das ich lässt sich nicht finden

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Das Ich läßt sich nicht finden Offenbar war es immer unser Schicksal, Dukkha zu erleben. Als Menschen drücken wir unsere Erfahrung gewöhnlich in Begriffen aus, mit denen wir ein Selbst erschaffen. Die Tatsache, daß dieses Selbst erstens nicht zu lokalisieren ist, zweitens direkter Erfahrung widerspricht und drittens buchstäblich unmöglich ist, wirkt sich nicht weiter auf das Gefühl aus, das wir im allgemeinen haben, wonach dieses Selbst irgendwo in uns existiert, wenn nicht in unserem Körper, dann zumindest in unserem Geist. Wir sollten uns jedoch klarmachen, daß der feste Glaube an ein Selbst sich nicht mit unserer tatsächlichen Erfahrung vereinbaren läßt, wobei auch das Bewußtsein etwas völlig Mysteriöses bleibt. Außerdem haben wir dadurch große Existenzangst, weil wir die tatsächliche Erfahrung falsch deuten. Statt uns einfach um das zu kümmern, was wir wirklich erfahren, erschaffen wir ein Selbst und zittern dann vor Angst, weil es uns genommen, verletzt oder unglücklich werden könnte. Natürlich können wir unsere Vorstellung von einem Selbst nicht einfach ablegen wie ein Kleidungsstück, das man auszieht. Sie ist eine sehr überzeugende Illusion. Die einzige Möglichkeit zu sehen, wie trügerisch sie ist, besteht darin, auf unsere tatsächliche Erfahrung zu achten und zu sehen, wie verschieden sie von unseren Gedanken und Vorstellungen ist, die wir uns über diese Erfahrung machen. Wenn wir erst einmal gesehen haben, daß das »Ich« oder »Selbst« nicht gefunden werden kann, ist der Geist frei und fürchtet sich nicht mehr. Der Vorgang ist ähnlich wie bei dem Gespenst, vor dem man sich nicht mehr fürchtet. In der Kindheit war unsere Angst vor ihm vielleicht sehr stark und real. Dann wurden wir erwachsen, und die Angst verschwand. Nicht etwa, weil wir Wege fanden, das Gespenst durch Bittgesänge und Rituale aus dem Kleiderschrank zu verbannen, auch nicht, weil wir wirksame Methoden erfanden, um den Schrank

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Buddhismus

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  • Das Ich lt sich nicht finden

    Offenbar war es immer unser Schicksal, Dukkha zu erleben. Als Menschen drcken wir unsere Erfahrung gewhnlich in Begriffen aus,mit denen wir ein Selbst erschaffen. Die Tatsache, da dieses Selbsterstens nicht zu lokalisieren ist, zweitens direkter Erfahrung widerspricht und drittens buchstblich unmglich ist, wirkt sich nicht weiter auf das Gefhl aus, das wir im allgemeinen haben, wonach dieses Selbst irgendwo in uns existiert, wenn nicht in unserem Krper, dann zumindest in unserem Geist. Wir sollten uns jedoch klarmachen, da der feste Glaube an ein Selbst sich nicht mit unserer tatschlichen Erfahrung vereinbaren lt, wobei auch das Bewutsein etwas vllig Mysterises bleibt.

    Auerdem haben wir dadurch groe Existenzangst, weil wir die tatschliche Erfahrung falsch deuten. Statt uns einfach um das zu kmmern, was wir wirklich erfahren, erschaffen wir ein Selbst und zittern dann vor Angst, weil es uns genommen, verletzt oder unglcklich werden knnte.

    Natrlich knnen wir unsere Vorstellung von einem Selbst nicht einfach ablegen wie ein Kleidungsstck, das man auszieht. Sie ist einesehr berzeugende Illusion. Die einzige Mglichkeit zu sehen, wie trgerisch sie ist, besteht darin, auf unsