedoch ist es, wenn man un-ähig wird, sich von ihnen zu trennen. Wäre Majnūn von seinem

Verliebtsein in Layla derart geesselt gewesen, dass er nicht über siehätte hinausgehen können, wäre seine Liebe vergebens gewesen. Erwäre – so wie zahllose andere, die sich ganz den vergänglichen undrelativen Formen der Liebe hingeben und ihnen verallen – zunich-te geworden.

Allāh der Erhabene ließ den ehrwürdigen Propheten Yūsu,der zu den Trägern des Lichts Muhammads – Allāh segne sie beideund schenke ihnen Frieden – zählt, nicht zu Grunde gehen, als sei-ne Brüder ihn in den Brunnen waren. Ein von starkem Durst ge-plagter Reisender ließ, in der Honung, in dem Brunnen Wasser zuinden, einen Eimer hinab. Als der ehrwürdige Yūsu sich am Seilesthielt und mit dem Eimer zum Vorschein kam, vergaß der Rei-sende seinen Durst. Er war von der atemberaubenden Schönheit,au die sein Auge iel, vollkommen verwirrt. Doch in seiner Acht-losigkeit war er unähig, die spirituelle Dimension dieser Schönheit

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zu erassen. So blieb er dem rein Materiellen verhatet und verkau-te Yūsu ür einen geringen Preis.

In eben dieser Weise verhält sich einer, der ganz von seinerLiebe zur äußerlichen Schönheit Laylas geesselt ist und dadurchunähig wird, sich dem Göttlichen zuzuwenden.

Dem Reisenden, der sein Seil mit dem Eimer honungsvoll,mit dem sehnlichen Wunsch, Wasser zu inden, in den Brunnenhinabließ, erönete sich eine einzigartige Gelegenheit, als er in An-betracht der unbeschreiblichen Schönheit des Propheten Yūsu –

au ihm sei der Friede – das Wasser vergaß. Im Brennglas dieserManiestation göttlicher Liebe, die ihm heller als das Sonnenlichtentgegenstrahlte, hätte er die Gelegenheit nützen können, alles ver-gängliche und relative, nutzlose Beiwerk ür immer zu verbrennen.Welch ein Jammer ür diesen verstandlosen Mann, dass er einzigund allein daran dachte, wie er mithile des ihm in die Hände geal-lenen ehrwürdigen Yūsu weltlichen Gewinn erlangen könnte. Au 

diese Weise verspielte er eine einzigartige Chance.Wir sind bemüht, den idealen Kurs zu beschreiben, den maneinschlagen muss, um das größte Maß an wahrer Liebe und leiden-schatlicher Hingabe zu verwirklichen. Die verschiedenen Stadiender Liebe zu durchschreiten, ohne dabei in irgendeine Form vonAnhatung zu verallen, ist ür die überwiegende Mehrheit der ge-wöhnlichen Menschen ein Ding der Unmöglichkeit.

Diejenigen, die eine solche Stue der Vollendung erreicht ha-ben, sind äußerlich augrund eigener Willensanstrengung, inner-lich jedoch durch die von Liebe erüllte Anziehungskrat ihrerBestimmung dorthin gelangt. Sie gelangen in die Gegenwart ihresHerrn, indem sie, au den unterschiedlichsten Wegen und mithil-e des ihnen verliehenen hohen Strebens, mehr oder weniger eineStue des Entwerdens von allem Vergänglichen erreichen. Am Endesteht dabei die Rückkehr zu ihrem Herrn – gleich einem Fluss, der

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im Meer mündet und damit sein eigenes Wesen und Dasein augibt

– im Zustand des völligen „Entwerdens in Allāh [Fanā’ ī Allāh]“und dem daraus resultierenden „Fortbestehen in Allāh [Baqā’ bi

 Allāh]“.7 Dabei sollten wir uns bewusst sein, dass die Fähigkeitenunseres Verstandes engen Grenzen unterliegen – etwas anderes an-zunehmen wäre reiner Wahnsinn! Die Grenzen des Herzens hin-gegen sind unendlich weit. Der Ruhepunkt wird im „Entwerden inAllāh“ und im „Fortbestehen in Allāh“ erreicht. Meister Jalāl al-DīnRūmī beschrieb in wunderbarer Weise, in welcher Gottesliebe er

im Zustand des Fanā’ ī Allāh und Baqā’ bi Allāh brannte, und wiedies Feuer selbst nach seinem Tode nicht zu löschen sei:

Nach meinem ode önet mein Grab, und schaut, wie der 

Rauch aus meinem Leichentuch austeigt! Was den od urcht-

erregend erscheinen lässt, ist nur der Käg des Körpers. Wenn

du mithile der Liebe diesen – einer Muschelschale gleichenden

– Körper durchbrichst, wirst du sehen, dass der od einer Perle gleicht! 

Eine der wichtigsten speziellen Eigenschaten der Gottesreundebesteht darin, dass sie ganz und gar von leidenschatlicher Gottes-

7. Der Begri Fanā’ ī Allāh bedeutet im asawwu das dauerhate Ausmerzenaller aus Allāhs Sicht unliebsamen Eigenschaten [al-akhlāq al-dhamīmah]

aus dem Herzen und erordert ein völliges Eliminieren aller vom mensch-lichen Ego [nas] ausgehenden Begierden. Dies wird auch als akhliyya be-zeichnet, womit ein vollkommenes „Entleeren“ des Herzens von allem, wasnicht hinein gehört, gemeint ist. Mit Baqā’ bi Allāh wird im asawwu  diedauerhate Verinnerlichung der guten, von Allāh geliebten Eigenschaten imHerzen beschrieben, welche das Ergebnis vollkommener und beständigerHingabe und Unterwerung unter den Willen Allāhs ist. Dies wird auch alsahliyya bezeichnet, womit eine andauernde „Verschönerung“ des Herzensmit guten Eigenschaten [al-akhlāq al-hamīda], die est darin verwurzeltsind, beschrieben wird.

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liebe ergrien sind. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī war, wie seine obi-

gen Worte deutlich machen, au der Suche nach solchen in leiden-schatlicher Hingabe entbrannten Liebenden. Dies bringt er auch

zum Ausdruck, wenn er sagt:

Ich suche einen leidenschaflich Liebenden, dessen innere Flam-

me dem Jüngsten age gleicht und dessen Herzensglut das Feu-

er selbst zu Asche verbrennt! 

Es gibt zwei Arten leidenschatlicher Liebe [‘aschq]: die „sinn-

bildliche Liebe [‘aschq majāzī ]“ und die „wirkliche Liebe [‘aschq

haqīqī ]“. Die Liebe zu allem Erschaenen, und die damit ver-

bundenen, weit verbreiteten Zustände von Abhängigkeit, Sucht

nach oder Hingabe an Erschaenes, das heißt, Liebe zu allem

außer Allāh, allen in den Bereich der „sinnbildlichen“ Liebe,

während allein die tiee, von Herzen kommende Liebe zu unse-

rem Herrn, dem Pol aller Schönheit und Vollkommenheit, dieBezeichnung „wirkliche Liebe“ verdient.

Diejenigen, die den Spiegel ihres Herzens mit der wirklichen

Liebe zu ihrem Herrn blankgeputzt haben, erblicken darin in je-

dem Augenblick neue Widerspiegelungen von Schönheit, und sie

werden zu Zeugen des Fließens der zahllosen Ströme göttlicher

Macht. Ihnen oenbart sich die in ihrem Inneren verborgene wah-

re Bedeutung des Begris der {vorzüglichsten Gestalt }.8 Denn siesind nicht geangen in jener Welt der Farben und Gerüche, deren

sinnbildliche Schönheit uns umgibt. Sie sind weit über alle weltli-

chen Farben und Gerüche hinausgegangen, denn sie haben Gotte-

serkenntnis [ma‘riat Allāh] erlangt. Sie haben alle äußerliche Zier

8. So wie es im Qu’rān, 95:4, heißt: {Fürwahr, Wir haben den Menschen in der vorzüglichsten Gestalt erschaen.}

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hinter sich gelassen, sind zur absoluten Wirklichkeit vorgedrungenund leben dort in der Schau der göttlichen Unendlichkeit.

Der große Schleier zwischen Allāh und Seinen Dienern bestehtnicht in der physischen Distanz zwischen Himmel und Erde, er be-steht vielmehr in der Wahrnehmung des Egos, das sich selbst als

 von seinem Schöper getrennt existierend betrachtet. Aus diesemGrunde sagt Allāh, der Erhabene: {als Ich ihm von Meinem Geist eingehaucht hatte},9 um die Menschen an jene edle Essenz zu erin-nern, die Er selbst ihnen geschenkt hat.

Der Sultān der Gotterkennenden, ‘Abd al-Qādir al-Jīlānī,deutet die Allāh zugeschriebenen Worte „Ich bin das Geheim-nis des Menschen […]“10 als Erklärung dieses Zusammenhangs.Demnach können wir sagen, dass die göttlichen Schätze und Ge-heimnisse allesamt dem Menschen gewidmet sind, indem Allāh,der Allmächtige, in Seiner hocherhabenen göttlichen Existenzwünscht, von der geheiligten Daseinsorm des Menschen erkannt

zu werden. Wenn dieses große Potential und göttliche Geschenk an den Menschen durch die Liebe und leidenschatliche Hingabedes Gläubigen zur Vollkommenheit heranreit, beginnt das HerzSchritt ür Schritt die Welten der göttlichen Geheimnisse zu er-assen. Die Geheimnisse der Welt des Göttlichen, die Wirklichkeitder Dinge, die Mysterien des Menschseins und der Schöpungwerden ihm oenbar, und die Maniestation des reinen Herzens[qalb salīm]11 tritt im Gottesdiener zutage.

Wenn der Diener diese Reie erreicht hat, wird der Schleierder Achtlosigkeit, welcher ihn von Allāh trennt, ür ihn gelütetund der Diener erasst das Geheimnis der Worte „Stirb, bevor du

9. Qu’rān, 15:2910. Fusūs ’l-Hikem erc. ve Şerhi, I, 48.11. Siehe Qur’ān, 26:88-89: { An jenem age werden weder Besitz noch Nachkom-

men etwas nützen, sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzen er-scheint.}

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stirbst!“ Die Welt des Diesseits, all ihre vergänglichen Formen derLiebe und alle scheinbare Schönheit, verlieren in seinen Augenihren Wert und verlassen sein Herz. Dann erährt die Seele denunbeschreiblichen Genuss, sich ihrem Schöper nähern zu düren.Meister Yūnus Emre drückt das in seinen Worten so aus:

Die Sus brauchen ihre Zusammenkunf,die Bruderschafler brauchen das Jenseits,

 Majnūn braucht seine Layla,

doch ich brauche nur Dich, nur Dich! 

Au dieser spirituellen Rangstue kann nichts das Herz des Suchen-den beruhigen – außer der Gegenwart des Allerhöchsten! Einerder großen Gottesreunde, der ehrwürdige ‘Azīz Mahmūd Hüdāyī,

 verleiht diesem Zustand leidenschatlicher Gottesliebe Ausdruck,indem er ihn in olgenden Versen besingt:

Sehsüchtig nach der Größe und Vollkommenheit Allāhs,kann nichts, wirklich nichts, das Herz erreuen! In inniger Begegnung will es getröstet werden.

Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erreuen! 

Welcher Liebende and denn den Geliebten? Nichts nutzte sein Königreich dem Sulaymān,

die Liebe ließ ihn verwirrt zurück! Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erreuen! 

Weder im Rückzug, noch unter Menschen,weder in der Menge, noch allein,

weder am Paradiesbaum uba, noch im Paradies.Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erreuen! 

Ob im Diesseits oder Jenseits,

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ohne Dich zu erlangen, ist alle Liebe vergebens! Was wirst du mit Hüdāyī tun, O Herr? 

Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erreuen! In diesem Zustand und seiner Beschreibung tritt die Erhabenheit

einer selbstlosen Liebe zu Allāh zutage, die das Herz ganz und garerasst, es dazu bringt, nichts anderes mehr wahrzunehmen, sich in

ständig wachsender Liebe von allen Anhatungen zu bereien und

sich seinem Herrn zuzuwenden. All dies inden wir zusammenge-

asst in den Worten Allāhs, des All-Erhabenen:

{Diejenigen, die gläubig sind, sind am stärksten in ihrer Liebe

zu Allāh! }12

Dabei düren wir nicht vergessen, dass die einzige Quelle der

Barmherzigkeit und Zuneigung, die uns zum Ozean der Got-tesliebe ührt, der Prophet ist – möge Allāh ihn segnen und ihm

Frieden schenken. Muhammad – Segen und Friede seien au ihm– zu lieben bedeutet Allāh zu lieben! Ihm zu gehorchen bedeutetAllāh zu gehorchen und Ungehorsam ihm gegenüber ist Ungehor-

sam gegenüber Allāh. Die ehrwürdige Gegenwart des Propheten

ist ein Zuluchtsort ür die Menschheit, und diejenigen, die in derErkenntnis Allāhs leben, wissen, dass der Grund ür die Erscha-

ung und die Existenz des Universums die Liebe zu Muhammad ist.

Das gesamte Universum ist der Existenz des Lichts Muhammads –Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – gewidmet.

Aus diesem Grunde stellt die Liebe zu Muhammad – möge

Allāh ihn segnen und ihm Frieden schenken – eine Ausnahme von

den unterschiedlichen Formen der Liebe zu anderem außer Allāhdar und birgt keine der damit verbundenen Geahren in sich. Es

12. Qur’ān, 2:165.

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ist nicht nur zulässig, sondern sogar Plicht, den Propheten von

ganzem Herzen zu lieben. Ein Beispiel ür diese Liebe inden wirin der ehrwürdigen Tochter des Propheten – Allāh segne ihn undseine Familie und schenke ihnen allen Frieden – Fātima, die ihremSchmerz bei der Nachricht vom Tode ihre geliebten Vaters Aus-druck verlieh, als sie sagte:

„Als der Stolz des Universums in die Welt der Ewigkeit hinü-berging, empand ich, dass eine Katastrophe über mich kam,

die, wenn sie über die dunkelste Finsternis gekommen wäre,deren Farbe verdunkelt hätte!“13

Der schönste und nachdrücklichste Ausdruck der Liebe zum Pro-pheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – besteht imGehorsam ihm gegenüber. Augrund der goldenen Regel „DerLiebende sollte alles lieben, was sein Geliebter liebt!“ gilt es, dem

Propheten – Friede und Segnen Allāhs seien au ihm – in allenBereichen zu gehorchen. Diese Liebe bildet die Grundlage ür dieLiebe zu Allāh. Jede andere Liebe ist – aus der Sicht des Qur’ānund der Sunna betrachtet – bedeutungslos. Und der einzige Weg,zur Gottesliebe zu gelangen, besteht darin, ihn zu lieben. Die hin-gebungsvolle und leidenschatliche Liebe zum Propheten – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden – ist sozusagen das Rückgratwahrer Gottesliebe. Der ehrwürdige Meister Maulānā Jalāl al-Dīn

Rūmī rut uns zu:

Komm herbei, O Herz, der wahre Festtag ist der ag der An-kunf des edlen Muhammad! 

Denn aller Glanz des Universums erstrahlt im Licht der Schönheit dieses gesegneten Wesens.

13. Vom Autor zitiert aus Sahih-i Buhārī Muhtasarı, Bd. IV, S. 45.

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Au dem Weg der Lauterkeit, der zur reinen Gottesliebe ührt, stelltdie Liebe zum Propheten – Segen und Frieden seien au ihm – denhöchsten Punkt dar, den ein Mensch erreichen kann. Denn Allāh,der Erhabene, hat allen menschlichen Fähigkeiten, einschließlichder Wahrnehmung und dem Verstand, Grenzen gesetzt, währendSeine göttliche Essenz – in ihrer absoluten Transzendenz – jenseitsaller Grenzen, jenseits aller Jenseitigkeit, in unerreichbarer Enter-nung liegt. Allāh der All-Erhabene sagt darüber hinaus:

{Wahrlich, euer engster Vertrauter ist Allāh, sowie Sein Ge-sandter und diejenigen, die gläubig sind – diejenigen, die dasGebet verrichten und die Zakāt entrichten.}14

Aus diesem Vers können wir entnehmen, wem sich die Gläubigenin vertraulicher Freundschat zuwenden sollen, nämlich Allāh,

dem Erhabenen, Seinem Gesandten – Allāh segne ihn und schenkeihm Frieden –, sowie denen, die sich ganz Allāh hingegeben haben,den Rechtschaenen und allen Gläubigen.

Die Liebe zu Allāh ordert von uns zugleich, das Licht Mu-hammads zu lieben, sein ehrwürdiges Wesen zu lieben, die Gottes-reunde zu lieben und dann, entsprechend dem Grad ihres Anse-hens in der göttlichen Gegenwart, jeden von Allāh Gewürdigten zulieben. Ein solcher Zirkel der Liebe in Hinwendung zu Allāh ist ein

Quell der Barmherzigkeit, der die Seelen erquickt.Jede Liebe, die sich außerhalb dieses Kreises bewegt, wider-

spricht der inneren Logik dieses hohen Ideals von Liebe. Deshalbstellt die Liebe zu Allāhs Gesandtem – Allāh segne ihn und schen-ke ihm Frieden – und seinen wahren Erben, den Gottesreunden,einen Segen dar, während Reuegeühl und Scham in dieser Welt

14. Qur’ān, 5:55.

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und in der nächsten diejenigen erwarten, welche diesen eindseliggegenüber stehen. So wie Allāh, der Erhabene, es in einem Hadīthqudsī 15 ausdrückt:

„Wer einem Meiner Vertrauten [walī ] Feindschat entgegen-bringt, dem habe Ich den Krieg erklärt!“16

Und in einem Vers des Edlen Qur’ān beschreibt Allāh, der Erha-bene, die Gläubigen als diejenigen {die einander in Barmherzig-

keit begegnen}.17 In einer weiteren Überlieerung heißt es über dieGläubigen:

„Sie besuchen jene, die nicht zu ihnen kommen, sind reigie-big gegenüber denen, die ihnen nichts geben und vergeben

 jenen, die ihnen Unrecht tun!“18

Die Herzen der Gottesreunde gleichen Muscheln, die – gesegnet vom segensreichen Schauer eines warmen Frühlingsregens – mitihrem schillernden Perlmutt kostbare Perlen produzieren. Indemsie den sorgengeplagten Herzen ihre Liebe schenken, verwandelnsie diese mit der subtilen Gnade Allāhs [lut Allāh] in edle Perlen.Dabei genügt es schon, wenn der Suchende den im Perlmutt ver-borgenen Regentropen erkennt. In einem der Kommentare zuMaulānā Rūmīs Mathnawī inden wir die olgende Erklärung:

15. Ein Hadīth qudsī ist eine Überlieerung, die eine direkte Eingebung Allāhs anden Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – wiedergibt, imGegensatz zum Qur’ān, der das Wort Allāhs, überbracht vom Erzengel Jibrīl,ist, sowie zu einem gewöhlichen Hadīth, welches eine Überlieerung einerAussage des Propheten oder eines seiner Geährten ist.

16. Überlieert in Sahīh al-Bukhārī , Riqāq, 38.17. Qur’ān, 48:29.18. Ihyā ‘Ulūm al-Dīn, Bd. III, 1151.

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 Allāh, der Besitzer des göttlichen Wortes, üsterte ein Geheim-

nis ins Ohr einer Wolke, und aus ihren Augen stürzte das Was-ser wie aus Schläuchen hervor. Er vertraute dem Ohr der Roseein Geheimnis an, und verlieh ihr damit königliche Farben und Duf. Er teilte dem Stein ein Geheimnis mit, und dieser verwan-delte sich in der Verborgenheit der Mine in glänzend schim-mernden Achat. Das heißt, mit Seiner Eigenschaf der subtilenGnade ließ Er die Wolke segensreichen Regen spenden, veredel-

te Er die Rose und verlieh Er dem Stein seine Kostbarkeit.Und auch dem Menschen vertraute Er ein Geheimnis an.Diejenigen, die dieses Geheimnis bewahren, hebt Er empor indie Ewigkeit. Sie bekommen ihre Inspirationen von der Welt desGöttlichen und erahren, bereit von ihrer Körperlichkeit, dasGeheimnis der Gottesnähe.

Im Verlau der Geschichte waren es die Propheten und Gottesreun-

de, denen dieses Geheimnis zuteil wurde, indem sie die höchstenStuen der Liebe verwirklichten und so zu Vorbildern ür die voll-kommene Verwirklichung der gottgegebenen natürlichen Anlagendes Menschen wurden.

Möge Allāh uns die Gnade wahrer Liebe zu Ihm, zu Seinem gelieb-ten Propheten und Seinen vertrauten Gottesreunden gewähren!

Möge Allāh, der Erhabene, Seine Gabe des Lebens nicht von unsnehmen, bevor wir die rechtschaenen Werke verrichtet haben,die ür unsere Vergebung im Jenseits nötig sind, und nicht bevorunsere Herzen von der prachtvollen Maniestation göttlicher Lie-be erüllt sind!

Āmīn!

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 Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch

Einer Überlieerung zuolge begegnete ‘Īsā – au ihm sei Friede– einmal einem Mann, an dessen Körper die Haut in Fetzenherunterhing und dessen Wangen völlig eingeallen waren.

Er hörte, wie dieser Mann, oensichtlich ohne seiner Krankheit die

geringste Bedeutung beizumessen, sprach:

„O Herr! Dir gebühren ewiger Lobpreis und Verherrlichungohne Unterlass daür, dass Du, angesichts der gewaltigen Zahlall Deiner schwergeprüten Geschöpe, gerade mich von derLast meines Elends bereit hast!“

‘Īsā – au ihm sei Friede – sagte zu dem Mann, mit der Absicht, des-sen Denk weise zu begreien und seine Vollkommenheit zu prüen:

„O du, welches Leid hat Allāh denn von dir genommen?“

Der kranke Mann antwortete ihm darauhin:

„O Geist Allāhs,19 die schrecklichste Krankheit und das größ-

te Elend besteht darin, wenn das Herz gegenüber Allāh, demAllmächtigen, achtlos und verschlossen ist. Ich danke Allāh,dem Erhabenen, dass Er mich davor bewahrt hat. Denn ichgehe ganz im köstlichen Geschmack und der Glückseligkeit

 jener Gotteserkenntnis au, die Allāh mir ins Innere meines

19. Im Islam wird ‘Īsā – au ihm sei Friede – entsprechend einem Vers im heili-gen Qur’ān mit dem Ehrentitel Rūh Allāh, d.h. „Geist Allāhs“, bezeichnet.

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 Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch

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Herzens gelegt hat. Das Glück und die Wohltaten der äuße-ren Welt hingegen sehe und spüre ich nicht.“

Der Mensch, über den Allāh, der Erhabene, sagt, dass Er ihn {in der vor züg lichsten Gestalt }20 erschaen hat, stellt innerhalb der Existenznur eine Art Ausgangspunkt oder Samenkorn dar. Denn Allāh, derVereiniger aller Gegensätze, hat ihm von allen unterschiedlichenEigenschaten einen mehr oder weniger großen Anteil verliehen.Und genau darin besteht die Weisheit seines ehrwürdigen Daseins-

zwecks.Aus dieser Sichtweise betrachtet, ist der Mensch sowohl mit

dem Potential, die höchsten Höhen edler Eigenschaten zu errei-chen, als auch mit den Anlagen zum Absturz in die tiesten Nie-derungen charakterlicher Abgründe ausgestattet. Das menschlicheLeben stellt eine ewig hin und her wogende Auseinandersetzungzwischen diesen beiden Polen dar. Der Mensch, den man als ein

„kleines Universum“ bezeichnen kann, präsentiert sich damit alsein Abbild des großen Universums und des darin ständig stattin-denden Wechselspiels gegensätzlicher Kräte.

Die einzigartige Besonderheit, die dem Menschen erst seinwahres Menschsein verleiht, ist die Fähigkeit, diesen naturgege-benen Zustand inneren Widerstreits zu einem positiven Ergebniszu bringen. Diejenigen, denen dieser Rang zuteil geworden ist,gebührt der Titel Insān kāmil , das heißt: „vollkommener Mensch“.

Sie sind anschauliche Exempel einster Wesensart und ein erlese-ner Born meisterlich ormvollendeter Mysterien. Sie sind die Zu-sammenassung des Buches der Existenz und seine Erönung;sie sind der Sitz der Maniestationen des Schöpungsgeheimnisses.Selbst der Körper eines solchen vollkommenen Menschen spiegelt,

20. Allāh sagt in der Ofenbarung: {Fürwahr, Wir haben den Menschen in der vorzüglichsten Gestalt erschaen.} (Qu’rān, 95:4)

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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augrund seiner außergewöhnlichen Kontrolle über seine Organe,

die Reinheit seines Herzens wider. Sein Herz ist ein Hort innigerLiebe und leidenschatlicher Zuwendung zu Allāh, es gleicht einem

prächtigen Palast, erüllt mit den herrlichen Schätzen der Erkennt-

nis Allāhs, des Erhabenen. Aus diesem Grund kann man das Herz

eines solchen vollkommenen Menschen im übertragenen Sinne als

„Haus Gottes“ [bayt Allāh] bezeichnen. Eine exakte, detaillierte Be-

schreibung oder perekte Analyse des „vollkommenen Menschen“

ist recht diizil. Der ehrwürdige Scheikh Sa‘dī al-Schirāzī sagt:

Das Herz ist der Ort, au dem der göttliche Blick Allāhs des All-

Gewaltigen ruht! 

Die Worte eines solchen vollkommenen Menschen sind voller

Weisheit und Geheimnisse, seine Handlungen sind rechtschaene

Werke. Sein Wesen ist ganz und gar vom Geist des ehrwürdigen

Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – durch-drungen. Durch das Wirken seines Herzens ist sein Dasein ein

ständiger Neubeginn; und es ist jener Zustand des von all seinen

Gebrechen genesenen, mit Frieden erüllten Herzens, der ihm sei-

ne Stellung in der göttlichen Gegenwart als Stellvertreters Allāhs

au Erden ermöglicht. Der vollkommene Mensch ist in seinem

Dasein derart von den Strömen göttlicher Gnaden bestimmt, dass

all seine Worte Darlegungen des göttlichen Gesetzes [scharī‘a],seine Taten Ausdruck des spirituellen Weges [tarīqa] und seine

Zustände Widerspiegelungen der absoluten Wirklichkeit [haqīqa]

sind. Sie umassen die wahre Essenz des Prophetenwortes:

„Wahrlich, unter den Erdenbewohnern gibt es Geäße Allāhs;

und die Geäße eures Herrn sind die Herzen Seiner recht-

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schaenen Diener, und am liebsten von ihnen sind Ihm die- jenigen, die am santmütigsten und am einühligsten sind!“21

Weiterhin wird überlieert, dass Allāh, der Erhabene, in einemHadīth qudsī spricht:

„Weder Himmel noch Erde können Mich umassen, doch dasHerz Meines gläubigen Dieners kann Mich umassen!“22

Der vollkommene Mensch gleicht in seiner bedingungslosen Liebezu seinem Herrn einem Schmetterling, der, bereit von den Fes-seln seines eigenen Wollens, willenlos das Licht umkreist. Für ei-nen vollkommenen Menschen bedeutet die göttliche Bestimmung,dass alles, was geschieht, stets vollkommen und das unübertroenBeste ist. Da er die Dinge ausschließlich aus der Perspektive desGöttlichen betrachtet, sind weltliche Leidenschaten und irdische

Wünsche seinem Blickeld ganz und gar entrückt. Von jener Wich-tigkeit, die gewöhnliche Menschen den vergänglichen Daseinszu-sammenhängen beimessen, ist bei ihm nichts mehr vorhanden.

Der vollkommene Mensch ist in seinem Zustand ganz au dieSchau der zeitlosen Schönheit des Göttlichen und den einzigarti-gen Gang der Weltenkreise ausgerichtet. Das Universum und alles,was sich darin ereignet, sind ür ihn Gleichnisse und Quell zahl-loser Weisheitslehren. In seiner Haltung absoluten Respekts und

seinem aurichtigen Streben nach dem Wohlgeallen des Allmäch-tigen, verzichtet er ür sich selbst au jede Art von Begehren. Selbstseine Bittgebete gelten immer nur den anderen. Sein Herz ist ganzdurchdrungen von einer natürlichen Wesensart allumassendenMitgeühls ür die gesamte Schöpung. Er hat erahren und ver-

21. Al-Tabarānī, Musnad al-Schāmiyyīn, Bd. II, Nr. 84022. Zitiert von Imām al-Ghazālī in Ihyā ‘Ulūm al-Dīn ohne Überlieererkette.

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innerlicht, dass jenes göttliche Programm, welches dem gesamtenUniversum zugrunde liegt – in absoluter Perektion und größterWeisheit – alles an seinen Platz gestellt und allen Dingen die voll-kommenste Form verliehen hat.

Der ehrwürdige Meister Sünbül Sinān – möge Allāh sein Ge-heimnis heiligen – ragte einmal seine Schüler:

„Was tätet ihr, wenn euch Allāh der All-Erhabene – was na-türlich vollkommen unmöglich und unvorstellbar ist – die

Autorität verliehe, das Weltgeschehen zu bestimmen?“

Nachdem sie zuerst von dieser unerwarteten Frage vollkommenüberrascht eine Weile sprachlos dagesessen hatten, begannen dieSchüler, einer nach dem anderen, unterschiedliche Antworten zugeben. Einer sagte:

„Ich würde keinen Ungläubigen mehr au der Welt übrig lassen.“

Ein anderer sagte:

„Ich würde alles Schlechte ausmerzen!“

Wieder ein anderer meinte:

„Ich würde alle Säuer vernichten.“

Und so gab jeder seine Ansicht zum Besten. Unter den Schülernwar einer, der zu all dem schwieg. Der Scheikh, dem dies natürlichnicht entgangen war, wandte sich ihm zu und ragte ihn:

„O mein Sohn, was würdest du denn tun?“

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 Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch

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Der Angesprochene wurde vor Scham ganz rot im Gesicht, weilder Scheikh ihm persönlich eine solch ungeheuerliche Frage stellte;dann antwortete er bescheiden, mit leiser Stimme:

„O mein Meister! Hat Allāh denn in der Bestimmung desWeltgeschehens – möge Er uns davor bewahren so etwas je-mals anzunehmen – die geringste Unvollkommenheit zuge-lassen, so dass ich irgendetwas anders machen könnte? Er hatdem Gläubigen seinen Platz bestimmt, und dem Ungläubigen

den seinen. Wie könnte ich mich angesichts der Allmacht, diesich ununterbrochen in der göttlichen Weltordnung des Uni-

 versums maniestiert, mit meinem dürtigen, unreien undbegrenzten Verstand erdreisten zu sagen: ‚Ich würde diesesso oder jenes so-und-so machen.‘?“

Dann senke er schüchtern seinen Blick zu Boden. Der ehrwürdige

Meister war über diese vortreliche und tiesinnige Antwort hoch-erreut. Mit einem Lächeln au den Lippen und einem lichtstrah-lenden Blick au seinen Schüler sagte er:

„Jetzt sind wir zu guter Letzt zum Zentrum (türk. merkez )dieses Themas vorgedrungen!“

Von diesem Tag an wurde jener Schüler, der eigentlich MustaaMuslih al-Dīn hieß, nur noch „Merkez Eendi“ genannt.

Da der vollkommene Mensch ganz und gar dem Wirken der Got-tesliebe und den Kräten seines leidenschatlichen Verlangens nachAllāh unterliegt, bleibt sein Herz vor den Anechtungen und Versu-chungen des Egos bewahrt. Er ist ein von göttlichem Licht durchdrun-gener Anziehungspunkt, zu dem die Menschen sich unweigerlich vol-ler Respekt und Liebe hingezogen ühlen. Diese Formen vergänglicher

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Zuneigung und Verbundenheit verleiten ihn jedoch keinesalls zu solchunwürdigen und niederen Empindungen wie Eitelkeit, Hochmut oderStolz. Der vollkommene Mensch ist ständig in der Gegenwart Allāhs,des Allmächtigen, auch wenn er sich mitten unter den Menschen be-wegt. Während er dem göttlichen Beehl Allāhs die höchste Achtungzollt, ist er gleichzeitig Allāhs Geschöpen mitühlend und gütig zu-geneigt, allerdings ohne dabei den Unterdrückern oder Übeltäternunter den Dienern Allāhs Freundlichkeit oder gar Sympathie entge-genzubringen.23 Dennoch empindet er in seiner Barmherzigkeit ihren

Zustand als schmerzlich, ühlt Mitleid mit ihnen und bittet Allāh umRechtleitung ür sie.

Geld und Gut, sowie alle anderen weltlichen Besitztümer,braucht er nur ür den einen Zweck, sie als Spenden an die Armenund Bedürtigen zu verteilen.

Der vollkommene Mensch widmet sich ganz der Gotteser-kenntnis und dem Erreichen der Gottesnähe. Tatsächlich ist er einbesonderer Diener Allāhs, denn Kummer und Leid dieses Univer-sums können ihm nichts anhaben, weil er die Welt des Diesseitsaus dem Blickwinkel des Gotteswortes { Alles was au ihr (der Erde)ist, wird vergehen}24 betrachtet. Er ist, au der Stue assungslosenErstaunens, in der Gegenwart seines ewig existierenden allmäch-tigen Herrn.

Das ausschließliche Ziel und Gegenstand allen Strebens des vollkommenen Menschen ist das Wohlgeallen Allāhs, des All-

mächtigen. Solange er sich nur in diese Richtung bewegt, ist ihmköstliche oder geschmacklose Kost ein und dasselbe. Ebenso gibtes ür ihn keinen Unterschied mehr zwischen wenig und viel, kaltoder heiß, Reichtum und Armut, denn all diese Dinge sind relativ.

23. Diese Verbindung von Gehorsam gegenüber Allāh und mitühlender Barm-herzigkeit ür Seine Geschöpe wird als ā‘zīm li-amr Allāh wa schaukat li-khalq Allāh bezeichnet.

24. Qur’ān, 55:26.

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 Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch

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Der vollkommene Mensch gleicht äußerlich einem besitzlosenFremdling. In der inneren Welt des Herzens jedoch bekleidet er inderart prunkvollen Palästen, au prächtig geschmückten Thronses-seln, die Stellung eines Sultans, dass die gesamte diesseitige Welt imVergleich dazu nicht mehr als ein Sandkastenspiel ist. Dementspre-chend begehrt er von den Menschen oder den Dingen dieser Weltnichts mehr von dem, was das menschliche Ego gewöhnlich gernehätte.

Die Werke eines vollkommenen Menschen sind geprägt von

Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit. Seine Gottesdienste ver-richtet er zur rechten Zeit makellos und in ormvollendeter Art undWeise, so wie der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – es beschrieben hat:

„Bei Allāh, ich bin derjenige unter euch, der Allāh, den Erha-benen, am meisten ürchtet und Ihm die größte Ehrerbietung

entgegenbringt. Dennoch aste ich manchmal und aste zu-weilen nicht; manchmal verrichte ich Gebete und manchmalruhe ich mich aus; und ich lebe in der Ehe mit Frauen.“

Aus diesen Worten lässt sich deutlich ablesen, dass der GesandteAllāhs – Segen und Friede seien au ihm – weder ununterbroche-nes Fasten, noch das Verbringen der ganzen Nacht im Gebet ohnezu schlaen, noch das ehelose Leben der Mönche praktiziert oderempohlen hat. Au der anderen Seite hat er jedoch keinesalls einenLebenswandel ohne die Disziplin des Fastens oder in Achtlosigkeit,

 voller Langschläerei und niederer egoistischer Gelüste, gutgehei-ßen. Daraus olgt, dass derartige romme Handlungen und Werkeweder vernachlässigt noch maßlos übertrieben werden sollten.

Der Mensch schuldet seinem Herrn gewisse Rechte, wie An-betung und Dankbarkeit; gleichzeitig schuldet er auch seinen An-

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gehörigen und sich selbst bestimmte Rechte. Der vollkommeneMensch lebt in einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen alldiesen Augaben und Verplichtungen.

Der vollkommene Mensch besitzt ein santmütiges Naturell,er hält stets sein Versprechen, bricht nie sein Wort und würdeniemals einem anderem Menschen um seines persönlichen Vor-teils willen Schaden zuügen. Er erüllt Allāhs Vorrechte au SeineDienerschat und verhält sich gleichzeitig seinen Mitmenschengegenüber gerecht.

Selbst, wenn ihm jemand ein Leid zuügt, empindet er kei-ne Bedrängnis. Wenn es sich bei demjenigen um einen Bedürti-gen handelt, dem er Gutes zu tun plegte, hört er deswegen nichtau, ihm im Rahmen seiner Möglichkeiten beizustehen. Da er mitden ihm von Allāh verliehenen höchsten Charaktereigenschatenausgestattet ist und nur nach dem Wohlgeallen seines Schöpersstrebt, entsprechen all seine Handlungen dem heiligen Qur’ān und

der prophetischen Sunna; und Allāh, der All-Erhabene, hört nichtau, all Seine Geschöpe in dieser Welt zu versorgen – selbst jeneunwissenden Achtlosen unter den Menschen, die Ihm ungehorsamsind.

Der ehrwürdige Abū Bakr – möge Allāh mit ihm zuriedensein – plegte einem Mann namens Mistah mit Spenden zu helen.Als er jedoch eruhr, dass Mistah zu jenen zählte, die an der Ver-leumdungskampagne [i] gegen seine Tochter ‘Ā’ischa, die Eheraudes Propheten – Allāh segne ihn und seine Familie und schenkeihm und ihnen Frieden –, beteiligt gewesen war, schwor er, ihmund seiner Familie nie wieder zu helen.

Nachdem die Unterstützung Abū Bakrs – möge Allāh mit ihmzurieden sein – eine Weile ausgeblieben war, ging es Mistah undseiner Familie sehr schlecht. In dieser Situation oenbarte Allāhder Erhabene, dass Seinen Dienern trotz ihrer Übeltaten das Mitge-

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ühl und die Barmherzigkeit nicht entzogen werden düre, indemman ihnen die dringend nötige Unterstützung verweigert:

  يل      هللا   يف   مل   ني  مل

  

هللا 

هللا 

,Und diejenigen, die begünstigt sind und Vermögen besitzen}حت  sollen nicht schwören, den Verwandten, den Bedürfigen und denen, die au dem Weg Allāhs ausgewandert sind, nichts zu-kommen zu lassen. Sie sollen ver zeihen und Nachsicht üben.Liebt ihr es selbst nicht auch, wenn Allāh euch vergibt? Und 

 Allāh ist verzeihend und barmherzig.}25

  ني        رب   ام   هللا   جت   هللا    

{Und nehmt bei euren Schwüren nicht Allāh als Hinderungs- grund, Frömmig keit zu üben, gottesürchtig zu sein und Frie-

den unter den Menschen zu stifen. Und Allāh ist allhörend und allwissend.}26

Nachdem diese Oenbarungen herabgesandt worden waren, sagteAbū Bakr – möge Allāh mit ihm zurieden sein: „Natürlich liebe

25. Qu’rān, 24:22.26. Qu’rān, 2:224.

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auch ich es, wenn Allāh mir verzeiht!“ Danach entrichtete er eine

Wiedergutmachung daür, seinen Schwur zu brechen, und begannerneut, Gutes zu tun, indem er denjenigen, der seine tugendhate

Tochter ‘Ā’ischa, die Mutter der Gläubigen, die reine Eherau des

Stolzes des Universums – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden

– mit übler Nachrede verleumdet hatte, mit großzügigen Spenden

unterstützte. Ein solches Verhalten ist in der Tat beispielhat; und

die überragenden Verdienste und die Vollkommenheit Abū Bakrs

– möge Allāh mit ihm zurieden sein – sind zweielsohne einzig-artig.

Der vollkommene Mensch gibt, zur rechten Zeit und am

rechten Ort, mit solcher Freigiebigkeit, dass mancher Betrachter

ihn ür einen Verschwender halten könnte. Ein anderes Mal oder

an einem anderen Ort mag es sein, dass er so wenig gibt, dass

man ihn ür knauserig oder geizig halten könnte. Die Wahrheit

 jedoch ist, dass er allein entsprechend dem Wohlgeallen seinesHerrn lebt und handelt. Und Allāh, der All-Erhabene, beiehlt im

Edlen Qur’ān:

           ني مل      

  

  ني

   مل

  

 {Und lass dem Angehörigen sein Recht zukommen, ebenso dem

Bedürfigen und dem Reisenden, doch handle nicht verschwen-

derisch; wahrlich, die Verschwender sind Brüder der Schaytāne;

und Schaytān ist ein Leug ner (der Gnaden) seines Herrn.}27

27. Qur’ān: 17:26-27.

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 Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch

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      ىل    جت  حم  

{Und lass deine Hand nicht (aus Geiz ) an deinen Nacken ge- esselt sein; doch strecke sie auch nicht allzu großzügig geönet aus, damit du nicht inolge dessen unter Vorhaltungen mittellosdasitzt.}28

Der Umayyaden-Kali ‘Umar ibn ‘Abd al-‘Azīz verstand den Sinndieser Verse und handelte danach, indem er seinen Besitz, und denseiner Angehörigen – soern diese damit einverstanden waren – andie Bedürtigen, die Hillosen und die Waisen verteilte. Au dieseWeise wurde er zu einem gesellschatlichen Vorbild ür seine Un-tertanen. Und da die Wohlhabenden unter seiner Herrschat die-sem edlen Beispiel nacheierten, gab es bald keine Armen mehr, die

berechtigt gewesen wären, die Zakāt 29

zu empangen. Darüber hi-naus machte ‘Umar ibn ‘Abd al-‘Azīz beispielhat seine Abneigunggegen jede Art von Luxus und Verschwendung deutlich, indem erau Paläste verzichtete und stattdessen in einem Zelt wohnte.

Der vollkommene Mensch ist ständig mit der Beobachtungund Kontrolle seines eigenen Egos [nas] beschätigt. Aus diesemGrunde schenkt er den Unzulänglichkeiten und Fehlern andererMenschen keine Beachtung. Die Geheimnisse und das heimliche

Tun der Menschen interessieren ihn nicht, noch bringt er sie ansTageslicht, wenn er davon erährt. Er imitiert stattdessen die er-

28. Qur’ān: 17:29.29. Zakāt ist die islamische Plichtabgabe, die jährlich au Gold und Silber (bzw.

die jeweils gültigen Zahlungsmittel), Vieh, sowie andere Formen von Besitzzu entrichten ist. Eine ausührliche Darstellung dieses Themenkomplexesindet sich in Osman Nuri Topbaş’s Werk Das Stifungs- und Spendenwesenim Islam.

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habene Eigenschat seines Herrn, des „die Fehler Bedeckenden“[Sattār al-‘uyūb].

Indem er ein Leben in Seelenrieden ohne emotionale Abhän-gigkeit von den vergänglichen Freuden der Welt ührt, bekleidetder vollkommene Mensch eine Rangstue majestätischer Ausstrah-lung [hayba], um die ihn manch einer beneidet. Selbst die Welt desDiesseits liegt ihm dabei – durch Allāhs göttlichen Beehl – zu Fü-ßen, wie es in einem Ausspruch des Propheten – Allāh segne ihnund schenke ihm Frieden – zum Ausdruck kommt:

„Wer das Jenseits zum Mittelpunkt seines Strebens macht,dem üllt Allāh sein Herz mit Reichtum, bringt ihm seine An-gelegenheiten in Ordnung; und das Diesseits kommt zu ihmund ist ihm zu Diensten. Wer hingegen das Diesseits zumMittelpunkt seines Strebens macht, dem hält Allāh seine Ar-mut vor Augen, bringt ihm seine Angelegenheiten durchein-

ander, und ihm kommt nichts vom Diesseits zu, außer dem,was ihm ohnehin vorherbestimmt war.“30

Der vollkommene Mensch hat eine solch hohe Stue des Charakterserreicht, dass er nicht mehr augebracht oder zornig wird – es seidenn um Allāhs willen. Er hat jene trelichen Eigenschaten verin-nerlicht, die Allāh im Edlen Qur’ān beschreibt, wenn Er sagt:

 ني     ني    رض      رس   يف      ني مل    هللا حي      

30. Al-Tirmidhī, Sunan, Hadīth Nr. 2465.

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{Sie sind diejenigen, die in guten und schlechten Zeiten reigie-big spenden, ihren Zorn beherrschen und den Menschen ver-zeihen – und Allāh liebt die rechtschaen Handelnden! }31

So vergab Ja‘ar al-Sādiq, der eine lebende Verkörperung diesesVerses war, seinem Diener, als der ihn mit heißem Essen übergos-sen hatte, und behandelte ihn in bester Weise. Und Hasan al-Basrī

 verzieh jenen, die ihn mit übler Nachrede verleumdet hatten, beteteür sie um Rechtleitung und sandte ihnen Geschenke, um sie so

zum Guten zu erziehen.Wie treend beschreibt der Dichter Yunus Emre die Zustände

 jener großartigen Persönlichkeiten des Islam:

Das Fasten, das Gebet und die Pilgerahrt,denke nicht, dies sei schon vollkommener Weltverzicht! 

Um ein vollkommener Mensch zu sein

bedar es tieerer Erkenntnis! 

Rechts und links wende ich die Augen,des Freundes Antlitz zu erblicken,ich suche auch im Landesinnern;

Sei, Herz, mit dem Geliebten im Innern! 

Der vollkommene Mensch ist in allen Lebensumständen mit Wohl-

taten und Gottesdienst beschätigt. Jedem seiner Atemzüge ent-strömt der Lobpreis Allāhs [tasbīh], seine Worte sind Perlen derWeisheit [hikma]. Seine Augen sind Quell gottgegebener Gnaden[ ayd ] und selbstloser Liebe [mahabba]. Sein Anblick bringt dieMenschen dazu, Allāhs zu gedenken. Seine Zusammenkünte [suh-ba] erüllen das Leben der Anwesenden mit dem köstlichen Ge-

31. Qur’ān, 3:134.

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schmack der Gottesnähe und mit Erahrungen tieen Glücks, dennseine Erzählungen sind geprägt von der gelassenen Heiterkeit desPropheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und erül-len die Herzen der Zuhörer mit den Gaben spiritueller Erkenntnis.Für jene, die nach den Mysterien des Göttlichen dursten, wird erzum Übersetzer der Geheimnisse ewiger Wahrheit und höchsterWirklichkeit.

Allāh, der Erhabene, liebt den in seinen Charaktereigenscha-ten und Zuständen vollkommenen Menschen und bringt Seine

Diener dazu, diesen ebenalls zu lieben. Dieser ührt wiederum mitLiebe, Freundlichkeit und aurichtiger Hingabe die Suchenden undReisenden au dem Pade Allāhs. Dabei bemüht er sich auoperndund mit aller Krat, die Menschen in seiner Umgebung aus derFinsternis ihrer Egos zum himmlischen Licht zu leiten. Entbehrun-gen, die anderen als Quälerei erscheinen mögen, genießt der voll-kommene Mensch als wertvolle und köstliche Erahrungen, denn

 von seinem strahlenden Vorbild, dem Prophet Muhammad – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden –, der wie kein anderer au eben diesem Wege Mühsal und Qualen ertrug, wird überlieert, erhabe gesagt: „Der Kummer ist der Schlüssel des Herzens!“32

Der vollkommene Mensch ist eine Schatzkammer göttlicherMysterien. Seine Vollkommenheit erkennen jedoch nur jene,die mit den Geheimnissen des Göttlichen vertraut sind, denn inder äußerlichen Form seines Körpers unterscheidet er sich nicht

 von gewöhnlichen Menschen. Seiner Seele hingegen hat Seinallgnädiger Herr die Stue makelloser, vollendeter Dienerschat

 verliehen. Er repräsentiert das Geheimnis der {vorzüglichsten Ge-stalt  [ahsani taqwīm]}.33 Der vollkommene Mensch ist ein Borngöttlichen Lichts und eine der kostbaren Perlen in der Kette der

32. Muhammad ibn Sulaymān al-Rudānī, Jam‘ al-Fawā’id , Bd.V. 331.33. Qur’ān, 95:4, siehe auch Anmerkung 20 au S. 31 .

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 Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch

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rechtschaenen Gottesdiener. Ihm ist die Gnade direkt von Allāhinspirierten Wissens [al-‘ilm al-ladunnī ] gegeben, wie es durchKhidr – Friede sei au ihm – in Erscheinung tritt.

Die Seele eines vollkommenen Menschen vergeht nicht, wenndieser unter der Erde liegt. Aus diesem Grunde bleiben die Werkeseiner Seele ewig bestehen. Solch ehrwürdige Menschen, wie Schāhal-Naqschband, Imām al-Ghazālī, Maulānā Rūmī oder Edeb ‘Alī– möge Allāh ihre Geheimnisse heiligen – die der Menschheit indieser Welt großartige Dienste geleistet haben, leben und wirken

auch nach ihrem Tod in der Zwischenwelt [barzakh] als vollkom-mene Menschen weiter. Sie sind lebendig unter uns und werdenauch dann noch lebendig sein, wenn wir schon längst gestorbensind. Otmals ist das Erreichen der göttlichen Gegenwart das Er-gebnis eines heimat- und besitzlosen, nach außen hin ganz unau-älligen, jedoch von großer Spiritualität geprägten Lebens. Deshalbbeschenkt Allāh der Erhabene den vollkommenen Menschen mit

dem Glück beider Welten, indem Er ihn vor jeglicher Furcht undTrauer bewahrt. In einem Vers des Edlen Qur’ān sagte Er:

 حي  هللا      {Siehe, die Vertrauten Allāhs überkommt keine Furcht nochwerden sie traurig sein! }34

In den großartigsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte nehmensolch vollkommene Menschen stets eine zentrale Rolle ein. IhreUnterweisung ist es, die das Wesen der Herrscher und Eroberer

 von Weltreichen prägte und sie zur Rechtschaenheit und Au-richtigkeit erzog. In dieser Hinsicht waren besonders die ersten

34. Qur’ān, 10:62.

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drei Jahrhunderte des Osmanischen Reiches erüllt von der spi-rituellen Führung und den vielältigen Segnungen Scheikh Edeb‘Alīs und anderer vollkommener Menschen von ähnlich bedeut-samer Statur. Ihre Ratschläge und Anweisungen entstammten derspirituellen Welt. Bei genauerer Betrachtung wird die Freude, dieLiebe und die Hingabe jener vollkommenen Menschen, die mitMurād Khān im Kosovo kämpten oder die in anderen Gebieten,

 von den Wüsten Jemens bis in die Gebirge des Kaukasus ihr Le-ben einsetzten, sichtbar.

Sultan Yavūz Salīm Khān zog – obwohl er Herrscher einesWeltreiches war – den hingebungsvollen Eier au dem spirituel-len Pad und das hochgesteckte geistige Ziel, zu einem vollkom-menen Menschen zu werden, allen materiellen und weltlichenAmbitionen vor. Er schrieb in einem seiner Gedichte:

Padischah der ganzen Welt zu sein ist ein sinnloser Kamp.Erhabener als alles andere ist es, Diener eines Gottesreundes zu sein! 

Wir bitten unseren erhabenen Herrn, uns den gleichen hinge-bungsvollen Liebeseier zu gewähren, den Er Sultan Yavūz Salīmgeschenkt hat. Möge Allāh, der Allmächtige, uns die spirituellenGnadengaben und die Segnungen der Nähe zu Seinen rechtscha-enen Dienern und wahren Gottesreunden gewähren!

Āmīn!

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 Al-Istiqāma – Rechtschaffene Beharrlichkeit

auf dem Wege Allāhs

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E

inmal kam einem der großen Gottesreunde ein Greis miteiner schweren Last Holz au dem Rücken mit großen, krat-

 vollen Schritten entgegen. Nachdem dieser näher gekom-

men war, ragte der Gottesreund den Alten:

„O, Scheikh, hast du denn kein Vertrauen in deinen dich versorgenden, großzügigen Schöper, Allāh, den Allmächti-gen, dass du dich in deinem Alter mit einer solchen Arbeitplagst?“

Der alte Holzträger wandte, wie um sein Unverständnis ür die spi-rituelle Unreie des Fragers zum Ausdruck zu bringen, seinen Blick gen Himmel, erhob seine Hände zum Bittgebet und sprach:

„O Herr, verwandle Du dies hier in Gold!“, worauhin dasFeuerholz au seinem Rücken tatsächlich zu Gold wurde.

Als er dieses Wunders gewahr wurde, war der Gottesreund völlig

 verblüt und ragte den Alten:

„Aber warum schleppt einer, der eine solche Stue erreichthat, sich mit Brennholz ab?“

Der alte Holzträger erwiderte:

35.  Al-Istiqāma bedeutet wörtlich: Geradheit, Aurichtigkeit, Anständigkeit,Rechtschaenheit, Redlichkeit, Richtigkeit und Korrektheit.

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„Mein Sohn, ich tue dies, damit mein Ego sich stets dessenbewusst bleibt, dass ich ein Diener bin, und nicht die Grenzendes Bereichs der Dienerschat überschreitet. Denn wahrlich,das Angenommen-Sein von Allāh gründet au rechtschae-ner Beharrlichkeit in der Dienerschat!“

Aus eben diesem Grunde sagte einer derer, denen Gotteserkenntnisgegeben war: „Das größte Wunder ist die rechtschaene Beharr-lichkeit au dem Wege Allāhs!“

Der Begri Istiqāma beschreibt im ursprünglichen Sinne „einständiges Fortschreiten in Richtung des Ziels, ohne Zweiel undFurcht.“ In der Terminologie des asawwu 36 bedeutet er „das Be-wahren der ursprünglichen Schuldlosigkeit und Reinheit, ohnedass diese geschädigt oder vernichtet werden.“

Inolge einer kontinuierlichen Bewahrung des inneren geis-tigen Lebens des Herzens, wird das Ego [nas] an die rechte Ver-

haltensweise [adab] gewöhnt, während das Herz sich dem voll-kommenen Charakter des Propheten Muhammad [akhlāq al-

 Muhammadī ] – Segen und Friede seien au ihm – annähert. Dabeienthüllen sich Geheimnisse; Allāh, der All-Erhabene, selbst wirdzum absoluten Ziel aller Anstrengungen; alles andere außer Allāhwird bedeutungslos und der Gläubige erreicht einen Zustand, indem er bereit ist, in die göttliche Gegenwart zu treten. Das höchsteBeispiel vollkommenen Charakters, der Stolz des Universums, derehrwürdige Prophet Muhammad – der Segen und Frieden Allāhsseien au ihm – erhielt von seinem Herrn die göttliche Auor-derung: {So halte est an rechtschaener Beharrlichkeit, wie es dir augetra gen ward! }37

36. asawwu  ist die Wissenscha der innerlichen Läuterung im Islam; auch„Susmus“ oder „Sutum“ genannt.

37. Qur’ān, 11:112.

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 Al-Istiqāma – Rechtschaene Beharrlichkeit au dem Wege Allāhs

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Mit der Oenbarung dieses Vers der Sure al-Hūd  und dem dar-in enthaltenen eindrucksvollen Gebot, stets am Weg der Wahrheitestzuhalten, erlegte Allāh dem ehrwürdigen Propheten – mögeAllāh ihm Segen und Frieden schenken – eine gewaltige Verant-wortung au, sodass dieser einmal äußerte: „Die Sure al-Hūd hatmich alt werden lassen!“38

Wie überlieert wird, sah einer der Rechtschaenen AllāhsGesandten – Segen und Friede seien au ihm – im Traum undragte ihn: „O Gesandter Allāhs, was ist es in der Sure al-Hūd,

das dich hat alt werden lassen?“ Darauhin antwortete ihm derehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden:„Es ist der Vers {So halte est an rechtschaener Beharrlichkeit, wiees dir augetragen ward! }.“39 ‘Abd Allāh ibn ‘Abbās – möge Allāh mitihm zurieden sein – sagte:

„Für den Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien au ihm– gab es im Edlen Qur’ān keinen Vers, der eine schwierigereAnweisung Allāhs beinhaltet hätte als dieser.“40

Aus diesem Grund begannen Bart und Haare des Gesandten Allāhs– möge Allāh ihm Segen und Frieden schenken –, die bis dahinpechschwarz gewesen waren, nach der Herabsendung dieses Verseszu ergrauen. Die Kommentatoren erklären die Bedeutung diesesQur’ānvers so:

38. Al-Tirmidhī, asīr Sura 56:6 . In al-Tirmidhīs Schamā’il al-Muhammadiyyaheißt es: „Abū Bakr sagte: ‚O Gesandter Allāhs, du bist au einmal grau ge-worden!’ Da sagte er: ‚(Die Suren) Hūd , al-Wāqi‘a, al-Mursalāt , sowie ‘Amma yatasā’alūn und Idhā al-Schamsu kuwirat haben mich ergrauen lassen!“ Und:„Abū Juḥaya berichtete: Sie sagten: ‚O Gesandter Allāhs, wir sehen, dass duau einmal ergraut bist.‘ Er sagte: ‚Es ist (die Sure) Hūd und ihre Geschwister,die mich haben ergrauen lassen.‘ “

39. Siehe Imām al-Ghazālīs Ihyā ‘Ulūm al-Dīn, Bd. III, 145.40. Elmalılı Muhammed Hamdi Yazır, Elmalılı esīri, Bd. V, 18.

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„O Prophet! Dir wurde augetragen, entsprechend den im

Qur’ān verkündeten Charaktereigenschaten und Bestim-mungen ein solches Beispiel von rechtschaener Beharrlich-keit au dem Wege Allāhs zu sein, dass keinerlei Raum mehrür Zweiel oder Widerspruch bleibt! Kümmere dich nichtum die Reden der Götzenanbeter und Heuchler, sondernüberlasse sie Allāh! Halte in allen öentlichen und privatenAugaben in rechtschaener Beharrlichkeit am Wege Allāhsest, so wie es dir augetragen wurde, und weiche nicht vom

geraden Weg der Rechtschaenheit [sirāt al-mustaqīm] ab!Lass dich, so schwer dies auch sein mag, von keinerlei Wider-ständen an der Verkündung, Durchührung und Anwendungdieses göttlich oenbarten Beehls hindern! Dein Herr wirddein Beistand und Heler sein!“

Dieser Vers und die darin enthaltene schwerwiegende Auorde-

rung Allāhs richten sich, auch wenn in ihr zuerst der ehrwürdigeProphet – Allāhs Segen und Friede seien au ihm – angesprochenwird, an seine gesamte Gemeinschat [umma].41 Was den Prophe-ten in der Tat ergrauen ließ, war die Sorge um seine Umma, an dieder Vers eigentlich gerichtet ist. Denn was die Rechtschaenheitdes Propheten – Segen und Friede seien au ihm – selbst angeht, istdiese unanzweielbar in dem Vers besiegelt:

    ىل رص  ني     مل   

41. Anm. d. Übers.: Dies wird auch im weiteren Verlau des Verses deutlich, woes heißt: {So halte est an rechtschaener Beharrlichkeit, wie es dir augetragenward; und desgleichen diejenigen, die sich mit dir bekehrt haben! } (Qur’ān,11:112).

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 Al-Istiqāma – Rechtschaene Beharrlichkeit au dem Wege Allāhs

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{Wahrlich, du bist einer der Gesandten, au einem geraden Weg der Rechtschaenheit! }42 

Es gibt keinen Weg, ohne Istiqāma in die göttliche GegenwartAllāhs zu gelangen, und es gibt wohl kein Gebot, das so schwer zuerüllen ist und dessen dauerhate Einhaltung zugleich eine solchhohe spirituelle Stue mit sich bringt, wie die Auorderung, anrechtschaener Beharrlichkeit au dem Wege Allāhs estzuhalten.Aus diesem Grund, und um die Umma ständig aus Neue daran zu

erinnern, ist diese Auorderung in Form einer Bitte in der Sure al-Fātiha enthalten, die jeder Gläubige täglich mehrere Male rezitiert.

Der gerade Weg der Rechtschaenheit [sirāt al-mustaqīm] lässtsich, aus der Sicht der Aussagen des Edlen Qur’ān betrachtet, in

 vielältiger Weise beschreiben; z.B. als „der Weg Allāhs“, „der ge-rade Weg“, „der rechte Weg“, „das Buch Allāhs“, „der Glaube unddie mit ihm verbundenen Dinge“, „der Islam und sein göttliches

Gesetz“, „der Weg des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seienau ihm – und seiner bedeutenden Geährten“, „der Weg der Sunnaund der Gemeinschat“, „der Weg der Rechtschaenen und Märty-rer“, „der Weg zum Glück im Diesseits und im Jenseits“, „der Wegins Paradies“, und viele andere ähnliche Bedeutungen.

So ist der Sirāt al-mustaqīm der Weg der von Allāh mit SeinerGunst gesegneten, auserwählten Gottesdiener; an erster Stelle derPropheten, dann der Wahrhatigen, der Märtyrer und Rechtscha-

enen, sowie all derer, die ihnen nacholgen.Dieser gerade Weg der Rechtschaenheit ist an keiner Stelle ab-

schüssig, schie oder krumm, sondern stets eben und vollkommen

42. Qur’ān, 36:3-4, dort heißt es: {Wahrlich, du bist einer der Gesandten, au dem geraden Weg der Rechtschaenheit! [‘alā sirāt al-mustaqīm]}. Der Begri Sirāt al-mustaqīm, hier übersetzt mit „gerader Weg der Rechtschaenheit“ leitetsich von der gleichen Wortwurzel ab wie istiqāma, hier übersetzt mit „recht-schaene Beharrlichkeit“.

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gerade. Der gerade Weg der Rechtschaenheit ist der Weg zu Allāh,dem Herrn der Wahrheit. Wie es in einem Vers des Edlen Qur’ān, anden Propheten – Segen und Friede seien au ihm – gerichtet, heißt:

{Und wahrlich, du leitest recht zum geraden Weg der Recht-schaenheit – dem Wege Allāhs, dem gehört was in den Him-meln und au Erden ist. Und gewiss enden alle Angelegenheitenbei Allāh! }43

Andere Verse beschreiben den  geraden Weg der Rechtschaenheit als Verwirklichung der Dienerschat gegenüber Allāh:

{Wahrlich, Allāh ist mein Herr und euer Herr, so dient Ihm –dies ist ein gerader Weg der Rechtschaenheit.}44

{Wer sich ganz au Allāh verlässt, der wird zu einem geraden

Weg der Rechtschaenheit geleitet! }45

In der Sure al-An‘ām wird der Sirāt al-mustaqīm olgendermaßenbeschrieben:

{Sprich: Kommt herbei, au dass ich verkünde, was euch euer Herr ver wehrt hat: Ihr sollt Ihm keine Partner beigesellen und die Eltern gut behandeln; und tötet nicht eure Kinder aus Angst vor Verarmung, denn Wir bescheren euch und ihnen doch denLebensunterhalt; und nähert euch nicht schändlichen aten,sowohl den oenkundigen als auch den verbor  genen; und tötet keinen Menschen, dessen Leben Allāh ür unantastbar erklärt 

43. Qur’ān, 42:52-53.44. Qur’ān, 3:51.45. Qur’ān, 3:101.

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hat, es sei denn es läge ein berechtigter Grund vor. Dies hat Er euch augetragen, au dass ihr es bedenken möget.

Und nähert euch nicht dem Vermögen der Waise, es sei dennin bester Weise, bis sie die Volljährigkeit erreicht hat. Und gebt volles Maß und Gewicht, so wie es der Gerechtigkeit entspricht.Wir erlegen keinem Menschen mehr au, als er tragen kann.Und wenn ihr eine Aussage macht, dann seid gerecht, auchdann, wenn es um einen Angehörigen geht. Und erüllt denBund mit Allāh. Dies ist, was Er euch augetragen hat, au dass

ihr es bedenken möget.Dies ist Mein gerader Weg der Rechtschaenheit, ihm sollt 

ihr ol  gen. Und olgt nicht anderen Wegen, damit sie euch nicht in unter schied liche Richtungen, hinweg von Seinem Wege üh-ren. Dies hat Er euch au  getragen, au dass ihr gottesürchtig werdet.}46

Ein Gottesdiener ist nicht wirklich in der Lage, den Sirāt al-mustaqīm zu beschreiten, bevor er die Liebe zu Allāh [mahabbat  Allāh] über seine Liebe zu allem anderen stellt. Dazu ist es unerläss-lich, dass er Allāh in gebührender Weise, das heißt, im Rahmen derden Eigenschaten Seines göttlichen Wesens gegenüber angebrach-ten Ehrurcht und Ehrerbietung, kennt. Aus dieser Perspektive be-trachtet, besteht der gerade Weg der Rechtschaenheit in Gotteser-kenntnis [ma‘riat Allāh]. Denn derjenige, dem Gotteserkenntnis

zuteil geworden ist, richtet sein gesamtes Leben danach aus, ent-lieht dem Übel seines Egos und den Ränken Schaytāns und lebtin einem Zustand ausschließlichen und bedingungslosen Strebensnach dem Wohlgeallen seines allmächtigen Herrn. Das Herz einessolchen Menschen wird zu einem Schauplatz von Maniestationen[mazhar tajalliyyāt ] huldvoller göttlicher Gunst [lut al-ilāhi]. In

46. Qur’ān, 6:151-153.

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diesem Zustand erönet sich dem Gottesdiener, jenseits der ürdie Augen sichtbaren äußeren Umgebung, ein Fenster zur Welt desSpirituellen; und er selbst wird zum Buch eines mit Weisheit undmajestätischer Würde erüllten vollendeten Universums.

Einer derer, denen Gotteserkenntnis zuteil wurde, der ehrwür-dige Scheikh Abū Sa‘īd al-Kharrāz47 – möge Allāh sein Geheimnisheiligen – sah einmal Schaytān im Traum und versuchte, ihn mitseinem Stock zu schlagen. Darauhin sprach Schaytān:

„O Abū Sa’īd, vor deinem Stock ürchte ich mich nicht! Denndieser Stock gehört zu den materiellen Erscheinungen der äu-ßeren Welt. Was ich indessen ürchte, sind die Strahlen derSonne göttlichen Lichts, die von den Himmeln der Gotteser-kenntnis her die Herzen erüllen und darin alles außer Ihm[mā siwāhu] verbrennen und zunichte machen.“

Alle Bemühungen eines Suchers au dem spirituellen Pad [murīd ]sind vergebens, wenn die rechtschaene Beharrlichkeit [istiqāma]ehlt. Wer diese nicht erwirbt, ür den sind alle Anstrengungen um-sonst. Deshalb ist in der Tat die rechtschaene Beharrlichkeit au dem Wege Allāhs als größtes aller Wunder anzusehen.

Einer weiteren Ansicht zuolge besteht der Sirāt al-mustaqīmdarin, den Weg Allāhs ohne jede Art von Über- oder Untertreibungzu verolgen, indem man Seine Gebote exakt in der vorgeschrie-

benen Weise erüllt. Das hieße zum Beispiel, sowohl Geiz als auchübergroße Freigiebigkeit, also Verschwendung, zu vermeiden.

47. Ahmad ibn ‘Īsā Abū Sa‘īd al-Kharrāz (gest. 891) war ein bedeutender rüherSui-Meister und laut al-Hujwirī der erste, der das Konzept der Entwerdung[ anā’ ] und des Weiterbestehens [baqā’ ] darlegte. Er war ein enger GeährteDhu l-Nūn al-Misrīs, Bischr al-Hāīs und Sarī al-Saqatīs und bekannt ürseine hingebungsvolle Gottesliebe [‘ischq] sowie seine strikte Einhaltung desgöttlichen Gesetzes [scharī‘a].

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Zur Veranschaulichung mag hierbei das Verhalten des ehr-würdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden– dienen, der einer Gruppe seiner Geährten, die ein von allemWeltlichen abgeschottetes, eheloses Leben in ununterbrochenemGottesdienst ühren wollten, zur Mäßigung riet und sie dazu au-orderte, ein ausgeglichenes Leben zu ühren.

Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass der ehrwürdigeProphet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sein gan-zes Leben entsprechend einem augenscheinlich göttlichen Plan im

Rahmen allgemeiner menschlicher Möglichkeiten ührte, um soals Vorbild ür andere zu dienen. Wäre dies nicht der Fall, so blie-ben nur jene seiner Handlungen bedeutungsvoll, die sich au seinÜberbringen des Lichtes des Prophetentums beschränken, welche

 jedoch keine Vorbildunktion ür andere Menschen beinhalten.Doch er verbrachte seine Tage sowohl mit Gottesdienst als auch mitder Versorgung seiner Familie, mit Ausruhen, um seinem Körper

sein Recht zu gewähren, sowie mit der Erüllung der unterschiedli-chen von Allāh bestimmten mitmenschlichen Verplichtungen undgesellschatlichen Augaben. All diese Handlungen arrangierte derGesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – in der vortre-lichsten Art und Weise und präsentierte und auerlegte sie dadurchseiner Umma.

Aus diesem Grunde wäre es alsch, sich in einer extremenWeise zu verhalten, die dem vom Propheten – Allāh segne ihn undschenke ihm Frieden – arrangierten, vorgelebten und uns auer-legten Beispiel widerspricht, und dabei einen Teil unserer Plich-ten zu vernachlässigen. Mit anderen Worten: Wir sollten ein Le-ben entsprechend jenen Normen, die der Gesandte Allāhs – Segenund Friede seien au ihm – gebracht hat, ühren, denn nach denMaßstäben unseres eigenen Egos leben zu wollen, wäre sicher keinesinnvolle Gestaltung unserer Lebensührung.

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Diesen wichtigen Punkt legte der ehrwürdige Scheikh ‘Abd al-

Khāliq al-Ghujdawānī trelich dar, als er einmal geragt wurde:

„Soll ich das tun, was mein Ego will, oder das, was es nicht

möchte?“

Der ehrwürdige Meister antwortete:

„Es ist äußerst schwierig, zwischen beiden zu unterscheiden!Ob ihre Wünsche göttlichen oder teulischen Ursprungs sind,ist ür die allermeisten Menschen unmöglich zu entscheiden.Deshalb soll man das tun, was Allāh beohlen hat und dasunterlassen, was Er verboten hat. Das ist vollkommene Got-

tesdienerschat!“

Allāh, der Erhabene, sagt:

{Sprich: „Dies ist mein Weg, ich rue zu Allāh mit Einsicht – ich

und die jenigen, die mir olgen – und Lobpreis sei Allāh; und ich

 gehöre nicht zu den Götzendienern! }48

 In den Zeiten größter Unwissenheit, in denen die Menschen sichganz dem Streben nach materiellen Gütern und den Wünschen und

Begierden des Egos hingegeben hatten, übertrug Allāh besonde-ren, zu diesem Zweck erschaenen, rechtschaenen Menschen die

Augabe des Prophetentums. Diese auserwählten her vorragendenGottesgesandten und Vorbilder ihrer Gemeinschaten waren vor-nehmlich mit drei Augaben betraut:

48. Qur’ān, 12:108

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1. Die Verkündung und Verbreitung der Zeichen [ayāt ]49 Allāhs, des Allmächtigen.

2. Das Lehren der Heiligen Schrit [kitāb] und der Weisheit[hikma].

3. Die Läuterung des Egos [nas]; das heißt, die Menschenrechtschaene Beharrlichkeit [istiqāma] zu lehren.

Die mit Ādam – Friede sei au ihm – begonnene Kette der Gottes-gesandten indet ihre Vervollkommnung und ihren Abschluss imehrwürdigen Propheten Muhammad – Allāh segne ihn und schen-ke ihm Frieden. Was immer auch die Kritiker behaupten mögen,ür die Gläubigen ist der ehrwürdige Prophet – Segen und Friedeseien au ihm –, dem der Edle Qur’ān herabgesandt wurde, sowohlin seiner äußeren Form als auch von seinem inneren Wesen her,

eine vollkommene Verkörperung des geraden Wegs der Rechtsch-enheit – erschaen zu dem Zweck, der gesamten Menschheit alsVorbild und Ideal zu dienen.

Die rechtschaene Beharrlichkeit [istiqāma] bzw. der geradeWeg der Rechtschaenheit [sirāt al-mustaqīm] sind eine Art Sys-tem rechtschaener Werke. Ob Handlungen als rechtschaeneWerke gelten können, hängt von zwei Voraussetzungen ab, näm-lich davon:

1. dem göttlichen Beehl Allāhs höchste Achtung zu zollen[tā‘zīm li-amr Allāh], d.h. die Gebote Allāhs in vollkomme-ner Demut und mit größter gewissenhatigkeit zu erüllen,und

49. Mit  Āya, pl.  Ayāt , wörtl. „Zeichen“ werden die Verse des Edlen Qur’ān be-zeichnet, die als „Zeichen Allāhs“ verstanden werden.

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2. sich Allāhs Geschöpen gegenüber mitühlend und gütigzu zeigen [schaukat li-khalq Allāh], d.h. allem Erschaenenum seines Erscha ers willen Liebe, Zuneigung und Barm-herzigkeit entgegen zu bringen.

Nach einer weiteren Deinition besteht rechtschaene Beharrlichkeit darin, die Liebe zu Allāhs Gesandten – Allāh segne ihn und schen-ke ihm Frieden – stets risch und lebendig zu halten, indem mandanach strebt, einen Anteil an seiner beispielhaten Persönlichkeit

zu erlangen und seine vorbildlichen Charakterzüge zu verwirkli-chen, nach dem Geist des Qur’ān und der Sunna zu leben und sich

 von den weltlichen Genüssen des Egos ernzuhalten, um so die Ge-heimnisse des Gottesdienstes, der Dienerschat und der Gotteser-kenntnis zu erwerben. Der Mensch sollte deshalb, um sich seinerZielrichtung zu vergewissern und seine rechtschaene Beharrlich-keit zu estigen, stets gewissenhat die Welt seines Inneren beob-

achten. Durch diese stete gewissenhate Beobachtung [murāqaba]lassen sich Abweichungen von der rein au Allāhs Wohlgeallenausgerichteten, aurichtigen Handlungsweise verhindern, die derenAnnahme durch Allāh sonst zunichte machen würden. Deshalb istneben der Notwendigkeit einer absoluten Übereinstimmung dieserHandlungen mit den göttlichen Geboten auch die ihnen zugrundeliegende Absicht zu beachten, nämlich, ob sie tatsächlich in Au-richtigkeit und ausschließlich ür Allāh verrichtet werden. Andern-alls handelt es sich um unaurichtige Taten, die nicht über die Stuenutzloser Kratanstrengungen hinausreichen.

Selbst der rechtgeleitete Kali ‘Umar ibn al-Khattāb – mögeAllāh mit ihm zurieden sein – war häuig bedrückt aus Sorge dar-über, ob er wirklich ähig sei, seine Aurichtigkeit und rechtschae-ne Beharrlichkeit zu wahren. Als er das Amt des Kalien übernahmsagte er:

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„O Volk, was würdet ihr tun, sollte ich vom Wege Allāhs ab-weichen?“

Da stand ein Beduine au und rie:

„O Kali, mach dir darum keine Sorgen! Wenn du vom Wegabweichen solltest, werden wir dich mit unseren Schwerternkorrigieren!“

Der ehrwürdige Kali ‘Umar war damit höchst zurieden undsprach:

„Lobpreis sei Dir, O mein Herr, daür dass Du mich mit einemVolk gesegnet hast, das mich, wenn nötig, korrigieren wird!“

Der ehrwürdige Prophet – möge Allāh ihn segnen und ihm Frie-

den schenken – hatte aus Sorge um die Sicherheit seiner Ummanur einem seiner Geährten namens Hudhaya mitgeteilt, welchesdie Merkmale derer waren, deren Herzen von Heuchelei beallenwaren. ‘Umar – möge Allāh mit ihm zurieden sein –, der davonwusste und sich große Sorgen machte, ob er nicht vielleicht dazugehörte, ragte eines Tages Hudhaya:

„O Hudhaya, um deiner Liebe zu Allāh willen, verrate mir,besitze auch ich die Merkmale der Heuchelei?“

Der ehrwürdige Hudhaya – möge Allāh mit ihm zurieden sein –erwiderte:

„O Kali, ich kann dir nur hinsichtlich deiner selbst Gewiss-heit verscha en: Du besitzt keine Merkmale der Heuchelei!“

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Hasan al-Basrī – möge Allāh ihm barmherzig sein – sagte zu demHadīth-Wissenschatler [muhaddith] Tawus, der zu seinen Schü-lern zählte:

„Wenn dich das Unterrichten der Hadīth-Wissenschaten stolzmacht, dann solltest du auhören, diese zu unterrichten!“

Imām al-Ghazālī, der dreihundert Schüler unterrichtete, ragte sich:

„Unterrichte ich all diese Schüler wirklich nur um AllāhsWohlgeallen zu erlangen, oder begebe ich mich dabei in dieGeahr, von Hochmut und Selbstgeälligkeit überwältigt zuwerden?“

Darauhin gab er von seinem Besitz alles weg, was nicht unbedingtnötig war, hörte ür eine Weile au zu unterrichten und suchte sei-

ne Zulucht bei Allāh in völliger Abgeschiedenheit. Dabei erschienihm die spirituelle Gestalt des Gesandten Allāhs – Segen und Friedeseien au ihm – und er and endlich den ersehnten inneren Frieden.Nachdem er aus diesen inneren Kämpen bereit hervorgegangenwar, sagte er: „Gepriesen sei Allāh, nun habe ich inneren Friedengeunden!“ Und in der Tat war es ein vollkommen veränderter al-Ghazālī, der da ortan zum Vorschein kam.

Als Sultan Yavuz Salīm Khān, dem ein triumphaler Siegeszug nachdem anderen zuteil geworden war, siegreich aus Ägypten nach Is-tanbul zurückkehrte, hörte er dass ihn dort seine Untertanen be-geistert und voller Bewunderung erwarteten. Darauhin schlug er,kurz bevor er die Stadt erreicht hatte, in der Nähe von Camlica seinFeldlager au und zog nicht nach Istanbul ein, weil er ürchtete, dassihn sein Ego beim Anblick der jubelnden Massen zu Überheblich-

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keit und Arroganz verleiten könnte. Zu seinem Homeister HasanCan sagte er:

„Homeister, lass uns warten, bis es dunkel ist und die Leutealle nach Hause gegangen sind, dann ziehen wir nach Istanbulein. Wir wollen nicht zulassen, dass die Beiallsbekundungender Sterblichen, die Siegerorden und die Huldigungen unsereEgos so mit Stolz erüllen, dass wir niedergestreckt am Bodenliegen.“

So zog er, nachdem alles sich beruhigt hatte, im Schutze der Dun-kelheit heimlich und unbemerkt in die Stadt ein.

All diese Beispiele lehren uns, dass wir unter allen Umständenbeharrlich am geraden Weg der Rechtschaenheit esthalten undunsere Herzen von jeglicher Art von Unreinheiten reinigen müs-

sen. Denn das Herz ist der Ort, au dem der göttliche Blick Allāhs,des All-Gewaltigen, ruht. Die Vorzüglichkeit jedes Gottesdiensteshängt von der Reinheit des Herzens ab. Wie es in einem Vers desEdlen Qur’ān heißt:

{ An jenem age werden weder Besitz noch Nachkommennützen, sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzenerscheint.}50

Meister Jalāl al-Dīn Rūmī – möge Allāh sein Geheimnis heiligen –bringt das olgende, treende Gleichnis ür das reine Herz:

Der Prophet Yūsu – Friede sei mit ihm – ragte einen Freund, alsdieser von einer Reise zurückkehrte:

50. Qur’ān, 26:88-89.

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„Was hast du mir von der Reise mitgebracht?“

Der Freund erwiderte:

„Was gibt es denn, was du nicht besäßest? Doch da es nichtsgibt, was schöner ist als du, habe ich dir einen Spiegel mitge-bracht, damit du darin jederzeit deine eigene Schönheit be-trachten kannst!“

Allāh, der Allmächtige, ist über alles erhaben. Der ursprünglicheund wahre Grund aller Schönheit ist ihr Schöper. Mach dich mitreinem Herzen zum höchsten inneren Frieden in Seine Gegenwartau und schaue die grenzen- und zeitlosen Maniestationen SeinerGeheimnisse! Und Allāhs Gesandter – Segen und Frieden seien au ihm – hat gesagt:

„Wahrlich, Allāh schaut nicht au eure Körper und eure äuße-re Form sondern Sein Blick ruht au euren Herzen!“51

O Allāh! Lass uns au dem geraden Weg der Rechtschaenheitund Deiner Rechtleitung wandeln! Mache uns est au dem Wegder ewigen Glückseligkeit und Gnadengaben, dem Weg derer, de-nen Du Deine Gnade erwiesen hast, dem Weg der Propheten, derWahrhatigen, der Märtyrer und Rechtschaenen! Lass uns nicht

den Weg der rechtschaenen Beharrlichkeit verlassen! Bewahreuns vor den verabscheuenswürdigen Irrwegen derer, die DeinenZorn au sich herabbeschworen haben oder wegen ihrer Irrlehrenunter Gram und Schmerzen der Vernichtung anheim allen!

Āmīn!

51. Sahīh Muslim, Kitāb al-Birr , 33; Sunan Ibn Mājah, Kitāb al-Zuhd , 9.

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Zusammensein mit den Rechtschaffenen

und Wahrhaftigen

E

s lebte einmal ein Achtloser, dem die Freunde Allāhs ver-hasst waren. Eines Tages kam er an der Versammlungsstätte[dergah] eines Scheikhs der Derwische vorbei und wunderte

sich, was darin wohl vorginge. Er schlich sich hinein und sah, wiedie Derwische zusammen saßen und den Unterweisungen ihresMeisters lauschten. Der Achtlose betrachtete sie eine Weile mit her-ablassenden Blicken und ging dann seines Weges. In der olgendenNacht hatte er einen schrecklichen Albtraum: Es war der Tag derAuerstehung, und Dämonen schleppten ihn in die Hölle. Plötzlicherschien der Scheikh, den er zuvor in der Dergah gesehen hatte und

beahl den Dämonen: „Lasst ihn in Ruhe, er war gestern in unse-rer Versammlung!“ Die Dämonen widersprachen ihm: „Nein, erist ein Achtloser und er hat die Hölle verdient!“ In diesem Momenterwachte der Mann. Das erste, was er an diesem Morgen tat, war,zur Dergah zu gehen und sich der Bruderschat der nach WeisheitSuchenden anzuschließen.

Wie in einem Bericht des Anas ibn Mālik – möge Allāh mit ihmzurieden sein – überlieert wird, gibt es Gruppen von Engeln, wel-che die Erde durchstreien und nach jenen Ausschau halten, die sichzum Gottesgedenken [dhikr ] versammelt haben. Wenn sie eine sol-che Versammlung inden, sagen sie: „O unser Herr, diese Deine Die-ner rezitieren Dein Buch, sprechen Segenswünsche au Deinen Pro-pheten und bitten Dich darum, ihnen das zu gewähren, dessen siein dieser Welt und im Jenseits bedüren.“ Und Allāh, der Allmäch-tige, sagt: „Seid Meine Zeugen, dass ich ihnen allen vergeben habe!“

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Die Engel sagen: „O Herr, der-und-der war nur zuällig in dieserVersammlung.“, worau Allāh, der Allmächtige, antwortet: „Sie(d.h. die rechtschaenen und wahrhatigen Gottesdiener) sind eineGruppe, bei welcher derjenige, der sich in ihrer Gesellschat bein-det, nicht als ungehorsam betrachtet wird!“

Die rohe Botschat dieser Berichte ermuntert die Muslimedazu, mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen zu sein. Au demSui-Weg ist es unbedingt notwendig, die Gesellschat der Recht-schaenen und Wahrhatigen zu suchen, um von deren spirituellen

Gaben zu proitieren und das Herz vor all dem zu bewahren, wassich dort an Allāh unliebsamen Dingen einnisten möchte.

Im Gegensatz zu manchen anderen Organen unktioniert das(spirituelle, ebenso wie das physische) Herz ohne bewusste Wil-lensentscheidung. Dabei neigt es dazu, auch unbewusst Einlüsseaus seiner unmittelbaren Umgebung auzunehmen, sodass es leichtdie Farben und Charakteristika seiner Umwelt – sowohl im po-

sitiven als auch im negativen Sinne – annimmt. Wenn das Herznicht die angemessene Erziehung erährt und nicht einem gewissenMaß von Kontrolle unterworen wird, ist es ernsthaten Geahrenausgesetzt. Die Frage, ob jemand in der Lage ist, Empindungenwie Zuneigung oder Hass zu kontrollieren, hat ganz entscheidendeAuswirkungen au den spirituellen Au- oder Abstieg dieses Men-schen.

Au dem Weg zur spirituellen Vervollkommnung ist es vongroßer Bedeutung, das zu lieben, was wirklich geliebt zu werden

 verdient, und zu verabscheuen, was tatsächlich verabscheuenswür-dig ist.

Das Zusammensein mit den Rechtschaenen und Wahrhati-gen und ein Leben in ihrem Einlussbereich sind von beträchtlicherAuswirkung au die spirituelle Entwicklung. Dabei hängt das Maßdes Nutzens, den man daraus zieht, vom Maß der Liebe ür den

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Zusammensein mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen

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Geliebten ab. Rein räumliches Zusammensein allein bringt – trotzgewisser Vorteile – noch keine nennenswerten Ergebnisse.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das WortSahābī , das in der Terminologie des Islam einen Geährten des Pro-pheten – Allāh segne ihn und sie und schenke ihnen allen Frieden– bezeichnet, von der gleichen arabischen Wortwurzel abstammtwie das Wort Suhba, welches „Zusammensein“ bedeutet. In der Tatsind die Geährten das Sinnbild derer, die durch ihre gewaltige Lie-be sowie ihren hohen Respekt im höchsten Maße von der Suhba

mit dem Propheten proitierten. Um zu begreien, wie sie derartigeHöhen im Reich der Spiritualität erklimmen konnten, müssen wirbetrachten, welchen Respekt sie dem Propheten – Allāh segne ihnund schenke ihm Frieden – entgegenbrachten. So berichtete einSahābī beispielsweise:

„Wir lauschten den Worten des Propheten – Allāh segne ihn

und schenke ihm Frieden – in solch bewegungsloser An-dacht, als ob Vögel au unseren Köpen säßen (von denenwir beürchteten, sie würden davon liegen, wenn wir unsbewegten).“52

Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – bewäs-serte die vor Durst verdörrten Herzen der Geährten mit den Re-genschauern der Weisheit und Barmherzigkeit. Und inolge ihres

Zusammenseins mit ihm sprossen aus dem ruchtbaren Boden ih-rer Herzen die Samenkörner der Weisheit und Erkenntnis hervor.Die Widerspiegelung der Liebe und Spiritualität des Propheten inihren Herzen ormte ihre beispielhaten neuen Persönlichkeiten,während die alten Persönlichkeiten aus dem Zeitalter der vorisla-mischen Unwissenheit [al-jāhiliyya] – die ihre Töchter bei lebendi-

52. Überlieert von Imām al-Tirmidhī in seinem Schamā’il al-Muhammadiyya.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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gem Leib begraben und ohne jegliches Mitgeühl alle erdenklichenSchandtaten begangen hatten – verschwanden. In den selben Kör-pern traten nun leicht zu Tränen gerührte, sante, selbstlose undempindsame Charaktere zutage.

Sie trugen die vorbildhate Lebensührung des Propheten –Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – bis in die entlegenstenWinkel dieser Welt, und die Berichte über ihr tugendhates Lebenwerden der Menschheit bis in alle Ewigkeit den geraden Weg derRechtschaenheit weisen. Allāh, der Erhabene, lobt die Geährten

mit den olgenden Worten:

                 جت            هللا  يض   

هن  حت 

{Die Vorhut (des Islam) – die ersten der Auswanderer und der Heler und jene, die ihnen in bester Weise olgten – Allāh ist wohlzurieden mit ihnen, und sie haben Wohlgeallen an Ihm! Er hat ihnen Paradiesgärten bereitet, unter denen Flüsse ie-

 ßen; darin werden sie ewig verweilen – und dies ist der höchste

Erolg! }53

Die Ansprachen und Zusammenkünte der Gläubigen entlehnenihre Schönheit der Schönheit der Suhba des Propheten – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden. Es ist sein Licht, das sich inden Worten der Gelehrten und Gottesreunde widerspiegelt. Die

53. Qur’ān, 9:100.

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Zusammensein mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen

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Muslime sollten sich der großen Bedeutung solcher Versammlun-gen bewusst sein, denn sie gleichen den Gärten des Paradieses, indenen Augen und Herzen aus Liebe zu Allāh weinen. Wir müssenan derartigen Zusammenkünten teilnehmen und versuchen, mitden rechtschaenen [sālih] und wahrhatigen [sādiq] Gläubigen zusein. Nur so können wir unser spirituelles Wohlergehen ördernund unsere Herzen mit der Zierde der vorzüglichsten Eigenscha-ten schmücken.

Wenn ein Gläubiger seine spirituelle Entwicklung ördern und

sein Herz vor negativen Einlüssen bewahren will, sollte er die Ge-sellschat sündiger und achtloser Menschen meiden. Der Wind, derüber einen Kadaver oder eine Müllhalde weht, verbreitet seinenwiderlichen Gestank, wo immer er hinbläst. Scheikh ‘Ubayd Allāhal-Ahrār warnte seine Anhänger mit den Worten: „Zusammenseinmit Frevlern ührt zu Spannung, Verödung und Mangel an Kon-zentration im Herzen!“

Abū Yazīd al-Bistāmī verspürte eines Tages ein beklemmendesGeühl im Herzen und konnte sich nicht konzentrieren. Da ragteer seine Geährten: „Ist in unserem Kreis ein Fremder?“ Seine An-hänger schauten sich um, konnten aber niemanden entdecken, derihnen unbekannt war. Doch Abū Yazīd insistierte: „Schaut genaunach, seht auch in der Ecke nach, wo die Wanderstäbe aubewahrtwerden! In dieser Versammlung ist die Anwesenheit eines Sünderszu spüren, ansonsten würde ich mich nicht so unruhig und reud-los ühlen.“ So suchten sie weiter und schließlich entdeckten sieden Stock eines Sünders. Nachdem sie diesen Stock nach draußengeworen hatten, and Abū Yazīd seinen Seelenrieden wieder undsein Zustand spiritueller Klarheit kehrte zurück.

Bei einer weiteren Gelegenheit sagte der ehrwürdige Scheikh‘Ubayd Allāh al-Ahrār zu einem ihm nahestehenden Geährten:„Ich habe das Geühl, das etwas mit dir nicht stimmt. Ich glaube, du

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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trägst die Kleider eines Fremden.“ Jener sagte verwundert: „Ja, das

stimmt.“, und er ging, wechselte seine Kleider und kam anschließendwieder zurück.

Ein ähnliches Beispiel indet sich in der Geschichte des Pro-

pheten Yūsu und seines Vaters Ya‘qūb – au ihnen beiden sei der

Friede. Letzterer erkannte in seinem Sohn Yūsu seine eigenen Ei-

genschaten wieder und liebte ihn augrund dessen mehr als sei-

ne anderen Kinder. Seine Liebe zu ihm war von solcher Intensität,

dass, als ihm Yūsus Hemd geschickt wurde, niemand außer ihm

dessen Geruch wahrnehmen konnte.

Wenn die spirituellen Zustände der Gottesreunde selbst das

Wesen materieller Gegenstände durchdringen, wie viel wichtiger

ist es dann, sein Herz mit größter Achtsamkeit zu hüten, welches

zweielsohne viel empindsamer ist als leblose Materie? Die großen

Meister des Sui-Weges sagten zu diesem Thema:

Selbst leblose Gegenstände werden von den Handlungen und dem Charakter der Menschen beeinusst. Das Gebet an einem

Platz, an dem alle möglichen Sünden begangen wurden, un-

terscheidet sich sehr vom Gebet an einem Ort, an dem recht-

schaene Werke verrichtet wurden. Aus diesem Grunde ist der 

Lohn ür ein Gebet an der Ka‘ba größer als ür ein Gebet, das

irgendwo anders verrichtet wird.

Ein anderes Beispiel können wir der Lebensgeschichte des Prophe-

ten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – entnehmen: Ei-

nes Tages, als er das zwischen ‘Araat und Muzdalia gelegene Tal

 von Muhassir durchquerte, beschleunigte er seine Schritte. Seine

Geährten wunderten sich und ragten: „O Gesandter Allāhs, war-

um beeilst du dich au einmal so?“ Da antwortete er: „Dies ist der

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Zusammensein mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen

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Ort, an dem Allāh, der Allmächtige, den Tyrannen Abraha undsein Heer vernichtet hat.“

Bei einer anderen Gelegenheit, während der Rückkehr des Pro-pheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – vom Feldzugnach Tabūk, waren seine Geährten sehr erschöpt und wollten ras-ten. Sie machten an jenem Ort Halt, den einst das Volk von Thamūdbewohnt hatte. Da sagte der Prophet – Allāh segne ihn und schenkeihm Frieden: „Hier hat Allāh, der Allmächtige, das Volk von Thamūd

 vernichtet. Nehmt kein Wasser von diesem Ort, damit deren Kum-

mer nicht über euch kommt!“ Sie sagten: „O Gesandter Allāhs, wirhaben bereits den Teig mit diesem Wasser geknetet und unsere Was-serschläuche damit geüllt.“ Darauhin beahl er ihnen, den Teig andie Kamele zu verüttern und das Wasser wieder auszuschütten.54

Diese und weitere ähnliche Hadīthe verdeutlichen, dass selbstscheinbar leblose Gegenstände von guten oder schlechten Ereignis-sen, die sich in ihrer Umgebung ereignen, beeinlusst werden.

Ebenso übertragen die Freunde Allāhs ihre spirituellen Seg-nungen, ihre Liebe und ihre Ekstase au die Anwesenden in ihrenVersammlungen. Das Licht in ihren Herzen spiegelt sich in derenHerzen wider. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass genau so, wiematerielle Gegenstände einander beeinlussen können, auch spiri-tuelle Bedingungen und Zustände sich au andere auswirken. Ent-sprechend dem Grad seiner Relektion und Wandlungsbereitschatwird dabei das Herz mit Weisheit und Wahrheit erüllt, wie von

einer rischen Morgenbrise, die den süßen Dut von Rosen, Nelkenund anderen wohlriechenden Blumen mit sich trägt, wo immer sieweht. Darum müssen wir uns mit allen Kräten bemühen, Nutzenaus der spirituellen Vollkommenheit und den trelichen Zustän-den der Rechtschaenen und Wahrhatigen zu ziehen. Allāh, derErhabene, sagt dazu im Edlen Qur’ān:

54. Überlieert in Sahīh al-Bukhārī , al-Anbiyā’ , 17.

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 ني   هللا           هي    {O ihr, die ihr glaubt, ürchtet Allāh und seid mit den Wahr-hafigen! }55

Um seinen Glauben zu vervollkommnen, ist es notwendig, sichmit jenen anzureunden, die aurichtig in ihren Worten und Ta-ten und Allāh gegenüber in Loyalität und Liebe wahrhatig ergebensind. Durch die Liebe zu solchen Freunden Allāhs wird es ür uns

leichter, die spirituellen Stuen zu erreichen, die sie bereits erlangthaben.

Eines Tages kam ein Mann zu Abū Yazīd und bat ihn: „Ratemir zu einer guten Tat, die mich Allāh näher bringt!“ Abū Yazīdantwortete: „Liebe die Gottesreunde und sie werden dich ebenallslieben. Versuche, einen Platz in ihren Herzen zu gewinnen, dennAllāh schaut täglich dreihundertundsechzig Mal in die Herzen Sei-

ner vertrauten Freunde. Wenn Er deinen Namen in einem ihrerHerzen indet, wird Er dir vergeben.“Aus diesem Grund ist bei der Erziehung au dem Sui-Weg das

Herstellen einer Herzensverbindung [rābita] zwischen Schüler undMeister von großer Bedeutung. Wenn der Schüler diese Verbindungmit dem Freund Allāhs herstellt, den er sich zum Vorbild genom-men hat, bleiben seine Liebe und sein Bemühen, dessen Anweisun-gen zu gehorchen, stets in seinem Bewusstsein präsent. Durch Rābita

erlangt der Schüler eine vollkommene innere Verwandtschat mitseinem Meister, und die verschiedensten Arten von spirituellen Seg-nungen werden ihm zuteil. Gepaart mit der Intensität der Liebe, er-zeugt Rābita im Herzen eine hohe spirituelle Empindsamkeit, durchdie der Schüler au dem Weg des „Gleichseins“ [‘ayniyya] mit seinemMeister voranschreitet.

55. Qur’ān, 9:119.

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Zusammensein mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen

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Durch Liebe und spirituelle Verbundenheit verliert der Liebendesich in seinem Geliebten. Meister Jalāl al-Dīn Rūmī erklärt diesenZustand olgendermaßen:

 „Wenn der Fluss dem Meer begegnet, wird er selbst zum Meer.Er hört au, ein Fluss zu sein.

Das Brot, das wir essen, wird in unserem Magen augelöst und wird ein eil unseres Körpers.

In ähnlicher Weise geht der Liebende in seinem Geliebten au 

– ent sprechend dem Ausmaß seiner Liebe zu ihm.“

Diesen Zustand des „Entwerdens“ beschreibt Rūmī mit den Worten:

 „Die Liebe durchdrang all meine Adern und meine Haut wiedas Blut. Sie nahm mich von mir selbst hinweg und erülltemein Dasein mit Zunei gung. Der Freund ergri Besitz von

meinem ganzen Körper. Alles, was von mir übrig ist, ist meinName, der Rest ist Er […].“ 

Diese Zustände sind im asawwu  als Fanā’ ī Allāh und Baqā’ bi Allāh bekannt: „Entwerdung in Allāh“ und „Fortbestehen in Allāh“.Doch es ist nicht einach, Allāh au diese Weise zu lieben, ohnezuvor die notwendigen spirituellen Exerzitien praktiziert zu haben.Das Herz muss zuerst einmal ür einen solchen erhabenen und zu-gleich schwer zu tragenden Zustand vorbereitet werden.

Der ehrwürdige Abū Bakr – möge Allāh mit ihm zuriedensein – liebte unseren Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihmFrieden – von ganzem Herzen. Jedesmal, wenn er ihm begegneteoder mit ihm zusammen war, wuchsen seine Sehnsucht nach ihmund seine Liebe. Als er all seinen Besitz und Wohlstand hingab,lobte ihn der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden.

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Da sagte Abū Bakr: „O Gesandter Allāhs, mögen mein Leben, meinBesitz und mein ganzes Sein dir geopert sein!“ Der ehrwürdigeMeister Jalāl al-Dīn Rūmī sagt dazu:

Was ist Gold, was ist das Leben, was sind Perlen und was sind  Juwelen, wenn sie nicht ür den Geliebten hingegeben werden? 

Abū Bakrs Empindsamkeit in seiner Identiikation mit dem Pro-pheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – ging so weit,

dass er sich, wenn er hörte, dass jener krank war, selbst vor Kum-mer darüber krank ühlte. Und es wird berichtet, dass Abū Bakr– möge Allāh mit ihm zurieden sein – selbst an den Orten, andenen man sich wäscht und reinigt, eine Empindung der Scheu

 vor Allāh verspürte. Es ist im Gegenzug zu dieser gewaltigen Liebe,dass Allāhs ehrwürdiger Gesandter – Allāh segne ihn und schenkeihm Frieden – au dem Totenbett sagte: „Lasst alle Türen schließen,außer der Türe Abū Bakrs!“56

Scheikh Sā‘dī al-Schirāzī erklärt die gegenseitige Beeinlussung vonZuständen in olgender Weise:

Dem Hund der Siebenschläer wurden höchste Ehren zuteil,weil er in der Gesellschaf der Wahrhafigen war, sodass er so-

 gar im Qur’ān erwähnt wurde und in die Geschichte einging.

Die Frau des Propheten Lūt hingegen entschied sich ür dieGesell schaf der Frevler und wurde mit den Ungläubigen ver-nichtet.

56. Zu jener Zeit hatten einige der Geährten eigene Türen, die direkt in die Mo-schee ührten, und der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden– wollte, dass diese geschlossen würden, wobei er, um diesen zu ehren, dieTüre Abū Bakrs als einzige ausnahm.

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Zusammensein mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen

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Und in seinem Gülistān erklärt Scheikh Sā‘dī das „Gleichsein“ [‘ay-niyya] mit den Rechtschaenen und Wahrhatigen, das durch ver-trautes Zusammensein mit ihnen in Erscheinung tritt, in olgenderGeschichte:

Ein Mann ging ins Badehaus und einer seiner Freunde gab ihm einStück dutende Tonerde, um sich damit zu waschen. Der wunder-bare Dut dieser Tonerde verbreitete sich bis in den letzten Winkeldes Badehauses. Da ragte der Mann die Tonerde:

„Ich liebe deinen Dut! Bist du Moschus oder Amber?“

Da antwortete ihm die Tonerde:

„Ich bin weder Moschus noch Amber, ich bin nur einacheErde. Doch ich beand mich unter einem Rosenbusch undwurde dort täglich mit den von den Rosenknospen herabal-lenden Tautropen bewässert. Mein Dut stammt von diesenRosen.“

Wie all diese Beispiele deutlich zeigen, müssen wir uns in aurichtigerund vollkommen ergebener Weise den Freunde Allāhs anvertrauen.Dann können wir das göttliche Licht, das ihren Herzen innewohnt,relektieren, so wie der Mond das Licht der Sonne relektiert.

O Herr, lass uns mit jenen auerstehen, die Dir gegenüber wahrha-tig in ihrer Hingabe und in ihrem Glauben sind! Und segne uns mitall dem Guten, mit dem Du die Versammlungen Deines geliebtenGesandten und seiner ehrwürdigen Geährten – Segen und Friedeseien au ihm und au ihnen – gesegnet hast.

Āmīn!

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 Al-Ikhlās – Vollkommene Aufrichtigkeit gegenüber Allāh

Aurichtigkeit bedeutet, sein Herz bei der Erüllung seinerPlichten gegenüber Allāh von allen Gedanken an weltlicheAngelegenheiten rei zu halten. Die Frucht der Aurichtig-

keit [al-ikhlās] ist die Stue der Vortrelichkeit [al-ihsān], das heißt,

Allāh so zu dienen, als sähe man Ihn, und in dem Bewusstsein zuleben, dass Allāh uns und all unser Tun zu jeder Zeit sieht.

Imām al-Quschayrī überlieert die olgende Begebenheit:

Einer der Rechtschaenen sah ‘Amr ibn Layth, den edlen und hel-denhaten Beehlshaber der Muslime in Khorasān, im Traum undragte ihn:

„Was hat Allāh mit dir getan?“

‘Amr antwortete:

„Er hat mir all meine Sünden vergeben.“

Der Rechtschaene ragte:

„Aus welchem Grund hat Er dir vergeben? Was hast du indeinem Leben getan, dass dir solch großzügige Vergebungzuteil geworden ist?“

‘Amr erwiderte:

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 Al-Ikhlās – Vollkommene Aurichtigkeit gegenüber Allāh 

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„Eines Tages war ich hoch au einen Hügel geklettert und

hatte au mein Heer hinabgeschaut. Während ich au seinegewaltige Stärke und die große Zahl der Soldaten hinunter-blickte, sprach ich zu mir selbst: ‚Ich wünschte, ich hätte mit

diesem gut ausgebildeten Heer Allāhs Gesandtem – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden – in seinen Kämpen treuzur Seite stehen und ihn in seinen schwersten Stunden un-terstützen können. Für diese Ehre wäre ich bereit, mein Le-ben hinzugeben!‘ Wegen dieser aurichtigen Empindungen

 vergab mir Allāh, der Allmächtige, und belohnte mich mitendlosen Gnadengaben.“

Diese Begebenheit ist ein treliches Beispiel daür, welch große Be-

deutung Aurichtigkeit und Ehrenhatigkeit ür den Gläubigen be-sitzen. Inolge des Segens seiner Aurichtigkeit wurde dieser Gottes-diener aus göttlicher Gnade großzügig ür eine Handlung belohnt,

die er gar nicht ausgeührt hatte und auch nicht hätte ausührenkönnen, nur weil er aurichtig von ganzem Herzen gewünscht hat-te, sie zu tun. Der ehrwürdige Gesandte Allāhs – Segen und Friedeseien au ihm – sagte hierzu:

„Die Absicht eines Gläubigen ist vortrelicher als seine

Hand-lungen.“57

Denn die Absicht ist eine Handlung des Herzens. Demnach ent-

springt der Wert einer Handlung – aus der Sichtweise des Islam – derihr zugrunde liegenden Absicht. So kann de acto eine gute Tat, derkeine gute Absicht zugrunde liegt, nicht wirklich als gute Tat gelten.Handlungen sind stets entsprechend den ihnen zugrunde liegenden

57. Al-Suyūtī, Al-Jāmi‘ al-Saghīr , Bd. II, 194.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Absichten zu beurteilen, so wie es in dem berühmten Hadīth zumAusdruck kommt:

„Wahrlich, die Taten entsprechen ihren Absichten, und einem jeden wird zuteil werden, was er beabsichtigt hat! […]“58

Deshalb sollten wir bei jeder Art von Gottesdienst au unsereAbsicht achten und allen Handlungen das reine Streben nachdem göttlichen Wohlgeallen zugrunde legen. Dazu bedar es je-

ner Form von vollkommener Aurichtigkeit [al-ikhlās], die dar-in besteht, alle Handlungen nur um Allāhs willen zu verrichten,ohne dabei in die insteren Abgründe selbstsüchtiger Wünschehinabzustürzen. So wie der Körper der Seele bedar, benötigt

 jede Handlung die rechte Absicht! Und wenn die Seele krank ist,wird auch der Körper krank. Handlungen, die ohne Aurichtig-keit verrichtet werden, bringen keinerlei Nutzen sondern ühren

nur zu Ermüdung und Kratlosigkeit, wie in der olgenden Ge-schichte:

Ein Derwisch, der au dem Pad zur geistigen Vervollkommnungwar, verbrachte einmal die Nacht in der Moschee im Gebet. Da inges an zu regnen. In diesem Moment spürte der Derwisch, wie sichsein Herz danach sehnte, nach Hause zu gehen. Da hörte er plötz-lich aus der Ecke der Moschee eine Stimme, die sprach:

„O Derwisch, mit einem solchen Gebet kannst Du in Unse-rer Gegenwart nicht das Geringste erreichen, denn das Edle(dein Herz), das dir innewohnt, hast du nach Hause geschicktund das Üble (dein Ego) hast du hier gelassen.“

58. Sahīh al-Bukhārī , Kitāb al-Īmān, 41; Sahīh Muslim, Kitāb al-Imāra, 155.

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 Al-Ikhlās – Vollkommene Aurichtigkeit gegenüber Allāh 

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Diese Geschichte lehrt uns, dass all unsere Handlungen nur dannangenommen werden, wenn sie mit der Absicht, Allāh voller Au-richtigkeit zu dienen, und mit hohem Streben nach Seinem Wohl-geallen ausgeührt werden.

In vielen seiner Eigenschaten gleicht der Mensch den anderenGeschöpen, doch er unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass erdie Fähigkeit besitzt, sich durch sein Handeln aus den Niederungender Herrschat seines selbstsüchtigen Egos und seiner tierischen In-stinkte zu bereien. Allein der Mensch ist ähig, seine Begierden zu

kontrollieren und so seine gottgegebenen natürlichen Bedürnissezu zügeln und zu beherrschen. Wenn ihm dies gelingt, vollührter all seine weltlichen Tätigkeiten in Übereinstimmung mit demgöttlichen Willen. Alles wird ür ihn mit Spiritualität erüllt undzu einer Form von Gottesdienst. Sein Schlaen, Essen, Trinken, dasZeugen von Kindern, der Erwerb von Besitz und all die zahllosenanderen Arten alltäglicher menschlicher Beschätigungen werden

ihm dann zu Mitteln, Allāhs göttliches Wohlgeallen zu erlangen,und zählen au diese Weise in der Gegenwart Allāhs, des Allmäch-tigen, als Gottesdienst und gute Taten.

Aus diesem Grunde sollte ein Gläubiger sein Herz von allenselbstsüchtigen Absichten läutern und nur die Absicht, AllāhsWohlgeallen zu erlangen, darin wirken lassen. Dies zu verwirkli-chen, ist das wahre Heldentum eines Muslims. Die deinitiv wich-tigste Voraussetzung ür die Anerkennung aller Handlungen beiAllāh jedoch ist die Aurichtigkeit. Sie ist das Mittel, mit dem derMensch au dem Weg zur Gottesnähe sein Herz vor jeder Art vonweltlichem Streben bewahren kann. Die Frucht der Aurichtigkeit

 jedoch ist, wie bereits erwähnt, die Stue der Vortrelichkeit [al-ihsān], die darin besteht, Allāh so zu dienen, als sähe man Ihn, undsich innerlich ganz und gar bewusst zu sein, dass Allāh ständig au unsund all unser Tun schaut. Die Aurichtigkeit lässt den Gottesdienern

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das unvergleichlich kostbare Gut göttlichen Wohlgeallens zuteilwerden. Wahre Aurichtigkeit der Geschöpe besteht darin, sich beiallen Handlungen Allāh zuzuwenden und damit Sein Wohlgeallenzu erstreben. In den Versen des Edlen Qur’ān heißt es:

{Wahrlich, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit her-abgesandt, so diene Allāh, aurichtig Ihm gegenüber in der Religion! }59

{Sprich: „Wahrlich, mir wurde geboten, Allāh zu dienen, au-richtig Ihm gegenüber in der Religion!“ }60

Als Iblīs aus der göttlichen Gegenwart verbannt wurde, sagte er:

{ „Herr, da Du mich hast irre gehen lassen, werde ich ihnen au der Erde (das Üble) verlockend schön erscheinen lassen und sieallesamt in die Irre ühren – mit Ausnahme derjenigen von ih-nen, die Deine aurichtigen Diener sind!“ }61

Wie letzterer Vers deutlich macht, kann Schaytān über diejenigen,die wahrhat aurichtig sind, keine Macht ausüben. Die aurichtigenGottesdiener kann er niemals beeinlussen, wie auch in der Ant-wort Allāhs au die obige Ankündigung Schaytāns deutlich wird:

{Er sprach: „Dies ist ein ür Mich verbindlicher gerader Weg:Wahrlich, du sollst keine Macht über sie haben, außer über die-

 jenigen Irregeleiteten, die dir olgen! }62

59. Qur’ān, 39:2.60. Qur’ān, 39:11.61. Qur’ān, 15:39-40.62. Qur’ān, 15:41-42.

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Und an anderer Stelle im Qur’ān bekrätigt Allāh, der Erhabene,diese Aussage, indem Er sagt:

{Wahrlich, über Meine Diener wirst du keine Macht haben! Und dein Herr ist (ihnen) als Beschützer genüge.}63

In einem Hadīth qudsī sagt Allāh, der Allmächtige:

„Die Aurichtigkeit ist ein Geheimnis von Meinen Geheim-

nissen, welches Ich dem Herzen eines Meiner Diener anver-traue, wenn Ich ihn liebe: Weder kann ein Engel sie auzeich-nen, noch ein Schaytān sie zunichte machen.“64

Angesichts dieses Hadīth qudsī wird deutlich, wie die Aurichtig-keit den Gottesdienern, indem sie sie zur Stue der Vortrelichkeitührt, die Liebe Allāhs beschert. Darau deuten die Worte Allāhshin, wenn Er von dem „Herzen eines Meiner Diener, wenn Ichihn liebe“ spricht. In der Tat verleiht nur die ganz au Allāh ausge-richtete Liebe der menschlichen Seele den ihr gebührenden Rang.Die Arten von Liebe jedoch, die jener Aurichtigkeit und Wahr-hatigkeit Allāh gegenüber entbehren, ühren in der Ewigkeit nurzu Einbußen und bleibendem Verlust. Diesen besonderen Zusam-menhang beschreibt der ehrwürdige Meister al-Nakhschabī in ol-gender Geschichte:

Ein Jüngling kam ans Tor der Sultanstochter und verkündete seineLiebe zu ihr. Als der Sultanstocher die Nachricht überbracht wurde,schritt die Eherau des Sultans zum Tor und sprach zu dem Jüngling:

63. Qur’ān, 17:65.64. Vom Autor zitiert aus Seyyid Mansur Ali Nası El-Hüseyni, Eş-Şas Et-acü’l 

Camiu Li’l Usul Fi Ehadisi’r-Resul , Terc. Bekir Sadak, İstanbul, Fecir Neşriyat,1980, Bd. I, S.43.

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„Nimm diese tausend Dirham, und sprich nie mehr solche,ür dich höchst geährliche, gewagte Worte aus!“

Als der Jüngling sich weigerte wegzugehen, sagte sie:

„Wenn das so ist, dann gebe ich dir eben zweitausend Dir-ham!“

Au diese Weise bot sie ihm immer mehr, bis er schließlich bei einer

Summe von zehntausend Dirham einwilligte. Als die Sultanstoch-ter dies hörte, lie sie herbei und schrie ihn an:

„Wie kommst du dazu, zu behaupten, dass du mich liebst,wenn du mich bereits bei dem Anblick von ein paar Münzen

 vergisst? Weißt du nicht, welche Strae dem droht, der etwasanderem den Vorzug vor mir gibt?“

Mit diesen Worten schlug sie dem in seiner Liebe zu ihr unaurich-tigen Jüngling den Kop ab.

Als einer derer, die in der Erkenntnis Allāhs leben, diese Geschichtehörte, stürzte er bewusstlos zu Boden. Als er wieder zu sich kam,sagte er:

„O ihr Menschen, seht nur, was in dieser Welt mit jenen ge-schieht, deren Liebe unaurichtig ist! Welches Schicksal wirderst im Jenseits diejenigen ereilen, die behaupten, Allāh zu liebenund dabei in Wirklichkeit nach anderen Dingen streben? […]“

Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī kommentiert diese Ge-schichte treend mit den Worten:

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Der Wert eines Menschen bemisst sich daran, wonach er strebt.

Die Aurichtigkeit ist ür alle Handlungen von entscheidender Be-deutung. Durch sie wird ihr Besitzer errettet, wie es in einer edlenÜberlieerung heißt:

„Die Menschen sind (wie) Tote, außer denen, die Wissenbesitzen, und die Wissenden sind ruiniert, außer denen, dierechtschaene Werke tun, und die rechtschaen Handelnden

sind verderbt, außer denjenigen, die au richtig sind!“65

Im heiligen Qur’ān kommt dies in den olgenden Worten zum Aus-druck:

{Ihr werdet gewiss die qualvolle Strae zu schmecken bekom-men – und euch wird nur das vergolten werden, was ihr selbst 

 getan habt – außer Allāhs aurichtigen Dienern. Ihnen wird eine estgelegte Versorgung zuteil werden: (vielerlei) Früchte;und ihnen wird große Ehre erwiesen werden.}66

Und Allāh sagt:

{O ihr, die ihr glaubt, wacht über euch selbst. Kein Irregeleite-ter kann euch schaden, wenn ihr rechtgeleitet seid. Zu Allāh ist 

eure Heimkehr allesamt und Er wird euch dann kundtun, wasihr vollbracht habt.}67

65. Überlieert von al-Bayhaqī in Schu‘ab al-Īmān als Ausspruch des Dhū Nūnal-Misrī sowie von Imām Ghazālī in Ihyā ‘Ulūm al-Dīn als Ausspruch desSahl al-Tustarī.

66. Qur’ān, 37:38-42.67. Qur’ān, 5:105.

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Mit der Aurichtigkeit, die sich in reinen und wahrhatigen Absich-ten ausdrückt, gehen die Gültigkeit und der Segen des Gottesdiens-tes einher. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī sagt demjenigen, der bei sei-nem Gottesdienst diese wichtige Voraussetzung vernachlässigt:

O du Achtloser! Würdest du doch nur in der Sajda68 dein Ge-sicht in wahrer Aurichtigkeit dem Allmächtigen zuwenden,dann könntest du die Bedeutung deiner Worte ‚Lobpreis seidem Allerhöchsten, meinem über jeg liche Unzulänglichkeit er-

habenen Herrn!‘ begreien, und deine Sajda bliebe nicht länger eine rein äußerliche Körperhaltung, sondern würde zu einer demütigen Niederwerung deines Innersten! 

Ein Gottesdienst, der der Aurichtigkeit entbehrt, beinhaltet immereine Art von Götzenanbetung und eine Vermischung mit unreinenElementen. Das Geheimnis, augrund dessen die gottesdienstlichen

Handlungen von der niederen Ebene in die höchsten Geilde erho-ben werden, liegt unsichtbar verborgen in der Aurichtigkeit. Wenndiese ehlt, trit das zu, was in einem Vers des Edlen Qur’ān so be-schrieben wird:

{Doch wehe jenen Betenden, die während ihrer Gebete geistes-abwesend sind, die nur gesehen werden wollen[...]}69

Die Aurichtigkeit bewahrt das Herz davor, nach etwas anderem alsAllāh und Seinem Wohlgeallen zu streben. Nur der au dieses hehreZiel ausgerichtete Gottesdienst verdient die Bezeichnung „recht-schaene Werke“ [‘amal sālih]! Allāh, der Erhabene, sagt:

68. Sajda nennt man die Niederwerung im rituellen Gebet.69. Qur’ān, 107:4-6

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 Al-Ikhlās – Vollkommene Aurichtigkeit gegenüber Allāh 

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{Und wahrlich ndet ihr im Weidevieh ein Gleichnis: Wir gebeneuch von dem, was sich in ihren Leibern zwischen Ausschei-dungen und Blut bendet, reine Milch zu trinken, angenehmund bekömmlich ür die rinkenden! }70

Manche Kommentatoren haben aus diesem Vers die Bedeutungabgeleitet, dass genau so, wie die Milch von Ausscheidungen undBlut getrennt wird, die Au richtigkeit die Handlungen in ebensol-cher Weise von allen Trübungen bereit. So, wie die Milch, obwohl

sie zwischen den Blutgeäßen und den unreinen Ausscheidungenherausließt, vollkommen rein ist, sind auch Handlungen, die mitreiner Absicht ür Allāhs Wohlgeallen verrichtet werden, rei von

 jeglicher Verunreinigung. Eben dies brachte auch Imām Junayd al-Baghdādī zum Ausdruck, als er sagte:

„Die Aurichtigkeit reinigt die Handlungen von allen Trü-

bungen!“

Und ein anderer Gottesreund sagte:

„Für sich selbst einen Anspruch au Aurichtigkeit zu erhe-ben ist eine Form von Unaurichtigkeit!“

Mūsā – au ihm sei Friede – wählte au Allāhs Geheiß hin aus seinem

Volk siebzig Rechtschaene aus. Dann beahl er, die Rechtschaens-ten von ihnen sollten vortreten, worauhin er die drei, die zuerst vor-traten, auswählte. Darauhin sprach Allāh, der Erhabene: „O Mūsā,diese drei sind von allen Geschöpen diejenigen, die von Mir amweitesten enternt sind, denn als gesagt wurde: ‚Die Rechtschaenensollen vortreten!‘, haben sie sich selbst zu Rechtschaenen erklärt.“

70. Qur’ān, 16:66

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‘Īsā – au ihm sei Friede – wurde einmal von seinen Jüngern geragtwas „rechtschaene Werke“ seien. Er antwortete: „Die Taten desje-nigen, der nur um Allāhs Wohlgeallen willen handelt und darüberhinaus keine anderen Ziele verolgt, sind rechtschaene Werke.“

Dementsprechend besteht Aurichtigkeit darin, seine Taten vonAnbeginn an von Zurschaustellung und allen anderen Formen spi-ritueller Verunreinigung rei zu halten. In der Tat stellt die Augen-dienerei, welche die Aurichtigkeit trübt und zunichte macht, eine

enorme Geahr ür den Menschen dar. Denn wer seine Handlun-gen mit Zurschaustellung verbindet, verällt damit in verborgenenGötzendienst und zieht sich den Zorn und die Strae Allāhs zu. Ineiner prophetischen Überlieerung wird Folgendes berichtet:

Der Erste, über dessen Schicksal am Tag des Jüngsten Gerichtsentschieden wird, ist ein Mann, der als Märtyrer gestorben

ist. Er wird herbeigeholt werden und Allāh wird ihn auor-dern, Seine Gnadengaben auzuzählen und er wird sie au-zählen. Dann wird Allāh sprechen: „Was hast du getan?“, undder Mann wird sagen: „Ich habe um Deinetwillen gekämpt,bis ich als Märtyrer geallen bin.“ Allāh jedoch wird ihm ent-gegnen: „Du lügst! Du hast gekämpt, damit man dich als hel-denhaten Kämper bezeichnet, und genau so haben sie dichgenannt.“ Darauhin wird der Richtspruch über ihn geälltund er wird mit dem Gesicht nach unten hinweggeschleitund ins Hölleneuer geworen werden.

Als nächster wird ein Mann vorgeührt werden, der Wis-sen erworben, andere gelehrt und den Qur’ān rezitiert hat. Erwird herbeigeholt werden und Allāh wird ihn auordern, Sei-ne Gnadengaben auzuzählen und er wird sie auzählen. Dannwird Allāh sprechen: „Was hast du getan?“, und der Mann wird

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 Al-Ikhlās – Vollkommene Aurichtigkeit gegenüber Allāh 

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sagen: „Ich habe um Deinetwillen Wissen erworben, es andere

gelehrt und den Qur’ān rezitiert.“ Doch Allāh wird ihm ent-gegnen: „Du lügst! Du hast Wissen erworben, um als Gelehrterbezeichnet zu werden, und du hast den Qur’ān rezitiert, da-

mit man dich als hervorragenden Qur’ānrezitator bezeichnet,und genau das haben sie über dich gesagt.“ Darauhin wird derRichtspruch über ihn geällt und er wird mit dem Gesicht nachunten hinweggeschleit und ins Hölleneuer geworen werden.

Dann wird ein Mann vorgeührt werden, dem Allāh gewal-tigen Reichtum und jede Art von Wohlstand verliehen hatte. Erwird herbeigeholt werden und Allāh wird ihn auordern, Sei-ne Gnadengaben auzuzählen und er wird sie auzählen. Dannwird Allāh sprechen: „Was hast du getan?“, und der Mann wird

sagen: „Ich habe meinen Besitz um Deinetwillen in jeder denk-baren Dir wohlgeälligen Weise ausgegeben.“ Doch Allāh wirdihm entgegnen: „Du lügst! Du hast dies nur getan, damit über

dich gesagt wird: ‚Er ist ein reigiebiger Mann!‘, und genau dashaben sie über dich gesagt.“ Darauhin wird der Richtspruchüber ihn geällt und er wird mit dem Gesicht nach unten hin-weggeschleit und ins Hölleneuer geworen werden.71

Wie dieses Hadīth uns deutlich lehrt, sind selbst die an sich vor-trelichsten rechtschaenen Taten, wie das Hingeben des eigenen

Lebens ür Allāh, der Erwerb und die Vermittlung von Wissen, dasRezitieren des heiligen Qur’ān, sowie reigiebige Spenden, nutzlos,

wenn sie nicht aurichtig und ausschließlich um Allāhs Wohlgeal-len zu erlangen, ausgeührt werden.

Als Abū Yazīd al-Bistāmī einmal den Vers aus dem EdlenQur’ān {Einige von euch verlangen nach dieser Welt und andere von

71. Sahīh Muslim, Kitāb al-Imāra, 152

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euch verlangen nach dem Jenseits}72 hörte, begann er zu weinen undsagte: „Mit dieser Äußerung wirt Allāh Seinen Dienern ihre Unge-rechtigkeit vor, indem Er ihnen vorhält: ‚Manche von euch sind mitdem Diesseits zurieden und manche streben nach dem Jenseits,doch wo sind diejenigen, die Mich wollen?‘ “

Glaube besteht nicht nur aus leeren Worten oder seelenlosemVerrichten von Gottesdienst, sondern er muss sich im Handelnder Gläubigen maniestieren. Ein Gläubiger gehorcht den Gebotenund Verboten Allāhs von ganzem Herzen, ohne sich je zu bekla-

gen. Allāh ist ihm wichtiger als alles andere. Wer hingegen weltli-che Vorteile Allāh vorzieht, zählt zu den Heuchlern. Sie versuchen,die Gläubigen zu täuschen und den Islam als Deckmantel ür ihreÜbeltaten zu benutzen. Diese Art von Menschen betrachten ihr ei-genes Ego als höchsten Herrn und oberste Gottheit. Über sie sagtAllāh im heiligen Qur’ān:

{Hast du den gesehen, der sich seine eigenen Gelüste zur Gott-heit genommen hat, und den Allāh wissentlich in die Irre gehenlässt, und dem Er Gehör und Herz versiegelt und einen Schleier über die Augen gebreitet hat? Wer könnte ihn noch rechtleitennach Allāh? Wollt ihr euch denn nicht ermahnen lassen? }73

Dieser Vers lehrt uns, wie unerlässlich es ist, sich von den eitlenWünschen des Egos zu bereien, wenn man die ehrliche Absicht

hegt, Allāh in aurichtigem Glauben zu dienen.Dabei ist ein Weniges an Gottesdienst in Aurichtigkeit ver-

richtet ot besser als viele Gottesdienste ohne Aurichtigkeit undrechtschaene Absicht. Es wird berichtet, Allāhs Gesandter – Se-gen und Friede Allāhs seien au ihm – habe gesagt:

72. Qur’ān, 3:152.73. Qur’ān, 45:23.

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 Al-Ikhlās – Vollkommene Aurichtigkeit gegenüber Allāh 

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„Verrichtet euren Gottesdienst in Aurichtigkeit, dann wer-den euch eine geringe Zahl guter Taten genügen!“74

Und er sagte – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden:

„Allāh schaut nicht au euer Äußeres und au euren Besitz,sondern au eure Herzen und au eure Taten!“75

Ebenso teilt uns Allāh, der All-Erhabene, mit, dass Er nicht den

am meisten liebt, der den meisten Gottesdienst verrichtet, sondern vielmehr denjenigen, der in seinem Gottesdienst am aurichtigstenist. Dabei prüt Er die Menschen, um ihre Aurichtigkeit in Erah-rung zu bringen. Allāh sagt:

{Er erschu den od und das Leben, damit Er euch prüe, wer von euch in seinem Handeln der Beste ist; und Er ist der All-

Gewaltige, der All-Verzeihende.}76

Allāh, der Allmächtige, unterwirt die Menschen hinsichtlich derQualität ihres Handelns, das heißt, um den Grad ihrer Aurichtig-keit zu ergründen und estzuschreiben, unterschiedlichen Prüun-gen. Dazu gehört auch, dass manche Gläubige durch das Erdulden

 von Verolgung, Unterdrückung oder Folter ihre Glaubensstärkeund Loyalität Allāh gegenüber beweisen müssen. Allāh sagt darü-ber im heiligen Qur’ān:

{ Ali. Lām. Mīm. Rechnen die Menschen etwa damit, sie wür-den in Ruhe gelassen, wenn sie nur sagen: „Wir glauben“? Und 

74. Imām al-Ghazālī, Ihyā ‘Ulūm al-Dīn, Bd. IV.75. Überlieert in Sahīh Muslim, Kitāb al-Īmān, 34.76. Qur’ān, 67:2.

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Wir haben schon diejenigen geprüf, die vor ihnen waren! Sowird Allāh gewiss kenntlich machen, wer die Wahrhafigen und wer die Lügner sind.}77

Es ist sehr wichtig, Wesen und Bedeutung der Aurichtigkeit rich-tig zu erassen. Wenn manche Menschen es unterlassen, aurichtigrechtschaene Werke zu tun, nur weil sie beürchten, in heuchleri-sche Zurschaustellung zu verallen, ist das sicherlich alsch. Wennwir das Geühl haben, dass sich solch unerwünschte Charakterzüge

in unser Handeln einschleichen, sollten wir uns die Mühe machen,unsere Absichten zu hinterragen und gegebenenalls zu korrigie-ren, anstatt das Verrichten rechtschaener Werke auzugeben. DerWeg zur Aurichtigkeit ist sicherlich kein leichter; ganz im Gegen-teil: Er ist mit vielen Schwierigkeiten und Prüungen geplastert.Denn er verlangt von uns, unser Ego und seine unzähligen Wün-sche und Begierden zu konrontieren, bevor wir, Schritt ür Schritt,

seine Höhen erklimmen. Wir müssen dabei sowohl unsere ganzeWillenskrat einsetzen, als auch um göttliche Unterstützung bitten.Dabei sollten wir die olgenden ün Punkte beachten:

1. Durch stetes Gottesgedenken und die Wiederholung Sei-ner göttlichen Namen müssen wir uns bemühen, ständigin der Gegenwart Allāhs, des Allmächtigen, zu leben.

2. Wir müssen eine spirituelle Verbindung mit dem Pro-pheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –und denen, die seinen Fußstapen olgen, halten. Durchdiese spirituelle Verbindung müssen wir versuchen,an dem Fließen der Ausschüttungen göttlicher Gnade[ ayd ] teilzuhaben.

77. Qur’ān, 29:1-3.

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 Al-Ikhlās – Vollkommene Aurichtigkeit gegenüber Allāh 

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3. Wir müssen regelmäßig an spirituellen Zusammen-künten [suhba] teilnehmen, und bemüht sein, darin dieSüße der islamischen Brüderlichkeit zu erahren. Dazugehören auch die auoperungs volle Hingabe und derDienst zum Nutzen unserer Geschwister im Glauben.

4. Wir sollten die gesamte Schöpung und alle Menschenaus Liebe zu Allāh, dem Erhabenen, lieben und ihnenin jeder uns möglichen Art und Weise dienen.

5. Wir sollten unseren, uns von Allāh anvertrauten Kör-per nur von dem ernähren, was au rechtmäßige Weise[halāl ] erworben ist, denn dann ällt unserem Her-zen der Gehorsam gegenüber Allāh leicht und unserKörper wird zu einem Quell des Guten. Wenn unsereNahrung hingegen aus unzulässigen Quellen [harām]kommt, kann das Herz keine Neigung zu aurichtigemGottesdienst entalten.

Durch diese Praktiken des Gottesgedenkens [dhikr ], der spirituel-len Verbindung [rābita], der Zusammenkunt [suhba], des Dienstes[khidma] und der Ernährung mit dem, was rechtmäßig ist, kannder Mensch mit Hile der göttlichen Barmherzigkeit die Schönheitdes Glaubens in seinem Herzen verwirklichen und zu der selten ge-

wordenen Tugend wahrer Aurichtigkeit in seinem Tun gelangen.

O unser Herr! Lass uns die wahre Aurichtigkeit, die ein GeheimnisDeiner endlosen Geheimnisse ist, zuteil werden, au dass wir Dir inDankbarkeit ür Deine unendlichen Gnaden in rechter Weise dienen!

Āmīn!

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Khauf wa Rajā’ – Furcht und Hoffnung

Im menschlichen Leben lässt sich meist ein ständiges Hin- undHerwogen zwischen den beiden Empindungen Khau  undRajā’ , zwischen Furcht und Honung, beobachten. Für ein

gläubiges Herz ist es wichtig, zwischen diesen beiden Kräten ein

harmonisches Gleichgewicht herzustellen. Denn aus übermäßi-ger Furcht oder übertriebener Angst entsteht Honungslosigkeit,während zu große Sorglosigkeit und Draugängertum ein alschesGeühl von Sicherheit und Unverletzlichkeit erzeugen. Der Menschsollte es sowohl vermeiden, sich vor der göttlichen Strae Allāhsdes Erhabenen in Sicherheit zu wiegen, als auch die Honung au Seine allumassende Gnade und Barmherzigkeit auzugeben. Ein

 vollkommener Gläubiger ist derjenige, dem es gelingt, das Gleich-gewicht zwischen diesen beiden Zuständen aurecht zu erhalten.

Allāh, der Erhabene, sagt im Edlen Qur’ān über diejenigen, diewahrhat gottesürchtig sind und ihre Nächte im Gebet und Stre-ben nach Allāhs Gnade und Vergebung verbringen:

{Sie enthalten sich ihrer Ruhestätten; sie ruen ihren Herrn vol-ler Furcht und Honung an und spenden reigiebig von dem,

was Wir ihnen gewährt haben.}78

Absolute Honungslosigkeit, das heißt, ein völliges Augeben derHonung au die Barmherzigkeit Allāhs, Seine großmütige Verge-bung und Verzeihung, ist eine schwerwiegende Form von Achtlo-sigkeit [ ghaa]. Wer so denkt, leugnet damit die Erscheinungen der

78. Qur’ān, 32:16.

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Khau wa Rajā’ – Furcht und Honung

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mitühlenden Gnade Allāhs, Seine Allmacht und Seine majestäti-sche Herrlichkeit.

Die der absoluten Honungslosigkeit vollkommen entgegen-gesetzte Haltung, sich völlig in Sicherheit zu wiegen, bringt hinge-gen eine vermeintliche Geeitheit gegenüber jenen göttlichen Ei-genschaten zum Ausdruck, die mit dem Gottesnamen al-Qahhār 79 in Erscheinung treten und kundet zugleich von einer hochgradigenFehleinschätzung der vergeltenden Strae Allāhs.

Kurz gesagt muss der Mensch sich um einen Zustand des

Gleichgewichts bemühen, indem er sowohl den Grenzbereichabsoluter Honungslosigkeit als auch die Haltung anmaßenderSelbstsicherheit vermeidet. Erdbeben, wie wir erst kürzlich eineserlebt haben,80 oder andere Katastrophen und unerwartete außer-ordentliche Naturereignisse machen es häuig schwer, eine solcheBalance zu inden.

Ein Gläubiger sollte bemüht sein, die olgende Geisteshaltung

einzunehmen: Wenn ihm mitgeteilt würde, dass nur ein einzigerMensch ins Paradies gelangen wird, sollte er sich selbst ragen:„Werde ich das wohl sein?“, und wenn ihm gesagt würde, dass nurein einziger Mensch ins Hölleneuer geworen werden wird, sollteer sich ragen: „Werde ich möglicherweise derjenige sein?“

Allāh, der All-Erhabene, warnt, lehrt und erzieht Seine Die-ner, indem er vielältige, vom Himmel hernieder kommende oderexplosionsartig aus der Erde hervorbrechende Katastrophen und

Schicksalsschläge benutzt, um die Herzen Seiner Diener mit Got-tesurcht zu erüllen und sie vor dem Hinabstürzen in die bodenlo-sen Tieen der eitlen Wünsche und Begierden zu bewahren. Es wäre

79.  Al-Qahhār ist einer der neunundneunzig schönen Gottesnamen und bedeu-tet „der All-Bezwingende“.

80. Dieser Text stammt aus der Zeit kurz nach dem verheerenden Erdbeben inder Türkei im August 1999, das nach oziellen Angaben 17.480 Menschen-leben kostete.

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ein Zeichen vollkommener Achtlosigkeit und eine bodenlose Tor-heit, anzunehmen, dass diese Art von Unglücken sich unbeabsich-tigt und rein zuällig ereignen. Die Folgen von Naturkatastrophenwie der Tod oder die gesundheitliche Schädigung von Tausenden

 von Menschen sowie die damit verbundene Armut und Obdach-losigkeit unzähliger Betroener sind keine grund- und sinnlosenGeschehnisse. Im anderen Falle wäre es unmöglich, jemals den Sinn

 von Leben und Tod, das göttliche Schöpungsprogramm und dieFeinheiten der ihm innewohnenden eigenen Logik zu bejahen und

zu deuten. Solche Katastrophen sind unverkennbar warnende Ma-niestationen der majestätischen Stärke und Allmacht des Schöpersallen Seins. Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī sagt dazu:

Die Welt, in der wir leben, ist ganz von der ihr eigenen Be- grenztheit und Ver  gänglichkeit geprägt. Der Ursprung ist hin- gegen die ewige und end lose Heimstätte des Jenseits. Nutze dei-

nen Verstand in rechter Weise, au dass die blassen Eindrücke,die vergänglichen Gestalten und dahinschmel zenden Formender äußeren Welt nicht ihre Schleier über dein Herz breitenkönnen.

Auch wenn dir in deinen Augen diese Welt sehr groß und wichtig erscheinen mag, sei dir bewusst, dass sie in Anbetracht der göttlichen Allmacht nicht einmal soviel wie ein Atom aus-macht. Öne deine Augen und schau noch einmal hin, wie einErdbeben, ein Orkan oder eine Flut die Erde verwüsten und wie sie die Situation dieser Welt und aller Wesen, die au ihr existieren, vollkommen verändern! 

Seht nur, wie unser Land inolge der schlagartig eingetretenen Er-eignisse dieses „kleinen Vorgeschmacks au den Tag der Auerste-hung“ zum Schauplatz eines Schreckensszenarios geworden ist!

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Schaut euch die eingestürzten Gebäude an! Seht nur die von un-serem Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – alsAnzeichen des Jüngsten Tages vorhergesagten, zahllosen, unverse-hens jäh dahingeraten Toten!

In all diesen Ereignissen inden sich ür uns unzählige Lehrenund Exempel. Viel mehr als sie au rein äußerliche Ursachen zu-rückzuühren, sollten wir derartige Katastrophen deshalb aus einerspirituellen Perspektive analysieren. Anstatt bei der Betrachtungsolcher Heimsuchungen in den Fehler zu verallen, die materiellen

Ursachen überzubewerten, sollten wir uns ihnen mit den Maßstä-ben des Glaubens [īmān] und des Islam nähern.

Das gesamte Universum unterliegt, vom Mikrokosmos biszum Makrokosmos und bis ans Ende der zuküntigen ewigen Welt,einem detaillierten und aus Feinste abgestimmten göttlichen Plan.Angeangen von der Bewegung der Sonne und der Himmelskörper,über die kreisenden Bewegungen der kleinsten atomaren Teilchen,

bis hin zu geheimnisvollen, unsichtbaren Strahlen olgt alles seiner,ür uns unassbaren und unerklärlichen, estgelegten Bahn. Allesunterliegt diesem göttlichen Plan. Nicht einmal ein Atheist wür-de wohl in Betracht ziehen, dass die Geschwindigkeit der Sonnezunimmt oder sich verringert, oder dass ein Tag au einmal längeroder kürzer als vierundzwanzig Stunden sein könnte. Insoern er-kennt selbst sein Herz die ultimative Macht des göttlichen Willensan. Doch indem er seinem illusionären Wunschdenken olgt, inter-pretiert er die grundlegenden Regeln der göttlichen Ordnung als„Naturgesetze“, die er als eigenständige Ursachen der wirkendenKräte betrachtet. Dabei spiegeln all diese Gesetze und Prinzipiennur die Wirklichkeit der göttlichen Regeln [‘ādāt Allāh] und derspeziellen Eigenart Allāhs [sunnat Allāh] wider.

Ohne Zweiel ist diese Welt eine Welt der Ursachen und Wir-kungen. Allāh, der All-Erhabene, der die Ursache aller Ursachen

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ist, hat jede Wirkung mit bestimmten Ursachen verbunden. Würdeder göttliche Wille sich ohne sekundäre Ursachen direkt manies-tieren, wäre diese Welt nicht in der Lage, die gewaltige Macht dieserManiestationen [tajalliyyāt ] auszuhalten, noch könnte sie ihremZweck als Stätte der Prüungen gerecht werden. Inolgedessen be-ziehen sich diejenigen, denen das Licht der Erkenntnis zuteil ge-worden ist, nicht au die sekundären Ursachen sondern au derentatsächlichen Verursacher. Diejenigen hingegen, denen die Schaudes Göttlichen versagt geblieben ist, wandern vergebens zwischen

Ursachen hin und her und bleiben dauernd dem Bereich physikali-scher Kausalitäten verhatet.

Um Übeltäter und Unterdrücker zu straen, lässt Allāh, derAllmächtige, gelegentlich – entsprechend dem Maß der von ihnen

 verursachten materiellen oder spirituellen Drangsal – Naturereig-nisse eintreten, die den Rahmen des uns gewohnten Ablaus desgöttlichen Planes sprengen. Das heißt, Er verwandelt Feuer, Was-

ser, Wind und andere Naturgewalten zur Erüllung eines anderenPlanes in Kräte der Zerstörung. In der Unähigkeit, den göttlichenWillen hinter derartigen Naturereignissen zu erkennen, oenbartsich eine Art menschlicher Blindheit. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmīwarnt diejenigen, die dieser Form von Achtlosigkeit anheimgeal-len sind, indem er sagt:

Vergiss niemals, dass diese Welt in Anbetracht der göttlichen Allmacht Allāhs nicht mehr als ein Strohhalm ist. Der göttli-che Wille hebt diesen mal empor, ein anderes Mal bringt er ihnnach unten. Manchmal lässt Er ihn ganz, manchmal zerknickt Er ihn. Mal trägt Er ihn nach rechts, ein anderes Mal nachlinks. Manchmal verwandelt Er die Welt in einen Rosengartenund manchmal in ein Dornengestrüpp.

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Weil Allāh, der Allmächtige, es so wollte, dass diese Welt eine Stät-te der Prüungen sei, treten im Wirkungskreis der Ursachen solchgegensätzliche Einlüsse wie göttliche Bezwingerkrat [qahr ] undgnadenreiche Güte [lut ] in Erscheinung.

Das In-Erscheinung-Treten gnadenreicher Güte steht in Ver-bindung mit den aurichtigen Bittgebeten, dem Flehen, den reiwil-ligen Spenden und vielerlei anderen rechtschaenen Handlungender Gottesdiener, die allesamt als mittelbare Ursachen zur Manies-tation göttlicher Wohltaten beitragen.

Das In-Erscheinung-Treten der göttlichen Bezwingerkrathingegen ist die Folge von verbotenen Handlungen [harām], vonUnterdrückung [zulm] und massenhat autretender Zügellosig-keit; gleichzeitig maniestiert sich diese Krat jedoch auch, um dieMenschen hinsichtlich ihrer Geduld und Standhatigkeit, ihresGottvertrauens und ihrer Hingabe an Ihn zu prüen. In dieser Wei-se prüt Allāh, der Allgewaltige, von Zeit zu Zeit seine Diener. In

einem Vers des Edlen Qur’ān heißt es diesbezüglich:

{Und gewiss werden Wir euch Prüungen aussetzen, mit etwasFurcht und Hunger und Verlust an Vermögen, Menschenlebenund Ernten. Und den standhaf Geduldigen verkünde roheBotschaf! }81

Der Tatsache, dass die Propheten – au ihnen sei der Friede –, ob-

wohl sie allesamt durch göttliche Bestimmung vor dem Begehen von Sünden bewahrt sind, ot große Qualen zu erdulden hattenund schwersten Heimsuchungen ausgesetzt waren, liegt eben diesegöttliche Weisheit zugrunde. In diesem Zusammenhang sind diePrüungen, denen der Prophet Ayyūb (Hiob) – au ihm sei Frie-de – ausgesetzt war, ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Zuerst

81. Qur’ān, 2:155.

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nahm Allāh, der Erhabene, diesem ehrwürdigen Propheten mitder Absicht, ihn zu prüen, all seinen Besitz, indem er durch eineFlut seine Schaherden ertränkte und durch einen Sturmwind seineFelder vernichtete. Kurz darau rate ein gewaltiges Erdbeben sei-ne Kinder dahin. Nachdem er all diese Schicksalsschläge geduldigund voller Gottvertrauen als Allāhs Willen akzeptiert und klagloshingenommen hatte, ließ Allāh ihn schwer erkranken. Doch auchin diesem Zustand schwerster Krankheit klagte oder lamentierteAyyūb – Friede sei au ihm – nicht, sondern hielt an seiner voll-

kommenen Unterwerung unter den göttlichen Willen est. Wegenseiner beharrlichen Geduld und Hingabe bereite Allāh ihn von al-lem Kummer und Leid indem er ihn von seiner Krankheit heilte,ihm seine Familie zurückgab und ihm ein Leben schenkte, das bes-ser war, als jenes, das er vor seinen Prüungen geührt hatte.

Dieses Beispiel belegt, dass unter den bei manchen Katastro-phen als Märtyrer Getöteten sowohl unschuldige Kinder als auch

Rechtschaene sein können, ebenso wie solche, denen Allāh durchihren Märtyrertod Vergebung ür ihre Sünden gewähren will. Eswird überlieert, dass der Prophet – Allāh segne ihn und schenkeihm Frieden – sagte:

„Wenn Allāh einem Diener eine bestimmte Rangstue be-stimmt hat, die derjenige nicht durch seine Handlungen er-reichen kann, sendet Er ihm Schicksalsschläge und Heimsu-

chungen. Dann gewährt Er in Seiner Gnade diesem Dienerdie nötige Geduld, um dieses Unglück zu ertragen, sodass erdie ihm bestimmte Stue erreichen kann.“82

Und:

82. Vom Autor zitiert aus Ahmet Ziyaeddin Gümüşhanevis Ramūz’ül-Ehādīs.

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„Ein Diener besitzt bei Allāh eine bestimmte Stue, die erdurch seine gottesdienstlichen Handlungen nicht erreichenkann. Bis diese Stue erreicht ist, sendet Allāh ihm unliebsa-me Dinge.“83

Als der ehrwürdige Prophet Mūsā (Moses) – au ihm sei Friede –au dem Weg zum Berge Sinai war, begegnete er einem Mann. Die-ser sagte zu Mūsā: „O Kalīm Allāh84 , ich habe einen Wunsch undbitte dich, au dem Berg Sinai zu Allāh, dem Erhabenen, zu beten,

dass er mir meinen Wunsch erüllt.“

Der ehrwürdige Prophet Mūsā – au ihm sei Friede – sagte:

„Was ist denn dein Wunsch? Sag es mir, damit ich Allāh dar-um bitten kann!“

„Das ist ein Geheimnis zwischen mir und meinem Herrn“,erwiderte der Mann.

Nachdem er den Berg Sinai erreicht hatte, sprach der Prophet Mūsā– au ihm sei Friede – mit seinem Herrn und bat dabei Allāh, die-sem Mann seinen Wunsch zu erüllen. Allāh ließ ihn wissen, dassEr dem Mannn seine Bitte erüllt habe. Au dem Rückweg hieltMūsā – au ihm sei Friede – an der Stelle an, wo er dem Mannbegegnet war, um ihm die rohe Botschat mitzuteilen. Doch vol-ler Schrecken musste er eststellen, dass der Mann von Raubtierengetötet und zerleischt worden war. Dieser Anblick verwirrte ihnund er sagte:

83. Ebenda.84. Kalīm Allāh, wörtlich: „der, zu dem Allāh spricht“, ist der Ehrenname des

Propheten Mūsā – Friede sei au ihm.

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„O mein Herr, was ist das Geheimnis? Hast Du ihm so seinenWunsch erüllt?“

Darauhin sprach Allāh, der Erhabene:

„O Mūsā! Dieser Diener bat mich um eine spirituelle Rang-stue, die er durch seinen Gottesdienst und eigene Anstren-gungen niemals hätte erreichen können. Deshalb sandte ichihm diese Heimsuchung und erhöhte ihm so seine Rangstue

in Meiner Gegenwart.“

In einer prophetischen Überlieerung heißt es:

„Wann immer Allāh, der Erhabene, Seinem Diener Heim-suchungen sendet, tut Er dies entweder, um ihm daür seineSünden zu vergeben, oder, um seine Rangstue zu erhöhen.“85

Deshalb sollte man weder angesichts der Maniestationen der allesbezwingenden Macht Allāhs in Honungslosigkeit verallen, nochsollte Seine gnadenvolle Güte einen dazu verleiten, sich vollkom-men in Sicherheit zu wiegen.

Au der anderen Seite nehmen die der speziellen EigenartAllāhs [sunnat Allāh] entspringenden Erdbeben, Feuersbrünste,Kriege, Epidemien oder Dürreperioden innerhalb eines jeden Zeit-

abschnittes, ebenso wie die ihnen gegenüberstehenden Ausschüt-tungen göttlicher Gnade und Segnungen, jeweils die Form an, diedem inneren Zustand der Menschen entspricht. Wenn die überwie-gende Mehrheit der Gottesdiener sich au dem Weg der Wahrha-tigkeit und Rechtschaenheit bewegt, allen die Regentropen alsSegen und Barmherzigkeit vom Himmel und sind ein Anlass von

85. Vom Autor zitiert aus Ahmet Ziyaeddin Gümüşhanevis Ramūz’ül-Ehādīs.

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Glück und Harmonie. Wenn dagegen die Mehrheit der Menschensich ganz den Wünschen und Begierden ihrer Egos hingegeben hat,nur Schlechtigkeiten begeht und ihre Herzen, ohne dass sie dabeiauch nur ein schlechtes Gewissen hätten, voller Ungehorsam undrebellisch gegen ihren Schöper sind, verwandeln sich die Regen-tropen, die ursprünglich ein Ausdruck göttlicher Gnade sind, inzerstörerische Fluten, oder bleiben ganz aus, sodass es zur Dürrekommt. In anderen Fällen kommt es zu Erdbeben durch explosions-artige tektonische Bewegungen der unter unseren Füßen liegenden

Gesteinsplatten. Das heißt: Diese Art von Katastrophen treten ohne jeden Zweiel inolge der Rebellion und der Untaten der Menschenau, sie ereignen sich erst, nachdem bereits au der spirituellen Ebe-ne ein zerstörerisches Erdbeben in Form gewissenloser Lebensüh-rung stattgeunden hat. In einem Vers des heiligen Qur’ān heißt es:

{Wahrlich, Allāh ändert nicht das, was in einem Volke ist, bis

sie selbst ändern, was in ihrem Innern ist.}86

Allāh, der All-Erhabene, ist ganz gewiss kein Unterdrücker. DieseKatastrophen sind in der Tat die unausweichlichen Folgen der Rebel-lion und Ungerechtigkeit der Erdenbewohner. Für jene Menschen,die die göttliche Ordnung und die heiligen Grundregeln bewusstmissachten, gibt es kein Entrinnen vor den schmerzhaten Folgen dergöttlichen Vergeltung. Allāh, der Allmächtige, sagt im Edlen Qur’ān:

{Kein Blatt ällt herab, ohne dass Er darüber Bescheid wüsste;und es gibt kein Samenkorn in der Dunkelheit der Erde, nochetwas Feuchtes oder rockenes, ohne dass es exakt in einem o-

 enkundigen Buch ver zeichnet wäre.}87

86. Qur’ān, 13:11.87. Qur’ān, 6:59.

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Angesichts der Tatsache, dass nicht einmal das Heraballen einesBlattes ohne Wissen und Erlaubnis Allāhs, des Allmächtigen, mög-lich ist, wäre es sicher nicht plausibel anzunehmen, dass ein gan-zes Land aus Geratewohl und ohne Sein Wissen solch gewaltigenErschütterungen ausgesetzt wird. Natürlich waren bei diesem Un-glück auch äußere Gründe wie Konstruktionsmängel an Gebäudenoder Fehlorganisation bei den Rettungsarbeiten von Bedeutung.Dennoch – ganz gleich ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht,und unabhängig davon, ob wir es bestimmten Personen zuordnen

können oder nicht – ist es wahr, dass zugleich spirituelle Faktoren,wie die Aulehnung und der Ungehorsam im Inneren vieler Men-schen und ihr daraus resultierendes Verhalten, eine beachtlicheRolle gespielt haben. Es wäre deshalb sicherlich ein großer Fehler,diese Katastrophe nur von der dem Verstand zugänglichen Seite zubetrachten und ihre spirituellen Aspekte völlig außer Acht zu las-sen. Besonders erschreckend ist, zu beobachten, wie oenbar gänz-

lich der Achtlosigkeit verallene Menschen meinen, noch bevor dasUnglück ganz zu Ende ist, ihrer rebellischen Natur nun erst rechtreien Lau lassen zu können, anstatt Reue zu zeigen. Maulānā Jalālal-Dīn Rūmī sagt über solche Menschen:

Welch ein Jammer ist es, diejenigen anzuschaun, die, anstatt diese War nun gen als Heilmittel ür ihre Leiden zu benutzen,sich daraus ein tödliches Gif bereiten! Aus eben diesem Grundevermehrt der Schleier des göttlichen Zorns die Finsternis in ih-ren Augen. Sie sind unähig, das direkt vor ihnen liegende, allesvernichtende Hölleneuer zu sehen, das nur darau wartet, siezu verschlingen. Oh wehe ihnen! 

Au jeden Fall sollte man die erorderlichen Sicherheitsvorkehrun-gen ür zukün tige Katastrophen treen, doch nachdem man diese

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notwendigen Schritte mit der gebotenen Sorgalt unternommenhat, sollte man au Allāh vertrauen.

Einmal ging der ehrwürdige Kali ‘Umar ibn al-Khattāb – mögeAllāh mit ihm zurieden sein – geradezu luchtartig an einer Mauer

 vorbei, die gerade eingerissen wurde. Die Anwesenden ragten ihn:

„O Führer der Gläubigen, versuchst du der BestimmungAllāhs zu entliehen?“

Der ehrwürdige ‘Umar erwiderte darau:

„Ich suche Zulucht vor der Bestimmung Allāhs in einer an-deren Bestimmung Allāhs!“

Diejenigen jedoch, die rein materialistisch denken, bauschen dieWichtigkeit und Wirkung organisatorischer Maßnahmen au und

 vertreten die Ansicht: „Wenn wir die Gebäude nur sicherer gebauthätten, wäre dies Unglück nicht über uns gekommen.“Doch wenn man weiß, dass alles vom göttlichen Willen be-

stimmt ist, wird man erkennen, dass die von Ihm geschaenewirksame Ursache stets stärker sein wird als alle Sicherheitsmaß-nahmen. So könnte ein Erdbeben genauso gut eine Stärke von 11.4anstatt 7.4 au der Richterskala haben, oder eine andere wirksameUrsache könnte in Erscheinung treten. Das Erdbeben von Kobe88 

ist ein gutes Beispiel daür: Die dortigen Gebäude waren entspre-chend den modernsten Standards der Erdbebensicherheit gebautworden, doch unglücklicherweise explodierten während des Erd-bebens die Gasleitungen und es kam zu einer Feuersbrunst, in de-ren Folge sechstausend Menschen ums Leben kamen. So reichten

88. Im Jahr 1995 verwüstete ein Erdbeben der Stärke 6.9 die vermeintlich erdbe-bensichere südjapanische Stadt Kobe.

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in Kobe zwanzig Sekunden, um alles, was die Menschen in Jahrenaugebaut hatten, zu vernichten.

Als Diener Allāhs ist es unsere Plicht, die notwendigen Maß-nahmen zu ergreien, um au etwaige zuküntige Katastrophen

 vorbereitet zu sein. Es sollte uns jedoch stets bewusst sein, dassderartige Vorkehrungen niemals eine Garantie gegenüber dem unsbestimmten Schicksal bieten können. Alle Vorsichtsmaßnahmenwirken immer nur soweit oder solange, wie sie in Einklang mit dergöttlichen Bestimmung stehen.

In augenälligem Gegensatz dazu verhielt sich beispielsweiseder Stamm der Thamūd gegenüber dem Volk von ‘Ād. Der Stammder Thamūd schrieb inolge seiner eigenen rebellischen Aulehnunggegen Allāh die Vernichtung des Volkes von ‘Ād hochmütig nichtdem göttlichen Zorn, sondern anderen Ursachen zu. Sie behaupte-ten: „Das Volk von ‘Ād wurde vernichtet, weil seine Bauwerke nichtsicher genug waren, denn sie hatten au Sand gebaut. Wir hingegen

haben unsere Häuser au den Fels gebaut, so dass uns ein derarti-ger Sturm nichts anhaben könnte.“ Und tatsächlich hatten sie äu-ßerst solide Gebäude au elsigem Fundament errichtet. Dennochwurden sie vernichtet, weil sie genau wie das Volk der ‘Ād durchihr rebellisches Verhalten die göttliche Strae au sich gezogen hat-ten. Mit einem schrecklichen Geräusch, das sie von unten aus demBoden her erasste, wurden sie hinweggeegt. Allāh, der Erhabene,sagt im Edlen Qur’ān:

{Da ergri diejenigen, die Unrecht getan hatten, der gewaltigeSchrei, und am Morgen lagen sie leblos in ihren Wohnstätten,als hätten sie sich dort nie des Wohllebens erreut. Die Tamūd leugneten ihren Herrn; hinweg mit den Tamūd! }89

89. Qur’ān, 11:67-68.

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Khau wa Rajā’ – Furcht und Honung

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Wenn man über diese Tatsachen nachdenkt, sollte einem klar wer-den, dass bautechnische Maßnahmen oder die Wahl sicherer Stand-orte allein letztendlich niemals wirklichen Schutz vor Katastrophenbieten können. Denn es sind die Verderbtheit, der Unrieden, dieUndankbarkeit, die Aulehnung, die Sündhatigkeit und die Zügel-losigkeit au dieser Erde, die den göttlichen Zorn des Allmächtigenheraubeschwören und Seine Strae über die Menschheit bringen.Wenn die göttliche Ordnung au dem Land und im Meer mutwilligzerstört wird, olgt ein Verhängnis dem anderen. Diese Tatsache wird

in einem Vers des Edlen Qur’ān mit olgenden Worten ausgedrückt:

{Unheil ist au dem Festland und au dem Meer erschienen in- olge dessen, was die Hände der Menschen erworben haben; au dass Er sie dadurch etwas von dem kosten lasse, was sie ange-richtet haben, damit sie (reuig) umkehren.}90

In diesem Vers wird die darin erwähnte göttliche Strae nur als {et-was von dem}, das heißt, als ein geringer Teil, beschrieben, was alsHinweis darau zu verstehen ist, dass die eigentliche göttliche Stra-e die Übeltäter im Jenseits erwartet. Zugleich birgt diese Strae eineErmahnung und Warnung in sich, welche ür die maßlos geworde-nen Gottesdiener eine Art nachdrückliches belehrendes Zeichen zurUmkehr sein soll. Aus diesem Grunde sollte man in solchen Zeitendes Unglücks noch mehr als sonst bei Allāh Zulucht suchen und Sei-

ne Vergebung erlehen. Allāh selbst deutet darau hin, wenn Er sagt:

{Und Allāh wird sie nicht straen, solange du (Muhammad) inihrer Mitte weilst, und er wird sie nicht straen, solange sie umVergebung bitten! }91

90. Qur’ān, 30:41.91. Qur’ān, 8:33.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Neben unserem Bitten um Vergebung sollten wir, mit der Absicht,Unheil von uns abzuwenden und das Gute anzuziehen, zwei Gebets-einheiten [rak‘a] des Gebets der Bedürtigkeit [salāt al-hāja] verrich-ten und Schutz in der Gnade und dem Mitgeühl Allāhs, des All-Barmherzigen, suchen, so wie Allāh es im heiligen Qur’ān empiehlt,wo es heißt:

{O ihr, die ihr glaubt, sucht Beistand in Geduld und imGebet! }92

Daneben sollten wir uns an den Rat des Propheten – Allāh segneihn und schenke ihm Frieden – halten, von dem überlieert wird,er habe gesagt:

„Wer dem Oper eines Unglücks sein Beileid zum Ausdruck bringt (d.h. indem er ihm sowohl geistigen als auch materiel-

len Beistand leistet), dem wird doppelter Gotteslohn zuteil.“93

Wir müssen uns vor Augen halten, dass ebenso wir selbst in derLage der Oper hätten sein können und sie in der unseren. Des-halb sollten wir Katastrophenopern gegenüber reigiebig sein, umau diese Weise unserer Dankbarkeit gegenüber Allāh Ausdruck zu verleihen. Wir sollten den Mittellosen, den Verletzten und Er-schöpten in den Katastrophengebieten die Hand reichen und aus

Mitgeühl ür Allāhs Geschöpe ihre Not, ihr Leid und ihre Schmer-zen so schnell lindern, wie wir nur können. Dabei sollten wir diesals Chance begreien, Gutes zu tun und rechtschaene Werke zu

 verrichten, so wie Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī es empohlen hat, in-dem er riet:

92. Qur’ān, 2:153.93. Vom Autor zitiert aus Ahmet Ziyaeddin Gümüşhanevis Ramūz’ül-Ehādīs.

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Khau wa Rajā’ – Furcht und Honung

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In einem solchen Falle wende deinen Blick ehentlich zu Allāh! Weine von Herzen, lobpreise Allāh und vermehre deine guten aten! 

Doch wir haben uns, nachdem dieses schreckliche Unglück Tau-sende von Menschen getötet und verletzt hat, direkt wieder dieserWelt zugewandt und verschieben das Verrichten rechtschaenerWerke lieber in die erne Zukunt. Uns ist, so könnte man sagen,das Leben von Neuem geschenkt worden. Inolgedessen haben wiram Tag der Auerstehung nicht das geringste Recht, zu bitten: „O

unser Herr! Würdest Du uns nur zurück in die Welt senden, wirwürden rechtschaene Werke tun!“ Diese Ausrede können wir nunnicht mehr anbringen. Diese Katastrophe sollte ausreichen, um unswachzurütteln, und wir sollten sie zum Anlass nehmen, häuig imGeiste der weisen Worte „Stirb, bevor du stirbst!“ über den Todnachzudenken. Besonders sollten wir nicht müde werden, unsereHerzen, voller Gottvertrauen und innerer Zuriedenheit mit der

göttlichen Bestimmung, in Geduld, Hingabe, Rechtschaenheitund stetigem Bittgebet zu schulen.Die olgenden Worte aus dem Edlen Qur’ān, die vom Prophe-

ten Mūsā – au ihm sei Friede – und dem Erdbeben handeln, mitdem Allāh, der Allmächtige, den Berg Sinai erbeben ließ, sind eintreliches Beispiel, welches uns zugleich Rechtschaenheit undrechtes Bitten lehren sollte. Allāh der Erhabene sagt:

{Und Mūsā wählte aus seinem Volk siebzig Männer ür die Be- gegnung mit Uns aus. Doch als das Beben sie ereilte, sprach er: „Herr, hättest Du es gewollt, hättest Du sie bereits zuvor ver-nichten können und mich auch. Willst Du uns denn vernichtenum dessentwillen, was die oren unter uns getan haben? Diesist gewiss nichts anderes als Deine Prüung, durch die Du irre-

 gehen lässt, wen Du willst, und rechtleitest, wen Du willst. Du

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bist unser Beschützer; so vergib uns und erbarme Dich unser;denn Du bist der Beste derer, die vergeben.“ }94

Wie hier erneut deutlich wird, blieben auch die Propheten nicht von Prüungen verschont, vielmehr wurden ihre Herzen mit den verschiedensten schrecklichen Heimsuchungen hinsichtlich ihresGottvertrauens, ihrer Hingabe, ihrer Zuriedenheit mit der göttli-chen Bestimmung, ihrer Gottesurcht und ihrer Gottesliebe au dieProbe gestellt. Sie lebten in einem Zustand der Balance zwischen

Furcht und Honung und waren die von Allāh, dem Allmächtigen,bestimmten Führer auserwählter Völker, denen das WohlgeallenAllāhs zuteil wurde. Auch wir sollten uns deshalb mit aller Kratbemühen, in jeder Situation, ganz gleich ob wir komortable Zeiten

 voller Weite und Leichtigkeit oder schwere Tage voller Bedrückungund Belastungen durchleben, ein Gleichgewicht zwischen Furchtund Honung aurecht zu erhalten.

O unser Herr, bewahre die Gemeinschat der Muslime vor jederArt von Übel, Heimsuchungen und Leid, vor Deinem Zorn undDeiner Strae! Lass uns zu jenen Glücklichen zählen, die geduldigsind in Furcht und Honung, in Sicherheit und Not! Schenke unsinnere Harmonie und Herzensrieden und verwandle diese Nächteder Finsternis voller Qual und Schwierigkeiten in lichtstrahlendeMorgen voller Segen und Freude!

Āmīn!

94. Qur’ān, 7:155.

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 Al-Ghafla – Die Achtlosigkeit

Glücklich sein können die Geschöpe au dieser Erde alle-samt nur dann, wenn sie ein Leben gemäß ihrer wahrenNatur leben. Der Mensch, der unter allen Geschöpen die-

ser Welt die höchste Stue innehat, kann nur dann Glück und Erolg

erahren, wenn er den Sinn seines Daseins begreit und ein Lebenin Übereinstimmung mit dem Willen Allāhs ührt. Ein Mensch,der ern von Allāh, in Unwissenheit und Unkenntnis seiner Selbstund seines wahren Wesens lebt, ristet ein tristes und erbärmlichesDasein. Wer derart lebt, den bezeichnet man als „achtlos“ [ ghāl ].Eine solche Haltung, welche die wahre Natur des Menschen, seineStellung innerhalb der Schöpung, seinen Daseinszweck und die

seinem Leben und Sterben zugrunde liegende Weisheit ignoriert,ist Selbstbetrug. In der Tat ällt es schwer, sich einen intelligentenMenschen vorzustellen, der nicht den Wunsch hegt, den Sinn unddie Geheimnisse zu ergründen, die dem Eintritt des Menschen ausdem Bereich des Unsichtbaren in diese Welt und seinem Dahin-scheiden aus ihr – nachdem er darin geprüt wurde – zugrundeliegen.

Um die wahre Bedeutung des Menschseins und den Sinn vonLeben und Tod zu begreien, ist es unerlässlich, sich von der Acht-losigkeit [ ghaa] zu bereien. Dazu bedar es eines klaren Verstan-des und eines spirituell reien Herzens. Die natürlichen Tenden-zen des Menschen zur Nachlässigkeit, zu ungezügelten Begierden,Hochmut, Ehrgeiz, Neid, Extravaganz und Wut sind zerstörerischeAusdrucksormen der Achtlosigkeit. Wer diesen Neigungen stän-dig nachgibt und sich in ihren Strudel hineinziehen lässt, wird

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Oper ihres trügerischen Blendwerks. Durch diese Täuschung undaugrund der Neigung des Menschen, den Wünschen seines Egos[nas] nachzugeben, trüben Sünden das Bewusstsein ür die Wirk-lichkeit [haqīqa]. Sie können Würde und Ehre eines Menschenzerstören, Dunkelheit über seine Seele bringen und ihn sogar zurMissachtung seines Schöpers verleiten. Im Edlen Qur’ān heißt esüber solche Menschen:

{So wehe denen, deren Herzen gegenüber dem Gedenken Allāhs

verhärtet sind! }95

Tatsächlich ist es so, dass, wenn das moralische Empinden im Her-zen eines Menschen geschwächt ist, die Fähigkeiten zur spirituel-len Erkenntnis und rechten Einsicht ebenalls in Mitleidenschatgezogen werden. In diesem Zustand ist der Mensch nicht mehr zuwirklicher Aurichtigkeit [istiqāma] in der Lage. Die Sünden, die

er begeht, erscheinen ihm schließlich so angenehm wie der erri-schende Hauch einer kühlen Brise, die vom Meer herüberweht; derMensch wird seinen eigenen Untaten gegenüber blind. So wie ei-ner, der mit von Eitergeschwüren bedeckten Fingern isst, ohne sichdabei zu ekeln und ohne den Ekel anderer bei diesem Anblick zubemerken, stören denjenigen, der ganz unter der Herrschat seinesEgos lebt, seine Achtlosigkeit und seine Fehler nicht im geringsten.Er bemerkt dabei weder den Verlust, den er sich selbst, noch den

Schaden, den er anderen zuügt. Seine Achtlosigkeit umgibt ihnwie ein Panzer, der ihn gegenüber dem Göttlichen und der Wirk-lichkeit blind und taub werden lässt. Allāh, der All-Erhabene, be-schreibt solche Menschen im Edlen Qur’ān als {taub, stumm und blind }.96

95. Qur’ān, 39:22.96. Qur’ān, 2:18.

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 Al-Ghaa – Die Achtlosigkeit

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Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī – möge Allāh sein Geheimnis heiligen– erzählt die Geschichte von einem achtlosen Schwerhörigen, der,nicht um des göttlichen Wohlgeallens willen, sondern um von denMenschen gesehen zu werden, seinen kranken Nachbarn besuchte:

Ein mit Vernunt begabter Freund jenes achtlosen, mit Taubheitgeschlagenen Mannes machte diesen au den Zustand seines Nach-barn aumerksam: „Hast du nicht erahren, dass dein Nachbarkrank ist?“

Der Achtlose begann darüber nachzudenken, ob er nicht demKranken einen Besuch abstatten solle. Dabei sagte er sich:

„Wenn ich meinen Nachbarn besuche, wie soll ich ihn mitmeinen tauben Ohren verstehen? Noch dazu, wo seine Stim-me augrund der Krankheit geschwächt und undeutlich ist.Ich werde sicher kein Wort von dem, was er sagt, verstehen.“

Doch dann dachte er sich:

„Wie dem auch sei, schließlich ist er mein Nachbar, also sollteich ihm einen Krankenbesuch abstatten. Andernalls werdenalle schlecht über mich reden und mein guter Ru wäre da-hin.“

Also asste er olgenden Plan:

„Wenn ich ihn besuche, werde ich versuchen, zu verstehen,was er sagt, indem ich die Worte von seinen Lippen ablese.Au keinen Fall werde ich ihn wissen lassen, dass ich ihn nichthören kann. Wegen seiner Schmerzen wird ihm das auch so-wieso nicht auallen. Als erstes werde ich dann sagen:

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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‚Wie geht es dir, mein lieber Nachbar?‘

Und er wird wahrscheinlich antworten:

‚Danke sehr, es geht mir gut!‘

Dann werde ich sagen:

‚Dank sei Allāh!‘

Anschließend werde ich ihn ragen:

‚Was hast du heute gegessen?‘

Er wird antworten:

‚Ich habe etwas Sat getrunken und eine Linsensuppe geges-sen.‘

Ich werde sagen:

‚Ich hoe, es hat gemundet und dir zum Wohlergehen ge-reicht!‘

Und ich werde ihn ragen:

‚Welcher Arzt behandelt dich? Wer kümmert sich denn umdich?‘

Er wird antworten:

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 Al-Ghaa – Die Achtlosigkeit

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‚Der Doktor So-und-so.‘

Um ihn ein wenig auzumuntern werde ich sagen:

‚Oh, da hast du aber einen guten Arzt geunden! Sehr gut,dass ihr den zu Rat gezogen habt. Wenn er sich um dich küm-mert, wird alles bald wieder in Ordnung sein.‘“

Nachdem er sich so seine Konversation mit dem Kranken in allen

Einzelheiten zurechtgelegt hatte, stand der achtlose Schwerhörigeau und ging hinüber, um seinen kranken Nachbarn zu besuchen.Wie geplant, ragte er ihn als erstes:

„Wie geht es dir, mein lieber Nachbar?“

Sein Nachbar stöhnte qualvoll unter großen Schmerzen:

„Es geht mir sehr schlecht; ich habe das Geühl, dass ich imSterben liege.“

Da der Schwerhörige diese Worte nicht hören konnte, sagte er, ent-sprechend seinem vorgeassten Plan:

„Dank sei Allāh!“

Der Kranke war von diesen Worten zutiest getroen und ärgertesich. Er begri nicht, wieso sein Nachbar sich derart benahm unddachte sich:

„Mein Nachbar wünscht mir oenbar den Tod.“

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Der Taube, der davon nichts mitbekam, stellte ihm seine zweiteFrage:

„Was hast du denn heute gegessen?“

Der Kranke, dem all dies großen Verdruss bereitete, antwortetezornig:

„Git, gallenbitteres Git!“

„Ich hoe es hat gemundet und dir zum Wohlergehen gereicht!“,sagte der Schwerhörige, worauhin der Kranke, der ohnehin keinsonderlich geduldiger Charakter war, noch wütender wurde.

„Welcher Arzt behandelt denn dein Leiden? Wer verschreibtdir die nötige Medizin?“, ragte der Taube.

An diesem Punkt verlor der Kranke endgültig die Beherrschungund brüllte voller Zorn:

„Na wer denn wohl? Azra’īl97 natürlich! Hör endlich au, mich verrückt zu machen, und verschwinde endlich!“

Jedoch der achtlose Taube verstand kein Wort und auch vom Zu-

stand des Kranken bekam er nichts mit. Er sagte, indem er leichtmit dem Kop hin und her wackelte:

„Oh, da hast du den Richtigen geunden! Wenn der sich umdich kümmert, wird alles bald in bester Ordnung sein.“

97. Azra’īl – au ihm sei Friede – ist der Todesengel, der zu dem von Allāhbestimten Zeitpunkt den Menschen ihre Seelen nimmt.

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 Al-Ghaa – Die Achtlosigkeit

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Er verabschiedete sich und verließ den Kranken mit einem tieenGeühl innerer Beriedigung, in der esten Überzeugung, seine Au-gabe erolgreich gemeistert zu haben. Während er aus dem Hausetrat, sagte er zu sich selbst:

„Wie gut, dass ich meinen Nachbarn besucht habe! So habeich meinen guten Ru gerettet und dem bedauernswertenMann eine Freude gemacht.“

In Wirklichkeit war der Besuch des törichten und achtlosen Taubenäußerst schädlich gewesen, auch wenn er selbst glaubte, er sei rechterolgreich verlauen. Der Kranke schimpte ihm wutentbrannthinterher:

„Jetzt stellt sich also heraus, dass mein so genannter HerrNachbar, den ich immer ür einen guten Freund und ordent-

lichen Menschen gehalten habe, in Wirklichkeit mein Tod-eind ist! Wenn ich das nur schon rüher gewusst hätte!“, under verluchte seinen Nachbarn hinter dessen Rücken.

Er sagte zu sich selbst:

„Kranke zu besuchen und sich nach ihrem Beinden zu er-kundigen ist ein Mittel, die Herzen der Menschen zu gewin-nen. Dieser Mann aber ist nicht um Allāhs willen gekommen,sondern nur der Leute wegen. Er ist auch nicht gekommen,um sich nach meinem Beinden zu erkundigen, sondern ausFeindschat, um mich anzugreien und an einem krankenMann Rache zu nehmen. Er wollte nur seinem schlechtenHerzen Beriedigung verscha en, indem er sich an diesem

 jämmerlichen und hillosen Anblick seines Feindes weidete,

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obwohl ich ihm in all den Jahren unserer Nachbarschat nie-mals ein Leid zugeügt habe.“

Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī erklärt dazu:

Der Schwerhörige wollte jemandem eine Freude machen undbrach ihm stattdessen das Herz. Er erzürnte den Krankenmit seinen unpassenden, den eigenen Phantasievorstellun-gen entspringenden Bemerkungen. Indem er den Kranken

besuchte, um von den Menschen gesehen zu werden, beginger eine Sünde. So zerstörte das unbedachte und leichtertigeVerhalten dieses Achtlosen ihre Jahrzehnte alten gutnachbar-lichen Beziehungen.

Au der anderen Seite war der seinem Zorn erlegene Kran-ke unähig, Geduld zu üben, womit er sich selbst der gött-lichen Gnade beraubte. Anstatt wohlwollend das Beste zu

 vermuten und geduldig abzuwarten, um in Erahrung zubringen, was diesem absonderlichen Gehabe zugrunde lag, vermutete er soort eine üble Absicht und machte sich damitebenalls schuldig.

Wie viele Menschen sind in einem solchen Zustand derAchtlosigkeit! Sie verrichten ihren Gottesdienst oder verhal-ten sich in bestimmter Weise, nicht um Allāhs Wohlgeallenzu erlangen, sondern um ihres eigenen weltlichen Vorteilswillen. Dabei bilden sie sich sogar ein, durch ihre Gebete undTaten, die mit dem Streben ihres Egos vermengt sind, göttli-chen Lohn zu erwerben und sich au dem Weg ins Paradieszu beinden.

Ihr angeblicher Gottesdienst ist voll heimlicher Sündeund verborgenem Götzendienst [schirk al-khāī ]. Denn Got-tesdienste zu verrichten und dabei ein anderes Ziel als die

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 Al-Ghaa – Die Achtlosigkeit

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Erlangung des göttlichen Wohlgeallens zu verolgen ist einschuldhates Vergehen. Ein Gebet, das mit der Absicht ver-richtet wird, von anderen gesehen zu werden, mag äußerlichrein und makellos erscheinen, jedoch im Inneren ist es ver-unreinigt von verborgenem Götzendienst. So wie ein einzigerTropen einer Verunreinigung einen ganzen Krug köstlichenQuellwassers verschmutzen kann, so dass es ungenießbarwird, macht ein krankes und achtloses Herz jeden Gottes-dienst zuschanden.

Das Verhalten des Schwerhörigen in dieser Geschichte und wie erdie Handlungen und Worte des Kranken gemäß seiner achtlosenSichtweise interpretiert, erinnert an die moralische Taubheit un-serer Zeit. Die gleichgültige und geühllose Haltung der Taubenunserer Tage angesichts der Schließung islamischer Unterrichts-stätten, in denen der Qur’ān gelehrt und Imame ausgebildet wer-

den, lässt sich nicht anders erklären. Das Benehmen der achtlosenVerantwortlichen, die sich inolge ihrer oenkundigen charakterli-chen Deizite gegenüber den Klagen und Hileruen weise voraus-schauender Persönlichkeiten angesichts dieses historischen Fehlersschwerhörig stellen, ist das beste Beispiel ür Achtlosigkeit und einaus ihr resultierendes schädliches Verhalten.

Diejenigen, die sich in gewissenloser Weise an den Taeln die-ser Welt die Bäuche vollstopen, verbringen ihr Dasein mit dem

 vergeblichen Versuch, durch diese vergänglichen Gaben zum Glück zu gelangen. Sie glauben, wenn sie ihre egoistischen Wünsche indieser Welt beriedigen, würden sie im Paradies au Erden leben.Doch zweiellos steht all denjenigen, die Allāhs herrliche Gottesga-ben rücksichtslos ausplündern, eine höchst schmerzhate Abrech-nung bevor.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī – möge Allāh sein Geheimnis heiligen –beschreibt die Achtlosigkeit, das heißt, die Neigung des menschlichenEgos dem weltlichen Verlangen nachzugeben, olgendermaßen:

Wenn du die verschiedensten köstlichen Getränke und die er-lesensten Speisen dieser Welt zu dir nimmst, dann musst duwissen, dass du im raume isst und trinkst. Wenn du dann au-wachst, wirst du in jener Welt er neut durstig und hungrig sein! Die Getränke und Speisen, die du im raum getrunken und 

 gegessen hast, haben dir nicht das Geringste genützt. Diese Welt ist wie der raum eines Schläers. Die Welt und ihre Wohlta-ten sind wie das, was einer sich im raum wünscht und erhält.Wenn er dann am Ende aus seinem raum erwacht, ist von all den Din gen, die ihm im raum gehörten, nichts mehr da. DieseWelt gleicht Spielzeugen, die jemand sich im Schla erträumt und dort sein eigen nennt.

Allāh, der All-Erhabene, sagt:

{Hast du den gesehen, der sich seine eigenen Gelüste zur Gott-heit nimmt? }98

Die Ohren in der am Anang wiedergegebenen Geschichte bildetensich ein, Laute und Worte wahrnehmen und verstehen zu können;

ebenso die Augen, die meinten, etwas gesehen zu haben. Doch wasist mit den Ohren des Herzens, deren Augabe es ist, verborgeneGeheimnisse und innere Stimmen wahrzunehmen? Und welcheRolle spielen die inneren Augen, denen die Schau der Ströme gött-licher Macht und der Geheimnisse des Göttlichen obliegt? Ist nichtder Achtlose, dessen Herz und inneres Auge derart mit Taubheit

98. Qur’ān, 45:23.

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 Al-Ghaa – Die Achtlosigkeit

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und Blindheit geschlagen sind, in beiden Welten ein elender Ver-lierer? Wie überlieert wird, sprach der Prophet Yūnus einst zumErzengel Jibrīl – au ihnen beiden sei der Friede – und ragte ihn:

„Kannst du mir denjenigen zeigen, der in dieser Welt dieGottesdienerschat am vollkommensten verwirklicht hat?“

Da zeigte ihm der Engel einen Mann, dessen Hände und Füße vonder Lepra zerressen waren und der inolge der Krankheit sein Au-

genlicht verloren hatte. Dieser Mann sagte:

„O Allāh! Was immer mir mithile dieser Hände und Füßezuteil geworden ist, hast Du mir gegeben; und vor all dem,wovor ich bewahrt wurde, hast nur Du mich bewahrt. OAllāh, Du hast mir in meinem Inneren nur einen einzigenWunsch gelassen: den Wunsch zu Dir zu gelangen.“

Hier zeigt sich, dass jene Herzen, die nicht ür die Anerkennungdurch die Menschen, sondern nur ür das göttliche Wohlgeallenschlagen, in ihren Absichten und Handlungen anderen Maßstäbenolgen; und diese sind es, die ihnen die Tore zu den Paradiesgärtenerönen. Um uns von der Achtlosigkeit zu bereien, müssen wirunsere Herzen reinigen und unser Ego läutern, indem wir unserHerz von allem außer dem Gedenken an Allāh entleeren, um soden Anblick all der verschiedenen Erscheinungen der Allmacht,der Weisheit und Harmonie im Spiegel unseres Herzens zu erleben.Diejenigen, denen Gotteserkenntnis zuteil geworden ist, sagen:

O Reisender au dem Weg der Gotteserkenntnis! Du kannst die-sen Weg nicht zurücklegen ohne die Ungeduld durch Geduld,die Vergesslichkeit durch Gedenken, die Undankbarkeit durch

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Dankbarkeit, die Auehnung durch Gehorsam, den Geiz durchFreigiebigkeit, den Zweiel durch Gewissheit, die Angebereidurch Aurichtigkeit, die Rechthaberei durch Reue, die Lügereidurch Wahrhafigkeit und die Achtlosigkeit durch ernst hafesNachdenken zu ersetzen.

Wer diese weisen Ratschläge in den Wind schlägt, hat keine Chan-ce, sich aus den Klauen der Achtlosigkeit zu bereien. Er wird viel-mehr – wie einer, der einen Krug voll Wasser in seinen Händen ür

den Ozean hält – mit seinem, durch die Schleier vor seinen Augengegenüber der Wirklichkeit und seiner Bestimmung blinden Her-zen, weder im Diesseits noch im Jenseits dem Mißerolg entrin-nen können. Wir müssen uns mit aller Krat bemühen, uns unseresSchöpers und des Grundes unseres Daseins bewusst zu werden,und unsere Herzen – mithile tieer Kontemplation und gewissen-hatem Rechenschatablegen in inniger Verbundenheit zum EdlenQur’ān und der erhabenen Sunna – zum Leben erwecken.

Der Mensch, der ein Segen ür die Welt ist, sollte sein Leben inNähe zu seinem Schöper verbringen. Unsere Augabe besteht da-rin, ein wahrer Diener unseres Herrn zu sein, der unserem Lebenseinen Wert verliehen hat, uns unsere Sünden verzeiht und unserInnerstes und all unsere Geheimnisse kennt. Die verschiedenenArten von Gottesdienst haben alle ihre jeweilige Zeit, der Glaubeund die Gottesdienerschat jedoch beanspruchen das ganze Leben.

Möge Allāh, der Allmächtige, uns alle in Seiner Gnade zum KreiseSeiner vertrauten Freunde zählen, die au dem rechten Wege wan-deln, deren Herzen stets lebendig sind und die ein ganz vom Be-wusstsein Seiner Wirklichkeit erülltes Leben ühren.

Āmīn!

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Die Schönheit im Antlitz des Todes

Die Fähigkeit, die Schönheit im Antlitz des Todes zu erken-nen, markiert jene Stue von Reie, die den Menschen dazubeähigt, die negativen und abstoßenden Aspekte des Egos

[nas] zu neutralisieren, wodurch ein „gewöhnlicher“ Mensch, in

Beolgung des weisen Rats „Stirb, bevor du stirbst!“, zur Stue eines vollkommenen Menschen [insān kāmil ] erhoben wird.

Mit solcher Reie ist eine große Nähe zum Schöper verbun-den, während das Verlangen nach Weltlichem seine Anziehungs-krat einbüßt. Ein solcher Mensch genießt die Freuden seines Got-tesdienstes, die Güte im Umgang mit anderen Menschen und dastugendhate Verhalten; und seine Seele erreut sich an dem Glück 

zunehmender Nähe zu ihrem Herrn. Aus diesem Grunde sagteMeister Jalāl al-Dīn Rūmī in Hinblick au die Zeit, bevor er den Zu-stand der Gottesnähe erahren hatte: „Ich war roh!“; über die Pha-se, die vom Streben nach dem göttlichen Wohlgeallen geprägt war,sagte er: „Ich wurde gekocht.“; und über die Zeit, in der sich ihmdie Mysterien des Universums enthüllten, wie ein oenes Buch,sagte er: „Ich war verbrannt.“

Solche Aussagen sind Ausdruck ernsthater Anstrengungen au dem Weg zu Allāh. Obwohl es so viele Wege zu Allāh gibt „wie dieZahl der Atemzüge aller Geschöpe“, ist der eektivste Weg dochder als Faqr-u anā’ bezeichnete Weg der Entleerung des Herzensund der Seele vom „Ich-Sein“ und „allem außer Allāh“ durch Got-tesliebe. Dies ührt zur Entdeckung der Schönheit im Antlitz desTodes, welcher sich dabei – in Verwirklichung des oben erwähn-ten Ausspruchs „Stirb, bevor du stirbst!“ – in eine niemals endende

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Vereinigung mit Allāh und vollkommene Entwerdung [ anā’ ] in

Allāh verwandelt. Diese kostbare Erahrung ist jedoch nur dem zu-gänglich, der die olgenden, ür jedermann gültigen Bedingungen

erüllt:

a) auba – Reue

Sünden sind die Folgen von Unwissenheit, sexueller Begierde, Ar-

roganz, Zorn, Hass, von blinden Ambitionen, Eiersucht, Extra-

 vaganz sowie ähnlicher Ursachen. All diese Neigungen sind Hin-

dernisse, die den Menschen seinem Schöper entremden. Wenn

es dem Menschen gelingt, den Schleier seiner Achtlosigkeit zu

lüten, erkennt er voller Schrecken das Ausmaß seiner Laster; und

die verborgenen tugendhaten Empindungen erwachen in seinem

Herzen, welches dann Frieden in Allāh indet, indem er Tränen

aurichtigen Bedauerns und der Trauer vergießt. Diese Trauer und

dieses Bedauern werden auba genannt, was im ursprünglichen

Sinne bedeutet, sich Allāh reiwillig zuzuwenden, bevor einen dieunreiwillige Rückkehr durch den Tod ereilt. In anderen Worten

bedeutet auba ein Enternen der Hindernisse zwischen dem Men-

schen und Allāh durch das Empinden aurichtigen Bedauerns.

auba ist der erste Schritt, der unverzichtbar notwendig ist,

um sich Allāh zuzuwenden, denn Sünden sind Hindernisse, die

die Empindsamkeit des Herzens mindern und es au seinem Weg

behindern. Ein sündenbehatetes Herz gleicht einem schmutzigenSpiegel, in dem nur schemenhate Abbilder erkennbar sind. Um

darin klare Spiegelbilder zu erkennen, ist es jedoch notwendig, die-

sen mit einem sauberen Tuch abzuwischen. Genau so erordert die

Hinwendung zu Allāh eine Reinigung des Herzens von all den Sün-

den, die das Herz wie eine Schmutzschicht umgeben, durch auba

und Bitten um Vergebung [istighār ]. Aus diesem Grund beginnen

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die Andachtsübungen in allen verschiedenen Zweigen des asaw-wu mit Bitten um Vergebung.

Dies ähnelt zugleich dem subtilen Punkt der anänglichenNegation durch „lā“ in der Bestätigung der göttlichen Einheit [ka-limat al-tauhīd ]  „Lā ilāha illā Allāh“ , die bedeutet: „Es gibt keineGottheit außer Allāh.“ Mit anderen Worten: Es ist zuerst eine Ne-gation des Falschen erorderlich, um die Grundlage ür das wahreZiel zu schaen. In diesem Sinne ist die Bitte um Allāhs Vergebungast schon eine Grundvoraussetzung ür ein aurichtiges Gebet.

Maulānā Rūmī sagt:

Strebe nach der Vergebung Allāhs mit einem Herzen voll Be-dauern und mit Augen voller ränen, denn Blumen blühen ansonnigen und euchten Orten! 

b) Zuhd – Weltverzicht

Zuhd bedeutet, das Herz aus dem Gri des weltlichen Luxus undder Jagd nach Vergnügungen, Besitztümern und gesellschatlichenPositionen zu bereien. Und in der Tat macht der Tod all diese Din-ge in einem einzigen Augenblick zunichte. Die Essenz des Weltver-zichts besteht in der Fähigkeit, sein Leben und all seinen Besitz rei-willig auzugeben, bevor der Tod sie einem unreiwillig entreißt.

Das Verständnis des Menschen – zwischen den beiden ent-scheidenden Realitäten von Geburt und Tod – kann der Welt derSchatten nicht entkommen und in die Welt der Wirklichkeit vor-dringen, ohne eine wahrhatige Erkenntnis der Bedeutung desDiesseits und des Jenseits zu entwickeln und sein Verhalten dem-entsprechend anzupassen.

Einer derer, die Erkenntnis erlangt haben, beschrieb dieseWelt, die voller Weisheiten und Lehren ist, einmal so:

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Für die mit Verstand Begabten ist sie ein Gleichnis, welches dieunend liche Allmacht und die zahllosen Geheimnisse Allāhs er-ahnen lässt – ür die Narren dagegen besteht sie aus Essen und rinken.

Wenn ein Mensch unähig ist, den weltlichen Wünschen und Be-gierden in seinem Herzen Einhalt zu gebieten, wird die Enttäu-schung ihn überwältigen und ins Verderben stürzen.

c) awakkul – Gottvertrauenawakkul bedeutet, Zulucht bei seinem Herrn zu suchen und sichIhm in völliger Hingabe zu unterweren, bevor der Tod einen ereilt.Au Allāh zu vertrauen und sich Ihm ganz zu unterweren heißtnicht, alle mittelbaren Ursachen zu vernachlässigen, sondern ist eineFolge der Erkenntnis, dass, wenn die Ursachen nicht in Überein-stimmung mit Allāhs göttlichem Willen stehen, alle Bemühungen

zwecklos sind. Das Bevorstehen des Todes lässt uns ohnehin keineandere Wahl, als diesen Zustand anzunehmen. Allāh, der Erhabe-ne, sagt: {Und wer ganz au Allāh vertraut, dem ist Er genüge.}99

Darüber hinaus bedeutet awakkul  ür denjenigen, dessenHerz ganz von Liebe zu Allāh erüllt ist, vollständig au Ihn zu ver-trauen und sich nur Ihm zu unterweren. Allāh, der Erhabene, be-ragte den Propheten Mūsā – au ihm sei Friede – nach seinem Stabund beahl ihm dann: „Wir ihn hin!“, denn dieser Stock hinderte

ihn – indem er ihm Selbstvertrauen einlößte – daran, vollkommenau Allāh zu vertrauen. Und Allāh sagt wiederum: {Und vertraut 

 ganz au Allāh, wenn ihr wahrhaf Gläubige seid! }100

Dabei bedeutet Gottvertrauen kein ignorieren notwendigerVorkehrungen und Bemühungen; im Gegenteil: Es besteht in der

99. Qur’ān, 65:3.100. Qur’ān, 5:23.

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Unterwerung unter die Macht Allāhs, nachdem man alle dieseSchritte unternommen hat.

Augrund des vollkommenen Gottvertrauens Ibrāhīms – Frie-de sei au ihm – und seiner Unterwerung unter den Willen Allāhs,

 verbrannte ihn das Feuer nicht. Denn als er sein Vertrauen ganz inAllāh legte und sich Ihm völlig hingab, beahl Allāh dem Feuer: {OFeuer, sei kühl und Friede ür Ibrāhīm! }101

Wie bereits erwähnt, besteht awakkul in der reiwilligen Ent-scheidung, sich Allāh in Hingabe zu unterweren, bevor einen der

Tod ereilt. Meister Jalāl al-Dīn Rūmī hinterragt unser gewöhnli-ches Gottvertrauen, indem er sagt:

Prüe dich einmal selbst, um zu sehen, ob du die QualitätenIbrāhīms besitzt! Das Feuer erkennt dies sehr genau. Es ver-brennt nur jene nicht, die sich Allāh in rechter Weise vollkom-men unterweren, so wie Ibrāhīm.

d) Qanā‘a – GenügsamkeitQanā‘a bedeutet, nicht mehr zu begehren, als nötig ist; und Ge-nügsamkeit wird sich zwangsläuig spätestens mit dem Tod einstel-len. Zugleich stellt der Geist der Genügsamkeit jedoch das einzigeHeilmittel gegen Neid, Eiersucht und blinden Ehrgeiz – die wohlgeährlichsten Charaktereigenschaten – dar; und die göttlichenSchätze, welche die Genügsamkeit den Herzen beschert, sind zahl-

und grenzenlos. Vom Propheten – Allāh segne ihn und schenkeihm Frieden – wird berichtet, er habe gesagt: „Genügsamkeit ist einSchatz, der niemals zu Ende geht.“102

Aus diesem Grunde besteht das wahre Maß des Reichtums inder Genügsamkeit und Zuriedenheit mit dem, was Allāh jedem

101. Qur’ān, 21:69.102. Überlieert von al-Bayhaqī in al-Zuhd al-Kabīr .

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einzelnen von uns gewährt hat. Qanā‘a bedeutet, nicht eiersüchtigau jene zu sein, die mehr besitzen, als man selbst. Und die Freudender Großherzigkeit kann nur erahren, wer genügsam und zurie-den ist.

Eines der Prinzipien unseres Glaubens besagt, dass die Ver-sorgung eines jeden durch göttliche Zuteilung bestimmt ist. Wennman dies in Betracht zieht, wird augenscheinlich klar, dass blin-der Ehrgeiz und Habsucht nicht nur unschön, sondern auch un-

 vernüntig sind. Dennoch sind manche Menschen unähig, ihre

Ambitionen au Besitz und Reichtümer auzugeben, selbst wennsie immer wieder mit eigenen Augen sehen, dass ganz andere Leutedie Gewinne machen. Sie leiden an einer unheilbaren Selbstsucht.Reichtum bedeutet ür sie Macht ür sich selbst und über andere,und ot erreuen sie sich darüber hinaus an der Bewunderung oderdem Neid der anderen.

Genügsamkeit ist das einzige Heilmittel, welches all diese

Krankheiten heilen kann. Nur durch die Krat der Genügsamkeitist es möglich, dem Unheil zu entgehen, das viele jener Menschenbeällt, die großen Reichtum besitzen. Dabei sollte sich die Genüg-samkeit nicht allein au den Wohlstand beziehen, sondern auch au die mit diesem, sowie der aus ihm erwachsenden Macht verbunde-ne Aumerksamkeit und Bewunderung.

Kurz gesagt ist es unumgänglich, einzusehen, dass alle Reichtü-mer letztendlich Allāh gehören, und dass der Mensch diese nur üreine kurze Zeit verwalten dar. Der ehrwürdige ‘Alī – möge Allāhmit ihm zurieden sein – sagte einmal über jene, die die Gedankenan den Tod verdrängen:

„Die meisten Leute versuchen Wohlstand anzuhäuen, au dass ihre Erben etwas zu streiten haben!“

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e) ‘Uzla – Rückzug‘Uzla ist ein notwendiger Bestandteil in der spirituellen Erziehung, dererorderlich ist, um die höchsten Stuen des Weges zu erklimmen. Diesbedeutet jedoch nicht in jedem Falle eine absolute Isolation und völli-gen Rückzug von allen gesellschatlichen Bindungen. Für gewöhnlicheMenschen kann ‘Uzla in einem innerlichen Sich-Zurückziehen inmit-ten der Menge bestehen, indem das Herz weg von allen weltlichen An-gelegenheiten und hin zu Allāh ausgerichtet wird.

Darüber hinaus gibt es natürlich die von einigen wenigen Got-

tesreunden praktizierte Form der vollkommenen Isolation. Au-grund der geringen Zahl derer, die diese Art von ‘Uzla durchühren,hat dies jedoch keine großen Auswirkungen au das gesellschatli-che Leben. Diese Form von Rückzug ist speziellen, auserwähltenMenschen vorbehalten. Im allgemeinen Sinne bedeutet ‘Uzla in derreligiösen Erziehung jedoch keine Isolation vom sozialen Leben,sondern, im Gegenteil, einen Rückzug inmitten der Öentlichkeit;

das heißt: allein sein mit Allāh, selbst inmitten einer Menschen-menge. Es bedeutet, inmitten der Maniestationen des Göttlichen,stets mit Allāh zusammen zu sein, noch bevor wir im unvermeidli-chen Rückzug im Grabe gezwungenermaßen all unsere weltlichenBindungen augeben müssen.

) Dhikr ( Allāh) – GottesgedenkenErscheinungen des Fließens der Ströme göttlicher Gnade [ ayd ]beruhen au der Liebe zu Allāh [mahabba]. Der Grad dieser Got-tesliebe hängt wiederum von dem Ausmaß ab, in dem Herz undBewusstsein vom Gottesgedenken durchdrungen sind. Denn nurdurch das Gedenken an den Geliebten kann die Liebe este Wur-zeln im Herzen und Verstand des Menschen schlagen. Das heißt:Je mehr wir Allāhs gedenken, umso stärker wird unsere Liebe zuIhm.

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Am wirkungsvollsten von allen Gottesnamen ist im Streben nachdem Fließen der Ströme göttlicher Gnade die Wiederholung Seinesmajestätischen Namens „Allāh“ [laza-i Jalāl ]. Wegen seiner macht-

 vollen Stärke ist es ür den, der diesen Weg beschreitet [al-sālik],ratsam, sein Gottesgedenken vor der Wiederholung dieses majestä-tischen Namens mit Bitten um Vergebung [istighār ] zu beginnen.Das Dhikr trägt – sowohl im Verhältnis zur Anzahl seiner Wieder-holungen, als auch entsprechend seiner Intensität – zur Steigerungder Gottesliebe [mahabbat Allāh] bei. In anderen Worten: Je mehr

man Allāhs gedenkt und je aurichtiger dieses Gedenken ist, destogrößer wird sein Nutzen und um so stärker wird das Fließen derStröme göttlicher Gnade sein.

Wenn das Gedenken Allāhs, des Erhabenen, im Herzen einesGläubigen este Wurzeln schlägt, rückt dessen Erscheinungsormals Gottesdiener der Vervollkommnung näher. Im Edlen Qur’ānheißt es dazu:

{Fürwahr, im Gedenken Allāhs nden die Herzen Frieden.}103

Wenn Allāhs majestätischer Name jedoch nicht in das Herz ein-ziehen kann, bleibt der Mensch ein Geangener seines materiellenStrebens und physischen Verlangens. In einem weiteren Qur’ānversheißt es dazu:

{Hast du den gesehen, der sich seine Gelüste zum Gott nimmt? Könntest du Vertreter seiner Angelegenheiten sein? }104

Tugenden, rechtschaenes Handeln und geistig erhabene Zuständelassen sich in einem Herzen nieder, das von Spiritualität erüllt ist,

103. Qur’ān, 13:28.104. Qur’ān, 25:43.

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und ein Gottesdiener wird so zum Besten aller Geschöpe. Au deranderen Seite lassen sich Unglaube [kur ], Götzendienerei [schirk],schlechte Taten, Begierden und negative Einlüsterungen in einemHerzen nieder, das vom Verlangen des Egos beherrscht ist. Wenndiese dann das Herz kontrollieren, wird es blind gegenüber seinemSchöpungszweck. In manchen Fällen stürzt der Mensch dann au eine Stue hinab, die noch weit unter der anderer Geschöpe liegt!

Der Dichter Nizāmī beschreibt das Ende derer, die ganz vonden Kräten ihres Egos [nas] beherrscht sind, mit den Worten:

Die Genüsse dieser Welt sind wie eine juckende Hand. Anangsemp ndet man das Kratzen als Wohltat, doch au Dauer ührt es dazu, dass die Hand brennt […].“ 

Meister Junayd al-Baghdādī verlieh der großen Bedeutung desgeistigen Lebens Ausdruck, indem er den Beehl „Stirb, bevor du

stirbst!“ und die Fähigkeit, das schöne Gesicht des Todes zu erken-nen, mit den Worten beschrieb:

„Allāh nimmt dich dir selber weg, um dich dann, im Zusam-mensein mit Ihm selbst, wieder auzuerwecken.“

g) awajju – Hinwendungawajju bedeutet, jeden Ru, außer den Ru Allāhs, zu ignorieren.Die vollkommene Verwirklichung dieses Zustandes ist der Tod. InWirklichkeit kann ein wahrhat rechtschaener Gottesdiener keinanderes Verlangen, keinen anderen Freund und kein anderes Zielhaben außer Allāh. Noch kann er Allāh jemals in einem Zustand

 von Achtlosigkeit vergessen. Wenn der Tod zu ihm kommt, wirddemjenigen, der Seiner Gegenwart gegenüber achtlos war – ent-gegen seinem persönlichen Willen – mit Gewalt all das entrissen,

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dem er zugeneigt war, anstatt sich Allāh zuzuwenden. WahresGlück hingegen besteht darin, sich Allāh noch während des diessei-tigen Lebens reiwillig hinzugeben und sich ganz Ihm und SeinemWohlgeallen zuzuwenden.

h) Sabr – Geduld, StandhatigkeitSabr bedeutet, sich Allāh zu unterweren, indem man sich still be-müht, mit unangenehmen oder schmerzlichen Umständen ertigzu werden, ohne dabei das Gleichgewicht zwischen dem Inneren

und Äußeren zu verlieren. Im Grab werden wir – ern allem welt-lichen Verlangen – zwangsläuig Geduld üben müssen. Wenn wirmit Ereignissen konrontiert werden, die uns Geduld abverlangen,sind wir gezwungen, uns einiger sittlicher Eigenschaten wie Ver-söhnlichkeit, Güte, Bescheidenheit, Keuschheit, Genügsamkeit,Mitgeühl, Barmherzigkeit, Freundlichkeit und Toleranz zu bedie-nen. Dabei ist es äußerst wichtig, angesichts all jener Dinge, die im

Widerspruch zum Wohlgeallen Allāhs stehen, standhat und ge-duldig zu sein, denn im heiligen Qur’ān beiehlt Er uns:

{Und haltet geduldig stand, bis Allāhs Beehl eintri! }105

Geduld wirkt wie ein Schutzschild gegenüber jeder Art von Schwie-rigkeiten. Der Tod ist das unausweichliche Ende aller hartnäckigenBegierden des Egos, und das Grab ist – gezwungenermaßen – ein

Ort der Geduld bis zum Tag der Auerstehung.

i) Murāqaba – Kontemplative Beobachtung Murāqaba bedeutet, seine eigene Macht und Stärke beiseite zu las-sen. Die vollkommene Verwirklichung dieses Zustandes ist der Tod.Genauer gesagt bedeutet die kontemplative Beobachtung das Sich-

105. Qur’ān, 10:109.

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Fernhalten von Sünden durch die Bewusstseinsempindung, ständigunter göttlicher Beobachtung zu stehen, denn nichts in der gesamtenSchöpung entzieht sich Seiner Reichweite. Nichts kann dem Todund der Wiederauerstehung entgehen. Nicht-Sein und Existenz,Tod und Leben, Vergehen und Bestehen stehen in jedem Augenblick in einer Wechselbeziehung. In jedem Moment sterben Tausende vonKörperzellen des menschlichen Körpers, während zugleich Tausendeneue entstehen. In jedem Moment werden Tausende Kinder geboren,während zugleich Tausende von Menschen sterben. Und während in

 jedem Moment zahllose achtlose Menschen trunken vor Begeiste-rung weltlichen Vergnügungen nachjagen, sind zugleich viele Recht-schaene damit beschätigt, Bittgebete zu sprechen und Zulucht beiAllāh, dem Erhabenen, zu suchen. Die „letzte Haltestelle“ in dieserWelt – das Grab – erwartet jeden Lebenden.

Im gesamten Universum gelten einzig und allein Allāhs Be-stimmung, Seine absolute Herrschat und Seine göttliche Ordnung.

Um die Kennzeichen der Gottesdienerschat in sich zu stärken,ist es ür den Menschen wichtig, sich bevor ihn der Tod ereilt derständigen göttlichen Beobachtung bewusst zu werden. Mithile sei-ner Vorstellungskrat und Gedanken ist der Mensch ähig, sich au Allāh hin auszurichten und in Seine Gegenwart zu gelangen, so wiees in dem weisen Ausspruch „Wer sich selbst erkennt, der erkenntseinen Herrn!“ zum Ausdruck kommt.

 j) Ridā – ZuriedenheitRidā bedeutet ür den Gottesdiener, ein Leben, das au die Zurie-denstellung seines Egos ausgerichtet ist, ür ein Leben zur Zurie-denheit seines Herrn auzugeben. Dieser Zustand wird letztendlichim Tod Wirklichkeit.

Ridā ist das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, welches durchdie Reinigung des Herzens und Läuterung des Egos gewonnen

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wird. Au diese Weise wird der Gottesdiener aus dem Geängnis

der vergänglichen und trügerischen Dinge bereit und unterwirtsich ganz und gar Allāh. Erüllt von einer tieen Freude erkennt derMensch die Feinheit, die in den Worten zum Ausdruck kommt:

Was immer von Dir kommt ist mir eine Freude,

Sei es eine blühende Rose oder sei es ein Dorn.

Sei es Ehrenkleid oder Leichentuch,

Deine Güte ist mir recht, genau wie Dein Zorn! 

k) aakkur-i Maut – Nachdenken über den TodDie Welt des Diesseits [al-dunya] gleicht einer göttlichen Lehran-stalt, in welcher der Tod das unumgängliche Gesetz des Hinüber-

gehens bestimmt. Maulānā Rūmī sagt: „Wir sterben, um wiederauerweckt zu werden!“ Diese Auerweckung des Herzens ist nurdurch eine bewusste Augabe egoistischen Verlangens möglich,

und der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihmFrieden – sagte:

„Gedenket häuig des Zerstörers aller Vergnügen – desTodes!“106 

aakur-i Maut bedeutet, reiwillig an den Tod zu denken, bevor

er gegen deinen Willen zu dir kommt, sowie sich durch die Auga-be der Wünsche des Egos au die Gegenwart Allāhs vorzubereiten.

Es ist eine sich au den Glauben [īmān] gründende Kontemplationund ein daraus resultierendes Bewusstsein. Weltliche Erwartungen,

 vergängliche Honungen und Labsale sind wie Blätter, die von denBäumen au die Gräber heraballen. Und jeder Grabstein ist wie

106. Überlieert von al-Tirmidhī, al-Nasā’ī und Ibn Mājah in ihren Sunan.

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ein euriger Prediger, der mit beredter Schweigsamkeit vom Todekündet.

Ein wichtiger Grund daür, Friedhöe in den Städten, nahe denHauptstraßen und in den Innenhöen der Moscheen zu errichten,besteht darin, das Nachdenken der Menschen über den Tod zu ör-dern. Worte können nur in unvollkommener Weise die urchterre-gende, schwerwiegende Realität des Todes zum Ausdruck bringen.Alle Kräte eines Menschen kommen zum Erliegen, wenn ihn derTod ereilt. Und im Angesicht des Todes besteht die einzige Antwort

der Bewohner dieser Welt in Tränen und hilloser Trauer.Wenn ein Gottesdiener reiwillig die Wünsche seines Egos augibt,

wird Allāh, der Allmächtige, ihm in Seiner Gnade und Güte sicherlichein neues Leben schenken. In der Tat sagt Allāh, der Erhabene:

{Ist etwa jener, der tot war, und dem Wir dann Leben schenk-ten und Licht gaben, mit dem er unter den Menschen wandelt,

wie jener, der in Finster nis verharrt, aus der er nicht herauszu-kommen vermag? }107

Ein solcher wahrhatiger Diener wird, weil er sein egoistisches Ver-langen nach der diesseitigen Welt augegeben hat, zu einem, dessenHerz wiederauerweckt wurde. Unser ehrwürdiger Prophet – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden – sagte:

„Hüte dich vor dem durchdringenden Blick [ rāsa] des Gläu-bigen, denn wahrlich, er sieht mit dem Licht Allāhs!“108

All diese hier augeührten Inhalte sind Vorbedingungen, dieau dem spirituellen Weg in die Praxis umzusetzen sind, um der

107. Qur’ān, 6:122.108. Überlieert von al-Tirmidhī in seinem Sunan.

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Anweisung „Stirb, bevor du stirbst!“ in rechter Weise zu olgen.Dabei entsprechen die Fortschritte der Gläubigen, die sich be-mühen, diesen Anweisungen zu olgen, der Ernsthatigkeit ihrerAnstrengungen und ihrer Beständigkeit au dem Weg. Und au-richtiges Bemühen ührt – mit Hile göttlicher Gnade – schließ-lich zur erstrebten Glückseligkeit.

Das Diesseits ist ein irreührendes Trugbild, das Jenseits hin-gegen ewiges Leben ohne Tod. Der Tod ist der persönliche „Tag desJüngsten Gerichts“ ür den Einzelnen. Darum lasst uns auwachen,

bevor wir zur Verantwortung gezogen werden, damit wir uns nichtspäter in verzweieltem Bedauern verzehren. Es ist eine unver-meidliche Tatsache, dass jeder der Vergänglichkeit Unterworene,zu einer unbekannten Zeit und an einem unbekannten Ort, demTodesengel Azra’īl begegnen wird. Es gibt keinen Platz, an den wiruns vor dem Tod lüchten könnten. Die Menschheit muss deshalbanerkennen, dass Allāhs göttliche Gnade und Barmherzigkeit ihre

einzige Zulucht sind, und ihre Lehren aus dem Sinn Seiner Worteziehen: {So ieht denn zu Allāh! }109

Für einen Mensch, der nur unter der Herrschat seines Egoslebt und nur an das diesseitige, weltliche Leben glaubt, ist das Grabein insterer Korridor. Die Todesangst erasst ihn mit unvergleich-lichem Schmerz. Hielte er sich jedoch an die oben erwähnten Prin-zipien, die ihm ermöglichen, sein mit dem Diesseits verwobenesEgo zu transzendieren und sich zu seiner, tie im Inneren verbor-

genen, engelsgleichen Seite hin zu entwickeln, erschiene ihm derTod wie die heiß ersehnte Vereinigung mit seinem Geliebten – mitAllāh. Denn so betrachtet ist der Tod, der die meisten Menschenmit Schaudern erüllt, die Begegnung mit „dem höchsten Freund“[al-Raīq al-A‘lā]. Ein solches Dahinscheiden gleicht – wie es ei-ner der größten Sui-Meister, der ehrwürdige Maulānā Jalāl al-Dīn

109. Qur’ān, 51:50.

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Rūmī, zu nennen plegt – einer „Hochzeitsnacht“ [shab-i ‘arūs].Au diese Weise verwandelt sich der Tod von einer schrecklichenRealität in etwas Wunderbares, Schönes. Der einzige Weg, diesesschöne Gesicht des Todes zu erkennen, besteht darin, den Anlei-tungen zu olgen, die wir oben beschriebenen haben. Dies kommtin bestmöglicher Weise in den Worten Allāhs zum Ausdruck:

{Und diene deinem Herrn bis die Gewissheit (des odes) zu dir kommt! }110

Das heißt: Sei ein wahrhatiger Diener Allāhs, des Erhaenen, bis zudeinem letzten Atemzug!

Welch übergroßes Glück ist jenen beschieden, die zu ihrem Herrnzurückkehren, bevor der Tod sie ereilt!

O unser Herr, lass uns zur Welt der Wirklichkeit erwachen, indemwir die Essenz der Worte „Stirb, bevor du stirbst!“ erkennen unddas Dasein in vollem Bewusstsein begreien!

Āmīn!

110. Qur’ān, 15:99.

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Rizq – Lebensunterhalt

Abū Hāzim sagte: „Ich and die ganze Welt in zwei Din-

gen: Das erste ist meine Versorgung [rizq], und das

zweite ist die Versorgung anderer. Meine Versorgung

wird mich erreichen, selbst wenn ich au dem Winde reiten wür-

de, um vor ihr davonzuliegen. Wenn ich jedoch versuchte, die

Versorgung eines anderen zu erlangen, wäre ich niemals dazu in

der Lage, selbst wenn ich au dem Winde reiten würde, um ihr

nachzujagen.“

Die Furcht vor Hunger, Armut oder davor, kein Einkommen

oder keinen Lebensunterhalt inden zu können, gehört zu jenen

Ängsten, die schwer au dem Bewusstsein des Menschen lasten undihn sehr bedrücken können. Dabei ist der Lebensunterhalt [rizq]

einer der zentralen Punkte im „Programm des Schicksals“. Dieses

„Programm“ beginnt in den rühen Stadien der Menschwerdung

im Mutterleib und reicht bis zum Zeitpunkt unseres Todes, gemäß

dem uns vorherbestimmten Geschick. Der Augenblick des Todes

ist dabei gewissermaßen der Moment, in dem das Erlangen unseres

Lebensunterhaltes sein Ende indet.Die Versorgung aller Geschöpe ist vorherbestimmt; weder

 vermehrt sie sich noch vermindert sie sich gegenüber dem, was

estgelegt ist. Die Benutzung mittelbarer Ursachen zum Erwerb

 von Unterhalt [tawassul bi l-asbāb] ührt nur dann zu Ergebnissen,

wenn dies von Allāh vorherbestimmt ist. Dies wird im olgenden

Qur’ānvers deutlich:

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Rizq – Lebensunterhalt

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  هللا  ىل         يف    ني   يف      

{Es gibt kein Lebewesen au Erden, dessen Versorgung nicht  Allāh obläge. Und Er kennt seinen Auenthaltsort und sei-ne Heimstatt – alles ist ver zeichnet in einer eindeutigenNiederschrif.}111

Allāh gewährt einem jeden einzelnen Geschöp seinen Anteil anVersorgung. Aus diesem Grunde hören die Gottesreunde Äußerun-gen der Dankbarkeit ür die Gnadengaben Allāhs selbst im Gesangder Nachtigallen in den Rosenbüschen. Der olgende Qur’ānvers

 verdeutlicht, dass Allāh, der Allmächtige, auch die Versorgung je-ner gewährt, die krank, behindert oder aus anderen Gründen unä-hig sind, ihren Lebensunterhalt zu erwerben:

    هللا    حت            

{Und wie viele Lebewesen gibt es, die nicht ihren eigenen Unter-halt her beitragen. Allāh beschert ihnen und euch den Unterhalt 

– und Er ist der All-Hörende, der Allwissende.}112

Dabei ist es wichtig, sich die vielältigen Formen der unterschied-lichen Verteilung von Unterhalt in dieser Welt vor Augen zu üh-ren. Erst durch diese Vielalt entstehen Ordnung und Harmonie

111. Qur’ān, 11:6.112. Qur’ān, 29:60.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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in der Gesellschat, und diese ist es, die Spaltungen und Konlikte verhindert. Der Qur’ān legt dar, dass alle weltlichen Besitztümerletztendlich Allāh gehören, und dass Er es ist, der sie entsprechendSeinem göttlichen Wissen gemäß dem, was wir vorherbestimmtesGeschick [qada’ und qadar ] nennen, verteilt. Die Gläubigen solltensich bewusst sein, dass Unterschiedlichkeit in der Verteilung derVersorgung zu ihrem Vorteil ist. Wäre die Ordnung der Lebensum-stände den schwachen Fähigkeiten und Launen der Menschen mitihrer von Begierden, Ambitionen und persönlichen Beschränkun-

gen getrübten Wahrnehmung überlassen, würde das Universum inAnarchie versinken. Deshalb verkündet Allāh, der Erhabene:

  حل  يف          مح         

  جي   ري        مح    {Sind sie es etwa, welche die Gnade deines Herrn verteilen? Wir verteilen unter ihnen ihren Lebensunterhalt im diesseitigen Le-ben. Und Wir erhöhten die einen von ihnen über die anderen imRang, au dass die einen die anderen in den Dienst nehmen – und die Gnade deines Herr ist besser als das, was sie anhäuen.}113

Die Verteilung der Versorgung unter den Geschöpen in diesemUniversum ist eines der Zeichen der absoluten Macht und Souve-ränität Allāhs. Zu jeder Tageszeit sind die Esstische der Geschöpe,die durch die Lüte liegen, sich au der Erde bewegen oder im Meerschwimmen reichlich gedeckt. Darüber hinaus kann sich keines-

113. Qur’ān, 43:32.

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Rizq – Lebensunterhalt

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wegs jedes Geschöp von der Nahrung eines anderen ernähren. Das

bedeutet: Die Nahrung jedes Lebewesens ist seiner Umgebung undseinen speziellen Bedürnissen angepasst. Diese Vielalt der unter-

schiedlichsten Arten von Unterhalt – so zahllos wie die Anzahl der

Geschöpe im Universum, die jedes einzelne au seine, ihm eigene,

Art und Weise mit Nahrung versorgt werden – ist ür jene, die Ver-

stand besitzen, die höchste Maniestation von Weisheit, Macht und

Souveränität. In einem Qur’ānvers verkündet Allāh, der Erhabene:

      هللا      مل       يف  

{ Aber wissen sie denn nicht, dass Allāh den Lebensunterhalt 

erweitert oder beschränkt, wem Er will? Wahrlich, darin sind 

Zeichen ür Leute, die glauben.}114

Und der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – sagte

dazu:

„Wann immer einer von euch jemanden sieht, der über ihm

steht, soll er auch au jemanden schauen, der unter ihm steht!

Dies ist notwendig, damit ihr nicht au die GnadengabenAllāhs herabseht.“115

114. Qur’ān, 39:52.115. Überlieert von al-Bukhārī und Muslim in ihren Sahīhs und von al-Tirmidhī

in seinem Sunan. Mit dem, „der über ihm steht“, ist hier gemeint: „Der, demmehr Versorgung gewährt wurde“, oder auch „der einen höheren Rang innehat“.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Glück und Freude in unserem Leben hängen entscheidend vondem Glauben daran ab, dass der Anteil an Versorgung, der uns ge-geben wurde, das Beste ür uns ist. Es gibt so viele Dinge, die au den ersten Blick als Unglück wahrgenommen werden, deren Ergeb-nis in Wirklichkeit jedoch ein Segen sind – wie die Bedürtigkeit,die den Weg ins Paradies ebnet. Und ebenso gibt es viele Dinge,die als Glücksall erscheinen und sich in der Folge als enttäuschen-de Fehlschläge erweisen – wie Reichtum, der anstatt ür wohltätigeZwecke eingesetzt zu werden, zur Beriedigung billiger egoistischer

Wünsche verschwendet wird. Allāh, der Erhabene, sagt dazu:

         حي   

{Esst von den guten Dingen, mit denen Wir euch versorgt ha-ben, doch überschreitet nicht das Maß, damit nicht Mein Zornau euch niederährt! Und au wen Mein Zorn niederährt, der stürzt ins Verderben.}116

Angesichts dieser Wahrheiten wird deutlich, dass im Akzeptie-ren der göttlichen Verteilung des Lebensunterhaltes ein Weg zurGlückseligkeit in dieser Welt und im Jenseits liegt. Da unser Schöp-

er die Versorgung des Menschen bereits zugeteilt hat, noch bevordieser erschaen wurde, sollte er sich ganz mit Seinem göttlichenWillen abinden und den Lebensunterhalt genießen, der ihm vor-herbestimmt wurde, um so die Süße des Glaubens an die göttlicheBestimmung zu erahren. In einem Hadīth qudsī heißt es:

116. Qur’ān, 20:81.

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Rizq – Lebensunterhalt

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„Allāh, der Allmächtige, beahl Seinen Engeln, die ür dieAuteilung der Versorgung zuständig sind: ‚Wenn ihr einenMeiner Diener indet, der sein gesamtes Streben au dasJenseits ausgerichtet hat, dann gewährt ihm alle Gunst derHimmel und der Erde! Und wenn ihr einen Meiner Dienerindet, der au rechte Weise nach seiner Versorgung strebt, sogeht mit ihm in bester Weise um und macht ihm seinen Wegleicht!‘ “117

Dieses Hadīth belegt eindeutig, dass dem Diener, der sein Begehren undseine Absichten einzig und allein au Allāh ausrichtet, nur Ihm gehorcht,Ihm nur um Seinetwillen dient und so zu einem aurichtigen und er-gebenen Gläubigen wird, alle Segnungen des Himmels und der Erdegarantiert werden. Für solche Diener erschat Allāh, der Allmächtige,in großzügiger Weise Ursachen, durch die ihnen ihre Versorgung zu-kommt. Dies kommt auch in dem olgenden Vers zum Ausdruck:

 حي     خم  هللا جي       {Und wer Allāh ürchtet, dem scha Er einen Ausweg; und Er beschert ihm Unterhalt, von wo er es nicht erwartet.}118

Und unser ehrwürdiger Prophet – Segen und Friede Allāhs seienau ihm – sagte dazu: „Wenn ihr vollkommen au Allāh vertraut,gewährt Er euch eure Versorgung in derselben Weise, wie Er ür dieVögel sorgt: Sie liegen morgens mit leerem Magen los und kom-men abends satt zurück.“119

117. Überlieert in al-Hakīm al-Tirmidhīs Nawādir al-Usūl.118. Qur’ān, 65:2-3.119. Überlieert von al-Tirmidhī und Ibn Mājah in ihren Sunan.

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Arten wie Ameisen, die im Sommer Nahrungsvorräte ür den Win-ter sammeln, sind eher eine seltene Ausnahme. Es ist bekannt, dassandere Tierarten – auch ohne wie die Ameisen Wintervorräte an-zulegen – die härtesten klimatischen Bedingungen heil überstehenund gesund den Frühling erreichen. Wie könnte es in dieser per-ekten göttlichen Ordnung, die Seiner absoluten Souveränität un-tersteht, auch sein, dass der Schöper vergäße, Seine Geschöpe zu

 versorgen?

Jedoch Faulheit, Geiz, Neid, das absichtliche Vermeiden vonGeburten aus inanziellen Erwägungen und dergleichen mehr, sindalsche und abzulehnende Verhaltensweisen im Umgang mit derFrage unserer Versorgung in dieser Welt!

Wie schon erwähnt, lehrt der Islam, dass der Anteil eines Jedenan der Versorgung vorherbestimmt ist und sich zu keiner Zeit ver-mehrt oder vermindert. Allāh, der alles in der Existenz erschaen

hat, hat jedem einzelnen Geschöp seine Lebensspanne gewährt undihm den ür diese Zeit ausreichenden Lebensunterhalt bestimmt.Die Lebensspanne eines Menschen, sowie jeder Atemzug und

 jeder Bissen, den er zu sich nimmt, sind au der „Tael der Bestim-mung“ estgelegt und schon seit der Erschaung Ādams – au ihmsei der Friede Allāhs – als dessen Nachkommenschat [dhurriyya]kodiert. Doch das Arbeiten zum Erwerb des notwendigen, ihnen zu-geteilten Lebensunterhaltes ist ebenalls ein Gebot ür die Gläubigen.Deshalb zählt es zu unseren Plichten, diesem göttlichen Beehl zugehorchen und unseren Unterhalt durch Arbeit zu verdienen. Mitanderen Worten gesagt, ist die Zuteilung der vorbestimmten Ver-sorgung an die Vorbedingung der Arbeit gebunden. Ein bekanntestürkisches Sprichwort besagt: „Unterlasse nicht, was nötig ist, undbeschuldige nicht älschlicherweise die Bestimmung!“ Allāh, der All-mächtige, hat uns in Seiner göttlichen Weisheit mit Fähigkeiten wie

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Rizq – Lebensunterhalt

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Willenskrat, Unternehmungsgeist, Verantwortungsgeühl, Gott-

 vertrauen und Einsicht ausgestattet. Diese mutwillig zu ignorierenstellt in der Tat eine Form von Rebellion gegen unseren Herrn dar.

Uns vor Geahr zu schützen, indem wir beispielsweise bei

Krankheit einen Arzt ausuchen und Medizin einnehmen, oder

 vor einer Feuersbrunst oder einem Erdbeben liehen, entspricht

unserer natürlichen Veranlagung. Der göttliche Beehl, uns anzu-

strengen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, zielt ebenalls

darau ab, uns vor Geahren zu bewahren und ist keineswegs un-

 vereinbar mit dem Glauben an die göttliche Bestimmung. Wäre

dies der Fall, wäre es sinnlos, von den Gottesdienern zu verlangen,

sie sollten sich um ihren Unterhalt bemühen! Die von Ihm erscha-

enen Regeln der Kausalität zu leugnen, ist jedoch eine Form von

Aulehnung gegen Allāh und stellt eine große Sünde dar. Im Edlen

Qur’ān heißt es:

        {Und dem Menschen wird nichts zuteil, außer dem, wonach er 

strebt.}120

Der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frie-

den – sagte:

„Es ist besser ür einen Mann, sein Seil zu nehmen und in den

Wald zu gehen, um Feuerholz zu sammeln, als die Leute um

Almosen zu bitten; unabhängig davon, ob sie ihm geben, was

er braucht, oder nicht.“121

120. Qur’ān, 53:39.121. Überlieert in Sahīh al-Bukhārī .

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In einem Bericht des Ibn al-Firāsī heißt es, dass sein Vater ein-

mal den Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden– ragte: „O Gesandter Allāhs, soll ich die Leute um das bitten,was ich brauche?“ Da antwortete der Prophet: „Du sollst nieman-

den bitten! Wenn du jedoch dazu gezwungen bist, dann bitte dieRechtschaenen.“122

Zusätzlich zu dem, was wir bereits erwähnt haben, hat Allāh, derAllmächtige, Seinen Geschöpe bestimmt, dass einer ür den an-deren Mittler zum Erhalt des Lebensunterhalts sei. Sich um Armeund Bedürtige zu kümmern, ihnen Unterstützung zukommen zulassen und ihnen einen Teil dessen zu geben, was Allāh uns vonSeinen Gaben gewährt hat, ist deshalb eine große Tugend. Es wirdüberlieert, der Erzengel Jibrīl – au ihm sei Friede – habe gesagt:

„Wenn ich zu den Bewohnern dieser Welt zählte, wären mir

drei Dinge am liebsten: Jene zu ühren, die ihren Weg verlo-ren haben; jene zu lieben, die in Armut Gottesdienst verrich-ten; und bedürtigen Menschen zu helen, die sich um vieleKinder kümmern müssen.“

Gesetzlich zulässige und rechtmäßig erworbene Nahrung

Ein weiterer wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang die Er-nährung mit dem, was halāl ist, das heißt, mit dem, was gesetzlichzulässig und au rechtmäßige Weise erworben wurde – und dies isteiner der wichtigsten Faktoren au dem Weg der spirituellen Ver-

 vollkommnung.

122. Überlieert von al-Nasā’ī, Abū Dāwūd und Ibn Mājah in ihren Sunan.

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Rizq – Lebensunterhalt

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Sahl ibn al-Tustarī verkaute einmal ein Scha. Nach einer Weilekam der Käuer zurück und sagte zu al-Tustarī: „Ich möchte, dassdu das Scha zurücknimmst, denn es risst kein Gras.“

Al-Tustarī ragte ihn: „Woher weißt du das denn?“

Der Mann sagte: „Ich habe es zum Grasen au ein Feld gebracht,doch es hat keinen einzigen Halm geressen.“

Da sagte al-Tustarī zu ihm: „Mein Freund, du musst etwas alschgemacht haben. Unsere Tiere sind nicht daran gewöhnt, von demzu ressen, was jemand anderem gehört. Geh, und lass es von demressen, was dir gehört!“

Der Mann tat wie ihm geheißen ward, und da begann das Scha zuressen.

Wie diese Geschichte zeigt, wirkte sich einst die Sorgalt der Mus-lime bei der Auswahl rechtmäßiger Nahrung selbst au ihre Tiereaus. Die Auswahl gesetzlich zulässigen und au rechtmäßige Weiseerworbenen Unterhalts stellt das Licht des Lebens, die Freude desHerzens und die Essenz des Gottesdienstes dar und ist einer derentscheidenden Faktoren bei den Bemühungen um ein reines Herz[qalb salīm]. Gesetzlich unzulässige oder unrechtmäßig erworbeneNahrung [harām] ist hingegen ein Git, welches das Leben zerstört,ein Feuer, welches das Herz verbrennt, und bringt schrecklichenVerlust mit sich. Erniedrigung in dieser Welt und im Jenseits, Ehr-losigkeit und Unglücke sind die tie greienden Folgen unrechtmä-ßigen Erwerbs von Unterhalt.

Rechtmäßig erworbener Besitz und gesetzlich zulässigeNahrung sind Mittel zum Erwerb des göttlichen Wohlgeallens,

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wohingegen unrechtmäßiger Gewinn und unzulässiges Essen dem

Menschen großes Bedauern und schreckliche Enttäuschungen ein-bringen. Wenn das Herz, anstatt Allāh, dem Erhabenen, vorbehal-

ten zu sein, vom Streben nach Reichtümern und großer Nachkom-

menschat besessen ist, sind Kummer und Verzweilung das einzige

Ergebnis. Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī erklärt dies in

dem olgenden Beispiel:

Wenn Wasser das Innere des Schies üllt, ührt es zu dessen

Untergang! Wenn es sich jedoch unter dem Schi bendet, wird 

es zu einer tragenden Kraf. Als Sulaymān – au ihm sei der 

Friede – die Liebe zu Hab und Gut aus seinem Herzen gewor-

 en hatte, sagte er: „Ich bin ein Bedürfiger; und dem Bedürfi-

 gen gebührt es, mit den Bedürfigen zu sein!“ – da wurde ihm

eine erhabene Stellung zuteil.

Und Allāh, der Erhabene, sagt im Edlen Qur’ān:

حل       هللا هللا  ىل        هي    {O ihr Menschen, ihr seid die Bedürfigen gegenüber Allāh,doch Allāh ist der, Der rei von allen Bedürnissen ist, der allen

Preises Würdige! }123

Aus diesem Grunde sagte der ehrwürdige Gesandte Allāhs – Segen

und Friede seien au ihm – über Hab und Gut, das nur ür die Reli-

123. Qur’ān, 35:15.

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gion au dem Wege Allāh eingesetzt wird: „Wie trelich ist doch einBesitz, der nur ür Gutes ausgegeben wird!“

Von ‘Umar ibn al-Khattāb – möge Allāh mit ihm zurieden sein– wird olgendes Bittgebet überlieert: „O Allāh, vertraue den Vor-trelichen unter uns reichlichen Besitz an, au dass sie damit denBedürtigen unter uns helen!“

Au der anderen Seite kann unrechtmäßig erworbenes Gut we-der als Zakāt noch als Sadaqa gegeben werden, da es ja, rechtlich

gesehen, Eigentum eines anderen ist. Unrechtmäßige Einküntesind sowohl im Diesseits wie im Jenseits eine Schande. Ein recht-mäßig erworbener Bissen bringt Weisheit, Wissen und Erkenntnishervor und erweckt Liebe zu Allāh und Begeisterung im Herzen.

Genau so, wie es unmöglich ist, Gerste au einem Feld zu ern-ten, au dem nur Weizen gesät wurde, ist es auch unmöglich, spiri-tuelle Vervollkommnung zu erreichen, wenn der Körper mit dem

ernährt wird, was harām ist. Wenn der Körper nicht mit dem er-nährt wird, was halāl ist und dem Menschen die Krat zur Gotteser-kenntnis gibt, sind weder spirituelle Vollkommenheit im Herzen,noch demütige Hingabe im Gottesdienst möglich.

Wir sollten einmal über das Geheimnis nachdenken, das in ei-nem Hadīth qudsī zum Ausdruck kommt, in dem Allāh, der Erha-bene, spricht: „Ich scheue mich, den zur Verantwortung zu ziehen,der sich von aller verwehrten [harām] Nahrung erngehalten hat.“

Aus diesem Grunde ist es unerlässlich, seinen Unterhalt in die-ser Welt au rechtmäßige Weise zu erwerben. Nur die Nahrung, diehalāl ist, verleiht dem Menschen die Krat, au dem geraden Weg derRechtschaenheit zu wandeln, stattet ihn mit göttlicher Weisheit aus,und leitet ihn aus dem Geängnis des Diesseits zum Licht Allāhs.Dabei sollten wir nicht vergessen, dass eine gewisse Grauzone zwi-schen dem Rechtmäßigen und Unrechtmäßigen existiert, von der

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man sich genau so ern halten sollte, wie von dem, was unrecht-

mäßig ist. Zweielhate Angelegenheiten sind wie eine nur Allāh vorbehaltene Weide, und wer sich dorthin begibt, wird zunichtewerden. Denn nicht umsonst hat uns der Gesandte Allāhs – Segen

und Friede seien au ihm – eindringlich gewarnt, als er sagte:

„Sowohl das Zulässige [halāl ] als auch das Verwehrte [harām]sind eindeutig klar, doch zwischen diesen beiden gibt es zwei-elhate Dinge. Wer immer sich von diesen ern hält, rettetseine Religion und seine Ehre, wer immer sich au sie einlässt,ällt hinein in das, was verwehrt ist. Er ist wie ein Hirte, derseine Schae dicht an der Weide eines anderen weiden lässt, sodass sie jeden Augenblick kurz davor sind, au dessen Gebiet

zu geraten. Seid au der Hut! Ein jeder König besitzt eine ihmallein vorbehaltene Weide, und die allein Allāh vorbehalteneWeide ist das, was Er ür verwehrt erklärt hat!“

Maulānā Rūmī lenkt unsere Aumerksamkeit au die Tatsache, dassrechtmäßig einwandreie Nahrung den Menschen mit Spiritualität[rūhaniyya] und göttlichem Licht [nūraniyya] erüllt, wenn er sagt:

Es gibt ür den Menschen keine andere Nahrung als Licht;

nichts anderes kann die Seele ernähren! 

Darum gib, Schritt ür Schritt, irdisches Essen und rinkenau, denn sie sind nicht die wirkliche Nahrung des Menschen! 

 Mühe dich, die Fähigkeit zu erlangen, himmlische Nahrung 

auzunehmen,

Bereite dich au den Bissen himmlischen Lichtes vor! Beherzi-

 ge die Anweisung im Qur’ān: {Strebt nach der Gunst Allāhs! }124

124. Qur’ān, 62:10.

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Hüte dich davor, dass der Körper sich nicht beugt und hin- gibt , sondern sich verstockt gegenüber der Wahrheit zeigt – biser den Hunger spürt! Ihn im satten Zustand zu unterweren, gleicht dem Versuch,kaltes Eisen zu schmieden.

Das Ego gleicht dem Fir‘aun [Pharao] , der Mūsā in den Jah-ren der Dürre um Hile bat .

Wenn du dich von diesen Krümeln (irdischer Nahrung ) ernhältst, wird dir erhabener und gnadenreicher Unterhalt zuteil! 

Selbst wenn du onnen davon isst, wirst du leicht dahinglei-ten wie eine Feder.

Selbst wenn du einen Ozean davon trinkst, wirst du obenau schwimmen wie ein Schi.

Der Hunger des Magens ührt den Menschen in den Heu-schober, doch der Hunger des Herzens ührt den Menschen indie Gärten süßen Basilikums.

Ein Vieh, das mit Heu und Gerste geüttert wird, endet amEnde als Opertier;

derjenige, dessen Nahrung das Licht der Wahrheit ist, wird zu einem lebenden Qur’ān.

Gib deinen Magen au und schreite au dein Herz zu, au dass der Friede Allāhs zu dir kommt! 

Sei dir bewusst, dass der Hunger die Grundlage aller Heil-mittel ist. Nimm den Hunger mit Entschlossenheit an – verach-te ihn nicht! 

Unsere Ausgaben in dieser Welt sind ür unseren Lebensunterhaltund den unserer Familien bestimmt. Dabei müssen wir jedoch

 jegliche Form von Extravaganz meiden. Der Wohlstand und dieRessourcen dieser Welt sind begrenzt; sie sind ein uns von Allāhanvertrautes Gut, und im Jenseits werden wir in Hinblick au sie

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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zur Verantwortung gezogen werden. Sie gedankenlos zu verschwen-

den, wie es in den heutigen kapitalistischen Gesellschaten gangund gäbe ist, geährdet das Leben zuküntiger Generationen. Unterallen Lebewesen ist der Mensch das einzige, das einen unstillbarenDrang nach immer mehr besitzt. Ein Raubtier greit eine Schaher-

de nur an, um seinen akuten Hunger zu stillen. Es ährt nicht ortzu töten, indem es sich denkt „ich werde es morgen essen“. In derTat wird es, wenn es einmal gesättigt ist, den anderen Schaen in der

Herde zum Freund. Die Menschen hingegen sind von grenzenlosenBegierden geprägt. Die erste Voraussetzung um einen Menschen

 von seinen endlosen Ambitionen zu bereien, besteht darin, ihn vorVerschwendung zu bewahren, indem man ihm den esten Glaubendaran vermittelt, dass sein ihm bestimmter Lebensunterhalt sich

weder vermehrt noch vermindert. Im Edlen Qur’ān heißt es dazu:

                 يش    {Und es gibt nichts, von dem Wir nicht unerschöpiche Schätze

besäßen – doch Wir senden davon nur in estgesetztem Maß 

hinab.}125

In diesem Vers wird erklärt, dass die Verteilung des Lebensunter-

halts gemäß dem göttlichen Willen geschieht, sodass Ehrgeiz undHabgier ür einen intelligenten Menschen eigentlich ausgeschlos-

sen sein müssten. Darüber hinaus macht der Vers deutlich, dasses Allāh, der Erhabene, ist, der das jeweilige Maß der Versorgungbestimmt. Wenn wir all unsere Wünsche und nie enden wollenden

Bestrebungen zusammenzählen, so entsteht eine lange Kette, die

125. Qur’ān, 15:21.

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Rizq – Lebensunterhalt

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man als weltliche Ambitionen oder ūl al-Amal bezeichnet. Diesereichen aber höchstens, bis wir ins Grab gelegt werden.

Die weltlichen Ambitionen gleichen einem lüchtigen Schatten,dem wir erolglos nachjagen, bis er schließlich mit dem Untergangder Sonne ganz entschwindet – sie sind mit immer neuen Enttäu-schungen und Bedauern verbunden. Sünden verdunkeln unser In-neres und machen es blind ür die Wirklichkeit; sie nehmen unserenHerzen die Empindsamkeit gegenüber der göttlichen Wahrheit. EinAspekt, der diese Krankheit des Herzens bedingt, ist der Verzehr von

unzulässiger [harām] Nahrung. So wird überlieert, dass die Gebeteeines Menschen, der verbotene Nahrung zu sich nimmt, vierzig Tagelang unerhört bleiben. Der Grund daür ist, dass Nahrung vierzigTage im Körper zirkuliert, bis sie vollkommen ausgeschieden ist.Diese Überlieerung illustriert die krankmachenden Eekte unzu-lässiger Nahrung au das spirituelle Wohlergehen des Herzens.

Demzuolge ist die Ernährung durch das, was Allāh verwehrt hat,im spirituellen Sinne ein Git ür unsere Körper, das es uns unmöglichmacht, den süßen Wohlgeschmack des Gottesdienste wahrzunehmen.Wir sollten deshalb äußerst vorsichtig sein, au welche Art und Weisewir das kostbare, einmalige Kapital unseres Lebens ausgeben und einegesicherte Form der Investition unserer begrenzten Zahl von Atem-zügen wählen, anstatt diese an die Güter dieser Welt zu verschwenden– au dass uns nicht der Gewinn der Ewigkeit entgehe.

Wir sollten das Vergängliche gegen das Ewige eintauschen und

als Reisende den geraden Weg der Rechtschaenheit dem Weg indie Abgründe des zerstörerischen Irrtums vorziehen.

O Allāh, versorge Du uns mit reinem und rechtmäßigem Unterhaltund gewähre uns durch Deine Gnade gesegnete Versorgung durchrechtschaene Taten!

Āmīn!

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Licht und Dunkelheit

Allāh, der Allmächtige, erschu die Wahrnehmung und denVerstand des Menschen, um diesen in die Lage zu verset-zen die Wirklichkeit anhand von Gegensätzen zu begrei-

en. Indem wir es dem Schlechten gegenüberstellen, können wir

das Gute verstehen, und ebenso die Schönheit durch das Hässliche,das Richtige durch das Falsche sowie das Licht durch die Finsterniserkennen. Menschliche Wahrnehmung unktioniert weitgehendau diese Weise, das heißt, durch eine Identiizierung von Objektenund Konzepten augrund von Gegensätzen.

Wir können die Schönheit und den Wert des Glaubens [īmān]nur durch die Hässlichkeit des Unglaubens erkennen, und der

Qur’ān, der die Menschheit hin zum Licht des Glaubens und weg von der Finsternis des Unglaubens ührt, vermittelt uns die Erah-rung des Lichts durch dessen Gegenüberstellung mit der Finsternis.Dabei ist die Schöpung wie eine Art erklärender Kommentar zumWunder des Edlen Qur’ān. Denn Allāh, der Erhabene, maniestiertsich in zweierlei Weise: Zum einen oenbart Er sich durch SeinWort, den Heiligen Qur’ān, zum anderen oenbart Er sich in Sei-ner Schöpung. Der Qur’ān ist ein Universum aus Worten, die Welt,in der wir leben, ist hingegen ein wortloser Qur’ān. Die Schöpungist erüllt von den göttlichen Geheimnissen der Größe Allāhs undder Maniestationen Seines Handelns. Im Mittelpunkt beider Ma-niestationen des Göttlichen steht der Mensch, dessen hohe Rang-stellung Allāh, der Allmächtige, in olgendem Hadīth qudsī  zumAusdruck bringt:

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Licht und Dunkelheit

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„O mein Diener! Ich habe dich ür Mich selbst erschaen;und das gesamte Universum habe Ich ür dich erschaen. Esist mein Recht, dass das, was Ich ür dich erschaen habe,dich nicht achtlos macht und dich von Mir ern hält, denn duwurdest ür Mich erschaen.“

Aus diesen Gründen bezeichnen die Suis den Menschen als Quint-essenz der Welt und „kleines Universum“ [‘ālam al-saghīr ]. Au-grund seiner Veranlagung neigt der Mensch sowohl zum Guten als

auch zum Schlechten. In seinem Innern sind gleichermaßen Lichtund Dunkelheit vorhanden. Seine Verantwortung besteht darin,daür zu sorgen, dass das Licht des Glaubens nicht von der Fins-ternis des Unglaubens verdunkelt wird. Im Qur’ān wird den Gläu-bigen beohlen, au den Sieg des Lichts über die Dunkelheit hinzu-arbeiten – und dies nicht nur au persönlicher, sondern auch au gesellschatlicher Ebene, um die Gesellschat vor der Zerstörung zu

bewahren. Im Edlen Qur’ān heißt es dazu:

{Sind sie denn nicht au der Erde umhergereist, sodass sie Her-zen haben könnten, um zu begreien, und Ohren, um zu hören? Und wahrlich, es sind nicht die Augen, die blind sind, sondernes sind die Herzen in der Brust, die blind sind.}126

Und in einem weiteren Vers wird ebenalls au die Achtlosigkeit der

Herzen eingegangen:

{Wollen sie denn den Qur’ān nicht begreien, oder liegt es dar-an, dass ihre Herzen mit Schlössern versiegelt sind? }127

126. Qur’ān, 22:46.127. Qur’ān, 47:24.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Die Wahrnehmung derjenigen, die in der Lage sind, in den Seitendes Universums und des Qur’ān zu lesen, wird – entsprechend demGrad der Reinheit ihrer Herzen und der Läuterung ihres Egos –

 von Licht durchdrungen, so dass sie die Maniestationen Allāhs,des Erhabenen, in der äußeren und in der inneren Welt erkennenkönnen. Bedauerlicherweise verhält sich die achtlose Menschheitin einer Weise, welche das mit den Propheten beginnende Zeitalterder Erleuchtung durch Unwissenheit, Streben nach persönlichenVorteilen oder insteren Philosophien verdunkelt, sodass sie von

der Wirklichkeit des Göttlichen abgeschnitten wird. Stattdessen vergöttern die Menschen Rang und Ansehen, materiellen Wohl-stand und ähnliche vergängliche Dinge, verlassen so das Licht dergöttlichen Rechtleitung und stürzen dabei in die dunklen Abgrün-de der Einbildungen und Phantasien ihrer Egos.

Allāh, der Erhabene, sagt im Heiligen Qur’ān: { Allāh ist dasLicht der Himmel und der Erde.}128 Diesem Vers ist zu entnehmen,

dass jene, die Allāh nicht kennen, ohne Licht sind und deshalb nichtsehen können. Weiter können wird daraus schließen, dass Allāh üruns wünscht, dass wir ein Leben ühren, welches in allen Berei-chen vom Licht des Göttlichen durchdrungen ist – ganz gleich, obes sich um gesellschatliche oder private, geschätliche oder wohl-tätige, körperliche oder geistige Dinge handelt. Und dies gilt auchim gleichen Maße ür politisch Verantwortliche wie ür Angestellte,Arbeiter oder Beamte – wir alle sind stets angehalten, uns an den

Weg des göttlichen Lichts zu halten, der zu Allāh ührt.Bei den im Qur’ān augeührten Gegensatzpaaren, wie Wissen

und Unwissenheit, Wahrheit und Unwahrheit, Gut und Böse, Ge-sundheit und Krankheit, Heil und Unheil, Gerechtigkeit und Un-terdrückung, und schließlich Glaube und Unglaube gehört jeweilsder erste Begri in den Bereich des Lichts, während der zweite

128. Qur’ān, 24:35.

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Dunkelheit repräsentiert. Im gesellschatlichen Leben inden sichebenalls solche Paare von Gegensätzen, wie Freiheit und Unter-drückung, edler Charakter und schäbiges Verhalten, Tüchtigkeitund Faulheit, Ehe und Unzucht, Mitgeühl und Teilnahmslosigkeit,Freigiebigkeit und Geiz, Versöhnlichkeit und Rachsucht und der-gleichen mehr, bei denen das Licht au der einen Seite der Dunkel-heit au der anderen gegenübersteht. Ebenso gehört der Weg selbst,den die Propheten und ihre wahren Erben, die Rechtschaenenund aurichtigen Gelehrten, der Menschheit weisen, indem sie die

wahre Natur von Licht und Dunkelheit verkünden, in den Bereichdes Lichts, während jene, die sich von ihnen abwenden oder sichihnen entgegenstellen, in der Finsternis umherirren.

Allāh, der Erhabene, hat die Menschheit niemals ohne einührendes Licht gelassen. Die beiden größten Lichter, die Er derMenschheit geschenkt hat, sind das Licht des Qur’ān und das Lichtunseres ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke

ihm Frieden! Die Geschichte legt in höchst beeindruckender WeiseZeugnis davon ab, wie die Dunkelheit des Zeitalters der vorislami-schen Unwissenheit [al-jāhiliyya] vom Licht des Propheten – Segenund Friede seien au ihm – vertrieben wurde. Um nicht wieder indie urchterregende Dunkelheit dieser Unwissenheit zurückzual-len, müssen wir dem Licht des Qur’ān und des Gesandten Allāhs –au ihm seien Segen und Friede – olgen. Deshalb ordert uns Allāh,der Erhabene, im Edlen Qur’ān au:

{Darum glaubt an Allāh und Seinen Gesandten und an dasLicht, das Wir herabgesandt haben – und Allāh ist dessen kun-dig, was ihr tut! }129

129. Qur’ān, 64:8.

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Das Leben jener, die ernab vom Licht des Qur’ān leben, ist eineReise in die Dunkelheit. Wir sollten uns und unsere Familien vordieser Dunkelheit schützen, indem wir vor allem unsere Kinderden Qur’ān und die Religion lehren und ihnen die Grundlagen desGlaubens und rechtschaenen Verhaltens vermitteln. Genau wiebeim Lehren der Naturwissenschaten, kann auch ein solcher Er-ziehungsprozess im religiösen Bereich nicht alleine vom Elternhausgetragen werden, sondern erordert qualiizierte Unterstützung.

Der Mensch kann nur durch Erziehung zur Vollkommenheit

heranreien. Wenn wir – im übertragenen Sinne – gesundes Saatgutin ruchtbare Erde planzen, die dann von gesegnetem Regen bewäs-sert wird, werden die daraus erwachsenden Planzen Früchte wahrenGlaubens tragen. Dabei hängt diese Art von Fruchtbarkeit eines Men-schen wesentlich von seiner spirituellen Erziehung ab. Der ehrwürdigeGesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – riet deshalb:

„Gewöhnt euren Kindern ab dem Alter von sieben Jahren an,das Gebet zu verrichten!“130

Dieses Hadīth weist darau hin, dass die religiöse Erziehung bereitsin jungen Jahren beginnen sollte. Denn die Lehren und der aurich-tige Rat, die einem Kind zuteil werden, werden in seinem Gedächt-nis bleiben, wie eine Gravur in einer Marmortael. Wenn die Liebezu Allāh und Seinem Propheten – Allāh segne ihn und schenke

ihm Frieden – rüh in diesen jungen Herzen erweckt werden, hältdieser gute Einluss ein Leben lang an.

Einer der Gottesreunde, der ehrwürdige Abū Bakr al-Warrāq,schickte seinen Sohn in eine Schule, damit er dort den Qur’ān lerne.Eines Tages kam der Junge ganz bleich und verstört aus der Schule.

130. Überlieert von Abū Dāwūd und al-Tirmidhī in ihren beiden Sunan.

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Abū Bakr ragte ihn: „Möge es nur Gutes sein, mein Sohn: Was istdenn geschehen?“

Der Junge sagte: „O mein Vater, heute haben wir in der Schuleden Vers gelernt {Wie wollt ihr euch, wenn ihr im Unglauben be-harrt, vor der Strae eines ages schützen, an dem Kinder zu weiß-haarigen Greisen werden? }.131

Als ich über die Bedeutung dieser Worte nachdachte, ühlteich große Ehrurcht und ing vor Schrecken an zu zittern.“

Nach einer Weile schied der Junge dahin. Abū Bakr besuchte

ot sein Grab und dabei klagte er zu sich selbst: „Wie lange habe ichschon Allāhs Wort rezitiert, doch wehe mir: Wie unglückselig ichdoch bin, dass ich niemals die Quintessenz dieses Verses so begrei-en konnte wie mein Sohn!“

Der Qur’ān ist in der Tat ein gewaltiger Ozean, der die kindlichenHerzen derer, die ihn lesen, mit seinen tieen Bedeutungen und

Geheimnissen umängt. Den Qur’ān – Allāhs letzte Oenbarung– zu rezitieren, ist zweielsohne eine der vortrelichsten Formen von Gottesdienst. Ihn im rituellen Gebet zu rezitieren ist so wich-tig, dass ein Gebet ohne Qur’ānrezitation ungültig ist. Au anderegrundlegende Bestandteile des Gebets, wie Stehen oder die Nieder-werungen, kann unter bestimmten Bedingungen (wie z.B. im Falle

 von Krankheit) verzichtet werden, nicht jedoch au die Rezitationdes Qur’ān.

Darüber hinaus sollte der Qur’ān stets in schönster Weise re-zitiert werden. Allāh, der Erhabene, sagt dazu: {Und rezitiere denQur’ān in langsamer, gleichmäßig rhythmisch intonierender Weise[tartīl ]}132 Zudem ordert Er uns au, Seinem Wort aumerksamund andächtig zu lauschen: {Und wenn der Qur’ān vorgetragen wird,

131. Qur’ān, 73:17.132. Qur’ān, 73:4.

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dann hört ihm zu und seid still, au dass euch Barmherzigkeit zuteil werde.}133 Denn still zu sein, wenn der Qur’ān vorgetragen wird,ermöglicht, ihn zu hören, das Hören ührt zum Verstehen, und dasVerstehen ührt zu verstärktem Fließen der Ströme göttlicher Gna-de und wird so zur Ursache göttlichen Erbarmens.

Der ehrwürdige Prophet Muhammad – Allāh segne ihn undschenke ihm Frieden – bat ‘Abd Allāh ibn Mas‘ūd darum, ür ihnaus dem Qur’ān zu rezitieren und lauschte ihm respektvoll, mitTränen in den Augen, in einem Zustand großer spiritueller Freude.

Eine ebenso große Freude empinden Eltern, wenn sie hören, wieihre Kinder die Worte des Qur’ān mit schöner Stimme und guterAussprache rezitieren. Denn das Lesen der Worte Allāhs wird viel-leicht später einmal ein Grund daür sein, dass sie als Erwachsenezu den rechtschaenen und wahrhatigen Gottesdienern zählen.

Liebe und Respekt ür die Eltern sind est in der natürlichenVeranlagung des Menschen verankert, doch die Liebe zu den ei-

genen Kindern ist noch weitaus stärker. Deshalb warnt Allāh, derErhabene, au der einen Seite davor, dass die Liebe zu Kindernund Besitz, wenn sie nicht dem Wege der Wahrheit entsprechendbehandelt werden, sich als Unglück oder schwere Prüung [ tna]erweisen können, während Er andererseits rechtschaene Kinderund Besitz, der au dem Wege Allāhs ausgegeben wird, als Zier-de bezeichnet. Unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn undschenke ihm Frieden – verkündete jenen Müttern und Vätern, die

ihre Kinder au diese Weise erziehen, die rohe Botschat:

„Die Eltern derjenigen, die den Qur’ān rezitieren, werden(am Jüngsten Tag) mit Kronen aus Licht gekrönt und mit Ge-wändern aus Licht gekleidet werden.“134

133. Qur’ān, 7:204.134. Überlieert in Sunan Abī Dāwūd , Musnad Ahmad und al-Hākims Mustadrak.

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Entsprechend ihrer gottgegebenen, natürlichen Veranlagung wün-schen sich alle Menschen Kinder. Wenn man jedoch genau be-denkt, welche Verantwortung damit verbunden ist, seine Kinderzu rechtschaenen Menschen zu erziehen, könnte man leicht eineGänsehaut kriegen. Doch im Gegenteil: Seine Kinder im Sinne desDaseinszwecks der Menschen – ihrem Herrn zu dienen, au dass sieIhn erkennen – zu erziehen ist ein Quell unbezahlbaren Gewinnsür den Menschen. Alle Anstrengungen, die dazu dienen, den Le-bensunterhalt der Familie auzubringen und den Kindern eine spi-

rituelle Erziehung angedeihen zu lassen, werden den Eltern in dergöttlichen Gegenwart als gute Taten oder als Wiedergutmachungür ihre Sünden angerechnet. Wenn dann die Kinder zu rechtscha-enen und wahrhatigen Menschen herangewachsen sind, werdensie im Jenseits wie ein schützender Vorhang sein, der ihre Eltern

 vor der Strae des Hölleneuers bewahren kann. Unsere Kinder sindunser höchstes Gut und die größte Gunst unseres Herrn ür uns.

Deshalb ist es unsere Plicht, sie vor allem, was ihnen Schaden kann– ganz besonders im spirituellen Bereich –, zu beschützen.Selbst Tiere beschützen ihre Jungen vor allen möglichen Ge-

ahren und legen dabei ot erstaunliche Taperkeit an den Tag. Soentwickelt beispielsweise eine Henne, die normalerweise ein eherängstliches Tier ist, einen außergewöhnlichen Kampesmut, wennsie ihre Küken bedroht sieht. Doch wie können wir unsere Kinder

 vor Geahren und Schädigungen bewahren? Die Augabe verant-wortungsvoller Mütter und Väter besteht sicher nicht darin, ihrenKindern ständig mehr als notwendig an auwendigem Essen undGetränken zu verabreichen; vielmehr sollten sie sich bemühen, ihreKinder durch geistige Nahrung an das Erleben spiritueller Freudezu gewöhnen. Dies geschieht vor allem dadurch, ihnen den Ge-schmack der Liebe zu Allāh, dem Erhabenen, und Seinem ehrwür-digen Gesandten – Segen und Friede seien au ihm – zu vermitteln

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und est in ihren Herzen zu verankern. Augrund dieser Liebe wirdes dem Kind später leicht allen, seine religiösen Plichten zu ver-richten, während andernalls beispielsweise das Verrichten der Ge-bete zu einer lästigen Plicht wird, die nur unregelmäßig und ohneinnere Beriedigung verrichtet wird, sodass ihnen der Geschmack des Gottesdienstes und dessen Süße verwehrt bleiben. Wenn wirsie nicht, wie es Zuwendung und Mitgeühl von uns verlangen, inder Welt des Qur’ān und der Sunna erziehen, ist dies eine Unterlas-sung, die große Dunkelheit mit sich bringt!

Ebenso sollten wir au der Suche nach geeigneten Ehepartnernür unsere Kinder mehr Wert au die Lichter des Glaubens und gu-ten Charakters als au weltliche Maßstäbe legen, denn letztendlichsind Ehen, die nicht au den gemeinsamen Werten des Glaubensund guten Charakters gründen, über kurz oder lang zum scheitern

 verurteilt, oder bedeuten ein Leben voller Sorgen und Kummer bisins Grab.

Wir müssen unsere Kinder vor den Untugenden des modernenLebens wie Leichtsinn, Schamlosigkeit, sinnlosem Herumlungern,Verschwendungssucht, Nachtleben, den Charakter schädigendenMedien und dergleichen mehr bewahren, indem wir ihre Seelenmit der Liebe zu Allāh, dem in Majestät Erhabenen, zum Qur’ān, zuden Gottesreunden, Rechtschaenen und Wahrhatigen erüllen,au dass ihre Herzen vor der Dunkelheit bewahrt und durch dieTautropen göttlichen Lichtes belebt werden.

So können sich reine Herzen, erüllt von der Liebe zu Allāh,dem Erhabenen, und Seinem ehrwürdigen Gesandten – Allāhs Se-gen und Friede seien au ihm – in einer spirituell erüllenden Weise

 voller Hingabe und Demut dem Gottesdienst zuwenden und sichzur Vollkommenheit entwickeln. Ihre Herzen werden durch dieKrat des Glaubens gestärkt, sodass die Welten ihrer Seelen reichan Schätzen sind. Bei der Rezitation des Qur’ān verspüren sie eine

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unbeschreibliche Süße; und im Hinblick au das, was geboten und verboten ist, sind sie äußerst gewissenhat. Der Qur’ān sowie derCharakter des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien au ihm– sind ihr Charakter.

Damit er seine Kenntnisse nicht zum Schlechten missbraucht,bedar der Mensch des Schutzschirms religiöser und moralischerWerte. Gesellschatliche Anarchie und das ständige Anwachsen

 von Verbrechen wie Vergewaltigungen, Raub und andere gesell-schatliche Krankheiten, lassen sich durch Glauben und eine Er-

ziehung entsprechend den Werten des Qur’ān verhindern. Dennall diese Verbrechen werden von Menschen begangen, die unähigsind, die Begierden ihres Egos zu kontrollieren; und die Charak-tererziehung des Islam basiert darau, den Menschen zur Kontrolleseiner Handlungen und seiner Gedanken hinzuühren. Die Lösungder aus Selbstsucht und materialistischem Streben erwachsendenProbleme indet sich ebenalls in der religiösen Erziehung, denn

der Islam betont in starkem Maße das Teilen und die Berücksich-tigung der Interessen anderer. Materialismus kann sich nur dannausbreiten, wenn die Religion ehlt; und in der Tat ist der Materi-alismus keine Philosophie, sondern ein Anzeichen menschlichenNiedergangs – er ist nicht Weisheit, sondern Krankheit.

In unserer heutigen Gesellschat inden sich unter jenen Acht-losen, die keinen Glauben haben, viele, die ihren Verstand miss-brauchen, oder unähig sind, die Grenzen ihrer ün Sinne zu er-

kennen. Sie meinen, alles was ihre Wahrnehmungsähigkeit über-steigt, ablehnen zu müssen. Au diese Art von unwissenden Leug-nern geht der Qur’ān mit olgenden Worten ein: {Sieht der Menschdenn nicht, dass Wir ihn aus einem Samentropen erschaen haben? Und dann erweist er sich als oenkundiger Wider sacher.}135

135. Qur’ān, 36:77.

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Diese Leugner entgegnen jenen, die versuchen, sie zu ermahnenoder auzuklären, weil die inneren Welten in ihren Herzen tot sind,mit Aussagen wie: „Wir leben im Zeitalter der Wissenschat, all dassind nichts anderes als alte Geschichten!“, und ähnlichen dumm-dreisten Sprüchen. Au ihresgleichen beziehen sich die WorteAllāhs, des Erhabenen: { Als ihre Gesandten mit deutlichen Zeichenzu ihnen kamen, rohlockten sie über ihr eigenes Wissen – bis siedann das erasste, worüber sie zu spotten pegten.}136

Der größte Aktivposten, den wir unseren Kindern hinterlas-

sen können, besteht in einer Erziehung, die sie in die Lage versetzt,ewige Glückseligkeit im Jenseits zu erwerben! Deshalb sollten wirsie in islamische Bildungseinrichtungen schicken und damit zu-gleich verhindern, dass diese aus Mangel an Schülern geschlossenwerden. Nur durch eine Erziehung zu den Werten des Glaubenskönnen wir gesellschatlichen Übeln wie Charakterlosigkeit, Un-wissenheit, Terror und Anarchie Einhalt gebieten und zu einem

Leben in innerem und äußerem Frieden beitragen. Und Allāh, derErhabene, sagt: {Und Wir senden vom Qur’ān hinab, was Heilung und Barmherzigkeit ür die Gläubigen ist; den Frevlern aber bringt es nur noch größeren Verlust.}137, und in einem weiteren Vers heißtes: { Allāh gehören die Schätze der Himmel und der Erde. Doch dieHeuchler begreien es nicht.}138

Wir sollten deshalb nicht unseren weltlichen Interessen Vor-rang gewähren, sondern unsere wichtigste Sorge sollte der Zukuntunserer Kinder im Jenseits gelten. Eine der Schwächen der musli-mischen Gemeinschat unserer Zeit besteht darin, dass viele ihrerMitglieder – aus einer Besessenheit von weltlichen Interessen – beider Erziehung ihrer Kinder ot die alschen Weichen stellen. Das

136. Qur’ān, 40:83.137. Qur’ān, 17:82.138. Qur’ān, 63:7.

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Zeugnis der Geschichte belegt, dass jene, die an erster Stelle be-müht waren, dem Weg Allāhs, des Erhabenen und Seines Gesand-ten – Segen und Friede seien au ihm –, dem Weg der Rechtscha-enen und Wahrhatigen zu olgen, neben dem Wohlgeallen Allāhsauch in weltlicher Hinsicht mit großen Erolgen gesegnet wurden.Und Allāhs Gesandter – Segen und Friede seien au ihm – verkün-dete: „Wahrlich, Allāh, der Erhabene, erhöht manch ein Volk durchdiesen Qur’ān, während Er andere erniedrigt!“139

Diese Welt, die am stärksten von den beiden Eigenschaten des

All-Gnädigen [al-Rahmān] und All-Barmherzigen [al-Rahīm] ge-prägt ist, gleicht einer, mit den Maniestationen aller göttlichen Na-men reich gedeckten, Tael. Während wir augrund der göttlichenGunst Allāhs an dieser köstlichen Tael sitzen düren, sollten wirnicht vergessen, dass wir eines Tages austehen und davon wegge-hen müssen. Dabei düren wir nicht vergessen, uns an die an dieserTael geltenden Regeln zu halten. An dieser gleichnishaten Tael er-

reuen sich Rechtschaene und Frevler gleichermaßen, doch einesTages werden wir alle, wie es versprochen wurde und der Wahrheitentspricht, ins Jenseits hinübergehen. Dort wird Allāh, der Erhabe-ne, der Besitzer grenzenloser Macht, Gericht halten.

Wir sollten uns selbst ür unsere Handlungen zur Rechenschatziehen, bevor wir von Allāh im Jenseits zur Rechenschat gezogenwerden, denn der unausweichliche Tag des göttlichen Gerichts istkein gewöhnlicher Tag. Seine Schrecken werden im Edlen Qur’ānmit den Worten beschrieben: {Wahrlich, wir ürchten von unseremHerrn einen nsteren, unheilvollen ag! }140, und: { An jenem agewird der Mensch sagen: „Wohin könnte ich iehen?“ }141 Und Allāh,der Erhabene, warnt uns in Seiner grenzenlosen Barmherzigkeit

139. Überlieert in Sahīh Muslim und Ibn Mājahs Sunan.140. Qur’ān, 76:10.141. Qur’ān, 75:10.

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ür die Menschheit vor den Fährnissen und tragischen Ereignissen jenes Tages, damit er uns nicht unerwartet überrascht:

{O ihr, die ihr glaubt, hütet euch selbst und eure Angehörigenvor einem Feuer, dessen Brennsto Menschen und Steine sind,über welches harte und strenge Engel wachen, die Allāh gegen-über in dem, was Er ihnen be ehlt, nicht ungehorsam sind,sondern stets tun, wie ihnen geheißen wird.}142

Das beste Wort ist das Wort Allāhs und die beste Rechtleitung istder lichtstrahlende, segensreiche und gesegnete Weg des Prophe-ten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden! Dasbeste Erbe sind diese beiden heiligen Hinterlassenschaten (d.h. derQur’ān und der Weg des Propheten).

Möge Allāh, der Erhabene, uns Herzen gewähren, die von Gottes-urcht erüllt sind und Ihm dienen, als würden sie Ihn sehen! MögeAllāh uns die Krat geben, dem Weg des Qur’ān und Seines Prophe-ten – Segen und Friede seien au ihm – zu olgen, womit die Rei-se jener beginnt, die das Paradies und das göttliche WohlgeallenAllāhs zum Ziel haben.

Und möge Allāh, der Erhabene, es uns leicht machen, die edlenCharaktereigenschaten unseres ehrwürdigen Propheten Mu-

hammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – im Geisteislamischer Geschwisterlichkeit zu verwirk lichen!Āmīn!

142. Qur’ān, 66:6.

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Ihsān143 wa Murāqaba – Vorzüglichkeit und Wachsamkeit

Tasawwu bedeutet, sich als Diener Allāhs ständig bewusst

zu sein, dass man sich in Seiner Gegenwart beindet. Nur

 jene Gottesdiener, die in diesem Bewusstsein leben, sind ä-

hig, all ihren Obliegenheiten, sowohl gegenüber ihrem Schöper, als

auch gegenüber Seinen Geschöpen, nachzukommen. Jede Seele lebtim Angesicht der Realität, die Allāh, der Erhabene, mit den Worten

 verkündet: {Und Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader! }144

Diesen Zustand der Bewusstheit bezeichnet man als Zustand

der Vorzüglichkeit [ihsān] und Wachsamkeit [murāqaba]. Wer sich

in diesem Zustand beindet, vergisst nie, dass er sich unter Allāhs

Beobachtung beindet und dass all seine Handlungen und Gedan-

ken Ihm bekannt sind. Diese Position ist wie ein starker Schutz-schild, der den Menschen vor dem Begehen von Sünden bewahrt,

denn man kann schwerlich Sünden begehen, während man sich in

der Gegenwart Allāhs beindet und das Herz Ihn mit den Worten

„O mein Herr!“ anrut.

Schon wenn er sich von anderen Personen beobachtet weiß, hält

der Mensch sich gewöhnlich von Sünden ern – selbst wenn jene

nicht die Macht haben, ihn zu bestraen. Kann so ein Mensch, wenner wirklich den beschriebenen Zustand der Vorzüglichkeit und der

Wachsamkeit empindet, bewusst dem Willen des Allmächtigen

143. Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – denierte denBegrif Ihsān mit den Worten: „Es bedeutet, Allāh so zu dienen, als würdestdu Ihn sehen; und auch wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich doch gewiss.“(Überlieert in Sahīh al-Bukhārī und Sahīh Muslim)

144. Qur’ān, 50:16.

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zuwiderhandeln? Niemals! Im Folgenden indet sich ein äußersttreendes Beispiel daür aus der Zeit der Prophetengeährten:

Eines Nachts ging der Kali ‘Umar – möge Allāh mit ihm zuriedensein –, wie es seine Gewohnheit war, durch die Straßen von Me-dina. Plötzlich blieb er stehen, weil er unbeabsichtigt Ohrenzeugeeines Streitgesprächs zwischen einer Mutter und ihrer Tochter wur-de, das seine Aumerksamkeit erregte. Die Mutter sagte zu ihrerTochter:

„Verdünne die Milch, die wir morgen verkauen wollen, einwenig mit Wasser!“

Die Tochter antwortete:

„Mutter, hast du nicht gehört, dass der Kali untersagt hat, die

Milch zu verdünnen?“

Die Mutter wurde ärgerlich und sagte:

„Tochter, woher sollte es der Kali denn erahren, wenn wir zudieser nächtlichen Stunde die Milch verdünnen?“

Doch die Tochter, in deren Herz die Furcht vor Allāh lebendig war,wollte ihrer Mutter nicht darin olgen und sagte:

„Mutter, ich behaupte nicht, dass der Kali uns sehen kann,aber was ist mit Allāh? Meinst Du, dass auch Er uns nichtsieht? Wir können diesen Schwindel vielleicht vor den Leu-ten verbergen, aber unmöglich vor Allāh, dem All-Hörendenund All-Sehenden!“

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Ihsān wa Murāqaba – Vorzüglichkeit und Wachsamkeit

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Die Art, wie das Mädchen, dessen Herz mit göttlicher Wahrheiterüllt war, seiner Mutter voller Respekt und Furcht vor Allāh ant-wortete, berührte ‘Umars Herz – möge Allāh mit ihm zuriedensein. Der  Amīr al-Mu’minīn, der Führer der Gläubigen, erkannte,dass sie über außergewöhnliche Gottesurcht verügte und mach-te sie deshalb später durch Heirat mit einem seiner Söhne zu sei-ner Schwiegertochter. Aus dieser Abstammungskette wurde später‘Umar ibn ‘Abd al-‘Azīz geboren, der auch als ünter rechtgeleiteterKali bezeichnet wird.

Der entscheidende Punkt an dieser Geschichte ist, dass manstets, wo immer man sich auch beinden mag, im Zustand derWachsamkeit, das heißt, im Bewusstsein der Gegenwart Allāhs le-ben sollte. Im Edlen Qur’ān heißt es dazu: {Und Er ist mit euch, woimmer ihr seid – und Allāh sieht genau was ihr tut! }145

Allāh, der Allmächtige, ist zu jeder Zeit mit jedem seiner Ge-schöpe und Er kennt alle Handlungen Seiner Geschöpe; Er be-

obachtet sie und Er ist ihr Hüter. Zu denken, dass er in Unkennt-nis seiner Geschöpe wäre, würde Allāh eine Schwäche zuschrei-ben – und Er ist erhaben über jegliche Art von Schwäche! Wennder Mensch sich dieser Realität in dem Maße bewusst wäre, wieer sollte, könnte er den spirituellen Weg mit Leichtigkeit beschrei-ten. Er würde die Angelegenheiten dieses vergänglichen Lebenshinter sich lassen und sich nur noch ür die spirituellen Dingeinteressieren. Das Geühl, mit Allāh zu sein, würde ihn ständig in

einem Bewusstseinszustand halten, der es ihm leicht macht, seinHerz vom Rost des Weltlichen zu reinigen.

Von einem der Gottesreunde wird berichtet, dass er sagte:„Ein Reisender, der au dem Bahnho einschlät, wird seinen Zug

 verpassen. Die Welt ist wie ein Bahnho, und wir müssen wachsein, um in den richtigen Zug zu steigen.“ Zu spüren, dass Allāh

145. Qur’ān, 57:4.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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bei uns ist, erüllt uns einerseits mit Ehrurcht, andererseits ist es

dem Gläubigen ein Trost, Seine Nähe zu empinden. Der olgendeQur’ānvers beschreibt diese Nähe:

{Siehst du denn nicht, dass Allāh alles weiß, was in den Him-

meln ist, und alles, was au Erden ist? Es gibt keine geheime

Unterredung zwischen Dreien, bei der Er nicht der Vierte wäre,

noch eine zwischen Fünen, bei der Er nicht der Sechste wäre,

noch zwischen weniger oder mehr als diesen, ohne dass Er mit 

ihnen wäre, wo immer sie sind. Dann wird Er ihnen am age

der Auerstehung verkünden, was sie getan haben – wahrlich,

 Allāh weiß über alle Dinge Bescheid.}146

Eine weitere in diesem Zusammenhang interessante Begebenheitwährend der Herrschatszeit des Kalien ‘Umar – möge Allāh mit

ihm zurieden sein – ereignete sich, als dieser Mu‘ādh zu den Banū

Kilāb entsandte, um dort Gelder aus der Staatskasse auszuzahlen,Güter zu verteilen und die von den Wohlhabenden eingenomme-nen Gelder aus der Zakāt an die Bedürtigen zu verteilen:

Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zurieden sein – plegte jede sei-ner Missionen mit größter Sorgalt auszuühren, und anschließendmit schönen Erinnerungen daran, wie er die Herzen der Menschen

gewonnen hatte, zurückzukehren. Als er diesmal zurückkam, waralles, was er an weltlichem Besitz mitbrachte, ein Stück Sto, mitdem er seinen Nacken vor der Sonne und dem Staub schützte; unddieser Schal war genau der, den er schon getragen hatte, als er au-gebrochen war. Seine Frau hielt dies nicht länger aus und sagte zuihm: „Leute wie du, die solche Augaben ausühren, sollten bezahlt

146. Qur’ān, 58:7.

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Ihsān wa Murāqaba – Vorzüglichkeit und Wachsamkeit

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werden. Und sie sollten ein paar Geschenke ür ihren Haushalt mit-bringen! Also, wo sind unsere Geschenke?“

Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zurieden sein – erwiderte: „Ichhatte die ganze Zeit einen Auseher an meiner Seite, der über alleAusgaben und Einnahmen genau Buch ührte.“

Als sie das hörte, wurde seine Frau ärgerlich und sagte: „DerGesandte Allāhs – möge Allāh mit ihm zurieden sein – hat dir stetsin allen Dingen vertraut, und ebenso Abū Bakr. Nun ist ‘Umar ander Reihe, und er schickt einen Auseher mit dir? Traut er dir etwa

nicht?“Ihre Worte kamen zuerst ‘Umars Eherau zu Ohren und durch

sie eruhr ‘Umar davon. Der ließ Mu‘ādh zu sich ruen und ragteihn vorwursvoll: „Was höre ich da? Ich soll dir einen Auseher mit-geschickt haben? Meinst du, ich würde dir nicht trauen?“

Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zurieden sein – antwortete in vielsagender Weise: „O Führer der Gläubigen! Mir iel keine andere

Entschuldigung ein, die ich meiner Frau gegenüber hätte vorbrin-gen können. Wenn ich von einem Auseher sprach, war damit auchnicht einer deiner Auseher gemeint, sondern die Ausicht Allāhs,unter der ich stehe. Sie ist auch der Grund, weshalb ich nichts ürmeine Dienste nehmen will.“

Da verstand ‘Umar – möge Allāh mit ihm zurieden sein – sei-ne Absicht, und dass Mu‘ādh in der Tat über alle egoistischen oderweltlichen Interessen erhaben war. Er gab ihm einen Betrag ausseinem eigenen Besitz als Geschenk und sagte: „Nimm dies undbesäntige damit deine Familie!“

Die Lehre, die wir aus dieser Geschichte ziehen können, ist, dasswir stets in einem Zustand von Wachsamkeit leben sollten. Wirmüssen uns zu jeder Zeit bewusst sein, dass unser Herr uns be-obachtet. Es ist nichts Außergewöhnliches, dass jemand, der ür

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wohltätige Zwecke arbeitet, daür bezahlt wird. Doch die Haltungdes ehrwürdigen Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zurieden sein –ist ein Ausdruck höchster Vortrelichkeit und Tugend, und auchür diejenigen, die ür ihre Tätigkeit in wohltätigen Organisationenbezahlt werden, besteht die Möglichkeit, durch über ihre bezahlteZeit hinausgehende, zusätzliche Arbeit um Allāhs Willen, in der

 von Mu‘ādh praktizierten Weise Vortrelichkeit und Tugend zubeweisen. Sie sollten sich von Zeit zu Zeit selbst überprüen undihr eigenes Ego zur Rechenschat ziehen, wobei sie den warnenden

Ratschlag des Kalien ‘Umar – möge Allāh mit ihm zurieden sein– beherzigen düren: „Ziehe dich selbst zur Rechenschat, bevor du(am Jüngsten Tag) zur Rechenschat gezogen wirst!“

Der olgende Ausspruch des Propheten – Allāh segne ihn undschenke ihm Frieden – erinnert uns daran, wie wichtig es ist, Allāhszu gedenken und stets wachsam zu sein:

„Verschwendet eure Zeit nicht mit eitlem Geschwätz, in demihr Allāh vergesst! Denn viel zu reden und dabei Allāh zu ver-gessen, lässt das Herz absterben; und derjenige, dessen Herzabgestorben ist, ist am weitesten enternt von Allāh!“147

Deshalb sollten wir den ganzen Tag über wachsam sein, wobei je-doch vor allem die Zeit vor der Morgendämmerung [sahar ] unddie Zeit des Morgengebets [ ajr ] besonders gesegnet sind. Die in

dieser Zeit erahrenen speziellen Momente sollten das Vorbild ürunseren ganzen Tag sein. Wer in dieser Weise die Zeit vor der Mor-gendämmerung und seinen Tag nutzt, damit Allāh, der Erhabene,mit ihm zurieden ist, dem wird die Stue dessen zuteil, au dem dasWohlgeallen seines Herrn [maqām mardāt al-Rabb] ruht. In sei-nem Herzen inden sich keine schlechten Veranlagungen mehr; es

147. Überlieert von al-Tirmidhī in al-Zuhd .

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ist, als wären sie weggebrannt, wie Reisig von durch eine Linse ge-

bündelten Sonnenstrahlen. Au diese Weise erwachsen anstelle derschlechten Veranlagungen durch Maniestation der göttlichen Ei-

genschaten der Schönheit gute Veranlagungen, sodass all die vom

Schöper ür Seine Geschöpe bestimmten positiven Eigenschaten

wie Mitgeühl, Barmherzigkeit, Liebe, Großzügigkeit, Versöhnlich-

keit, Liebenswürdigkeit und Empindsamkeit in einem Zustand

tieer Freude erahren werden können. Ein solcher Mensch zieht

sein Ego in bestmöglicher Weise zur Rechenschat und beobachtet

es voller Wachsamkeit: Mit jedem Atemzug schaut er au seinen

Daseinszweck in dieser Welt und achtet sorgältig darau, nicht in

die Fallen seines Egos und Schaytāns zu allen. Sein Herz ist ständig

mit seinem Herrn. In einem Vers des Edlen Qur’ān heißt es: {Und 

wisset, dass Allāh zwischen den Menschen und sein Herz kommt! }148

Ein Diener Allāhs, au den diese Beschreibung zutrit, genießt

die wahre Süße des Glaubens. Allāh macht ihn zu einem Erben di-

rekt gottgegebenen Wissens, und der Mensch beginnt, die Seitenim Buch der Schöpung zu entziern, und Weisheit und Geheim-

nisse werden ihm enthüllt. Allāh, der Erhabene, sagt: {So ürchtet 

 Allāh, und Allāh wird euch lehren! }149

Es ist der Zustand der Wachsamkeit, der den Propheten Yūsu 

– au ihm sei der Friede – davor bewahrte, den Verührungsküns-

ten einer schönen, angesehenen und wohlhabenden Frau zu wider-

stehen. Es waren seine Vorzüglichkeit und seine Wachsamkeit, dieihn davor retteten, in diese Falle zu gehen. In genau solcher Weise

sollte die Empindung von Ihsān est in unseren Herzen verankert

sein, so dass sie sich in unseren Handlungen widerspiegelt und zur

Vereinigung mit dem wahren Geliebten ührt. Andernalls bleiben

148. Qur’ān, 8:24.149. Qur’ān, 2:282.

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der Zustand der Wachsamkeit und die Empindung der Vorzüg-

lichkeit leere Worte, die dem Herzen keinerlei Gewinn einbringen.Das Geühl der Liebe muss vom Vergänglichen hin zum Ewi-

gen gerichtet werden. Wenn dann diese Liebe au Allāh ausgerich-

tet ist, wird der Gottesdiener ähig, die Stue rommer Weltentsa-

gung [zuhd ] zu erklimmen. Au dieser Stue wird weltlicher Besitz

bedeutungslos; sein Wert besteht nur noch darin, dass man ihn

weggeben kann [ināq]. Denn das Herz indet seine Nahrung in

der Liebe zu Allāh und im Trinkbecken [kauthar ] rechtscha ener

Taten [‘amal sālih]. Ein solches Verhalten bereitet dem Geliebten in

der Tat Freude! So, wie ein Fluss, der ins Meer ließt, seine eigene

Strömung und Färbung augibt, und stattdessen die Farbe des Mee-

res annimmt und in dessen harmonischem Wogen augeht, gilt dies

auch im Hinblick au die Stue der Vorzüglichkeit [ihsān]: wenn der

Mensch sich vollkommen Allāh hingibt, treten Seine wunderbaren

Eigenschaten durch diesen Menschen in Erscheinung.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann man sagen, dass dieStue der Vorzüglichkeit der Kern oder die Quintessenz des Glau-

bens ist. All die erstrebenswerten Aspekte des Gottesdienstes und

rechtschaenen Handelns, wie Demut, Aurichtigkeit, Gottesurcht

und andere Früchte der Erkenntnis, haben ihre Grundlage in dieser

Vorzüglichkeit. Denn jede – in dem Bewusstsein, von Allāh beob-

achtet zu werden, verrichtete – rechtschaene Tat bringt Zweige

der Aurichtigkeit, Blüten der Gottesurcht und Früchte demütigerErgebenheit hervor. Au dem rechten Weg zu sein und sich von

Sünden ern zu halten setzt voraus, sich mit der Empindung „Mein

Herr sieht mich“ der Allgegenwart Allāhs, des Erhabenen, bewusst

zu sein und sich dementsprechend zu verhalten – und das nicht

nur in der Gegenwart anderer Menschen, sondern auch wenn man

alleine ist.

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Aus diesem Grund sind alle Grundlagen und Praktiken des asaw-

wu darau ausgerichtet, das Herz in die Lage zu versetzen, dieseStue der Vorzüglichkeit [maqām al-ihsān] zu erreichen. Und doch

 verbringen die Gottesreunde ihr ganzes Leben damit, nach diesem

Zustand zu streben.

Eines Tages wurde Uways al-Qarānī von seiner Mutter geragt: „O

mein Sohn, wie kannst du die ganze Nacht im Gottesdienst ver-

bringen? Wie hältst du das durch?“

Uways al-Qarānī antwortete: „O meine liebe Mutter! Ich diene

Allāh mit größter Sorgalt. Mein Herz önet sich in Frömmigkeit

so weit, dass ich weder Müdigkeit verspüre, noch meine Körper-

teile wahrnehme. Dabei merke ich gar nicht, wie lang die Nacht ist

– und au einmal ist es schon Morgen.“

Da ragte seine Mutter: „Und was ist diese Sache im Gebet, die

Khuschū‘ [demütige Ergebenheit] genannt wird?“

Er antwortete – möge Allāh mit ihm zurieden sein: „Dass dieSeele nicht einmal bemerkt, wenn durch den Körper ein Speer ge-

stoßen wird.“

Ein weiteres, zu diesem Thema passendes, berühmtes Ereignis aus

der Geschichte des Islam ist das olgende:

Im Verlau einer Schlacht wurde ‘Alī – möge Allāh mit ihm zurie-den sein – verletzt, indem ein Speer seinen Fuß durchbohrte. Seine

Geährten versuchten, diesen herauszuziehen, doch trotz aller Be-

mühungen gelang es ihnen nicht. Schließlich sagte der ehrwürdige

‘Alī – möge Allāh sein Antlitz erstrahlen lassen: „Wenn ich das Gebet

 verrichte, dann zieht ihn heraus!“ Und sie taten, was er gesagt hatte,

und konnten den Speer mit Leichtigkeit enternen. Nachdem er sein

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Gebet mit dem Friedensgruß beendet hatte, ragte ‘Alī sie: „Was habtihr getan?“ Und sie sagten: „Wir haben den Speer herausgezogen.“Wie sich an diesem Fall erkennen lässt, spürte der ehrwürdige ‘Alī –möge Allāh mit ihm zurieden sein –, während er in seinem Gebet

 vollkommen in demütiger Ergebung und spiritueller Verzückung versunken war, weder seinen Körper, noch empand er irgendetwas von dem, was in der Welt des Diesseits um ihn herum geschah.Dies ist ein weiteres klares und deutliches Beispiel ür die Stue derVorzüglichkeit und den Zustand der Wachsamkeit.

Die Freuden des Gebets zu erleben, ohne jemals dabei zu er-müden, ist nur demjenigen möglich, der die Stue der Vorzüglich-keit erreicht hat. Derjenige hingegen, dessen Herz nicht von Ihsānerüllt ist, wird im Gebet schnell müde und es ällt ihm schwer zubeten. Wenn ein solcher Mensch wohlhabend ist, werden ihm auchdas Entrichten der Plichtabgabe [zakāt ] und das Geben von Spen-den [sadaqa] schwer allen. Denn derjenige, der ern der Empin-

dung göttlicher Nähe lebt, kann nichts von der Süße des Glaubensschmecken.Aus diesen Beispielen können wir schließen, dass voller Aurich-

tigkeit verrichtete Gebete, von Herzen gegebene Spenden, reudig vollührtes Fasten und eine voller Liebe durchgeührte Pilgerahrt,allesamt Folgen dieses als Ihsān bezeichneten Zustandes der Vorzüg-lichkeit sind.

Sich in diesem Zustand der Vorzüglichkeit und Wachsam-keit zu beinden, ist nur durch Gottesgedenken möglich. Denn esist das Gedenken Allāhs, welches den Verstand und das Herz mitAllāh verbindet und die Erkenntnisähigkeit stärkt. Aus diesemGrund sprach Allāh, der Erhabene, als er Mūsā und dessen BruderHārūn – au ihnen beiden sei Friede – zu Fir‘aun [Pharao] sandte,zu Mūsā:

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{Geh du und dein Bruder mit Meinen Zeichen hin; und lasst nicht nach in Meinem Gedenken! }150

Viele Verse im Edlen Qur’ān ordern zum Gedenken Allāhs au,doch der olgende Vers allein sollte schon ausreichen, um die Wich-tigkeit des Gottesgedenkens zu erkennen. Das Gedenken Allāhsist die Politur des Herzens und das Rezept zur Erlangung innerenFriedens, wie Allāh, der Erhabene, es verkündet, wenn Er sagt:

{Fürwahr, im Gedenken Allāhs nden die Herzen Frieden.}151

Ein Herz, das im Gedenken Allāhs Frieden geunden hat, wird zueinem Ort, an dem sich der göttliche Blick maniestiert. Ein solchesHerz ist sich der Geheimnisse bewusst, die in dem Vers zum Aus-druck kommen:

{ An jenem a ge werden weder Besitz noch Nachkommen

nützen, sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzenerscheint.}152

Diesen Rang zu erreichen, verlangt jedoch, dass man die Barrie-ren des Egos überwindet, und durch Gedenken Allāhs, aurichtigeReue, romme Weltentsagung, Gottvertrauen, Genügsamkeit, Ge-duld, Wachsamkeit und ähnliche Zustände und Erahrungen zurVervollkommnung des Herzens heranreit.

Zusammenassend können wir die Religion im Allgemeinen inzwei grundlegende Aspekte einteilen: Rechtliche Aspekte, welchedie Säulen des Gebäudes darstellen, und Aspekte der Gottesurcht[taqwā], welche die Zierde der Säulen ausmachen. asawwu bringt

150. Qur’ān, 20:42.151. Qur’ān, 13:28.152. Qur’ān, 26:88-89.

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diese beiden Aspekte zusammen, erklärt in verständlicher Weisedas Leben, den Menschen und das Universum, sowie die Weis-heit, die den verschiedenen Plichten zugrunde liegt, und bewirktso ein tieer gehendes Verständnis. asawwu  bedeutet, einen Is-lam zu leben, der von Vorzüglichkeit und Wachsamkeit, sowie vonMaßstäben wie Aurichtigkeit, Weltverzicht, Gottesurcht, Hinga-be und Liebe geprägt ist. Nach einer anderen Deinition bedeutetasawwu , das dreiundzwanzig Jahre dauernde Prophetentum desehrwürdigen Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien au ihm

– nachzuempinden; sowie im Besonderen jenes, sein erhabenesLeben resümierendes Jibrīl-Hadīth, in dem Glaube [īmān] undVorzüglichkeit [ihsān] deiniert werden, in unserem Leben wider-zuspiegeln. asawwu bedeutet darüber hinaus, wie schon erwähnt,gemäß den Geboten zu handeln, die Allāh den Gläubigen durch diePerson Seines Gesandten – Allāhs Segen und Friede seien au ihm– verkündet hat, so wie es in dem Qur’ānvers heißt: {So halte est an

rechtschaener Beharrlichkeit, wie es dir augetra gen ward! }153

 Wie schon oben erwähnt, war es eben dieser Vers, der die Haaredes Propheten ergrauen ließ. Dabei ist zu berücksichtigen, dass derGesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – in der dreiund-zwanzig Jahre dauernden Zeitspanne seines Lebens als Prophet an

 vielen Kriegen teilnahm und ot tagelang hungerte. Er verlor seineEherau Khadīja und seinen Onkel Hamza, der ihn vor der Verol-gung durch die Götzenanbeter beschützt hatte, und von seinen sechs

Kindern starben ün zu seinen Lebzeiten. All dies ertrug er zuriedenund in vollkommen demütiger Unterwerung. Doch die Qur’ānsureHūd , die den Vers {So halte est an rechtschaener Beharrlichkeit, wiees dir augetra gen ward! } enthält, war das, was ihn nach seinen eige-nen Worten altern ließ.154

153. Qur’ān, 11:112.154. Überlieert von al-Tirmidhī in seinem Sunan.

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Der Weg zu Allāh ist lang und schmal und voller Prüungen undVersuchungen. Er bringt so viele Verantwortungen mit sich, dassdarob selbst ein Prophet ergraute. Die Gottesreunde gestehen, an-gesichts der endlosen Maniestationen des Göttlichen, ihre Unä-higkeit ein, wirklich vollkommene Diener Allāhs zu sein, indem siemit den Worten Seines ehrwürdigen Gesandten – Segen und Friedeseien au ihm – sagen: „O Herr, wir sind unähig Dich in der Weisezu erkennen, wie es Dir gebührt, dass wir Dich erkennen…“155

Angesichts dieser Tatsache sollten wir in Bezug au die Stu-

e der Vorzüglichkeit [ihsān] und den Zustand der Wachsamkeit[murāqaba] einmal über uns selbst nachdenken. Wenn wir dannerkannt haben, dass Allāh in jedem einzelnen Augenblick überuns wacht, sollten wir uns dem Beispiel Seines Propheten – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden – olgend, der die vollkom-menste Verkörperung dieser Eigenschaten war, daran machen,rechtschaene Beharrlichkeit zu verwirklichen. Doch wie groß war

seine Standhatigkeit und Geduld? Und wie groß die unsere? Wiegroßzügig und loyal war er? Und wie großzügig und loyal könnenwir sein? Wie waren seine Gebete, sein Fasten, seine Pilgerahrt,seine Abgaben und Spenden, sein Glaubensbekenntnis? Und wiesind die unseren? Wie engagiert war er im Dienste au dem WegAllāhs? Und wie engagiert sind wir? All diesen Fragen sollten wiruns ernsthat stellen!

Kurz gesagt, sollten wir unsere Lebensührung im Lichte all

dieser vergleichenden Gegenüberstellungen zum Leben des Pro-pheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – organisieren,denn er ist das beste Vorbild an Rechtschaenheit ür die Mensch-heit bis zum Jüngsten Tag. Und er ist unser wichtigster Zeuge undFürsprecher, im Diesseits und im Jenseits. Um wirklich den Zu-stand der Vorzüglichkeit und Wachsamkeit zu erreichen, sollten

155. Überlieert in al-Munāwīs Fayd al-Qadīr , Bd. II, 520.

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wir uns vorbereiten, indem wir unser Ego [nas] läutern und unserHerz reinigen, gemäß den Worten Allāhs, des Erhabenen:

{In der at erolgreich ist der, der es (das Ego) läutert! }156

Dabei sollten die olgenden Punkte sorgältig beachtet und umge-setzt werden:

– gewissenhat au rechtmäßiges Einkommen achten,– die Rechte der Menschen und anderer Geschöpe Allāhs ach-

ten,– die Zeit vor der Morgendämmerung [sahar ] mit Gottesdienst

 verbringen,– das tun, was Allāh geboten hat und das unterlassen, was Er

 verboten hat,– Verantwortung im sozialen Bereich übernehmen,– um Allāhs willen wohltätig sein,

– das Zusammensein mit den Rechtschaenen plegen,– sich vom Qur’ān anrühren lassen und im Dienste des Qur’ānaktiv sein,

– das Gedenken Allāhs im Herzen verankern,– sich von schlechten Charaktereigenschaten (wie übler

Nachrede, Egoismus, Verschwendungssucht, Lügen, Neid,alschem Ehrgeiz, Augendienerei, Machtstreben und derglei-chen mehr) ern halten, und

– das Denken an den Tod und das Atmen im Bewusstsein derGegenwart Allāhs – bis zu unserem letzten Atemzug.

Zweielsohne ist der Prophet Muhammad – Allāh segne ihn undschenke ihm Frieden – das beste Vorbild ür uns, wie wir im Zu-stand der Vorzüglichkeit und Wachsamkeit leben können. An zwei-

156. Qur’ān, 91:9.

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ter Stelle, nach ihm, olgen seine Erben, die Gottesreunde, derenLeben in dieser Hinsicht ebenalls als Richtschnur dienen kann.Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlu, der uns vor mittlerweileüber zwanzig Jahren verlassen hat, war eines der denkwürdigstenBeispiele daür.157 Er ührte ein Leben, das durch und durch vonder Zierde dieses Zustandes von Ihsān und Murāqaba geprägt war;und er übertrug dieses Licht auch au seine Schüler. Wir gedenkenseiner und bitten Allāh, den Erhabenen, um Seine Barmherzigkeitund Gnade ür ihn!

Möge Allāh uns dabei helen, ein Leben im Zustand der Vorzüg-lichkeit und Wachsamkeit zu ühren!

Āmīn!

157. Eine vom Vater des Autors, Scheikh Musa Topbaş Eendi, verasste Biog-raphie Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlus liegt seit 2008 in einer vomErkam Verlag herausgegebenen deutschen Übersetzung unter dem TitelSultān al-‘Āriīn – Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlu vor.

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Die menschliche Wirklichkeit

Allāh, der Allmächtige, hat – wie Er ihm Edlen Qur’ān verkün-det – alles in dieser Welt ür den Menschen erschaen: {Und Er hat euch dienstbar gemacht, was in den Himmeln und au Erden ist;alles ist von Ihm – darin sind wahrlich Zeichen ür Menschen, die

nachdenken.}158 Zugleich hat Er der Menschheit jedoch auch ge-wisse Plichten und Verantwortungen auerlegt. Im Hinblick dar-au sagt Er: {Oder meint der Mensch etwa, er wäre ganz sich selbst überlassen? }.159

Allāh, der Erhabene, hat den Strom des Lebens entsprechendeiner einen Balance zwischen Freiheit und Verantwortung justiert,indem Er sowohl ür das ganze Universum als auch ür die Men-

schen bestimmte göttliche Regeln estgesetzt hat. Im olgendenVers gebietet Allāh, der Erhabene, deshalb der Menschheit, sich inharmonischer Weise in die gesamte Schöpung einzuordnen: {Er hat den Himmel hoch augerichtet und die Waage augestellt, au dassihr das Maß nicht über schreitet.}160

Jene, die sich des Geheimnisses unserer Existenz in dieser Weltnicht bewusst sind, können nicht zur Harmonie mit der göttlichenOrdnung und der Schönheit, die Allāh, der Allmächtige, erschaenhat, inden, weil sie zu sehr an dieser Welt und deren vergänglichenFreuden hängen. Sie verschwenden bedauerlicherweise ihr ganzesLeben damit und verallen au diese Weise in Achtlosigkeit undUnwissenheit.

158. Qur’ān, 45:13.159. Qur’ān, 75:36.160. Qur’ān, 55:7-8.

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Dieses Geheimnis ist verborgen in der Wirklichkeit der Menschen,denen zwei widerstreitende Tendenzen innewohnen: das Gute unddas Schlechte. Diese Tendenzen wurden den Menschen als eineForm göttlicher Prüung gegeben, die nur durch die Existenz al-ternativer Wahlmöglichkeiten sowie unterschiedlicher Charaktere,die entweder zum Guten oder Schlechten neigen, möglich ist.

Um ihre Tendenzen zum Guten zur dominierenden Krat inihrem Leben zu machen, reicht es den Menschen jedoch nicht, al-lein ihre spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten einzusetzen.

Denn wäre dies der Fall, hätte Allāh, der Allmächtige, nicht Ādam– au ihm sei der Friede – als (ersten Menschen und zugleich ers-ten) Propheten zur Menschheit entsandt und ihm die göttlicheWahrheit oenbart, die ihn zu Zuriedenheit und Frieden in dieserWelt und im Jenseits leitete. In der Tat lassen sich alle spirituellenund intellektuellen Fähigkeiten des Menschen leicht sowohl zumGuten als auch zum Schlechten hin manipulieren.

Eine dieser Fähigkeiten ist das rationale Denken. Es gleicht ei-nem zweischneidigen Schwert, mit dem man sowohl Sünden bege-hen als auch tugendhate Taten verrichten kann. Die „vorzüglichsteGestalt“ [ahsanu taqwīm]161 des Menschen lässt sich nicht ohne Be-nutzung des Verstandes erreichen. Doch dieser Verstand kann denMenschen auch au eine Stue ühren, die unterhalb der Stue derTiere liegt. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass der Menschsein Denken einer Disziplin unterwirt. Dies lässt sich mithile der

Anleitung durch die göttliche Oenbarung erreichen; in ande-ren Worten, durch Beolgen der Lehren der Propheten. Wenn derMensch sein Denken von der göttlichen Oenbarung leiten lässt,kann er wirklichen Frieden inden. Wenn nicht, wird er in die Irregeührt werden. Aus diesem Grund braucht der Verstand Führungdurch den göttlichen Willen Allāhs.

161. Zu diesem Begrif siehe S. 31 und Anmerkung 20.

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Im Verlau der Menschheitsgeschichte haben viele hochmütigeMenschen ihren Verstand höchst erolgreich dazu benutzt, anderenSchaden zuzuügen. Dabei rechtertigten sie ihr Tun in der Annah-me, dass diese schrecklichen Taten das Logischste und Vernün-tigste seien, was man tun könne. Als zum Beispiel Hulagu KhānBagdad eroberte und 400.000 Menschen im Tigris ertränkte, plagteihn kein schlechtes Gewissen. Und als die Bewohner Mekkas in der

 vorislamischen Zeit der Unwissenheit, ihrer Gewohnheit entspre-chend, ihre neugeborenen Töchter bei lebendigem Leibe begruben,

störte sie nichts daran, und es gab nichts, was sie an diesem Verhal-ten gehindert hätte. Es war ür sie wie das Fällen eines Baumes: einein ihren Augen vollkommen legitime Handlung, zu der sie jedesRecht hatten.

All diese Menschen hatten Verstand und Geühle, doch, wiebei einer Uhr, die verkehrt herum läut, ührten diese sie in die al-sche Richtung. Solche Beispiele belegen, dass Menschen Geschöpe

sind, die der Führung und Rechtleitung bedüren, da sie sowohlpositive als auch negative Züge in sich tragen. Wenn ihnen dieseRechtleitung nicht unter der Führung der Propheten zuteil wird,werden die Fähigkeiten der Menschen irregeleitet, und sie verwan-deln sich leicht in Mörder, denen eingeredet wurde, sie täten genaudas Richtige. Ein Verstand ohne Rechtleitung gleicht einer dunklenWolke, welche das Gewissen verdunkelt und die Empindungendes Mitgeühls und der Barmherzigkeit blockiert.

Allāh, der Allmächtige, hat die Propheten gesandt, damit sieuns den rechten Weg weisen und uns auzeigen, wie dringend dieMenschheit des Rates, der Rechtleitung und hervorragender Per-sönlichkeiten bedar, um ihr Potential im positiven Sinne entaltenzu können. In der Tat transormierten die Segnungen des Islam diegrausamen Menschen des  Jāhiliyya genannten Zeitalters der vor-islamischen Unwissenheit, die ihre Töchter lebendig begraben hat-

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ten, in barmherzige und mitühlende Wesen, denen beim Anblick der geringsten Ungerechtigkeit die Tränen in die Augen traten.

Allāh, der Erhabene, hat bestimmte Menschen mit hervorra-genden Qualitäten erschaen, wie zum Beispiel die rechtgeleitetenKalien. Und, wie schon erwähnt, hat er den Menschen die Seeleund das Ego [nas] verliehen, die in einem ständigen Widerstreitstehen. Darin besteht die Prüung.

Die Krone der Schöpung, der Mensch, nimmt einen Platz imBereich zwischen der niedrigeren Stue der Tiere und der höhe-

ren Stue der Engel ein. Seine exakte Stellung ist hierbei eine Folgeseiner Anstrengungen und das Ergebnis seines Ringens zwischenSeele und Ego. Inolgedessen ist der Mensch am dringendsten au reinigende Läuterung [tazkiyya] und charakterbildende Erziehung[tarbiyya] angewiesen. Allāh, der Allmächtige, beschreibt im EdlenQur’ān, wie ein Leben ohne diese Läuterung und Erziehung denMenschen au die Stue der Tiere oder noch tieer herabsinken

lässt:

{Gar viele von den Jinnen und den Menschen haben Wir ür dieHölle geschaen. Sie haben Herzen, mit denen sie nicht begrei-

 en; sie haben Augen, mit denen sie nicht sehen; und sie habenOhren, mit denen sie nicht hören. Sie sind wie das Vieh, nein,sie irren noch weiter ab – dies sind die Achtlosen.}162

Die gleichzeitige Schwäche und Stärke des Menschen entstammenden undamentalen Gegensätzen, die in seinem inneren und äuße-ren Leben zu inden sind. Der Mensch hat akzeptiert, jene gottge-gebene Bürde [amāna] au sich zu nehmen, welche selbst die Bergesich weigerten anzunehmen, weil sie die Verantwortung ürchteten.Dies sind Gegensätze, die schwer zu überwinden sind. Der Mensch

162. Qur’ān, 7:179.

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besitzt sowohl Tugenden, die ihn in die Nähe Allāhs emporheben,als auch tödliche Laster, die ihn weit von Allāh ern halten.

Menschen ohne charakterbildende Erziehung, die keinen Friedenim Herzen tragen, häuen in der Welt ihres Inneren tierische Eigen-schaten an. Manche sind wie schlaue Füchse, andere sind raubgierigwie Hyänen, manche arbeitsam wie die Ameisen, andere wiederumwie gitige Schlangen. Manche knabbern in liebenswerter Weise,andere saugen Blut wie Blutegel, und manche lächeln reundlich,während sie ihren eigenen Freunden den Dolch in den Rücken sto-

ßen. All dies sind unterschiedliche Eigenschaten von Tieren. Wennes dem Menschen nicht gelingt, sich aus den Klauen seines Nas zubereien und seine positiven Charaktereigenschaten zum Tragen zubringen, wird er zwangsläuig von seinen negativen Charakterzügenbeherrscht. Manche Menschen besitzen nur eine tierische Charak-tereigenschat, während andere wiederum mehrere in sich vereinen.Für einen Kenner ist es nicht schwierig, diese zu erkennen, denn die

Gesichter spiegeln das Innere der Menschen wider.In dieser Welt leben Menschen mit negativen und positivenCharaktereigenschaten Seite an Seite nebeneinander. Dies ent-spricht etwa – um einen tre enden Vergleich zu bemühen – demerzwungenen Zusammenleben einer Gazelle in einem Stall mitbissigen, wilden Raubtieren. Manchmal lebt ein Geizhals direktneben einem reigiebigen Gönner, ein Schwachkop Seite an Sei-te mit einem weisen Mann, oder ein mitühlender, barmherzigerMensch neben einem, der ein Herz aus Stein besitzt. Geizhälse sindunbarmherzig, eige und drücken sich davor, anderen einen Dienstzu erweisen. Schwachköpe sind unähig, die Weisen zu verstehen;und grausame, herzlose Menschen bilden sich ein, gerecht zu sein,während sie ständig ihre Macht missbrauchen. Menschen mit en-gelsgleichen Seelen leben direkt neben den übelsten ihrer Gattung.Die einen sind bemüht, die Wahrheit des Göttlichen zu erkennen

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Die menschliche Wirklichkeit

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und rechtschaene Gottesdiener zu sein, während die anderen, ih-ren tierischen Instinkten olgend, meinen, ihr Glück bestehe alleinedarin, zu essen, sich zu paaren und einen möglichst hohen Status inder gesellschatlichen Hackordnung zu erringen.

In einer Welt voller derart gegensätzlicher Persönlichkeitenzu leben, ist eine schwierige Prüung ür den Menschen. Doch wirmüssen uns dieser Prüung stellen und sie unbedingt bestehen –denn dies ist in der Tat Ziel unseres Daseins in dieser Welt. Um die-se Prüung zu bestehen, müssen treliche Charak tereigenschaten

entwickelt und zugleich schlechte Charakterzüge abgebaut werden.Wir müssen unser innerstes Wesen mit Tugendhatigkeit erüllen.

Der menschliche Körper entstammt der Erde und wird zu ihrzurückkehren. Da wir auch einige Eigenschaten anderer Geschöp-e besitzen, ist es unerlässlich, dass wir uns selbst durch reinigendeLäuterung [tazkiyya] und charakterbildende Erziehung [tarbiyya]unter Kontrolle bringen – andernalls gibt es ür uns kein Ent-

rinnen vor den zerstörerischen Kräten des uns innewohnendenNas, welche beständig unsere Seele schwächen. Im Qur’ān schwörtAllāh, der Erhabene:

{Bei dem Selbst, und Dem, der ihm seine Gestalt verliehen und ihm dann Sittenlosigkeit oder Gottesurcht eingegeben hat; er-

 olgreich wird gewiss der sein, der es läutert, und verloren ist  gewiss derjenige, der es verkommen lässt.}163

Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī erklärt das Konzept von„richtig“ und „alsch“ in der olgenden Ermahnung:

O Reisender au dem Weg zur Wahrheit, willst du wissen, wasdie Wahr heit ist? Weder Mūsā noch Fir‘aun sind tot. Sie beide

163. Qur’ān, 91:7-10.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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leben in dir. Sie sind in dir verborgen. Sie kämpen ununter-brochen in deinem Inneren. Darum suche nach ihnen in dir selbst! 

Und Rūmī rät:

Gib deinem Körper nicht zuviel an Nahrung, denn er wird amEnde doch der Erde geopert! 

Versuche stattdessen, deiner Seele Nahrung zu geben, denn

sie ist es, die in den Himmel austeigen und der die höchste Ehrezuteil werden wird! 

Gib deinem Körper nur kleine Bissen köstlicher Nahrung,denn wer ihm zuviel davon gibt, wird ein Sklave seines Egosund nimmt ein böses Ende! 

Gib deiner Seele geistige Nahrung, reie Gedanken, eines Ver-

stehen und spirituelle Ernährung, sodass sie, gerüstet mit den tref-

lichsten Fähig keiten, zu dem ihr bestimmten Ort gelangen kann! 

Ein Ego [nas] ohne charakterbildende Erziehung [tarbiyya] gleichteinem Baum, dessen Wurzeln verault sind. Die Anzeichen seinerFäulnis sind an seinen Zweigen, Blättern und Früchten zu sehen.Ebenso spiegeln sich die Krankheiten des Herzens im Körper alsüble Eigenschaten wie Hass, Neid und Arroganz wider. Diese üb-len Charakterzüge sind mit dem Nas verbunden, und die einzigeMöglichkeit, diese Krankheiten zu heilen, besteht im Gehorsam ge-genüber den göttlichen Geboten Allāhs.

Entsprechend den jeweiligen Stuen der Menschen und ihrer vielältigen unterschiedlichen Charaktere ist jedoch die Führungdurch persönliche Vorbilder vonnöten; denn einer der wichtigstenFaktoren bei der Charakterbildung besteht darin, ein Vorbild nach-zuahmen und diesem nachzueiern.

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Īthār – Selbstlosigkeit

‘Abd Allāh ibn Ja‘ar – möge Allāh mit ihm zurieden sein – kam

einmal während einer Reise an einem Dattelhain vorbei. Jemand

hatte dem Verantwortlichen ür diesen Garten, einem schwarzen

Sklaven, gerade drei Brotladen gebracht, als plötzlich ein Hund

autauchte. Der Sklave war dem Hund einen der Brotladen hin,und der Hund verschlang das Brot. Darauhin war der Sklave die-

sem das zweite Brot hin, und er raß auch dieses. Schließlich war 

er ihm auch das dritte Brot hin, und der Hund raß es au. Darau-

hin entspann sich zwischen ‘Abd Allāh und dem Sklaven olgendes

Gespräch:

‘Abd Allāh ragte den Sklaven: „Wie viel beträgt dein Lohn?“

Der Sklave antwortete: „Die drei Brotladen, die du gesehen hast.“

‘Abd Allāh ibn Ja‘ar ragte: „Warum hast du alles diesem Hund ge-

geben?“

Der Sklave sagte: „Normalerweise gibt es hier keine Hunde. Die-ser Hund muss von weit her gekommen sein. Mein Herz konnte es

nicht ertragen, ihn hungern zu lassen.“

Da ragte ‘Abd Allāh – möge Allāh mit ihm zurieden sein: „Und

was wirst du heute essen?“

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Der Sklave antwortete: „Ich werde geduldig sein! Denn meinen Ta-geslohn habe ich diesem hungrigen Geschöp Allāhs vermacht.“

Darau sagte ‘Abd Allāh: „Lobpreis sei Allāh! [subhān Allāh] Vonmir wird behauptet, ich sei sehr reigiebig, doch dieser Sklave ist

 viel reigiebiger als ich!“Inolge dieser Begebenheit kaute ‘Abd Allāh ibn Ja‘ar an-

schließend den Dattelhain sowie den Sklaven und schenkte diesemseine Freiheit und den Dattelhain dazu.164

Der Islam, der solche gütigen, mitühlenden und empindsamenPersönlichkeiten hervorbringt, hat die Plichtabgabe [zakāt ] einge-ührt, um nicht Feindschat und Neid zwischen Armen und Rei-chen aukommen zu lassen, und um ein soziales Gleichgewichtherzustellen, sowie eine au Liebe gegründete Beziehung zwischendiesen beiden Bevölkerungsschichten zu errichten. Darüber hinaus

ermuntert er zu reiwilliger Wohltätigkeit, um dem höheren Idealder Geschwisterlichkeit der Gläubigen näher zu kommen. Au dieseWeise ermöglicht der Islam jedem Gläubigen, Besitzer eines reichenHerzens zu sein, und – seinem Gewissen entsprechend – über dasobligatorische Maß an Mitgeühl hinaus bis zum Höhepunkt völli-ger Selbstlosigkeit zu gehen.

Ein Hauptziel der Religion neben der Bezeugung der göttlichenEinheit besteht im Herstellen gesellschatlichen Friedens durch die

Erziehung reundlicher, rücksichtsvoller und nachdenklicher Men-schen. Eine solche Vervollkommnung wird nur durch jene Empin-dungen von Warmherzigkeit und Mitleid ermöglicht, deren Sitz dasHerz ist; und diese Eigenschaten sind es, die den Menschen in dieLage versetzen, seine Einkünte – ohne Rücksicht au die eigenenBedürnisse – mit anderen zu teilen. Diese Empindungen können

164. Diese Geschichte überlieert Imām al-Ghazālī in seinem Kimyā-i Sa‘āda.

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Īthār – Selbstlosigkeit

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so weit gehen, dass sie zu einem inneren Verlangen ühren, alles,was man besitzt, anderen zu geben. Dies ist, was man au Arabischals Īthār , das heißt, vollkommene Selbstlosigkeit, bezeichnet.

Die Barmherzigkeit ist ein nie verlöschendes Feuer im Herzeneines Muslims. In dieser Welt ist die Barmherzigkeit das essentiel-le Unterscheidungsmerkmal des Menschen, welches sein Herz au den geraden Weg hin zur absoluten Wirklichkeit Allāhs ührt. Einbarmherziger Gläubiger ist reigiebig, bescheiden und stets bereit,zu dienen. Zugleich ist er ein Herzensheiler, der den Seelen der

Menschen neues Leben verleiht.Darüber hinaus ist ein barmherziger Gläubiger stets bemüht,

seine Dienste voller Liebe und Mitgeühl zu leisten, und stellt da-durch eine Quelle von Honung und Glauben ür andere dar. ImRingen um jede Form von Seelenheil ist er stets in der vorderstenReihe zu inden, und seine Worte, Schriten, Handlungen und sei-ne persönliche Gegenwart spielen immer eine konstruktive Rolle

bei der Linderung und Beseitigung von Elend, Leid und Kummer.Ein Gläubiger ist immer an der Seite der Trauernden und Leidge-plagten, der Verlassenen und der Honungslosen zu inden, denndie ersten Früchte des Glaubens eines wahrhat Gläubigen sindBarmherzigkeit und Mitgeühl.

Der menschliche Charakter wird durch den Qur’ān vervoll-kommnet, und wenn wir den Qur’ān auschlagen, sind die erstengöttlichen Eigenschaten, denen wir dort begegnen „der All-Gnä-dige“ [al-Rahmān] und „der All-Barmherzige“ [al-Rahīm]. UnserHerr verkündet uns, dass Er der Barmherzigste aller Barmherzigenist; und er gebietet Seinen Dienern, diese Eigenschaten zu Eigen-schaten ihres Charakters zu machen. Demzuolge ist es die Au-gabe eines wahrhat Gläubigen, dessen Herz ganz von der Liebezu seinem Herrn durchdrungen ist, allen Geschöpen Allāhs inBarmherzigkeit und Mitgeühl zu begegnen. Die Liebe zu Allāh

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ührt so in ihrer Konsequenz zu liebevoller und mitühlender Hin-wendung zu Seinen Geschöpen. Einer, der Allāh von ganzem Her-zen liebt, empindet jedes Oper ür Ihn als Freude, und das Operwird zum Gradmesser seiner Hingabe an den Geliebten.

In diesem Sinne ist das Geben wohltätiger Spenden [sadaqa]ein Ausdruck der Liebe zu Allāh; und in der Tat gibt es viele ver-schiedene Arten solcher Spenden. Die höchste Form des Gebensist, wie schon erwähnt, die Īthār genannte, vollkommene Selbstlo-sigkeit, die darin besteht, die Bedürnisse anderer über die eigenen

zu stellen. Diese Selbstlosigkeit stellt die höchste Stue der Emp-indsamkeit dar, über die jeder reie Gläubige – im Hinblick au sein soziales Verhalten – relektieren sollte.

Um in den von Strömen göttlicher Gnade durchlossenen Be-reich absoluter Selbstlosigkeit einzutreten, bedar es jedoch eines

 von Güte erüllten Herzens und einer höchst empindsamen Seele,wie sie sich in Vollkommenheit und in schönster Weise in den Zu-

ständen der Propheten und Gottesreunde präsentieren. Verständ-licherweise ist nicht jeder in der Lage, diese Gipel zu erklimmenund nach den Sternen zu greien. Doch je mehr wir uns diesemHorizont nähern, umso größere Segnungen werden uns zuteil; undselbst der kleinste Schritt in Richtung Selbstlosigkeit ist ein ewigerGewinn, der niemals verloren gehen wird.

Wie in einem Bericht des Abū Hurayra – möge Allāh mit ihm zu-rieden sein – überlieert wird, kam einmal ein Mann zum Prophe-ten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und sagte: „OGesandter Allāhs, ich bin hungrig.“ Da schickte Allāhs Gesandter

 jemanden zu einer seiner Eherauen und ließ ragen, ob sie etwaszu essen hätte. Doch sie ließ ihm mitteilen: „Ich schwöre bei Allāh,der dich als Propheten gesandt hat, dass wir außer Wasser nichtsim Hause haben!“ Nachdem er erahren hatte, dass es bei seinen

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Īthār – Selbstlosigkeit

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anderen Eherauen auch nicht besser stand, ragte der ehrwürdigeProphet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden: „Wer möchtediesen Mann heute Nacht bei sich als Gast aunehmen?“

Da meldete sich einer der Ansār und sagte: „Ich will ihn bei mir alsGast aunehmen, O Gesandter Allāhs.“ Und er nahm den Mannmit nach Hause. Als er dort ankam, ragte er seine Frau: „Gibt esirgendetwas zu essen im Haus?“Sie antwortete: „Nein, wir haben gerade einmal genug ür die Kin-

der.“

Da sagte er: „Beschätige dich mit den Kindern, und alls sie et-was zu essen haben wollen, leg sie schlaen! Wenn der Gast herein-kommt, lösche das Licht, und dann tun wir so, als würden wir auchessen.“

So setzten sie sich zum Essen hin und der Gast aß sich satt, wäh-rend sie nur so taten, als äßen sie, und dann hungrig zu Bett gingen.Am nächsten Morgen ging dieser Geährte zum Propheten – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden. Als dieser ihn erblickte, sagteer: „Allāh, der Erhabene, ist wegen dessen, was ihr gestern ür eu-ren Gast getan habt, sehr zurieden mit euch!“165

Der Gottesreund Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlu besaß ein

Diplom als Jurist, doch er praktizierte nie au diesem Gebiet, weil erbeürchtete, eventuell die Rechte eines anderen Menschen zu ver-letzen. Stattdessen arbeitete er lieber in Istanbul als Buchhalter ineinem Laden im Viertel Tahtakale. Au dem Weg zur Arbeit nahmer die Fähre über den Bosporus nach Karaköy und ging dann von

165. Überlieert von al-Bukhārī und Muslim in ihren beiden Sahīh-Sammlungen.

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dort zu Fuß nach Tahtakale. Au diese Weise konnte er das Fahr-geld ür den Bus sparen und diesen Betrag als Spende geben.

Welch wunderbares Vorbild ür uns sind doch der trelicheCharakter und die erhabenen Zustände solch großartiger Persön-lichkeiten! Selbst indem wir kleine Oper bringen, etwa wenn es umunseren persönlichen Komort, die Renovierung unseres Zuhausesoder unsere täglichen Ausgaben geht, können wir ihrem Beispielolgen und so an ihrem edlen Charakter teilhaben.

Vollkommene Selbstlosigkeit jedoch geht weit über das, was

man Freigiebigkeit [sakhāwa] nennt, hinaus, denn Freigiebigkeit be-deutet, Wohlstand zu opern, den man selbst nicht braucht. Selbst-losigkeit bedeutet jedoch, das zu geben, was man selbst braucht.

Dabei richtet sich der spirituelle Gegenwert solch vollkomme-ner Selbstlosigkeit nach der Größe des Opers, das ein Gottesdienerbringt. Allāh, der Erhabene, lobte die Ansār , die ihren Wohlstandden Muhājirūn übereigneten und deren Bedürnisse über ihre eige-

nen stellten, in olgendem Vers im Qur’ān:

{Und diejenigen, die vor ihnen in der Wohnstätte des Glaubenszu Hause waren, lieben jene, die zu ihnen ausgewandert sind.Sie empnden in ihrem Inneren kein Bedürnis ür das, wasdiesen zugekommen ist, und sie bevorzugen sie vor sich selbst,auch wenn sie selbst Not leiden. Und wer vor der Habsucht sei-nes Egos bewahrt bleibt, das sind die wahrhaf Er  olg reichen! }166

Als der Kali ‘Umar ibn al-Khattāb – möge Allāh mit ihm zuriedensein – au dem Weg nach Jerusalem war und sich dem Stadttor nä-herte, bestand er darau, dass sein Diener, der gerade an der Reihewar, au dem einen Kamel, das sie beide teilten, zu reiten, im Sattelblieb. So ritt der Diener nach Jerusalem ein, während der Kali die

166. Qur’ān, 59:9.

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Īthār – Selbstlosigkeit

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Stadt zu Fuß betrat. Dies ist ein weiteres Beispiel ür vollkommene

Selbstlosigkeit, das zudem zeigt, dass diese sich nicht unbedingt au materielle Dinge beziehen muss; auch das hier beschriebene Ver-

halten ist eine Art von Wohltätigkeit.

Vollkommene Selbstlosigkeit, die höchste Stue der Wohl-

tätigkeit, bedeutet in ihrer Essenz, sich selbst etwas zu entreißen

und wegzugeben, um so einem Bruder (oder einer Schwester) im

Glauben den eigenen Anteil zukommen zu lassen. Diese Art von

Selbstlosigkeit ist eine spezielle Art von Wohltätigkeit, wie sie ganz

besonders von den Propheten, Gottesreunden und rechtschae-

nen Gottesdienern [sālihūn] praktiziert wird.

Die olgende Erzählung, die von dem ehrwürdigen ‘Alī ibn Abī

Tālib und seiner edlen Gattin Fātima handelt – möge Allāh mit

ihnen zurieden sein –, demonstriert in trelicher Weise, was mit

 vollkommener Selbstlosigkeit gemeint ist:

Ibn ‘Abbās berichtete, dass ‘Alī und Fātima – möge Allāh mit ihnen

allen zurieden sein – einmal drei Tage lang asteten, um ein Ge-

lübde zu erüllen, das sie, als ihre beiden Söhne Hasan und Husayn

krank waren, um deren Genesung willen geschworen hatten. Am

ersten Tag hatten sie zum Fastenbrechen eine Mahlzeit aus Gersten-

mehl gekocht und wollten gerade ihr Fasten brechen, als es an der

Türe klopte. Es war ein hungriger Bedürtiger. Die gesegnete Fami-lie gab ihm von ganzem Herzen um Allāhs willen ihr Essen, dann

brachen sie ihr Fasten mit Wasser. Als sie am zweiten Tag ihr Fasten

brechen wollten, stand eine Waise vor ihrer Tür; und sie gaben ihr

Essen der Waise und brachen ihr Fasten wieder mit Wasser. Am

dritten Tag kam ein Sklave und bat um ihre Hile. Sie zeigten große

Geduld und Selbstlosigkeit und gaben ihr Essen dem Sklaven.

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Diese Art unvergleichlicher Großzügigkeit, Bevorzugung anderer vor sich selbst, sowie dieser erhabene Charakter, werden in den ol-genden Qur’ānversen gerühmt:

{Und sie geben ihr Essen – und mag es ihnen noch so lieb sein– dem Armen, der Waise und dem Geangenen (mit den Wor-ten:) „Wir speisen euch nur um Allāhs willen. Wir begehren voneuch weder Lohn noch Dank daür. Wahrlich, wir ürchten vonunserem Herrn einen nsteren, unheilvollen ag!“ Doch Allāh

bewahrt sie vor dem Unheil jenes ages und lässt sie strahlen-des Glück und Freude vornden.}167

Doch niemand in der gesamten Schöpung Allāhs ist im Hinblick au seine Freigiebigkeit, seine Wohltätigkeit und seine Selbstlo-sigkeit mit dem Propheten – Allāhs segne ihn und schenke ihmFrieden – zu vergleichen! Seine Freigiebigkeit übertra die aller ge-

wöhnlichen Menschen bei Weitem. Er – Allāhs Segen und Friedeseien au ihm – war reigiebig mit seinem Wissen, mit seinem Be-sitz und mit seinem ganzen Wesen, indem er au dem Wege Allāhsalle erdenklichen Oper brachte, die Religion erklärte, Menschenau den rechten Weg ührte, die Hungrigen speiste, die Unwissen-den lehrte und beriet, den Bedürtigen hal und ihnen ihre Bürdeerleichterte.

Sawān ibn Umayya war unter den Quraysch als ein überzeugterAnhänger ihres Glaubens bekannt, nahm aber trotzdem au Seitendes Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – an denFeldzügen von Hunayn und Tā’i teil, obwohl er kein Muslim war.Als er an einem Ort namens Jīrāna die gesammelte Kriegsbeute be-staunte, ragte ihn der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm

167. Qur’ān, 76:8-11.

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Īthār – Selbstlosigkeit

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Frieden: „Geällt dir das?“, und als er mit „Ja!“ antwortete, sagte derProphet: „Nimm es; es gehört alles dir!“ Darauhin sprach Sawāndas Glaubensbekenntnis des Islam [schahāda] und wurde zumMuslim. Dabei sagte er: „Kein Herz kann derart reigiebig sein, au-ßer dem Herzen eines Propheten!“168

Selbstlosigkeit ist die großartigste Stue von Freigiebigkeit. Wir soll-ten uns stets daran erinnern, dass viele Menschen, die sich zuvorhartnäckig dagegen gewährt hatten, durch solch reigiebiges Verhal-

ten des Propheten, seiner Geährten und der rechtschaenen Gottes-diener späterer Generationen – Segen und Friede seien au ihnen al-len – zu Gläubigen wurden, und dass au diese Weise ot aus FeindenFreunde wurden. Ebenso stärkte die Selbstlosigkeit viele Gläubige inihrer Liebe zu ihren Glaubensgeährten. Allāhs Gesandter – Segenund Friede seien au ihm – wies niemals einen Bittsteller ab, wenn esin seiner Macht stand, dessen Bitte zu erüllen. Einmal wurden ihm

90.000 Dirham gebracht, und er verteilte sie an alle Bedürtigen, die vorbeikamen, bis nichts mehr davon übrig war.

Birr  – Die Fähigkeit freigiebig zu spenden

Die Fähigkeit, reigiebig zu spenden, die im Qur’ān mit dem WortBirr  bezeichnet wird, ist ebenso wie die Īthār  genannte vollkom-mene Selbstlosigkeit eine edle Form von Wohltätigkeit. Der Pro-

phet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, das idealeVorbild in Bezug au alle ethischen Werte, war auch au diesemGebiet unübertroen. Die olgende Geschichte verdeutlicht seineEmpindsamkeit im Umgang mit seinen Glaubensbrüdern, welcheer – selbst in den scheinbar unbedeutendsten Dingen – sich selbst

 vorzuziehen plegte:

168. Vom Autor zitiert aus Islam arihi, S. 474.

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Eines Tages teilte der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihmFrieden – ein Zahnholz [miswāq] in zwei Teile, wobei es sich ergab,dass die eine Hälte schön und gerade, die andere hingegen krummund eher unansehnlich war. Der Prophet – Segen und Friede seienau ihm – gab das bessere, gerade Stück Zahnholz seinem Geähr-ten, der bei ihm war, und behielt das krumme ür sich selbst. Alssein Geährte darauhin sagte: „Dieses schöne ist besser ür dich,O Gesandter Allāhs!“, antwortete er: „Der Mensch, der jemandenbegleitet – und sei es auch nur ür eine Stunde –, wird (am Jüngsten

Tag) beragt werden, ob er gewissenhat im Hinblick au die Rechteseines Geährten war!“169

Ein weiteres Beispiel ür diese Art wohltätigen Verhaltens und dieBereitschat, reigiebig zu spenden, indet sich in der olgenden Ge-schichte:

Eines Tages waren die Geährten in der Moschee um den Prophe-ten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – versammelt undlauschten einer seiner Ansprachen. Da rezitierte der Prophet denVers: {Ihr werdet nicht Rechtschaenheit erlangen, bis ihr von demspendet, was ihr liebt. Und was immer ihr spendet, wahrlich, Allāhweiß es genau.}170

Da begannen die Geährten des Propheten – Allāhs Segen undFriede seien au ihm und all seinen Geährten – sich selbst zu ra-

gen, ob sie wirklich ihren meistgeliebten Besitz spenden würden,denn sie spürten die Worte, die ihnen der Prophet – Allāh segneihn und schenke ihm Frieden – verkündet hatte, tie im Innerstenihrer Herzen. So beragten sie sich selbst, ob sie wirklich bereit wä-ren, das zu geben, was ihnen am Liebsten war. Au einmal erhob

169. Vom Autor zitiert aus al-Ghazālīs Ihyā’ ‘Ulūm al-Dīn, Bd. II, S. 435.170. Qur’ān, 3:92.

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Īthār – Selbstlosigkeit

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sich einer der Geährten. Dies war Abū Talha – möge Allāh mitihm zurieden sein – und sein Gesicht erstrahlte hell vom Glanz desGlaubens. Ihm gehörte ein großer Garten mit sechshundert Dat-telpalmen, ganz nahe der Prophetenmoschee, und er liebte diesenGarten sehr. Er plegte den Propheten – Allāh segne ihn und schen-ke ihm Frieden – dorthin einzuladen und dieser hatte ihn und sei-nen Garten gesegnet. Abū Talha – möge Allāh mit ihm zuriedensein – sagte:

„O Gesandter Allāhs! Am meisten liebe ich von all meinemBesitz den Dattelgarten hier in der Stadt, den du auch kennst.In diesem Moment übergebe ich ihn um Allāhs willen demGesandten Allāhs. Du kannst damit tun, was du willst, undihn den Armen geben.“

Darauhin ging er zu dem Garten und and seine Frau darin im

Schatten eines Baumes sitzen. Er blieb außerhalb des Gartens ste-hen und seine Frau ragte ihn:

„O Abū Talha, warum wartest du dort draußen? Komm dochherein!“

Da antwortete ihr Abū Talha – möge Allāh mit ihm zufrieden sein:

„Ich kann nicht hineinkommen, und auch du solltest deineSachen nehmen und herauskommen!“

Au diese unerwartete Antwort hin ragte seine Frau:

„Warum denn, O Abū Talha? Ist das denn nicht unser Gar-ten?“

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„Nein“, sagte er, „von jetzt an gehört dieser Garten den Ar-men von Medina!“

Dann rezitierte er ür sie die rohe Botschat des eben geoenbar-ten Qur’ānverses und berichtete ihr, wie er darauhin soort diesenGarten gespendet hatte. Seine Frau ragte:

„Hast du ihn in unserer beider Namen oder nur in deinemeigenen gespendet?“

„In unserer beider Namen“, antwortete Abū Talha – mögeAllāh mit ihm zurieden sein.

Die Antwort seiner Frau darau erreute und beruhigte ihn zu-gleich. Sie sagte:

„Möge Allāh mit dir zurieden sein, O Abū Talha! Ich habe

schon ot das Gleiche gedacht, wenn ich die Armen um unssah, doch habe ich mich nie getraut, es dir zu sagen. MögeAllāh deine Spende annehmen! Ich verlasse jetzt den Gartenund komme mit dir.“

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welches Klima von Glück und Zuriedenheit die Welt erassen würde, wenn diese Denkweisein den Seelen der Menschen Wurzeln schlüge. Wie viel Güte undSchönheit würde dadurch in Erscheinung treten! Genau das war es,was Abū Talha – möge Allāh mit ihm zurieden sein – veranlassthatte, ein solches Oper zu bringen.

Der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – ermunter-te selbst jene seiner Geährten, die sehr wenig besaßen, wohltätigzu sein. So riet er beispielsweise Abū Dharr – möge Allāh mit ihm

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zurieden sein –, obwohl dieser einer der Ärmsten unter seinen Ge-ährten war: „O Abū Dharr, wenn ihr Suppe kocht, tut mehr Wasserhinein und teilt sie mit euren Nachbarn!“171

Ein Gläubiger sollte Licht ausstrahlen, wie der Mond in einer dunk-len Nacht. Er sollte rücksichtsvoll, geühlvoll, gütig, selbstlos, groß-zügig, barmherzig, mitühlend und in Bezug au das Geben wohl-tätiger Spenden voller Enthusiasmus sein.

In dieser Zeit wirtschatlicher Krisen ist es umso dringender

notwendig, wohltätig und selbstlos zu sein. Dabei düren wir nie vergessen, dass auch wir selbst in eine Lage geraten können, inder wir mit Armut und Not zu kämpen haben. Deshalb sind wires Allāh, als Ausdruck unseres Dankes, schuldig, gegenüber denKranken, den von Kummer und Leid Geplagten, den Einsamen,den Bedürtigen und den Hungrigen wohltätig zu sein und ihnenin selbstloser Weise zu helen. Wir müssen jene Geschenke, die uns

gegeben wurden, mit den Bedürtigen teilen, au dass die Herzen,die wir dadurch mit Freude erüllen, zu Mitteln unseres spirituellenFortschritts in dieser Welt und zu Quellen göttlichen Lohnes undewiger Glückseligkeit im Jenseits werden.

O mein Herr, lass Du alle Formen von Barmherzigkeit zu niemalsendenden Schätzen ür unser spirituelles Leben werden!

O Herr, ühre Du uns dahin, Verkörperungen des selbstlosen Le-bens unseres Propheten Muhammad – Segen und Friede seien au ihm – und lebendige Maniestationen des selbstlosen Lebens jenerrechtschaenen Gelehrten und Gottesreunde zu werden, die sei-nem Beispiel olgen!

Āmīn!

171. Überlieert in Muslims Sahīh, Birr , 142.

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Der Islam gibt der Menschheit neues Leben

Der ehrwürdige Prophet Muhammad – Allāhs Segen und Friede

seien au ihm – tra au eine Gesellschat, die von Gewalt, Unter-

drückung und Anarchie geprägt war. Durch sein persönliches Ver-

halten, welches grenzenlose Barmherzigkeit und Liebe ausstrahlte,

transormierte er eine von Hass und Rachsucht geprägte Gesell-schat in ein von Zuneigung und Fürsorge bestimmtes Gemein-

wesen. Vor seinem Kommen waren die Menschen dazu erzogen

worden, die Jungen und Schwachen zu missbrauchen und beim ge-

ringsten Anlass aueinander loszugehen. Nachdem sie dem Prophe-

ten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – begegnet waren,

läuterten sich diejenigen, die solche Taten begangen hatten und ga-

ben ihre grausame Haltung au. Die selben Menschen wurden nunzur Verkörperung von Barmherzigkeit und Liebe und entwickelten

sogar die Fähigkeit, den Rest der Menschheit durch ihr beispiel-

hates Verhalten rechtzuleiten. Wie Sterne, die in dunklen Nächten

die Welt erhellen, spiegelten sie die Schönheit des Islam wider. Die

olgende Geschichte des Mus‘ab ibn ‘Umayr – möge Allāh mit ihm

zurieden sein – ist daür ein Beispiel von vielen:

Mus‘ab und sein Freund As‘ad ibn Zurāra machten sich eines Tages

zu den Stämmen der ‘Abd Aschhal und Zaar au, um diese zum

Islam einzuladen. Die Anührer dieser beiden Klans waren Sa‘d ibn

Mu‘ādh und Usayd ibn Hudayr. Sa‘d ragte Usayd: „Warum hinderst

du diese Individuen nicht daran, hierher zu kommen und die Ein-

ältigen und Armen unserer Leute zu betrügen?“

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Der Islam gibt der Menschheit neues Leben

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Darauhin ging Usayd au Mus‘ab und As‘ad ibn Zurāra los, zieltemit seinem Speer au sie und schrie: „Wenn euch euer Leben liebist, dann verschwindet au der Stelle von hier!“

Anstatt wütend zu reagieren, antwortete Mus‘ab ihm: „Wenndu dich beruhigst und mir zuhörst, habe ich eine Botschat ür dich.Du bist ein Mann von hoher Intelligenz und Weisheit; wenn dirgeällt, was ich dir zu sagen habe, kannst du es akzeptieren, wennnicht, steht es dir rei, alles, was ich zu sagen habe, abzulehnen.“

Usayd stimmte diesem Vorschlag zu und legte seinen Speer

beiseite. Nachdem er Mus‘abs wunderbare Darlegung des Islamgehört hatte, nahm er au der Stelle den Islam an. Dann kehrte erzu seinem Freund Sa‘d zurück und sagte: „Ich habe mir angehört,was sie zu sagen haben und habe an ihren Worten nichts Falschesinden können.“

Doch Sa‘d war nicht zurieden mit der Zustimmung, die seinFreund den ungebetenen Gästen gegeben hatte; und so ging er

selbst mit halb gezücktem Schwert zu ihnen hin und orderte sieau zu gehen.Ebenso wie zuvor antwortete Mus‘ab ihm nicht mit harten

Worten, sondern begegnete der angespannten Situation vollerFrieden mit reundlichen Worten, wobei er ihm mit tieer Weis-heit die Wirklichkeit des Islam präsentierte. Und genau wie zuvorsein Freund Usayd nahm auch Sa‘d, unter dem Einluss der gott-gegebenen Anziehungskrat der Botschat, die ihm gerade zuteilgeworden war, den Islam an.

Dies ist ein Beispiel daür, wie die Araber im Prozess der Annahmedes Islam ihren aggressiven Charakter verloren, und wie sie durchdas Verhalten des Propheten Muhammad – Allāh segne ihn undschenke ihm Frieden – transormiert wurden. In der Folge kultivier-ten die Araber schließlich die höchste Stue an Geduld und Reie.

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Sie erkannten, dass der Islam gekommen war, um die Menschen zueinem neuen Leben zu erwecken, und nicht, um sie zu vernichten.Sie schrieben mit goldenen Lettern die olgenden Worte in die An-nalen der Geschichte: „Erwecke diejenigen, die kommen, um dichzu töten, zu neuem Leben!“ Und Meister Jalāl al-Dīn Rūmī merktdazu an:

Wenn die Meere der Barmherzigkeit wogen, trinken selbst dieSteine vom Wasser des Lebens, und der Erdboden verwandelt 

sich in Satin und in einen mit Gold durchwirkten eppich.Derjenige, der hundert Jahre tot war, kommt aus dem Fried-

ho hervor; selbst der veruchte Schaytān verwandelt sich ineine Schönheit, die von den Paradiesjungrauen beneidet wird.

Die ganze Erdoberäche ergrünt, vertrocknetes Holz schlägt wieder aus und trägt Blüten, der Wol wird zum rinkgeährtendes Lammes, und die Verzweielten werden mutig und taper.172

Der Prophet Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frie-den – vergab vielen Kriminellen, die ansonsten hingerichtet wor-den wären. Er vergab sogar Wahschī, der seinen geliebten OnkelHamza – möge Allāh mit ihm zurieden sein – getötet hatte. DieBarmherzigkeit und Liebe des Propheten – Segen und Friede seienau ihm – zu den Menschen waren stets stärker als sein Zorn. Wutund Hass vieler Menschen schmolzen in der Gegenwart des Pro-

pheten angesichts seiner überströmenden Liebe dahin und wurdenin Rosengärten der Barmherzigkeit verwandelt.

Ein türkischer Dichter beschrieb die unglaubliche Wildheitder arabischen Gesellschat vor dem Kommen des Propheten –Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – mit den Worten: „Hät-te nicht jeder Mensch Zähne gehabt, hätten seine eigenen Brüder

172.  Mathnawī , Bd. V, 2282-85.

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ihn verschlungen.“ Damit ist gemeint, dass die Menschen selbstgegenüber jenen, die ihnen am nächsten standen, keinerlei Barm-herzigkeit empanden. Erst der Islam rettete die Menschheit ausdieser abgrundtieen Unwissenheit und Brutalität. Die einstmalsgrausamen Menschen dieser Gesellschat wurden so von Mitge-ühl durchdrungen, dass sich während der Schlacht von Yarmūk,als einige von ihnen schwer verwundet waren, olgende Situationereignete: Als den Verwundeten, die in der glühenden Sonne imSterben lagen, Wasser angeboten wurde, bat jeder von ihnen, als er

an der Reihe war, das Wasser dem Nächsten zu geben. So weigertensie sich alle, als Erster, vor den anderen zu trinken, bis schließlichalle gestorben waren, bevor auch nur einer von ihnen seinen Durstgestillt hatte.

Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –ührte stets die Karawane der Liebe und Barmherzigkeit an undlebte unauhörlich moralisches Verhalten in seiner höchsten Voll-

endung vor, so dass sowohl Freunde als auch Gegner gleicherma-ßen die Vorbildlichkeit seines Charakters anerkannten. Als sichim vergangenen Jahrhundert in Den Haag Gelehrte und Denkerzu einem Kongress versammelten, um die einhundert wichtigstenPersönlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu bestimmen, ührteam Ende, entsprechend den von ihnen selbst estgelegten Kriteri-en, der Prophet Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihmFrieden – ihre Liste an.

Dabei ist noch als interessant anzumerken, dass das auswäh-lende Komitee ausschließlich aus Christen bestand. Ebenso au-schlussreich ist die bemerkenswerte Tatsache, dass neunzig Prozentder Prophetengeährten den Islam deshalb annahmen, weil sie dieErhabenheit des vorbildlichen Charakters und Verhaltens des Pro-pheten – Segen und Friede seien au ihm – erkannten. Selbst seineerbittertesten Widersacher konnten ihm niemals vorweren, er sei

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ein Lügner oder Tyrann; auch sie konnten deshalb nicht umhin,

ihn gezwungenermaßen respektvoll zu würdigen.Diejenigen, deren Herzen ür den Islam schlagen und die ger-

ne im Dienst der Religion aktiv werden möchten, müssen wissen,

dass das vordringlichste Ziel ihrer heiligen Augabe darin besteht,

der Menschheit neues Leben zu geben. Nur derjenige, der ähig

ist, die Schönheit der Schöpung Allāhs, des Erhabenen, in jedem

menschlichen Wesen zu erkennen, und sich bewusst ist, dass Allāh

den Menschen als kostbarstes Wesen Seiner gesamten Schöpung

erschaen hat, kann dem Islam und der Menschheit in dem von

Allāh gewünschten Sinne dienen. Mit anderen Worten: Das Ideal

des Islam besteht darin, ideale Menschen hervorzubringen. Dieses

Ideal kann nur dann erreicht werden, wenn das Herz des Menschen

berührt und zu neuem Leben erweckt wird und die darin verborge-

ne spirituelle Schönheit wieder zum Vorschein kommen kann.

Aus diesem Grunde hat der Islam immer die spirituelle Er-

ziehung der Muslime als oberste Priorität betrachtet; und im Ver-lau ihrer Geschichte hat diese Gemeinschat viele bedeutende

Persönlichkeiten hervorgebracht, die von allen Menschen – un-

abhängig von ihrem Glauben – anerkannt und bewundert wur-

den. Durch das Vorbild und die Lehren des Propheten – Allāh

segne ihn und schenke ihm Frieden – wurde aus Menschen, die

bis dahin ganz unter der Kontrolle ihres Egos gestanden und

ein von animalischen Trieben bestimmtes Leben geührt hatten,engelsgleiche Sterne, welche die Augen jedes Betrachters mit ih-

rer strahlenden Helligkeit blendeten. ‘Umar ibn al-Khattāb zum

Beispiel – möge Allāh mit ihm zurieden sein –, der vor dem

Islam seine Tochter lebendig begraben hatte, wurde zu einem

Born der Barmherzigkeit und des Mitgeühls, sodass er nicht

einmal mehr einer Ameise etwas zuleide tun konnte.

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Der Islam repräsentiert einen Geist, welcher die Menschheit mitLiebe und Barmherzigkeit umängt. Durch die Samenkörner diesergrenzenlosen Barmherzigkeit, die er in die Herzen der Mensch-heit gesät hat, wurden Menschen au eine Stue emporgehoben, diees ihnen ermöglichte, über ihr eigenes begrenztes und schwachesWesen hinauszugehen. Sie wurden ähig, das ewige Leben zu er-reichen.

Der Islam kam, um den Menschen neues Leben zu geben. DieGeühle und Empindungen, die der Islam lehrt, stellen die Quint-

essenz des Menschseins an sich dar. In den Worten des berühmtentürkischen Sui-Meisters und Dichters Yūnus Emre liest sich dies so:

Lasst uns einander Freunde sein! Lasst uns die Dinge leicht machen! 

Lasst uns lieben und die Liebe anderer erwerben,denn keiner bleibt ür immer in dieser Welt.

Ich kam nicht, um zu missionieren,ich kam um der Liebe willen;

das Haus des Geliebten sind die Herzen,ich kam, um Herzen zu gewinnen.

Diejenigen jedoch, welche den ihnen bestimmten Anteil an göttli-cher Liebe und Barmherzigkeit nicht in ihren Seelen eingebundenhaben, werden zu Feinden sowohl der Menschheit als auch ihrer ei-genen Seelen. Solch unbarmherzige Menschen verbauen sich selbstden Weg zur Nahrung und Erüllung ihrer Seelen. Die großen Got-tesreunde, die am Quell der Barmherzigkeit angelangt sind – wieMaulānā Jalāl al-Dīn Rūmī oder Yūnus Emre – werden hingegen vonallen als „Rosen des Paradieses“ geliebt. Selbst in den schlimmstenSituationen sind sie ähig, Honung zu verbreiten und die Wundender Gesellschat zu heilen. Die Eigenschaten der Rose gehören zu

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den wichtigsten Qualitäten, die ein Muslim verkörpern sollte: Um-geben von spitzen Dornen verbreitet sie ihren wunderbaren Dut.Ein wahrhat Gläubiger sollte nicht die Eigenschaten der Dornenannehmen, sondern der Blüte gleichen, die nach langen Wintermo-naten erblüht. Der ehrwürdige Maulānā Rūmī sagt:

O du, der du im Diesseits Dornen säest, komm zu dir! Suchebloß nicht in den Rosengärten der Nachtigallen nach den Dor-nen, die du gesät hast! Lade nicht deine eigenen Fehler dem

Rosengarten au! 173 

Und an anderer Stelle sagt Rūmī:

 Mit welchem Verstand erdreistest du dich, im Antlitz des Mon-des Flecken und Mängel zu entdecken, im Paradies Dornen zusammeln! 

O, der du nach Dornen statt nach Rosen suchst. Wenn duins Paradies eintreten könntest, würdest du dort keinen Dorn nden außer dir selbst! 174

Unsere erhabenen Vorahren, die Osmanen, plegten ihre Kriegs-geangenen stets mit solcher Milde und derartig großem Mitgeühlzu behandeln, dass einmal ein geangener eindlicher Oizier be-merkte: „O Barmherzigkeit, was ür ein Tyrann du doch bist, dass

du mich dazu bringst, meine Feinde lieben zu müssen!“Es ist höchst bedauerlich, dass heutzutage gewisse Kreise von

Materialisten und Feinden des Glaubens versuchen, den Islammit Terrorismus in Verbindung zu bringen oder gar gleichzuset-zen. Dies ist eines der schrecklichsten Übel, das die Menschheit je

173.  Mathnawī , Bd. II, 153.174.  Mathnawī , Bd. II, 3347-48.

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erlebt hat! Terror und Anarchie sind Folgen ehlender Liebe undBarmherzigkeit; ihre Grundlagen sind Herzlosigkeit und die Un-ähigkeit, erhabene Charaktereigenschaten und Empindungen zu

 verwirklichen. Der Islam hingegen lehnt – seit seinem Anbeginn– jegliche Art von Terror und Anarchie grundsätzlich ab und gebie-tet, die Rechte aller – Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen– zu respek tieren.

Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –plegte Abgesandte zu den verschiedenen Stämmen zu senden, die

am Islam interessiert waren, um diese zu unterrichten. Als einmaldie Ungläubigen an einem Ort namens Bi’r Ma‘ūna siebzig dieserGelehrten töteten, beahl der Prophet, küntig sollten diese Lehrer

 von Bewaneten begleitet werden, denen jedoch ausdrücklich be-ohlen war, ihre Waen ausschließlich zu deren Verteidigung ein-zusetzen.

Bei einer Gelegenheit kam es jedoch dazu, dass Khālid ibn

Walīd – möge Allāh mit ihm zurieden sein –, der eines der Ba-taillone anührte, sich gezwungen sah, entgegen dieser Anordnung von den Waen Gebrauch zu machen. Als der Gesandte Allāhs –Segen und Friede seien au ihm – von diesem Vorall hörte, wand-te er sich voller Trauer der Gebetsrichtung zu und sagte: „O meinHerr, ich habe nichts mit dem zu tun, was Khālid getan hat, undich bin nicht einverstanden damit!“ Und er wiederholte diese Wor-te drei Mal. Anschließend entsandte er ‘Alī – möge Allāh mit ihm

zurieden sein –, um dem betreenden Stamm Wiedergutmachungzu zahlen, wobei er nicht nur ür den Schaden, der Menschen zu-geügt worden war, sondern auch ür die Tiere, einschließlich der

 verletzten Hunde des Stammes, Entschädigungen zahlte.175

Die Osmanen übernahmen die hohen moralischen Maßstäbedes Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – im

175. Vom Autor zitiert aus Islam arihi, Bd. I, 525-27.

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Umgang mit Nichtmuslimen und zwangen niemals jemand von ih-nen, den Islam anzunehmen. Sie versuchten weder, andere Völkerauszurotten, noch deren Kultur durch imperialistisches Verhaltenund Unterdrückung zu vernichten. Sie betrachteten die in ihremGebiet lebenden Nichtmuslime stets als Mitmenschen, deren Rech-te sie zu respektieren und zu schützen hatten. Augrund des Segensdieser Umgangsormen benutzen die Menschen in Lehistan [Polen]bis in unsere Zeit das Sprichwort: „Dieses Land wird keine Freiheitund Unabhängigkeit erleben, bis die Perde der Osmanen aus der

Weichsel trinken.“ In der Tat zogen unterdrückte Bevölkerungenanderer Nationen häuig die Herrschat der Osmanen der ihrer ei-genen Herrscher vor. Als die Osmanen unter Sultan Muhammadal-Fātih die Stadt Byzanz belagerten, schlugen einige Adlige vor,den Papst um Beistand zu ersuchen, worauhin der GroßherzogNotaras äußerte: „Bevor ich die Mitras der Kardinäle in dieser Stadtsehen müsste, wären mir die Turbane der Osmanen lieber!“

Wir müssen – um der Maniestation unseres Herrn durch Sei-ne beiden göttlichen Namen al-Rahmān und al-Rahīm willen – al-len Geschöpen Allāhs mit Mitgeühl begegnen, und zwar nicht auspolitischen Gründen, sondern um Sein Wohlgeallen zu erlangen!Dies ist in der Tat eines der wirksamsten Mittel um Gottesnähe zuerreichen.

Die olgende Geschichte ist ein schönes Beispiel ür den Gradan Barmherzigkeit, den wahrhat Gläubige ür die Geschöpe Allāhsempinden:

Der ehrwürdige Abū Yazīd al-Bistāmī hatte während einer Reiseunter einem Baum Rast gemacht, etwas gegessen und dann seineReise ortgesetzt. Eine Weile später entdeckte er eine Ameise, dieau seiner Tasche umher krabbelte und sagte betrübt: „Ich habe die-ses Wesen von seinem Heimatort entührt!“ Soort kehrte er zurück 

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an den Platz, wo er sein Essen zu sich genommen hatte, und ließ dieAmeise dort, an ihrem Heimatort, lauen. Denn er war – in dem Be-wusstsein des „Mitgeühls um Allāhs Willen“ – in einem Zustand, indem ihm die Bedeutung der Einhaltung der Rechte jedes Geschöp-es, selbst wenn es sich um eine Ameise handelte, bewusst war.

Der Islam, der selbst Tieren ein derartiges Maß an Feingeühlund Empindsamkeit entgegenbringt, betrachtet den Menschenals edelstes aller Wesen. Um dieses kostbare Wesen zu bewahren

und zu verhindern, dass der Mensch ins Elend stürzt, ist der Islamdeshalb bemüht, ihn zum Erreichen erhabener Stuen anzuhalten.Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Mensch sein spirituelles Po-tential voll entaltet – so dass selbst die Engel ihn beneiden – anstattständig nur sein Nas zu „üttern“, wodurch er leicht au eine Stueunterhalb derer der Tiere hinabsinken kann.

Dass unsere heutige Welt zur Bühne tausendundeiner For-

men von Unterdrückung und Anarchie geworden ist, ist zweielloseine Folge davon, dass die Menschen sich im exzessiven Auslebender Neigungen ihrer Egos gerade von jenen Charaktereigenscha-ten immer weiter enternt haben, die – wie das leidenschatlicheSehnen nach dem Göttlichen und die uneigennützige Liebe – denMenschen erhabene Stuen erreichen lassen. In dieser Situation be-steht die einzige Rettung ür die in zahllosen Strudeln des Elendsuntergehenden Menschen darin, die Wahrheit und Tiee des Islamumassend zu verstehen, von ganzem Herzen au den göttlichenRu Allāhs zu hören, und die Vergänglichkeit des diesseitigen Le-bens – mit all seinen Verlockungen und all seinem Glanz – zu er-kennen. Denn diese Welt ist nicht mehr als eine Vorbereitung au das ewige Leben im Jenseits.

Der ehrwürdige Meister Yūnus Emre, der wahrhat durch unddurch vom leidenschatlichen Sehnen nach dem Göttlichen erüllt

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war, sagt in einem seiner berühmten Verse: „Liebe die Schöpung

Allāhs um ihres Schöpers willen!“ Sind nicht diese Worte, die alleGeschöpe umassen, ein vorzüglicher „Rettungsring“ ür alle Un-

terdrücker und Anarchisten – wo immer au der Welt sie auch sein

mögen –, der ihnen einen Plan ür die Rettung in dieser Welt und

im Jenseits anbietet? Wenn diese Menschen nur einen winzigen

Bruchteil jener Liebe empinden könnten, die Yūnus Emre ür die

gesamte Menschheit empand, wären sie unähig, die schrecklichen

Verbrechen zu begehen, die sie begangen haben. Wenn sie nur ä-

hig wären, sich diesen einen Vers zu Herzen zu nehmen, würden

sie mit Empindungen der Liebe und dem Bedürnis nach Gerech-

tigkeit gesegnet, anstatt der dunklen Seite ihres Egos zu verallen.

Wir müssen deutlich machen, dass der Islam nicht ür die

politischen Ziele einiger Leute missbraucht werden dar! Deshalb

sollten wir klar unterscheiden zwischen wahrhat religiösen und

rommen Menschen au der einen Seite, und jenen, die die Religion

zur Erreichung ihrer üblen persönlichen Ziele benutzen wollen, au der anderen.

In der Geschichte des Islam haben wir Gruppierungen wie die

Khawārij gesehen, die im Namen des Islam unschuldige Menschen

töteten, und deren Ziel einzig und allein darin bestand, die politi-

sche Macht an sich zu reißen. Ebenso haben wir in der Vergangen-

heit erlebt, dass Staaten den Islam benutzt haben, um ihre üblen

Ziele zu rechtertigen. Üble Menschen benutzen die wertvollen re-ligiösen Empindungen und erhabenen Konzepte der Religion, um

ihre persönlichen Interessen durchzusetzen, und sie verleumden

damit sowohl die Religion als auch die religiösen Menschen. Doch,

wie Maulānā Rūmī deutlich macht, werden sie daür einen hohen

Preis zahlen müssen:

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Die meisten Menschen sind wie Raubtiere; trau ihnen nicht,

wenn sie dich mit „der Friede sei au dir“ grüßen! Ihre Herzen sind Wohnstätten des euels; höre nicht au das

Geschwätz teuischer Männer! 

Derjenige, der „lā haula“ vom Atem des euels verschluckt 

wie ein Esel, ällt kopüber in der Schlacht! 176

Und Rūmī ährt ort, die reinen Herzen der Unschuldigen vor den

Geahren solcher Übeltäter zu warnen:

Er äußert nur leere Worte, der zu dir sagt: „O mein Geliebter“,

um dann, wie ein Metzger, seinem Geliebten das Fell über die

Ohren zu ziehen.

Er benutzt leere Worte, um dir dein Fell abzuziehen; Oh wehe

dem, der von seinen Feinden Opium zu schmecken bekommt! 177

Herzlose Terroristen benutzen Humanität als Maske ür ihre un-

barmherzigen Herzen, die niemals göttliche Liebe geschmeckt ha-

ben. Wenn solche Menschen Ideologen wären, würden sie schmut-

zige Ideologien verbreiten; wenn sie Dichter wären, würden sie die

Seelen anderer Menschen vergiten; und wenn sie Moralisten wä-

ren, würden sie Unmoral propagieren. Maulānā Rūmī enthüllt das

wahre Wesen dieser Art von Leuten mit den Worten:

Wenn er eine Rose in die Hand nimmt, verwandelt sie sich in Dor-

nen, und wenn er zu einem Freund geht, beißt er ihn, wie eine

Schlange.178

176.  Mathnawī , Bd. II, 251-53.177.  Mathnawī , Bd. II, 258-59.178.  Mathnawī , Bd. II, 154.

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Kurz gesagt sind solche Menschen Seelenmörder. Sie ergötzen sichdaran, die Augen der Menschen blind zu machen und deren Emp-indsamkeit zu lähmen. Indem sie sich aller möglichen inhumanenMethoden wie beispielsweise Drogen bedienen, verwandeln sieMenschen in gnadenlose Bestien. Anstatt echte menschliche Lo-gik und Verstand zu benutzen, provozieren sie nur Emotionen vonRache und ordern die aggressive Seite der Menschen heraus. SeitAnbeginn der Geschichte sind diese Verührer die schlimmstenFeinde der Menschheit gewesen. Allāh, der Allmächtige, beschreibt

ihre Haltung mit den Worten:

{Und wenn ihnen gesagt wird: „Richtet au Erden kein Verder-ben an!“, sagen sie: „Wir sind doch die, die Gutes tun.“ Dochmit Gewissheit sind sie die Verderben Stifenden, doch sie be-merken es nicht.}179

Niemand kann sich erdreisten, zu behaupten, es sei eine religiö-se Handlung, Zivilisten abzuschlachten; und niemand kann diesesTun mit  Jihād  verwechseln! In Wirklichkeit haben jene, die au solche Weise die Religion zur Verwirklichung ihrer üblen Plänebenutzen, das Wohlgeallen Allāhs, des Erhabenen verspielt. Dieschwerwiegenden Konsequenzen ihres Verhaltens zeigt Allāh, derAllmächtige, im olgenden Vers au:

{Deshalb haben Wir den Kindern Isrā’īls vorgeschrieben, dass,wenn jemand einen Menschen tötet – weder als Vergeltung ür einen getöteten Menschen noch wegen des Anrichtens von Ver-derben au Erden –, dies so ist, als hätte er alle Menschen getö-tet; und wer ihm (einem Menschen) das Leben erhält, so ist es,als ob er der ganzen Menschheit das Leben erhal ten hätte. Und 

179. Qur’ān, 2:11-12.

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 gewiss kamen bereits Unsere Gesandten mit deutlichen Zeichenzu ihnen, doch dennoch überschreiten viele von ihnen au Er-den auch danach das Maß! }180

Der Heilige Qur’ān betrachtet das Töten eines einzigen unschuldi-gen Menschen als ebenso schwerwiegend, wie das Töten der gesam-ten Menschheit, denn ein solcher Mörder greit mit seinem Tun tat-sächlich die unverletzliche Heiligkeit menschlichen Lebens selbst an.Wenn jemand einen Unschuldigen umbringt, dann impliziert dies,

dass er ebenso die gesamte Menschheit zu seinem persönlichen Ver-gnügen töten könnte. Mit einer solchen Tat gibt er zudem anderenein Beispiel, das diese nachahmen könnten, und ermutigt damit ge-radezu zum Mord. Aus diesen Gründen ist das Töten eines Unschul-digen eines der größten Verbrechen im Islam, und wer eine solcheTat begeht, zieht den unerbittlichen Zorn Allāhs im Jenseits au sich.Wer hingegen ein Leben rettet, ein Verbrechen verhindert oder Ur-

sachen beseitigt, die zu Mord oder Totschlag ühren könnten, derwird betrachtet, als habe er die gesamte Menschheit gerettet.Maulānā Rūmī vergleicht in diesem Zusammenhang den Islam

mit dem „Wasser des Lebens“, indem er sagt: „Niemand starb je anden Gestaden des Wassers des Lebens.“181

Alle Regeln und Prinzipien des Islam zielen darau ab, menschli-ches Leben zu bewahren – sowohl im physischen wie auch im spiri-

tuellen Sinne. Unter allen Umständen leitet der Islam die Mensch-heit zu richtigem Glauben und rechtem Verhalten und kultiviert imMenschen die Empindungen der Barmherzigkeit, der Liebe zumDienst an der Menschheit, die Liebe zur Weisheit, sowie Güte undRespekt gegenüber allem, was gerecht ist.

180. Qur’ān, 5:32.181.  Mathnawī , Bd. VI, 4218.

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Ganz besonders im heiligen Monat Ramadān unterstützt der Islamdie Gläubigen mit einer speziellen spirituellen Atmosphäre. Wäh-rend dieses Monats genießen die Muslime die Privilegien des Fas-tens, der arāwīh genannten zusätzlichen Gebete in der Nacht, undder Großzügigkeit gegenüber den Bedürtigen. Durch das Fastenwerden jene Arterien, die von den Krankheiten der Unbarmherzig-keit verstopt sind, geönet und gereinigt, und die Herzen wendensich den Schwachen, Bedürtigen und Einsamen zu.

Der Ramadān ist ein Monat der Barmherzigkeit. Wenn ein

Muslim sich bemüht, seine Barmherzigkeit zu stärken, kann er sei-nen Islam mit größerer Tiee an Erahrungen praktizieren, indemer seinem niederen Verlangen Zügel anlegt und versucht, diesesunter Kontrolle zu bringen. Im Verlau dieses Prozesses wird dieSeele vereinert und empindsamer ür göttliche Erönungen. DieFrüchte der Barmherzigkeit sind Vergebung, Großzügigkeit undSchamhatigkeit. Während wir anderen zu Diensten sind, lernen

wir schrittweise unsere Eiersucht auzugeben. All diese schwer zuerwerbenden Errungenschaten sind im heiligen Monat Ramadānleichter zugänglich. Unsere Seelen gehen über ihre Grenzen hinaus,während wir mit allen Kräten bemüht sind, dem göttlichen Beehlgerecht zu werden und unsere Fürsorge au die ganze Menschheitauszudehnen. Und indem wir in diesem universellen Geist der Be-reitschat dienen, strebt unsere Seele danach, zur Vollkommenheitihres Herrn zu gelangen.

Zusammenassend lässt sich sagen, dass wahres Glück aus der Sichtdes Islam sowohl vom Glauben an die Einheit Allāhs, des Erhabe-nen, als auch vom Verrichten verdienstvoller Taten abhängt. Wahr-hat gläubige Muslime widmen ihre Herzen und ihre Gedankenganz und gar Allāh, während sie ihr Leben im Dienste der Mensch-heit verbringen und au diese Weise lernen, ein tugendhates Leben

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zu ühren. Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī beschreibtdiese Lebenseinstellung mit den Worten:

Welch Glück ist dem Hässlichen beschieden,dass der Schönste der Schönen ihm Gesellschaf leistet.

Wie schade um den mit dem rosigen Antlitz,dem einer so kalt wie der Winter zum Freunde ward.182

O mein Herr, mach Du uns das Diesseits und das Jenseits zu ei-

nem Hort der Glückseligkeit, durch die Schönheit des Islam; undbeschütze Du die Gemeinschat der Muslime vor jeder Art von Un-glück und Katastrophen!

Āmīn!

182.  Mathnawī , Bd. II, 1341.

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Die Bedeutung rechten Verhaltens im Tasawwuf 

Abū Dardā’, einer der Prophetengeährten – möge Allāh mit ihnenallen zurieden sein – war in Damaskus zum Richter ernannt wor-den. Inolge dieser Tätigkeit hatte er schon viele Gesetzesbrechergesehen. Eines Tages hatte er gerade den Fall eines Übeltäters ver-

handelt, das Urteil gesprochen und die Angelegenheit war eigent-lich bereits abgeschlossen, als er hörte, wie die Anwesenden denVerurteilten verluchten. Darauhin ragte Abū Dardā’ die Leute,die jenen Mann verlucht hatten:

„Was würdet ihr tun, wenn ihr einen Mann seht, der in einentieen Brunnen gestürzt ist?“

Sie antworteten: „Wir würden ein Seil hinunterlassen, um ihn zuretten.“

Abū Dardā’ ragte:

„Wenn das so ist, warum bemüht ihr euch dann nicht, diesemMann zu helen, der in eine Grube von Sünden gestürzt ist?“

Überrascht von dieser Aussage ragten sie zurück:

„Hasst du denn die Sünder nicht?“

Darau antwortete der ehrwürdige Abū Dardā’ – möge Allāh mitihm zurieden sein – mit olgenden weisen Worten:

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Die Bedeutung rechten Verhaltens im asawwu 

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„Ich bin kein Feind dieses Menschen, sondern ein Feind sei-ner Sünden!“

Damit wollte Abū Dardā’ den Gläubigen eine wichtige Lehre ver-mitteln. Seine Weisheit ist eine Widerspiegelung des edlen Charak-ters des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden.Die Prinzipien dieser Widerspiegelungen von Weisheit und gu-tem Charakter inden sich zusammengeasst in den grundlegen-den Lehren des asawwu wieder. Diese Art von Weisheit lässt den

Sünder nicht im Puhl seiner Sünden untergehen, sondern sie er-önet ihm die Möglichkeit der Reue und der Läuterung im Meerder Barmherzigkeit, Liebe und Vergebung. Selbst gegenüber AbūJahl, seinem erbittertsten Gegner unter den Götzenanbetern, ver-hielt sich der Prophet – Segen und Friede seien au ihm – in dieserWeise. Statt ihn zu straen, indem er seine Fehler audeckte und ihnbloßstellte, lud er ihn immer wieder reundlich ein und versuchte,

ihm den Weg zur Rettung und zur Reinigung von seinen Sündenim Meer der göttlichen Barmherzigkeit zu ebnen.Allāh, der Allmächtige, erweist Seine grenzenlose Liebe und

Barmherzigkeit all jenen, die Reue zeigen. Wenn ein Sünder au-richtig bereut, vergibt Allāh ihm all seine Sünden und bereinigtseine Vergangenheit. Abhängig vom Grad der Aurichtigkeit desBereuenden verwandelt Allāh sogar dessen Sünden in gute Taten.Bezüglich jener, die sich Ihm in Reue zuwenden, sagt Allāh:

{[…] außer denjenigen, die voller Reue umkehren, glaubenund recht schaene Werke tun; ihnen wird Allāh ihre schlech-ten aten in gute ver wandeln – und Allāh ist voller Vergebung,barmherzig.}183

183. Qur’ān, 25:70.

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Das Geheimnis der Gottesliebe

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Jene Menschen hingegen, die ihren Anteil an der göttlichen Liebeund Barmherzigkeit verschmähen, sind sich selbst und der gesam-ten Menschheit Feind. Sie versperren sich selbst den Weg zur Nah-rung ihrer Seelen.

In vollkommenem Gegensatz dazu stehen die großen Gottes-reunde, welche die Quelle der Barmherzigkeit erreicht haben, wiezum Beispiel Jalāl al-Dīn Rūmī oder Yūnus Emre. Sie sind die Ro-sen des Paradieses, die von allen rechtschaenen Menschen geliebtwerden. Selbst unter den schrecklichsten Bedingungen verbreiten

sie Honung und heilen die Wunden der Gesellschat. Wie schonerwähnt, sind dies Eigenschaten, die eigentlich allen Muslimen zu-eigen sein sollten. Scheikh ‘Abd Allāh Rūmī Eşreoğlu beschreibtden Sui-Weg so:

Um des Freundes willen sollte man ähig sein, Gif zu schlu-cken, als sei es Zucker.

Mahmud Sami Eendi – möge Allāh ihm barmherzig sein – gabebenalls ein gutes Beispiel ür Barmherzigkeit und Liebe gegen-über sündigen Muslimen:

Eines Tages kam einer seiner Schüler, der unter Depressionen litt,zu seinem Haus und klopte an die Türe. Er war vollkommen be-trunken und sicher nicht in einem Zustand, in dem man an die Türeines Scheikhs klopt. Derjenige, der ihm die Türe önete, wurdebei seinem Anblick zornig und runzelte die Stirn; dann ragte er:„Was tust du? Bist du dir nicht im Klaren, wen du hier besuchst?“Der Bedauernswerte antwortete: „Gibt es irgendeinen anderen Ort,an dem ich so willkommen wäre, wie in dieses Haus?“ Meister Mah-mud Sami hatte dieses Zwiegespräch mitgehört und kam selbst andie Tür. Er ließ den Schüler in den Palast der Spiritualität eintreten,

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tröstete ihn und hal ihm, seine Probleme zu lösen. Dabei heilte ersein wundes Herz mit Barmherzigkeit und Liebe. Dieses gütige Be-nehmen hal dem Mann, seine Schwierigkeiten zu überwinden; erbereute seine Sünden und wurde später zu einem spirituellen undrommen Menschen.

Die Einstellung der Suis zu den Menschen ist grundsätzlich posi-tiv und von wohlmeinender Freundlichkeit geprägt. Anstatt dessenSünden zu betrachten und seine negativen Eigenschaten hervor-

zuheben, ist ein Sui bemüht, die gute Essenz eines Menschen zuerkennen und die ihm angeborenen positiven Anlagen zu ördern.Diese Haltung sollte jedoch keineswegs zu dem alschen Schluss

 verleiten, Suis würden sündhates Verhalten tolerieren oder gut-heißen; das Gegenteil ist der Fall! Doch sie gehen mit Barmher-zigkeit und Liebe au den Sünder zu und bemühen sich, au dieseWeise sein Herz zu gewinnen, um ihm zu helen. Für den Sui ist

der Sünder wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel: Er löstbei ihm Empindungen von Barmherzigkeit und Mitgeühl aus.Darum ist sein Ziel, dem Sünder zu helen und seine verletzte Seelezu trösten. Dabei ist dies ein Bemühen um Allāhs willen; und wirsollten uns vergegenwärtigen, dass um Allāhs willen zu lieben undürsorglich zu sein, einen der eektivsten Wege zur spirituellenVervollkommnung darstellt.

‘Umar ibn al-Khattāb – möge Allāh mit ihm zurieden sein –berichtete Folgendes: Zu Lebzeiten des Propheten – Allāh segne ihnund schenke ihm Frieden – gab es einen Mann namens ‘Abd Allāh,der unter dem Spitznamen Himār [„Esel“] bekannt war. Dieser hat-te die Gabe, den Propheten zum Lachen zu bringen. Allerdings ließder Prophet – Segen und Friede seien au ihm – ihn auch mehrachwegen Trunkenheit mit Peitschenhieben straen. Eines Tages wur-de er wieder wegen dieses Vergehens vor den Propheten gebracht

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und ausgepeitscht. Da rie einer der Anwesenden: „O Allāh, verlu-che ihn! Wie ot hat man ihn jetzt schon wegen dieses Vergehens(vor den Propheten) gebracht!“ Doch der Prophet – Allāh segneihn und schenke ihm Frieden – sagte: „Verlucht ihn nicht, dennich schwöre bei Allāh: Er liebt Allāh und Seinen Gesandten!“184

Das menschliche Wesen nimmt innerhalb der gesamtenSchöpung – allein augrund der Tatsache seines Mensch-Seins –eine solch hohe Stue ein, dass auch schlimme Taten und schlechteEigenschaten grundsätzlich nichts an dieser exklusiven Stellung

ändern, denn jeder Mann und jede Frau tragen den göttlichenAtemhauch [naha] Allāhs in sich. Diese göttliche Essenz bleibtdem Menschen immer erhalten, wenngleich die meisten Sündersich ihres Wertes und erhabenen Ranges innerhalb der göttlichenOrdnung nicht bewusst sind. Wenn zum Beispiel der schwarzeStein (der Ka‘ba) in den Schlamm geallen wäre, gäbe es sicher kei-nen Muslim, der dies nicht bedauern und sich nicht beeilen würde,

den schwarzen Stein an den heiligen Ort zurückzubringen, an dener gehört – sie würden ihn in der Tat mit ihren Tränen säubern undmit ihren Bärten polieren. Die Muslime entbieten dem schwarzenStein den ihm gebührenden Respekt und lieben ihn, selbst wenn ermit Schmutz und Dreck bedeckt sein sollte, weil sie sich an seinenUrsprung erinnern und ihn deshalb wertschätzen, denn er stammtaus dem Paradies. Das Gleiche gilt ür die Menschen: Sie entstam-men dem Paradies (durch unseren Vorvater Ādam und unsere

Mutter Hawā’ – der Friede sei au ihnen); und was auch immer siean Sünden begehen mögen, diese göttliche Essenz wird sie niemals

 verlassen.Auch ein guter Arzt wird niemals wütend über die Fehler sei-

ner Patienten, selbst wenn deren Krankheiten durch Unwissenheit,Faulheit oder anderes Fehlverhalten bedingt sein mögen. Denn ein

184. Überlieert in Sahīh al-Bukhārī .

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guter Arzt erkennt die Schmerzen und das Leiden seiner Patientenund übersieht gelissentlich deren Unzulänglichkeiten. Er behan-delt die Kranken sogleich und tut alles in seiner Macht stehendeür deren Genesung, ohne Zeit damit zu verschwenden, sich überdie Patienten zu ärgern. Suis sind innerhalb der Gesellschat wieÄrzte, die in einem Krankenhaus Dienst tun: Wenn sie sehen, dass

 jemand von einer spirituellen Krankheit beallen ist, eilen sie her-bei, um ihn zu behandeln, anstatt darüber zu klagen.

Der Sui gleicht einem Rettungsring in einem spirituellen

Sturm. Es ist ihm eine Plicht und zugleich eine Freude, einem Er-trinkenden das Leben zu retten – auch dann, wenn dieser seine Lageselbst verschuldet hat. Der Prophet – Allāh segne ihn und schenkeihm Frieden – sagte diesbezüglich im Anschluss an die Schlacht

 von Khaybar: „O ‘Alī, es ist besser ür dich (was den göttlichen Lohnbetrit), einen einzigen Menschen zum Islam zu ühren, als all daszu besitzen, worüber die Sonne au- und untergeht!“

Allāh, der Erhabene, verdeutlicht in dem bereits oben erwähn-ten Vers, wie bedeutsam die Errettung eines einzigen Menschen vorseiner Vernichtung in Seinen Augen ist: {Und wer ihm (einem Men-schen) das Leben erhält, so ist es, als ob er der ganzen Menschheit dasLeben erhal ten hätte.}185

All dies ist eine Frage des Glaubens. Die schlimmste Sünde, dieein Mensch begehen kann, besteht darin, Allāh, dem Erhabenen, Part-ner beizugesellen oder Seine Existenz zu leugnen. Doch selbst die „Be-

handlung“ dieser Todsünde bedar einer santen Herangehensweise.Als Allāh, der Allmächtige, Mūsā – au ihm sei Friede – zu Fir‘aun[Pharao] sandte, wies Er ihn an, diesem gegenüber sante und reund-liche Worte [qaul layyin] zu benutzen. Jemanden mit Erolg zum Islameinzuladen, ist ür einen Gläubigen der schönste Erolg und eine recht-schaene Tat, die eine Brücke ins Paradies erönet.

185. Qur’ān, 5:32.

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Allāh, der Erhabene, war sich, was Fir‘aun anbelangt, durchaus

der Hartnäckigkeit seines Unglaubens bewusst, als Er Mūsā – au ihm sei Friede – beahl, gütig mit ihm umzugehen, doch Er wollte

uns au diese Weise lehren, wie wir uns zu verhalten haben, wenn

wir den Islam präsentieren. Selbst wenn unser Gegenüber in seiner

Feindschat gegen den Islam so erbittert ist wie Fir‘aun, müssen wir

 versuchen, ihm den Islam in gütiger und hölicher Weise darzu-

legen. Wir düren uns deshalb in der Begegnung mit Nichtmusli-

men nicht von eventuellen negativen Geühlen leiten lassen odergar unhölich werden; Drohungen, Verwünschungen und ähnliche

Verhaltensweisen entsprechen nicht dem islamischen Weg der Ver-

kündigung der göttlichen Botschat. Diese Tatsache hebt Meister

Jalāl al-Dīn Rūmī in seinem Mathnawī hervor, wenn er sagt:

Verstehe Allāhs Worte zu Mūsā recht, wenn Er sagt: „Sprich in

 reund licher Weise zu Fir‘aun und behandle ihn gütig!“ Dennwenn du Wasser au heiß kochendes Öl gießt, beschädigst du

den Herd und den op.

Im olgenden Vers spricht Allāh, der Erhabene, die Person des ehr-

würdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –

in seiner Rolle als vollkommenes Vorbild ür uns als Gemeinschat

der Muslime [umma] an:

{Und augrund der Barmherzigkeit Allāhs bist du (O Mu-

hammad) milde zu ihnen; und wärest du schro und hartherzig,

hätten sie sich von dir abgewandt. So verzeih ihnen, bitte Allāh

um Vergebung ür sie, und berate dich in den Angelegenheiten

mit ihnen! Wenn du dann einen Entschluss geasst hast, ver-

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traue au Allāh – denn Allāh liebt diejenigen, die ganz au Ihnvertrauen.}186

Unter den vielen Versen, die davon handeln, au welche Weise manMenschen die Botschat des Islam nahe bringen und sie dazu einla-den soll, nimmt der olgende eine zentrale Bedeutung ein:

{Lade ein zum Wege deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen au beste Weise. Wahrlich,dein Herr weiß am besten, wer von Seinem Wege abgeirrt ist;

und Er kennt am besten jene, die rechtgeleitet sind.}187

Diese Art von Toleranz und Freundlichkeit sollte natürlich nichtnur gegenüber den Sündern und Leugnern des Glaubens zum Tra-gen kommen, sondern auch im Umgang mit den Gläubigen. Wiralle sind Menschen, und selbst jene, die den Islam in der best-möglichen Weise praktizieren, machen gelegentlich Fehler. Wenn

wir uns bei dem Versuch, ein Fehlverhalten anderer zu korrigie-ren, harscher Worte bedienen, kann dies kontraproduktiv wirken.Anstatt ihr Verhalten zu bessern, könnte unser unhöliches undgrobschlächtiges Benehmen sie zu noch schlimmerem Fehlverhal-ten veranlassen. Der Mensch verabscheut von seinem Wesen her

 jede Art von grober Behandlung. Selbst Söhne und Töchter könnenrohen Umgang von Seiten ihrer Eltern nur schwer ertragen, undmancher gut gemeinte, weise Ratschlag wird dadurch nutzlos, dass

er in respektloser Weise erteilt wurde.Wir sollten deshalb nie die Empindsamkeit der menschlichen

Psyche außer Acht lassen, indem wir etwa einen Sünder respektlosoder unhölich behandeln – ganz gleich, wie viele Sünden er began-gen haben mag. Wir sollten ihn vielmehr in einer Weise behandeln,

186. Qur’ān, 3:159.187. Qur’ān, 16:125.

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die ihn an seinen eigenen Wert erinnert, und die ihm hilt, seinegottgegebenen spirituellen Kräte zu reaktivieren.Allāhs Gesandter – Segen und Friede seien au ihm – hat uns ein-dringlich davor gewarnt, uns einem Gläubigen gegenüber despek-tierlich zu verhalten. Er selbst verachtete niemals irgendjemandenwegen seines Zustands; und er sagte: „Es ist eine große Sünde, au seinen muslimischen Bruder herabzublicken!“188

Um die Persönlichkeit und Integrität der Dienstboten zu wah-ren, gründete eine der Edelrauen der Osmanen, die Mutter eines

der Sultane namens Bezmi Ālem Vālide Sultan, in Damaskus eineStitung, deren Augabe allein darin bestand, Entschädigungen üretwaige Schäden zu zahlen, die von den Hausangestellten ange-richtet wurden. Au diese Weise mussten jene keine Schuldgeühleempinden oder Strae ürchten, wenn sie etwas beschädigt oderzerbrochen hatten.

Wenn wir die Botschat des Islam verkünden oder Menschen

helen wollen, au den rechten Weg zu gelangen, müssen wir stetsHölichkeit und Großherzigkeit gegenüber anderen üben, währendalle Kritik, ebenso wie die Verantwortung ür etwaige Fehlschläge,allein uns selbst treen sollte. Allāh, der Allmächtige, sagt:

{Und es genügt, dass Er hinsichtlich der Sünden Seiner Diener allwissend ist.}189

Und in einem anderen Vers sagt Allāh, der Erhabene:

{O ihr, die ihr glaubt, haltet euch ern von vielen Vermutun- gen, denn wahrlich, manche Vermutungen sind Sünde! Und spioniert einander nicht nach, und sprecht nicht einer hinter 

188. Überlieert von Abū Dāwūd in seinen Sunan und Ahmad in seinem Musnad .189. Qur’ān, 25:58.

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dem Rücken des anderen! Oder wür det ihr gerne das Fleisch

eures toten Bruders essen? Ihr würdet es doch verabscheuen! So ürchtet Allāh – wahrlich, Allāh nimmt die Reue an und ist 

barmherzig! }190

Jene, die sich an diese Verse halten, werden zum Inbegri von

edlem Charakter und Tugend. Sie haben erkannt, dass diese Welt

nicht wirklich vom Jenseits getrennt existiert, denn wir alle werden

 von hier nach dort hinüber gehen. Osmān Ghāzī, der Gründer desOsmanischen Reichs, war einer derjenigen, die nach den Anwei-

sungen dieses Verses lebte. Sein spiritueller Meister, der ehrwürdi-

ge Scheikh Edeb ‘Alī, gab ihm eines Tages den olgenden Rat:

O mein Sohn! Du bist nun der Herrscher, und wir sind deine

Untertanen. Dementsprechend ist es unser Recht, wütend zu

sein; dir hingegen geziemt sich die Geduld! Wir mögen gekränkt sein, du jedoch musst uns besänfigen.

Wir mögen Anschuldigungen erheben, doch du musst duldsam

sein.

Zu unseren Ei genschafen gehören Unähigkeit und Fehler-

hafigkeit, du hingegen musst oleranz zeigen.

Disharmonie, Streit, Uneinigkeit und Missver ständnisse sind 

unsere Sache, deine hingegen ist die Gerechtigkeit! Unterstellungen, üble Nachrede und ungerechtertigte Urtei-

le sind uns zu eigen, großzügiges Verzeihen ist dagegen dein

 Metier.

O mein Sohn! Von jetzt an ist die Zersplitterung unsere, die

Versöhnung hingegen deine Augabe! 

190. Qur’ān, 49:12.

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Faulheit und rägheit mögen unsere Eigenschafen sein,

doch du musst motivieren, warnen und den Ausgleich zumGuten hin erwirken.

Diese Worte sind in der Tat unbezahlbare Ratschläge ür alle Herr-

scher: Wenn sie schlecht behandelt werden, sollen sie um Allāhs

willen vergeben; und unter allen Umständen müssen sie ihren Un-

tertanen gegenüber Mitgeühl, Barmherzigkeit und Liebe an den

Tag legen.

Wenn der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden

– au einen bestimmten Fehler hinweisen wollte, den jemand be-

gangen hatte, plegte er über diesen Fehler zu sprechen, ohne dabei

direkt au die Identität desjenigen, der ihn begangen hatte, hinzu-

weisen. Damit lehrte er seine Gemeinschat, sich vor diesem Fehler

zu hüten, ohne irgendjemanden persönlich zu verletzen. Er plegte

beispielsweise zu ragen: „Was ist mit mir, dass ich euch dies oder

 jenes tun sehe?“; ganz so, als ob er sich selbst den Fehler zuschrei-ben würde, die Dinge alsch gesehen zu haben.

Dies ist eine von den Suis häuig benutzte Methode, um je-

manden, der einen Fehler begangen hat, nicht bloßzustellen. Denn

der Weg Allāhs, des Erhabenen, besteht darin, Herzen zu gewinnen

und diese auzubauen, und nicht darin, Herzen zu brechen. Der

berühmte Sui-Dichter Yūnus Emre erklärt dies in den olgenden

Versen:

Das Herz ist Allāhs Tron:

 Allāh schaut in das Herz.

Unglückselig in beiden Welten ist 

derjenige, der ein Herz zerbricht! 

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Zu den wichtigsten positiven Eigenschaten eines wahren Gläu-bigen zählen die Bereitschat, Fehler und Unzulänglichkeiten zu

 vergeben und schlechtem Benehmen mit vortrelichem Verhaltenzu begegnen. Ein wahrer Gläubiger betet selbst ür das Wohlerge-hen und die Rechtleitung von Kriminellen und bittet um ihre Er-rettung in dieser Welt und im Jenseits durch reuige Umkehr zumWege Allāhs. Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihmFrieden – zeigte in dieser Hinsicht das größte Maß an Barmherzig-keit und Mitgeühl ür Übeltäter. Als die Bewohner der Stadt Tā’i 

ihn steinigten, bat er – anstatt um ihre Bestraung zu beten – umVergebung ür sie. Er betete niemals zu Allāh um die Vernichtungderer, die ihm Schaden zuügten. Auch ür die Bewohner Mekkas,die ihm die größte Feindschat entgegengebracht hatten, bat er umVergebung. Und inolge seiner Bittgebete wurden aus vielen Unter-drückern gute Muslime. Im Qur’ān heißt es dazu:

{Die gute und die schlechte at sind einander nicht gleich. Wei-se (die schlechte) ab mit dem, was besser ist, dann wird jener,zwischen dem und dir Feindschaf besteht, so, als wäre er einwarmherziger Freund.}191

Und unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn und schenkeihm Frieden – erklärte:

„Tugend besteht nicht darin, demjenigen Gutes zu tun, dereuch Gutes tut, und demjenigen Schlechtes anzutun, der euchSchlechtes antut! Wahre Tugend besteht vielmehr darin, denje-nigen, die euch unterdrücken oder euch Schlechtes antun, nichtmit Schlechtem zu begegnen, sondern ihnen Gutes zu tun!“192

191. Qur’ān, 41:34.192. Überlieert in Sunan al-irmidhī , Kitāb al-Birr wa al-Sila.

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Wenn wir uns so verhalten, wie es in diesem Hadīth beschrieben ist,wird unser Feind zu unserem Freund. Wenn der Mensch, dem wirau diese Art begegnen bereits zu unseren Freunden zählt, werdendie Freundschatsbande stärker und er wird uns anschließend umso näher stehen.

Die Menschen im Westen wenden sich heute mystischen Be-wegungen zu, um inneren Frieden zu inden und den gnadenlosenAngrien materialistischer Ideologien zu entkommen, weil der vomMaterialismus geprägte Lebensstil die Menschlichkeit zu vernich-

ten droht. Aus diesem Grunde ist es sinnvoller und einühlsamer,die Prinzipien des asawwu  zu nutzen, um westliche Menschenzum Islam einzuladen. Viele der Menschen aus dem Westen, dieden Islam angenommen haben, hatten sich zuvor mit den WerkenRūmīs und Ibn ‘Arabīs beschätigt, um ihrem inneren Bedürnisnach Spiritualität gerecht zu werden. In der Tat stehen einige Titelaus der Literatur des asawwu  ganz oben au den Listen der im

Westen meistgelesenen Werke. Deswegen sollten wir dem Ru desehrwürdigen Maulānā Rūmī olgen, der sagte:

Komm! Komm! Wer auch immer du bist; selbst wenn du ein

Ungläubiger, Feueranbeter oder Götzenanbeter bist. Unser Kon-

vent ist kein Konvent der Hofnungslosen; komm, selbst wenn

du deinen Reue-Schwur hundert Mal gebrochen hast! 

Wir brauchen dieses von Rūmī beschriebene, allumassende Ge-ühl von Gnade und mitmenschlicher Verbundenheit. Sein Auru zur Toleranz zielt darau ab, die Menschen mit ihrer verborgenengöttlichen Natur vertraut zu machen und sie durch die Erkenntnisder Barmherzigkeit und des Mitgeühls Allāhs zum Islam zu üh-ren. Dabei meint Maulānā Rūmī mit diesen Worten keineswegs,man solle alle möglichen Fehler und Irrlehren, welche die Men-

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schen vertreten, einach akzeptieren und sie in diesem Zustand be-

lassen, sondern sein Ziel besteht in einer Heilung durch Genesungder spirituellen Innenwelt der Menschen.

Die Herzen der großen Suis sind mit Reparaturwerkstätten zu

 vergleichen, in denen gebrochene Herzen instand gesetzt werden.

Dementsprechend richtet sich Rūmīs Ru auch nicht in erster Linie

an perekte Muslime, sondern an die Umherirrenden und Acht-

losen. Besonders in Zeiten, in denen das religiöse Leben schwach

und die Menschen unwissend sind, brauchen wir bei unseren Be-

mühungen, Menschen zum Islam einzuladen, den Ansatz der gro-

ßen Suis: Selbstlose Liebe, Barmherzigkeit und Toleranz. Dies ist

der einzig gangbare Weg zur Rettung jener vielen Menschen, die

– geplagt von allen möglichen Formen seelischen Leids – im Meer

ihres Ungehorsams gegenüber Allāh, dem Erhabenen, unterzuge-

hen drohen.

Hierbei ist jedoch dringend zu beachten, dass solche Toleranz

gegenüber sündhatem Verhalten sich immer nur au die persönli-che Begegnung im Einzelall beziehen kann. Wenn sich das Verhal-

ten von Sündern hingegen au die Gesellschat auswirkt und deren

Ordnung zunichte zu machen droht, ist Toleranz vollkommen un-

angebracht. Diejenigen, die andere Menschen unterdrücken oder

die Strukturen der Gesellschat um ihres eigenen persönlichen

Vorteils willen zu zerstören trachten, verdienen weder unsere Liebe

noch unsere Toleranz. Es ist auch keineswegs ausschließlich vonNachteil, wenn gewöhnliche Menschen Sünden und diejenigen, die

als Sünder verschrien sind, verabscheuen. Sie versuchen, durch die-

se Art von starker Abscheu selbst den Sünden zu entliehen; und

dies ist ein ür sie notwendiges Mittel, um sich von Sünden ern

zu halten. Denn ür die achtlosen Menschen gleichen Sünden den

 verlockenden Klängen des Gesangs der Sirenen, so dass sie sich von

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ihnen magisch angezogen ühlen, und ihr Begehen ihnen als etwasganz Leichtes erscheint.

Das Begehen von Sünden als belanglos zu betrachten hat je-doch zweierlei schädliche Folgen: Die erste ist, dass man eher dazuneigt, sie zu begehen, die zweite, dass das Verharmlosen von SündenAllāhs göttlichen Zorn heraubeschwört. Das bedeutet ür uns, dasswir zwar den Sünder akzeptieren düren, aber keinesalls die Sündeselbst. Diese Zusammenhänge werden auch in einem Bericht desAnas ibn Mālik – möge Allāh mit ihm zurieden sein – deutlich, in

welchem es heißt:

„Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –sagte: ‚Macht die Dinge (in Bezug au die Religion) leicht, underschwert sie nicht! Und verkündet (den Menschen) roheBotschat, und bringt sie nicht dazu (vor dem Islam) wegzu-lauen!‘ “193

All dies sollte natürlich so geschehen, dass die Essenz der Religionkeinen Schaden nimmt, sowie ohne vom geraden Weg der Recht-schaenheit abzuweichen!

O unser Herr, lass uns zu jenen gehören, denen Weisheit und göttli-che Liebe zuteil werden! Mach Du unsere Herzen um Deinetwillenzu einem Quell der Liebe und Barmherzigkeit gegenüber Deiner

Schöpung! Ersetze all unsere Sünden und Unzulänglichkeitendurch Schönheit und göttlichen Lohn, lass die Menschen in Frie-den und in gegenseitiger Liebe zusammenleben, und bewahre uns

 vor allen Formen von Unheil und Unglauben!Āmīn!

193. Überlieert in Sahīh al-Bukhārī .

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 Mahabba – Liebe

Die Liebe ist das, was uns in unserem vergänglichen Lebenin dieser Welt Geschmack, Freude, inneren Frieden undZuriedenheit beschert. Die Liebe ist wie die Hee im Teig

des Daseins. Die Fähigkeit zu lieben gehört zu den größten Geschen-

ken unseres Herrn an seine Diener. Aus diesem Grunde sollte unsereLiebe immer Dingen gelten, die es wert sind, geliebt zu werden, und

 jenen Herzen zuliegen, die wissen, was wahre Freundschat ist. DasStadium der Liebe zu den Menschen und Geschöpen dieser Weltist dabei in Wirklichkeit nicht mehr als eine Stue au dem Weg zurGottesliebe. Leider opern jedoch sehr viele Menschen dieses gottge-gebene Geschenk der Liebe au dem Altar ihrer lüchtigen, vorüber-

gehenden Wünschen und egoistischen Begierden.Dabei wird eine Liebe, die nicht dem gilt, der ihrer würdig ist,zu einem der bedauernswertesten und größten Verluste dieses Le-bens. Liebe, die sich im Gri billiger weltlicher Interessen beindet,gleicht einer wunderschönen Blume, die zwischen den Spalten vonBürgersteigplatten erblüht: Früher oder später wird sie platt ge-trampelt werden und sterben. Welch ein Unglück ist es ür einenDiamanten, au die Straße zu allen und dort verloren zu gehen!Und welch tragischer Verlust ist es ür ihn, wenn er einem Unwür-digen in die Hände ällt!

Der große Sui-Meister Jalāl al-Dīn Rūmī benutzt das olgendeLehrbeispiel, um den Zustand jener zu illustrieren, die der Verlustder göttlichen Liebe trit, weil sie ihr Kapital der Liebe an vergäng-liche und wertlose Dinge verschwenden:

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Diejenigen, die diese Welt lieben und ihr Herz an sie verschen-ken, gleichen einem Jäger, der einem Schatten nachjagt. Wiekann er einen Schat ten angen? 

Doch der naive Jäger verwechselt den Schatten eines Vogelsmit dem Vogel selbst und müht sich ab, ihn einzuangen. Selbst der Vogel oben au dem Ast wundert sich darüber, was dieser Schattenjäger da voll  ührt.

Herzen, in denen keine Samen der Liebe emporkeimen, sind dem

Untergang geweiht. Versklavt von ihren egoistischen Geühlen,schleppen sie die in ihrem Inneren angelegten spirituellen Emp-indungen wie einen Leichnam mit sich umher. Eine Liebe, dieaus dem göttlichen Quell der Spiritualität gespeist wird, gleichthingegen den Blumen des Paradieses, die einen wunderbarenDut verströmen. Selbst wenn diese Blüten eines Tages verwelkenund ihre Blätter aballen, bedar es nur eines Lächelns, das der

Quelle entspringt, um sie zu neuem Leben zu erwecken und ih-nen wieder jugendliche Frische zu verleihen.Diejenigen, die jener göttlichen Liebe teilhatig werden, wel-

che die wahre Quelle jeder Liebe ist, sind zu wahrer Freundschatmit anderen Geschöpen ähig. Mit anderen Worten heißt dies: sieerlangen die Fähigkeit, diese Geschöpe mit dem Blick ihres Schöp-ers zu betrachten. Die Gottesreunde, die diese hohe Stue erlangthaben, sind rei von allem Streben nach egoistischen Vergnügun-gen und leben in dem Wissen, dass wahre Freude in der Erkenntnisund Liebe Allāhs besteht. In einem Hadīth qudsī  sagt Allāh, derErhabene:

„Nichts liebe Ich von Meinem Diener mehr, als wenn er die(religiösen) Plichten erüllt, die Ich ihm auerlegt habe; undMein Diener nähert sich Mir durch reiwillige Taten, bis ich

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 Mahabba – Liebe

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Ihn liebe. Wenn Ich ihn dann liebe, bin Ich das Ohr, mit demer hört, die Augen, mit denen er sieht, die Hände, mit denener greit, und die Füße, mit denen er läut […]“194

Einen solchen Gipel an Spiritualität zu erreichen ist ebenso seltenwie die Besteigung der höchsten Berggipel au unserem Planeten.Diejenigen, deren Charakter und Persönlichkeit von diesen göttli-chen Gnaden und Segnungen geprägt sind, bleiben davor bewahrt,dem Glanz des Weltlichen zu verallen. Solche Menschen besitzen

eine eigene und einzigartige Art, mit den Geschöpen dieser Weltzu kommunizieren. Um so zu sprechen wie sie, bedar es einer Ver-trautheit des Herzens mit der Sprache jener Geschöpe.

Jene, die hören können, nehmen all die vielältigen Gesänge ei-ner zarten Blüte, die verschiedenen Melodien der Nachtigall oder dasständig sich verändernde Lied im Plätschern eines Baches wahr. Wie

 viele Geschichten hat jede einzelne Nacht zu erzählen! Und mit wie

 vielen verschiedenen Brisen bringt der Wind den Morgenhauch ür jenen, der ihrer gewahr ist? Vollkommene Gläubige, deren Herzen von Liebe und leidenschatlicher Hingabe erüllt sind, beobachtenmit tie durchdringendem Verständnis das Fließen der göttlichenGeheimnisse und Weisheit in dieser Welt. Wie könnte jemand, derüber gesunde Wahrnehmung und ein reines Herz verügt, nicht be-rührt sein von den leidenschatlichen Gesängen göttlicher Liebe,nachdem er Zeuge all dieser göttlichen Geheimnisse und prächtigen

Meisterwerke geworden ist?Der Wert jeder Liebe entspricht der Bedeutung und Vollkom-

menheit des Geliebten. Aus diesem Grund stellt die Liebe zum Pro-pheten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden– den Höhepunkt menschlicher Liebe dar, denn es ist unmöglich,sich einen Menschen vorzustellen, der würdiger wäre, geliebt zu

194. Überlieert in Sahīh al-Bukhārī , al-Riqāq, 38.

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werden, als er. Und doch ist die Liebe zum Propheten – Segen undFriede seien au ihm – nicht der absolute Höhepunkt der Stuen derLiebe. Der endgültige Gegenstand der Liebe des Menschen sollteAllāh, der Schöper des Universums, sein. Die Suis nennen dieseStue Fanā’ ī Allāh und Baqā’ bi Allāh195  und beschreiben damiteinen Zustand, der dem eines Flusses ähnelt, der das Meer erreichthat, in dieses mündet und sich ganz darin verliert. Einer der großenGottesreunde beschreibt in einem Gedicht das Brennen der Flam-men des Fanā’ ī al-Rasūl 196 und des Fanā’ ī Allāh:

O mein Geliebter! Angesichts der Erscheinung deiner Schönheit ist der Quell in Flammen entbrannt.

Die Rose steht in Flammen, die Nachtigall steht in Flammen,die Hyazynthe steht in Flammen, die Erde und die Büsche, siealle stehen in Flammen! 

Dein Licht, hell strahlend wie die Sonne, ist es, das alle Lie-

benden ent  ammt! Das Herz steht in Flammen, die Brust steht in Flammen,und beide Augen, die vor Liebe weinen, stehen in Flammen! 

Ist es möglich, den Körper eines Märtyrers der Liebe, der soin Flammen steht, zu waschen? 

Der Körper steht in Flammen, der Sarg steht in Flammenund selbst das köst lich kühle, süße Wasser steht in Flammen! 

Zur Liebe Allāhs zu gelangen setzt wahrhatige Liebe zum GesandtenAllāhs voraus – möge Allāh ihn segnen und ihm Frieden schenken;dies ist die letzte Stue menschlicher Liebe, die der Gottesliebe vor-

195. Zur Denition der Begrife Fanā’ ī Allāh und Baqā’ bi Allāh siehe An-merkung 7 au S. 21 .

196. Fanā’ ī al-Rasūl bedeutet, durch Unterwerung des Egos [nas] das Herz vonsämtlichen Eigenschaen zu bereien, die der Sunna des Propheten – Allāhsegne ihn und schenke ihm Frieden – widersprechen.

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ausgeht. Deshalb sind auch jene, denen die Erahrung der Liebe zumGesandten Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – ehlt, unähig,wahre Liebe ür Allāh zu empinden. Es ist wichtig, zu verstehen, dassder einzige Fluss von Liebe und Barmherzigkeit, der zum Ozean gött-licher Liebe ließt, der Fluss der Liebe zu Allāhs Gesandtem ist. DieLiebe zu Seinem Gesandten ist Teil der Liebe zu Allāh, Gehorsam ge-genüber Seinem Gesandten ist Teil des Gehorsams gegenüber Allāh,und Ungehorsam gegenüber Seinem Gesandten bedeutet Rebelliongegenüber Allāh. Entsprechend stellt das gesegnete Dasein des Pro-

pheten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –einen geheiligten Zuluchtsort der Liebe ür die gesamte Menschheitdar. Im heiligen Qur‘ān heißt es in diesem Zusammenhang:

{Sprich: „Wenn ihr Allāh liebt, so olgt mir, au dass Allāh euchlieben und euch eure Sünden vergeben möge.“ }197

Zweielsohne ist das größte Zeichen von Liebe die Hingabe undAuoperung ür den Geliebten. Wie sehr ein Liebender mit seinemGeliebten übereinstimmt, hängt davon ab, in welchem Maß dieLiebe sein Herz erüllt. Wenn die Liebe vom Herzen Besitz ergri-en hat, inden sich auch Aurichtigkeit, Reinheit der Intentionenund göttlicher Segen ein. Die Handlungen eines Menschen erlan-gen einen höheren Wert, wenn sie aus Liebe verrichtet werden. ImGegensatz dazu sind Handlungen, die ihren Ursprung nicht in der

Liebe haben, nichts weiter als Anmaßung: sie bleiben stets unau-richtig und dienen nur der Stärkung der Ansprüche des Egos.

Selbst eine scheinbar unbedeutende Handlung, die aus Liebe verrichtet wird, ist um ein Vielaches besser als monumentale Wer-ke, bei deren Absichten die Aurichtigkeit ehlt. Am deutlichstentritt dies bei der göttlichen Liebe – der höchsten Stue von Liebe

197. Qur’ān, 3:31.

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überhaupt – zutage. Die höchste Stue, die ein Mensch erreichenkann, besteht darin, der Segnungen der Gottesliebe teilhatig zuwerden. Doch es besteht kein Zweiel daran, dass die Liebe, ebensowie alle anderen Dinge auch, von Allāh erschaen ist. Deshalb kannauch kein Diener ohne Allāhs Erlaubnis diesen Rang erreichen. DieAugabe des Dieners besteht deshalb darin, zu beten, Allāh zu bit-ten und bei Ihm Zulucht zu suchen. Im heiligen Qur’ān heißt es:

{Sprich [zu den Ungläubigen]: „Was sollte Sich mein Herr um

euch bekümmern, wenn ihr (Ihn) nicht anruf? Ihr habt (Ihn) geleugnet, und das Unausweichliche wird eintreen.“ }198

Das Zeichen der Liebe zu Allāh und der Weg, der zu Seiner Liebeührt, bestehen darin, sich – nachdem man seine Augaben undPlichten als Diener mit größtmöglicher Aurichtigkeit und Sorgalterüllt hat – darum zu bemühen, aus Liebe und Hingabe zu Allāh,

 voller Ehrerbietung, Zuwendung und Freude – über das, wozu man verplichtet ist, hinaus – reiwillige gute Werke zu verrichten. Ziel-strebig au diesem Wege voranzuschreiten, bis man der Gottesliebeteilhatig wird, ist der wahre Daseinszweck und Erschaungsgrundder Menschheit. Das Ziel aller religiösen Plichten im Islam bestehtdarin, das Wohlgeallen Allāhs, des Erhabenen, zu erlangen. Daswichtigste Mittel au diesem Weg besteht darin, Allāh von ganzemHerzen zu lieben. Alle anderen Handlungen sind eigentlich weiter

nichts als Ausdrucksormen dieser Liebe.Dabei ist es nur natürlich, dass mit dem Wachsen der Liebe im

Herzen des Gläubigen auch die Zahl der rechtschaenen Taten zu-nimmt, die er um Allāhs willen verrichtet. Aus diesem Grunde istür jene, die Fortschritte au dem Weg der Gottesliebe machen, dasVerrichten von Plichten allein nicht genug, sie wollen mehr Gutes

198. Qur’ān, 25:77.

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tun, indem sie reiwillige gute Werke mit ebensolcher gewissen-hatigkeit und Freude verrichten, wie ihre Plichten. Inolgedessenwird ihr Wunsch, Gutes zu tun, immer stärker – ähnlich dem im-mer größer werdenden Verlangen eines in der Wüste Verdursten-den nach Wasser. Nichts kann dem Menschen in diesem Zustandmehr Trost spenden, außer der Rückkehr zu Allāh. So wie es imheiligen Qur’ān heißt:

{[Zu der rechtschaenen Seele wird gesagt werden:] „O du, in

Frieden ergebene Seele! Kehre heim zu deinem Herrn, wohlzu- rieden und mit (Seinem) Wohlgeallen! “}199

Jene Gläubigen, die diese hohe Ebene der Gottesliebe verwirklichthaben, richten ihr ganzes Streben darau, ihr Leben vollständig –bis hin zu jedem einzelnen Atemzug – in Gottesdienst zu verwan-deln. Um diesen außergewöhnlichen Zustand zu erreichen, ziehen

sie den Gottesdienst an abgeschiedenen Orten und im Dunkel derNacht dem Gesehenwerden und der Anerkennung anderer Men-schen vor. Im unauhörlichen Bewusstsein ihrer Gottesdienerschat,suchen sie ihren Durst mit dem Trunk der Liebe in der Heimstattder Vorzüglichkeit [ihsān] zu stillen. Au diesem Wege sind sie,wenn notwendig, bereit, allen Wohlstand, gesellschatlichen Status,allen weltlichen Besitz und selbst ihr Leben hinzugeben. Darüberhinaus sind ihre Herzen ständig – in unablässigem Streben nach

der Liebe Allāhs und Seinem Wohlgeallen – in Bittgebeten und imGottesgedenken ihrem erhabenen Herrn zugewandt.

Die olgende Begebenheit aus dem Leben des Prophetengeähr-ten ‘Ammār ibn Yāsir – möge Allāh mit ihm zurieden sein – ver-deutlicht die Liebe der Geährten ür den Propheten Muhammad– Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, ihre Liebe zu Allāh

199. Qur’ān, 89:27-28.

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und ihre vollkommene Hingabe und Unterwerung unter Seinengöttlichen Willen:

Während er vor einer Schlacht am Uer des Euphrat entlang ging, verlieh ‘Ammār ibn Yāsir seinen innersten Geühlen Ausdruck, in-dem er sagte: „O mein Herr! Wenn ich wüsste, dass Du mit mirzuriedener wärest, wenn ich mich von der Klippe dieses Bergesstürzte, täte ich es soort. Wenn ich wüsste, dass es Dir wohlge-älliger wäre, wenn ich mich in eine Feuersbrunst stürzte, ich täte

es soort. O mein Herr! Wenn ich wüsste, dass es Dir lieber wäre,wenn ich mich ins tiee Wasser stürzte und darin ertränke, ich tätees soort. O mein Herr, ich kämpe nur um Deinetwillen und ichbitte Dich, lass Du mich diesen Kamp nicht verlieren. Ich strebeeinzig und allein nach Deinem Wohlgeallen!“200

Die Liebe zu Allāh und Seinem Gesandten – Segen und Friede

seien au ihm – ist die Essenz unserer Religion und der höchstge-segnete Weg zu Allāh. Sie stellt den einzigen Zugang zu vertrauterGottesnähe und zur Barmherzigkeit Allāhs, des Allmächtigen, dar.Nur der Schlüssel der Liebe verschat Einlass am Tor zur göttli-chen Gegenwart. Liebe sollte jedoch niemals ein leeres Wort sein.Denn eitle Floskeln, die keinen Widerhall im Herzen inden, habennichts mit wahrer Gottesliebe gemein, und, schlimmer noch: sie

 verleiten zu Einbildung und Selbstherrlichkeit.

Die Lebensläue der edlen Geährten des Propheten – Allāhsegne ihn und sie allesamt und schenke ihm und ihnen Frieden –sind die konkretesten Beispiele wahrhatiger Liebe. Sie alle lebten,Tag ür Tag, in Wort und Tat, die Liebe zu Allāh und zu SeinemGesandten vor. Die im Folgenden augeührten Begebenheiten ma-chen dies deutlich:

200. Überlieert in abaqāt Ibn Sa‘d , Bd. III, 258.

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Der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – sandteBotschater zu den verschiedenen Stämmen in der Umgebung Me-dinas, um sie den Islam zu lehren. Die Stämme der ‘Adhl und Qāragehörten zu jenen Stämmen, und der Prophet – Allāh segne ihnund schenke ihm Frieden – sandte eine Gruppe von zehn seinerGeährten zu ihnen. Unterwegs wurde diese Gruppe angegrien.Acht dieser Geährten wurden im Kamp getötet und zwei vonihnen wurden geangen genommen. Der Klan, der diese beiden,Zayd ibn Dithana und Khubayb (ibn ‘Ādī al-Khazrajī), geangen

genommen hatte, überstellte sie den Götzenanbetern von Mekka,die darauhin beide ermordeten. Bevor sie ihn töteten, ragten dieGötzenanbeter Zayd – möge Allāh mit ihm zurieden sein: „Wärees dir nicht lieber, wenn Muhammad jetzt an deiner Stelle wäre?“

Zayd schaute Abū Suyān, der ihm diese Frage gestellt hatte,mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck an und antwortete: „Nein!Bei Allāh, ich würde es nicht einmal vorziehen, mit meiner Frau

und meinen Kindern in Glück und Frieden zu leben, wenn Mu-hammads Fuß auch nur von einem Dorn gestochen würde!“201

Abū Suyān war zutiest beeindruckt von diesem Ausdruck unvergleichlicher Liebe. Er sagte: „Nie zuvor habe ich au dieserWelt Menschen gesehen, die jemanden so lieben, wie die GeährtenMuhammad lieben.“

Danach gingen die Götzenanbeter zu Khubayb – möge Allāhmit ihm zurieden sein – und boten ihm an, ihn reizulassen, wenn

er seinen Glauben augäbe. Der edle Prophetengeährte entgegnetemit klaren Worten: „Selbst wenn ihr mir daür die ganze Welt an-bötet, würde ich meine Religion niemals au geben.“

Bevor er den Märtyrertod starb hatte Khubayb – möge Allāhmit ihm zurieden sein – nur einen einzigen Wunsch: Er wollte demPropheten seinen Friedensgruß [salām] entbieten. Doch wer könnte

201. Überlieert von Abu Nu‘aym in Ma‘ria al-Sahāba.

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diesen Gruß überbringen? Im Bewusstsein seiner Ohnmacht schau-

te er zum Himmel empor und bat in absoluter Aurichtigkeit: „Omein Herr! Hier ist niemand, der meinen Gruß überbringen könn-

te, darum bitte ich Dich, übermittle Du Deinem Gesandten meinen

Gruß!“

Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – be-

and sich zu jenem Zeitpunkt in Medina und war umgeben von sei-

nen Geährten. Plötzlich sagte er unvermittelt: „‘Alayhi al-Salām! “,

was ungeähr bedeutet: „Möge der Friede und Segen Allāhs au ihm

sein!“ Die Geährten waren überrascht, dies zu hören und ragten:

„O Gesandter Allāhs! Wem hast du mit diesem Gruß geantwortet?“

Er erwiderte: „Dem Gruß eures Bruders Khubayb.“

Schließlich töteten die Götzenanbeter Mekkas die beiden Ge-

ährten, nachdem sie sie zuvor grausam geoltert hatten. Khubaybs

letzte Worte waren äußerst beeindruckend. Er sagte: „So lange ich

als Muslim den Märtyrertod sterbe, kümmert es mich nicht, au 

welche Weise ich zu Tode komme!“202

Ebenso wetteierten die jüngeren Geährten aus Liebe zu Allāhs

Gesandtem – Segen und Friede seien au ihm – um die Ehre, ihm

als Botschater dienen zu düren, indem sie seine Briee überbrach-

ten, mit denen er zum Islam einlud. Mit der Absicht, ihm auch nur

einen einzigen Wunsch zu erüllen, baten sie darum, ihm zu Diens-

ten sein zu düren, selbst wenn es ihnen große Oper abverlangte.Ein eindeutiger Beweis ihrer unendlichen Liebe zu Allāhs Gesand-

tem ist die Tatsache, dass sie, nachdem sie riesige Wüstengebiete

durchquert und hohe Gebirge überwunden hatten, urchtlos die

Botschaten des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm

202. Überlieert in Sahīh al-Bukhārī , Kitāb al-Maghāzī , 10, sowie von al-Wāqidīin seinem al-Maghāzī , S. 280-281.

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Frieden – in der Gegenwart der mächtigsten Herrscher verlasen,während hinter ihnen die Scharrichter bereit standen.

Die Liebe, der Respekts und die Ehrerbietung der Geährtenür den Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –war so groß, dass sie sich kaum trauten, ihn zu beschreiben, wie inden olgenden Begebenheiten deutlich wird:

Khālid ibn Walīd – möge Allāh mit ihm zurieden sein – durch-querte einmal das Gebiet eines der Araberstämme. Der Führer des

Stammes beragte ihn und bat ihn, er möge ihm den GesandtenAllāhs – Segen und Friede seien au ihm – beschreiben. Doch Khālidibn Walīd antwortete ihm: „Ich kann ihn nicht beschreiben!“

Der Stammesührer bestand jedoch au seinem Verlangen undsagte: „Dann erzähle mir über ihn soviel du kannst.“

Khālid – möge Allāh mit ihm zurieden sein – antwortete: „Ichkann dir nur soviel sagen: die Stellung eines Gesandten richtet sich

nach der desjenigen, der ihn gesandt hat. Da es der Schöper desUniversums ist, der Rasūl Allāh gesandt hat, magst du versuchen,dir anhand dieser Tatsache ein Bild von der Stellung Seines Ge-sandten zu machen.“

Ähnlich beantwortete ein anderer bedeutender Geährte, ‘Amribn al-‘Ās – möge Allāh mit ihm zurieden sein – die gleiche Frage.Er sagte: „Ich war wegen meiner gewaltigen Ehrerbietung ür denGesandten Allāhs – Segen und Friede seien au ihm – nie in derLage, ihn mir genau anzuschauen. Deshalb bin ich, wenn ihr nun

 verlangt, ich solle ihn euch beschreiben, nicht wirklich dazu in derLage.“

Die große Liebe der Geährten zu ihrem Propheten – Allāh segneihn und schenke ihm Frieden – ist deutlich daran zu erkennen, wiesie seinen Anordnungen bis ins letzte Detail gehorchten und sein

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 vorzügliches, beispielhates Verhalten verinnerlichten. Dies liegtdaran, dass der Liebende dem Geliebten entsprechend dem Gradseiner Liebe nacholgt. Der Gesandte Allāhs – Segen und Friedeseien au ihm – war eine Barmherzigkeit ür alle Welten, und erbetrachtete die gesamte Schöpung mit grenzenloser Liebe und Zu-neigung. Dies maniestierte sich auch in seinen Geährten, die ihmin großer Liebe zugetan waren, wie zum Beispiel bei olgender, vonAbū ‘Abd al-Rahmān al-Jabalī überlieerten, Begebenheit:

Während eines Feldzuges gegen die Byzanthiner waren wir gemein-sam mit Abū Ayyūb al-Ansārī – möge Allāh mit ihm zurieden sein– au einem Schi. Unser Beehlshaber war ‘Abd Allāh ibn Qays. Alsder edle Geährte Abū Ayyūb al-Ansārī zu dem ür die Verteilungder Kriegsbeute und Kriegsgeangenen Verantwortlichen kam, saher eine Frau, die weinte. Die Frau war eine der Kriegsgeangenen.Abū Ayyūb ragte, warum die Frau weinte und man berichtete ihm:

„Diese Frau hat ein Kind und man hat sie von ihrem Kind getrennt;darum weint sie.“Abū Ayyūb al-Ansārī – möge Allāh mit ihm zurieden sein

– machte sich augenblicklich au die Suche nach dem Kind undbrachte es zu seiner Mutter zurück, worauhin sie auhörte, zu wei-nen. Der ür die Verteilung der Kriegsbeute Verantwortliche gingdarauhin zu seinem Beehlshaber ‘Abd Allāh ibn Qays und berich-tete ihm, was Abū Ayyūb al-Ansārī getan hatte. ‘Abd Allāh berag-

te darauhin Abū Ayyūb, warum er dies getan habe, worau dieserantwortete: „Ich hörte den Gesandten Allāhs – Segen und Friedeseien au ihm – sagen: „Allāh wird diejenigen, die eine Mutter vonihrem Kind trennen, am Tag des Jüngsten Gerichts von all jenentrennen, die sie lieben!“203 

203. Überlieert von Ahmad bin Hanbal in seinem Musnad , Bd. V, 422; sowie inTirmidhīs Sunan, Kitāb al-Buyū‘ , 52; Nr. 1283.

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Wie dieser Vorall deutlich zeigt, verlangt die Liebe zu Allāh undSeinem Propheten – Segen und Friede seien au ihm –, dass manallen Geschöpen mit Mitgeühl, Zuneigung und Liebe begegnet.Dies ist so, weil die vorzüglichsten Früchte des Glaubens Liebe undBarmherzigkeit sind. Das olgende lehrreiche Beispiel demonstriertdie Segnungen, die Mitgeühl und Liebe gegenüber den Geschöp-en mit sich bringen, und wie solche Charaktereigenschaten denMenschen zur Quelle des Glaubens hinühren:

Während des goldenen Zeitalters [‘asr al-sa‘āda] zu Lebzeiten desPropheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – gab esunter seinen Geährten einen Mann namens Hakīm ibn Hizām, derein Verwandter der ehrwürdigen Khadīja, der Eherau des Prophe-ten, war. Hakīm war bekannt ür seine großzügige Hilsbereitschat,sein Mitgeühl und seine Wohltätigkeit. In der vorislamischen Zeitder Unwissenheit [ jāhiliyya] hatte er Familien deren Töchter abge-

kaut, die beabsichtigten, diese zu töten, weil sie kein Mädchen ha-ben wollten. Er hatte diese Mädchen unter seine Obhut genommenund augezogen. Einmal ragte er den Propheten bezüglich dieserguten Werke, die er getan hatte, bevor er den Islam annahm. DerProphet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – antworteteihm: „Diese guten Taten sind die Ursache daür, dass dir die Ehredes Islam zuteil geworden ist.“204

Wenn es ür diejenigen, die ern des wahren Glaubens leben, dengrößten denkbaren Lohn, nämlich die Ehre der Annahme der wah-ren Religion, mit sich bringt, wenn sie den Geschöpen voller Mit-geühl begegnen, ist es logisch, dass ein solches Verhalten jenen, diebereits Gläubige sind, um so größeren Gotteslohn bringen sollte.

204. Überlieert von al-Bukhārī und Muslim in ihren Sahīhs, sowie von Ahmad inseinem Musnad .

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Wahrer Glaube ist das größte Geschenk Allāhs an Seine Diener;und unser Herr gebietet uns, dieses Geschenk unser Leben lang,bis zu unserem letzten Atemzug, sorgältig zu bewahren. Im EdlenQur’ān heißt es:

{O ihr, die ihr glaubt, ürchtet Allāh, wie es Ihm gebührt, und sterbt nicht anders, denn als gläubig Gottergebene.}205

Zu den kostbarsten Früchten der Segnungen des Glaubens gehören

die Betrachtung der Schöpung aus der Sichtweise ihres Schöpersund die Gabe, allen Geschöpen in Liebe gegenüberzutreten. Dieserhebt den Diener empor zu immer höheren Stuen und lässt ihneintreten in eine Welt der Vergebung, Barmherzigkeit und Liebe.Mit diesen Eigenschaten ausgestattet, wird er zu einem Segen ürdie gesamte Schöpung. Der große Gottesreund Meister Jalāl al-Dīn Rūmī illustriert diesen Punkt mit olgendem höchst lehrrei-

chen Exempel:

Einmal kam ein Betrunkener zu seinem Sui-Konvent, als dort ge-rade eine Zusammenkunt mit einer Ansprache [suhba] stattand.Die Derwische und Schüler wollten, dass er ging und versuchten,ihn mit Beschimpungen davonzujagen. Meister Jalāl al-Dīn Rūmīhingegen behandelte den Betrunkenen wie einen, der gekommenwar, den wahren Glauben zu suchen, und sagte, an jene gewandt,

die den Betrunkenen beschimpt hatten: „Obwohl es oensichtlichist, dass er es ist, der Wein getrunken hat, scheint es mir, dass ihrdiejenigen seid, die dem Rausch anheim geallen sind!“

Diese Geschichte lieert ein konkretes Beispiel daür, dass die na-türliche Abscheu gegen eine Sünde nicht verallgemeinert au den,

205. Qur’ān, 3:102.

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der sie begangen hat, übertragen werden dar. Im Gegenteil: Mansollte einen Sünder wie einen verletzten Vogel betrachten, der mit-ühlende Behandlung verdient, und ihm einen Platz im Palast desHerzens gewähren, wo ihm Erziehung und Rechtleitung zuteil wer-den können. Scheikh Ahmad Yesevī ormuliert dies in den wun-derbaren Worten:

Wo auch immer du einem begegnest, dessen Herz gebrochen ist,sei Medizin ür ihn! 

Wenn solch ein Entmutigter seinen Weg nicht mehr weiter  gehen kann, teile sein Leid mit ihm! 

Dabei düren wir nicht vergessen, dass die Gemeinschat der Gläu-bigen, deren Segnungen wir heute genießen, ein Erbe des Golde-nen Zeitalters des Propheten Muhammad – Allāh segne ihn undschenke ihm Frieden – ist. Die bedeutenden Prophetengeährten

und Gottesreunde unternahmen die größtmöglichen Anstrengun-gen, den nacholgenden Generationen dieses heilige Vermächtnis vollständig zu übermitteln. Ihre Lebensläue gleichen Umlaubah-nen, in deren Zentrum sich stets die Liebe zu Allāh beand. So wur-den sie zu Sternen am Firmament unseres Glaubens, zu Lehrern inder Schule der Wahrheit, zu Segnungen und zur Barmherzigkeitür unser tägliches Leben, zum Licht unserer Tage, und zu ZeugenAllāhs, des majestätisch Erhabenen, au Erden.

Die außergewöhnlichen Oper und Anstrengungen des Pro-pheten, seiner Geährten, der Heiligen und der rechtschaenenDiener Allāhs au dem Wege Seiner Religion – allesamt geprägt

 von vollkommener Gottesliebe – sollten uns als Vorbild dienen.Wir sind daür verantwortlich, dieses göttlich anvertraute Gut nie-mals zu verlieren und alle Anstrengungen zu unternehmen, es ganzund in seiner ursprünglichen Reinheit und Klarheit ür zuküntige

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Generationen zu bewahren; und dies wird von entscheidendemEinluss au unser ewiges Glück im Jenseits sein. Die Herzen derwahrhat Gläubigen sollten ständig die höchsten Stuen der Freudedes Glaubens und der Gottesliebe empinden, denn wahres Glück beginnt in der Tat erst mit dem Überschreiten der Begrenzungenaller unbedeutenden, vergänglichen Formen von Liebe.

Voraussetzung ür das Erreichen zeitlos ewiger Segnungen istdie Bereiung aus der Sklaverei vergänglicher Liebe. Es ist nur mög-lich, das Herz von solch vorübergehenden Formen der Liebe leer

zu machen, wenn bei jeder Form von Liebe eine Verbindung zumendgültigem Ziel aller Liebe, das heißt, zur Gottesliebe, der Liebezu Allāh, hergestellt wird. Alle guten Taten, wie die Liebe zu Volk und Vaterland, die Liebe ür Kinder und Familie, Brüderlichkeit inder Religion, Gottesdienst, Wohltätigkeit und vortreliches Beneh-men, ühren zur göttlichen Liebe und zum göttlichem Wohlgeal-len, wenn sie in der Liebe zu Allāh gegründet sind.

Die tiee Liebe der Geährten zu Allāh und Seinem Gesandten– Segen und Friede seien au ihm – und die daraus erwachsendeArt und Weise, die Schöpung aus der Sichtweise ihres Schöperszu betrachten, sind Beispiele daür. Ihnen gelang es, ihr gesamtesDasein in Liebe zu Allāh hinzugeben. Selbst diejenigen Geähr-ten, die über keinen nennenswerten Besitz verügten, operten,ohne zu zögern, was immer sie im Laue ihres Lebens verdienthatten, um nicht von Allāh und Seinem Gesandten – Allāh segneihn und schenke ihm Frieden – getrennt, sondern mit ihm vereintzu sein.

Der Dichter Fuzūlī beschreibt im olgenden Gleichnis das Herz alsZentrum der Liebe, und wie der Mensch sich ganz und gar in Liebe

 verlieren kann:

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Während Majnūn in Laylas Dor umherirrte, kamen Fremdeund ragten ihn, wo das Haus Laylas sei.

Majnūn antwortete: „Müht euch nicht vergeblich mit der Su-che nach ihrem Hause ab!“ 

Dann zeigte er au sein Herz und sagte: „Dies ist der Ort, wodie Wohnstatt Laylas ist.“ 

Wir sollten über dieses Gleichnis nachdenken und uns ragen, inwieweit unsere Herzen Orte sind, au denen der göttliche Blick ruht.

Mit anderen Worten: In welchem Maße sind unsere Herzen erüllt von der Liebe zu Allāh und seinem Gesandten – Allāh segne ihnund schenke ihm Frieden? Spiegelt sich in unseren Gebeten undin unserem Tun die Freude des Glaubens wider? Oder ist das WortLiebe nur eine leere Floskel, die nicht über unsere Lippen hinaus-geht und niemals wirklich unser Herz erreicht? Wie weit sind unserHerzschlag, unsere Einstellungen und unser Tun im Einklang mit

dem Qur’ān und der Sunna? In welchem Maße sind wir ähig, ver-gängliche weltliche Segnungen in Mittel zur Erlangung göttlicherLiebe zu verwandeln?

Wir sollten unseren eigenen Zustand überprüen, entspre-chend jenem Grundsatz, den der Kali ‘Umar – möge Allāh mitihm zurieden sein – zum Ausdruck brachte, als er sagte: „Leg Re-chenschat vor dir selbst ab, bevor du vor dem göttlichen GerichtRechenschat ablegen musst!“206 

Welch großes Glück ist jenen beschieden, die sich ein Beispielan der vorbildlichen Persönlichkeit und Spiritualität des Prophe-ten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – nehmen, undau diese Weise die erhabene Wirklichkeit göttlicher Liebe erahrendüren!

206. Überlieert von Ibn Kathīr in seinem asīr , Bd. I, 27.

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O unser Herr, gewähre unseren Herzen die Zierde der Segnungendes Glaubens! Lass uns die Hässlichkeit des Unglaubens und desUngehorsams deutlich erkennen und uns von ihnen ernhalten,wie es uns beohlen wurde! Lass uns jene lieben, die Du liebst und

 jene verabscheuen, die Du verabscheust! Und lass uns erüllt vonLiebe zu Dir, zu Deinem ehrwürdigen Gesandten und zu denen,die Du liebst, aus dieser Welt scheiden!

Āmīn!

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Geht es nicht ohne Tasawwuf  ?

Dieses Kapitel enthält ein im August 2002 in der Zeitschrit Altınoluk  veröentlichtes Interview mit dem Autor an-lässlich des Erscheinens seines Werkes İmandan İhsana

asavvu [Vom Glauben zur Vorzüglichkeit: asawwu ].

 Altınoluk: In Ihrem Buch İmandan İhsana asavvu  vertre-ten Sie die Ansicht, dass die Methoden des asawwu  eineentscheidende Rolle bei der Einladung zum Islam, sowie au dem Weg zur Vervollkommnung der menschlichen Seele undihrer Rechtleitung hin zur Wahrheit spielen? Worin liegen Ih-rer Ansicht nach die Geheimnisse dieses Erolgs?

Osman Nuri Topbaş: asawwu ist eine bestimmte Methode, Men-schen in ihrer islamischen Lebenspraxis zu erziehen. Der äußereAspekt des Islam, das göttliche Gesetz [scharī‘a] benutzt vorwie-gend das Konzept von Belohnung und Strae, um die Menschendahin zu bringen, ein tugendhates Leben zu ühren. Das heißt,innerhalb der Scharī‘a sind die Honung au das Paradies und dieFurcht vor dem Hölleneuer die grundlegenden Konzepte, die dasLeben eines Muslims bestimmen. asawwu , der innere Aspekt desIslam, hingegen, wendet praktizierte Liebe und Barmherzigkeit alsihre wichtigsten – über die Belohnung im Paradies und die Stra-e im Hölleneuer hinausgehenden – methodischen Ansätze an.Heutzutage leiden die Menschen unter ihren Sünden und irren au-ßerhalb des schützenden Schilds der Religion umher. Dies ist einedirekte Folge ihrer Versklavung durch ihr Ego [nas]. Die Rettung

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ür diese Sünder erreicht sie am ehesten au dem Weg der Barm-herzigkeit und Liebe. Deshalb kommt den Methoden des asawwu eine besondere Bedeutung zu, denn die Sünder brauchen jene san-te Hand, die ihnen der Sui-Weg reicht. Nicht nur bei uns, sondernauch in der westlichen Welt hat sich gezeigt, dass die Methoden derSuis viele Menschen zum Islam bringen. Sie bieten jenen, die – ge-angen in den Klauen ihres Egos oder betört von Theorien, die al-lein au menschlicher Logik beruhen – unterzugehen drohen, denIslam wie einen neues Leben spendenden Atemzug dar.

Wir sollten nicht mit Hass und Rachegeühlen au Sünder zu-gehen, sondern ihnen durch Barmherzigkeit und Mitgeühl neueHonung schenken. Ein Sünder ist wie jemand, der im Meer er-trinkt, und es ist unsere Plicht, diesem Menschen unsere Händeentgegenzustrecken. Ihn zu verluchen oder zu schelten, ist eineganz und gar unpassende Methode, um ihn aus seiner schreckli-chen Situation zu retten. Der Mensch besitzt – selbst wenn er sich

noch so weit von seinem Daseinszweck enternt haben mag – alleindurch die ihm von Natur aus innewohnende, gottgebene Würdeseines Menschseins einen hohen Wert und große Ehre. Dabei lie-ße sich ein Sünder (wie schon oben erwähnt) mit dem gesegnetenschwarzen Stein der Ka‘ba vergleichen, wenn dieser in den Schmutzgeallen wäre. Keinem Muslim wäre die traurige Situation dieseskostbaren Steines gleichgültig; alle würden soort herbeieilen, ihnsäubern und an den ihm gebührenden Platz zurückbringen, denner stammt aus dem Paradies und besitzt deshalb in den Augen derGläubigen einen hohen Wert. Dementsprechend kann uns auch dertraurige Anblick eines hilsbedürtigen Menschen nicht gleichgül-tig sein; wir sollten uns beeilen, ihm zu helen – sei es in materielleroder spiritueller Hinsicht.

Allāh, der Allmächtige, hat uns mitgeteilt, dass Er dem Men-schen, als Er ihn erschu, von Seinem Geist eingehaucht hat. Aus

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diesem Grunde besitzt jeder Mensch göttliche Geheimnisse. Ganzgleich, wie viele Sünden er begehen mag, besitzt er dennoch einenihm von Geburt an innewohnenden Wert, der durch nichts zer-stört werden kann. Wie Meister Jalāl al-Dīn Rūmī sagt, gleicht derMensch klarem, reinem Wasser, durch das man hindurchschauenkann. Wenn dieses Wasser jedoch verschmutzt ist, können wir nichtmehr hindurchsehen. Um das göttliche Licht sehen zu können, istes notwendig, dieses Wasser von seinen Verunreinigungen zu be-reien. asawwu ist eine Methode, die Seele des Menschen von den

Begierden des Fleisches zu bereien. Dabei schließen die Suis nie-manden von diesem Prozess der Läuterung aus; auch dann nicht,wenn ein Mensch tie in Sünde versunken ist. Sie bieten jedem, derbereit ist, diese anzunehmen, eine Chance. Im Leben des Propheten– Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – inden sich viele Bei-spiele ür seinen barmherzigen Umgang mit allen möglichen Arten

 von Sündern.

So enthielt der Prophet – Segen und Friede seien au ihm –selbst Wahschī, obwohl dieser seinen heißgeliebten Onkel Hamza– möge Allāh mit ihm zurieden sein – getötet hatte, nicht seineBarmherzigkeit vor. Da er selbst wegen dieses Ereignisses sehr be-drückt war, sandte der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihmFrieden – einen Boten zu ihm, um ihn zur Annahme des Islam ein-zuladen. Darauhin sandte Wahschī die olgende Antwort: „O Mu-hammad, wie kannst Du mich zum Islam einladen, wenn das Urteil

Allāhs lautet: {[…] und jene, die neben Allāh keine andere Gottheit anruen und keinen Menschen töten, den Allāh ür unantastbar er-klärt hat – es sei denn bei vorliegender Berechtigung – und die keineUnzucht begehen. Wer dies jedoch tut, wird die Folge der Sünde er-leiden: die Strae wird ihm am ag der Auerstehung verdoppelt wer-den und er wird darin in Schmach ewig weilen.}207 Ich habe alle in

207. Qur’ān, 25:68-69.

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diesem Vers erwähnten Sünden begangen, wo soll es ür mich noch

einen Weg zur Rettung geben?“Doch Allāh, der Erhabene, oenbarte Seine Worte: {Sprich:

 „O meine Diener, die ihr euch gegen euch selbst vergangen habt,

verzweielt nicht an der Barmherzigkeit Allāhs; wahrlich, Allāh ver-

 gibt die Sünden allesamt – ürwahr, Er ist der All-Verzeihende, der 

 All-Barmherzige.“ }208 Als Wahschī diesen Vers hörte, war er sehrglücklich, und sagte: „O mein Herr, wie gewaltig ist Deine Gnade!“Er bereute aurichtig all seine Sünden und nahm, gemeinsam miteinigen seiner Geährten, den Islam an.

Das Licht des asawwu entspringt solchen Beispielen aus demLeben des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden–; desjenigen, dem die vollkommensten Maniestationen der göttli-chen Eigenschaten und die Ehre, die Oenbarung Allāhs zu emp-angen, zuteil wurden. Nach Ansicht der Suis besitzt der Mensch

eine ganz besondere Stellung innerhalb der Schöpung, da er mit

dem Potential erschaen wurde, Allāhs Stellvertreter au Erden zusein. Er ist „der Augapel“ des Universums, und keine Sünde kanndiese Ehrenstellung zunichte machen. Der asawwu  betrachtetdies in einer sehr ausgewogenen Art und Weise: Der Sünder wirdakzeptiert, doch die Sünde selbst wird niemals toleriert. Wir solltendie Sünde hassen und dem Sünder gegenüber barmherzig sein, umihn aus dem Abgrund, in den er gestürzt ist, zu retten.

Indem er dies zu verwirklichen trachtet, bietet der asawwu der Menschheit die erolgreichste Methode an, zum Islam einzu-laden. Es liegt in der menschlichen Natur, sich nach jemandem zusehnen, der einem in Liebe und voller Barmherzigkeit die Handentgegenstreckt – so wie es dem Weg der großen Suis, wie zumBeispiel ‘Abd al-Qādir al-Jīlānī, Yūnus Emre, Schāh Bahā’ al-Dīn

208. Qur’ān, 39:53.

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al-Naqshband, Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī, und vieler anderer be-rühmter Gottesreunde – entspricht.

 Altınoluk: Wie Sie ausgeührt haben, ührt asawwu  dieMenschen von den Stuen der Unreie zu den Stuen derVollkommenheit. Wenn wir von dieser Prämisse ausgehen,welche Rolle sollte asawwu dann Ihrer Ansicht nach im Le-ben eines Muslims spielen? Oder, anders geragt: Geht es nichtohne asawwu ?

Osman Nuri Topbaş: Sie haben eine sehr wichtige Frage gestellt. Ichmöchte darau eingehen, indem ich Ihnen die olgende Geschichteerzähle, die ich von meinem Vater, Musa Eendi, gehört habe:

Wir hatten einen Nachbarn der (vom Christentum) zum Islamübergetreten war. Eines Tages ragte ich ihn, was ihn veranlasst hat-

te, den Islam anzunehmen. Er antwortete:

„Ich bin wegen unseres Nachbarn Rebī Molla, dessen Grundstück inAcıbadem neben dem unseren lag, und wegen seines vorbildlichenVerhaltens im geschätlichen Umgang, Muslim geworden. MollaRebī besaß Kühe und lebte davon, deren Milch zu verkauen. EinesTages kam er zu uns nach Hause, überreichte mir eine große KanneMilch, und sagte: ‚Bitte sehr, das ist eure Milch.‘ Ich wunderte michund sagte: ‚Wieso? Wir haben bei Ihnen doch gar keine Milch be-stellt!‘ Da sagte dieser empindsame, gütige Mensch: ‚Zu meinemBedauern musste ich heute eststellen, dass eines meiner Tiere,ohne dass ich es bemerkt hätte, in Ihren Garten hinüber gewandertist und dort gegrast hat. Deshalb gehört seine Milch Ihnen, und ichwerde Ihnen solange dessen Milch bringen, bis dieses Gras gänzlichaus seinen Mägen heraus ist.‘ Ich antwortete: ‚Lieber Nachbar, das

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ist doch nicht der Rede wert, und das Gras, dass die Kuh geressenhat, ist vergeben und vergessen! Ich will nichts daür haben.‘ Docher bestand darau, dass die Milch mir zustehe, und hörte nicht au,mir Milch zu bringen, bis die Kuh das Gras vollkommen verdautund ausgeschieden hatte. Das edle Benehmen dieses gesegnetenMenschen beeindruckte mich so sehr, dass in der Folge der Schlei-er der Achtlosigkeit [ ghaa] von meinen Augen genommen wurdeund die Sonne der Rechtleitung ür mich auging. Ich sagte mir:‚Die Religion eines derart aurichtigen Menschen muss der rechte

Weg sein. Niemand kann Zweiel an der Wahrheit einer Religionhegen, die solch gütige, gerechtigkeitsliebende und vollkommeneAnhänger hat wie ihn.‘ Also sprach ich das Glaubensbekenntnis[schahāda] und wurde zum Muslim.“

Wie diese Begebenheit und zahllose ähnliche belegen, sind dieSuis und ihre Methoden zur Vervollkommnung des Charakters

der Gläubigen wichtige Ursachen ür die Ausbreitung des Islam.Dabei wirkt asawwu  au zweierlei Weise: Zum einen, indem erVerhalten und Charakter der Gläubigen vervollkommnet, zumanderen, indem er durch das vorbildliche Benehmen der Suis zurVerbreitung des Islam beiträgt. asawwu zeigt den Nichtmuslimendas barmherzige Gesicht des Islam und trägt dazu bei, diesen inseiner wahren Form zu repräsentieren. Islam bedeutet sowohl Ge-setz als auch Bewusstsein der göttlichen Gegenwart, sowohl Fatwā[Rechtsgutachten] als auch aqwā [Gottesurcht]. Die rechtlichenAspekte des Islam gleichen den Säulen seines Gebäudes, währenddie Gottesurcht, welche dem Charakter der Suis entspricht, denübrigen Gebäudeteilen entspricht, die das ganze Gebäude sowohl

 verschönern als auch in seiner Struktur verstärken. asawwu hiltden Muslimen – zusätzlich zu der Vervollkommnung ihres Cha-rakters – dabei, diese beiden Aspekte des Islam zu vereinen.

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Darüber hinaus ermöglicht der asawwu der Menschheit, sowohlden Qur’ān als auch das Dasein zu begreien, und ihre Stellung undVerantwortung innerhalb des Universums zu erkennen. Mit seinenPrinzipien der Gottesliebe und Gotteserkenntnis ist asawwu ürdie Gläubigen wie ein zur Himmelahrt [mi’rāj] des Herzens zuAllāh hin geönetes Fenster der Seele. Kurz gesagt, ist der Sui-Wegzur Erziehung des Herzens und der Seele unerlässlich; das heißt,asawwu  ist im Leben eines jeden Muslims, mehr oder weniger,notwendig.

Die Frage „Geht es nicht ohne asawwu ?“ gleicht der Frage,ob es denn nicht auch ohne asīr , ohne Hadīth, ohne Theologie[kalām], ohne Rechtswissenschat [ qh] oder all die anderen wich-tigen islamischen Wissenschaten geht. Den asawwu  als einenüberüssigen Bestandteil des Islam zu betrachten, hieße so viel, wiedas Streben nach Aurichtigkeit, Gottesurcht, Läuterung des Egos,die Reinigung des Herzens und, zu guter Letzt, die Verwirklichung

der Stue der Vorzüglichkeit [ihsān] ür unnötig zu erklären! a-sawwu ist, im Grunde genommen, nichts weiter als ein Begri, derür die Entaltung und Verwirklichung all dieser guten Eigenscha-ten steht.

Selbst jene, die sich diesen Prinzipien entsprechend verhalten,ohne den allgemeinen Oberbegri zu verwenden, unter den dieseallen, können – ebenso wie jene, die dabei die Terminologie des a-sawwu ablehnen – getrost zu denen gezählt werden, die asawwu praktizieren. Denn die Namen sind nicht das Entscheidende, solangedie entsprechenden Prinzipien in der Lebenspraxis in die Tat umge-setzt werden. Wir können asawwu genauso gut mit aqwā [Gottes-urcht] oder Zuhd [Weltentsagung] oder Ihsān [Verwirklichung vonVorzüglichkeit] beschreiben, weil diese Begrie alle letztendlich au die gleiche Wirklichkeit hinweisen und demselben Zweck dienen.Im Zentrum all dieser Begri e steht die Praxis des vollkommensten

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Meisters und Lehrers der Menschheit, des Propheten Muhammad

– Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und seiner edlen Ge-ährten, die ihre Erziehung durch ihn selbst genossen, und deren

erhabene Persönlichkeiten – den Sternen am Sternenhimmel gleich

– vom Licht dieser spirituellen Charakterbildung erstrahlen.

Auch das Herz bedar der Erziehung, um inneren Frieden,

Glück, Ruhe und Zuriedenheit zu inden. Selbst der Prophet –

Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, der mit der göttlichen

Oenbarung gesegnet wurde, durchlie eine spezielle Form von Er-

ziehung, bevor ihm das Prophetentum zuteil wurde. Er plegte sich

in eine Höhle im Berg Hīra zurückzuziehen und dort seine Zeit in

Gottesdienst und Kontemplation zu verbringen. Ein solches spezi-

elles Widmen einer Zeitspanne ür Gottesdienst wird au Arabisch

als I’tikā bezeichnet. Auch nachdem er zum Propheten geworden

war, plegte der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien au ihm

– weiterhin diese Praxis, indem er sich die letzten zehn Tage des

Ramadān in die Moschee zurückzog und dort seine gesamte Zeitdem Gottesdienst widmete.

In ähnlicher Weise verbrachte auch der Prophet Mūsā – au 

ihm sei der Friede – vierzig Tage in Gottesdienst und Kasteiung

bevor ihm au dem Berg Sinai der Segen der Ansprache Allāhs, des

Erhabenen, zuteil wurde. Der Prophet Yūsu – au ihm sei Friede –

 verbrachte zwöl Jahre im Geängnis, bevor er zum Verwalter Ägyp-

tens wurde. Er durchlebte die verschiedensten Schwierigkeiten undPrüungen, während derer er seine Persönlichkeit immer weiter in

Hingabe und Gottesdienst vervollkommnete, bis sein Herz völlig

 von jeglichem Vertrauen au vergängliche Wesen geläutert war und

schließlich ganz allein Allāh, dem Erhabenen, gehörte.

Bevor er seine Himmelsreise [mi’rāj] antrat, wurden dem ehr-

würdigen Propheten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke

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ihm Frieden – die Geheimnisse der Sure al-Inschirāh209 erönet. Sei-ne Brust wurde ihm geönet und sein Herz wurde gereinigt; dannwurde es mit Wissen und spiritueller Weisheit erüllt. Au diese Wei-se wurde er au all die wundersamen und außergewöhnlichen Ge-schehnisse vorbereitet, denen er während der Mi’rāj begegnen sollte.

Wenn selbst Allāhs auserwählte Diener, die Propheten, sich ei-nem spirituellen Training und einer Reinigung des Herzens unterzie-hen mussten, wie können dann gewöhnliche Sterbliche wie wir ohneeinen solchen Prozess auskommen? Selbst ein einziges Haar, das

 von der Unreinheit weltlichen Verlangens verunreinigt ist, kann sichnicht dem göttlichen Licht der spirituellen Welt nähern. Eine Nase,die von Schmutz blockiert ist, kann nicht den Dut von Blumen undRosenblüten riechen, und durch ein beschlagenes Fenster könnenwir nichts sehen. Und ebenso, wie ein Teilchen einer unreinen oderragwürdigen Substanz einen ganzen Krug reinen Quellwassers un-genießbar machen kann, können spirituelle Verunreinigungen das

Herz am Empang göttlicher Erleuchtung und spiritueller Segnun-gen hindern. Um die Bedeutung der Notwendigkeit der Reinigungdes Herzens von allen möglichen weltlichen Krankheiten zu beto-nen, verkündet Allāh, der Allmächtige, im Qur’ān:

{ An jenem age werden weder Besitz noch Nachkommen nützen,sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzen er scheint.}210

Nur durch spirituelles Training ist es dem Menschen möglich, seinHerz von allen Arten übler Gedanken zu bereien. Bevor es einederartige Erziehung genossen hat, ist das Herz wie ein Stück groben,ungeschmiedeten Eisens. Es muss erst einmal im Feuer erhitzt wer-den, um Verunreinigungen zu enternen, und dann mit schweren

209. Qur’ān, 94:1-8.210. Qur’ān, 26:88-89.

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Schmiedehämmern bearbeitet werden, um schließlich die ihm be-stimmte Form zu erlangen. Wenn das Herz dann durch das spiritu-elle Training vervollkommnet ist, kann es schauen und erkennen,was die physischen Augen nicht sehen und der Verstand nicht be-greien kann. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī beschreibt seinen eigenenZustand, bevor er den spirituellen Weg beschritt, mit den Worten:„Ich war roh!“ – obwohl er zu jener Zeit bereits einen angesehenenPosten au dem Gebiet der äußeren Wissenschaten des Islam an ei-ner seldschukischen Hochschule [madrasa] bekleidete –, während

er über jene Phase, in der sich ihm die Mysterien des Universumswie ein Buch enthüllten, sagte: „Ich war gekocht.“Die Geährten des Propheten – Allāh segne ihn und sie und

schenke ihnen allen Frieden – sind die erhabensten Beispiele solchspiritueller Vollkommenheit. Vor der Ankunt des Islam warenmanche von ihnen so hartherzig gewesen, dass sie ihre eigenenTöchter bei lebendigem Leibe begruben. Nachdem sie den Islamangenommen hatten, wurden sie zu Denkmälern der Barmherzig-

keit und Empindsamkeit des Herzens.Kurz gesagt, können wir natürlich den Islam ohne asawwu 

praktizieren, doch werden wir dann niemals Vollkommenheit er-reichen. Denn wenn die Methoden der Suis aus der Praxis des Is-lam ausgeschlossen werden, kann niemand mehr die als Ihsān be-kannte Stue der Vorzüglichkeit erreichen, welche bedeutet, Allāhso zu dienen, als würde man Ihn sehen, und auch wenn man Ihnnicht sieht, zu wissen, dass Er einen sieht.

 Altınoluk: Was würden Sie, über das bereits Erwähnte hinaus,unseren Lesern, die bestimmt gerne Ihre spirituellen Beglei-ter au dem Sui-Weg sein möchten, raten? Wir sind sicher,dass diese bereits au das Erscheinen Ihres Buches İmandanİhsana asavvu warten, in welchem sie detailliertere Erklä-rungen zum Thema asawwu ausgeührt haben.

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Osman Nuri Topbaş: Lassen Sie mich zusätzlich zu dem, was ichbereits gesagt habe, einige Punkte und Ratschläge erwähnen, au deren Betonung die Sui-Meister stets besonderen Wert gelegt ha-ben: asawwu  ist eine Methode der Charaktererziehung, die au dem Leben und den Lehren des Gesandten Allāhs beruht – mögeder All-Erhabene ihn segnen und ihm Frieden schenken!

asawwu  besteht vor allem darin, sein Gesicht in Liebe undRespekt Allāh und Seinem Gesandten zuzuwenden. Die Gottes-reunde, die Allāh und Seinem Gesandten – Segen und Friede seien

au ihm – als einzigem Gegenstand ihrer Liebe das Innerste ihrerHerzen gewidmet haben, sind zu Freunden der gesamten Mensch-heit geworden. Enge Verbundenheit und Suhba [Zusammensein]mit den Rechtschaenen sind die Mittel der Gläubigen, um selbstrechtschaen zu werden. Jene, die über eine hohe Stue spirituellerEnergie verügen, sind in der Lage, diese Energie an andere weiter-zugeben. Nachdem es ihnen gelungen ist, ihre eigenen Seelen vonden Untugenden und Lastern des Nas zu bereien, können sie die-

sen Zustand spiritueller Reinheit au jene, die sich ihrer Gegenwartbeinden, übertragen. Mit solchen Menschen eng verbunden zusein, verwandelt einen Gottesdiener in ein Wesen, aus dessen Wor-ten und Handlungen die gesamte Schöpung Nutzen ziehen kann.

Die Liebe verbindet zwei Herzen mit einem Band der Liebe;und im asawwu  verbindet ein solches Band spiritueller Liebe denSchüler [murīd ] mit seinem Meister [scheikh]. Wenn der  Murīd 

seinen Scheikh liebt und ihn respektiert, imitiert er dessen Hand-lungen in jeder Hinsicht, wodurch das Verhalten des Schülers sich vervollkommnet. Deshalb sollten wir als Muslime der Methode derLiebe Vorrang vor allen anderen Methoden einräumen. Die Grund-lage islamischen Charakters besteht darin, Allāh, dem Erhabenen,in Aurichtigkeit und Liebe zu dienen. Der Liebesbeweis und derBeleg unserer Aurichtigkeit inden sich im Gottesdienst und imDienst ür Seine Schöpung. Und mit Hile von Liebe sind auch die

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schwierigsten Augaben leicht und au höchst beriedigende Weisezu lösen.

Die Größe eines Dienstes bemisst sich an der Größe des Op-ers, das man bei dessen Ausührung au sich nimmt. AurichtigerDienst ist ein Hinweis au spirituelle Vervollkommnung, und dieHerzen jener Menschen, die diese erreichen, werden zu Orten gött-licher Maniestationen [tajalliyyāt ]. Je mehr der Mensch sich dabeiAllāh nähert, desto empänglicher wird sein Herz ür die Erahrun-gen der spirituellen Wirklichkeit. Au der anderen Seite verliert der

Mensch, je mehr er von seinem Nas eingenommen ist, um so mehr von seiner Menschlichkeit.

Zu den Namen Allāhs, des Erhabenen, zählen al-Jamīl [der In-begri aller Schönheit] und al-Jalīl [der Majestätische], doch Seinebeiden Namen al-Rahmān [der All-Gnädige] und al-Rahīm [derAll-Barmherzige] werden im Qur’ān häuiger als all Seine anderenNamen erwähnt. Deshalb sollte ein gläubiger Muslim versuchen, inNachahmung seines erhabenen Herrn, Gnade und Barmherzigkeit

zu seinen hervorstechendsten Eigenschaten zu machen.Die Ungerechtigkeiten dieser Welt sind, vor allem anderen,

Folgen eines Mangels an Barmherzigkeit und Liebe. Wer unähigist, zu lieben, wird leicht zu einem Despoten oder Tyrannen, derFurcht und Hass benutzt, um andere zu kontrollieren. Dabei wirdübersehen, dass es kein Herz gibt, das nicht mit Liebe einzuangenwäre! Die Sonne kann sich nicht weigern, Licht und Wärme auszu-

strahlen. Ebenso ist es rechtschaenen Seelen unmöglich, anderenGeschöpen nicht in Liebe und Barmherzigkeit zu begegnen.Al-Hallāj, der einen besonderen Platz in den Herzen derer ein-

nimmt, die Allāh lieben, betete ür jene, die ihn steinigten, mit denWorten: „O mein Herr, vergib jenen, die mich steinigen, noch be-

 vor Du mir vergibst!“Wenn wir unsere spirituelle Stue erkennen wollen, sollten wir

kontinuierlich unsere Handlungen und Empindungen analysieren.

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Vor allem die unberechtigten Ansprüche unseres Egos müssen un-ter Kontrolle gebracht werden. Andernalls geraten wir allzu leichtin einen Zustand, welcher dem des Iblīs entspricht, der die göttlicheGunst Allāhs durch seinen Stolz und seine Eitelkeit verspielte. Erwar der Lehrmeister der Engel im Paradies, doch er war unähig,seine Emotionen und Begierden zu kontrollieren. Er bildete sichein, er sei dem Menschen überlegen und wurde schließlich au-grund seines Stolzes verlucht.

Meister Jalāl al-Dīn Rūmī vergleicht die Laster und schlechten

Charakterzüge des Menschen mit den Dornen eines Rosenstrauchsund mahnt, unser Wesen solle einer süß dutenden Rose und nichtstechenden Dornen gleichen. Auch wenn uns im Garten dieserWelt die Dornen Schaden zuügen, düren wir nicht zulassen, dassunsere Seelen so werden wie diese! Wir sollten uns vielmehr bemü-hen, die wilde, unbebaute Erde in einen Garten voller dutenderRosen zu verwandeln.

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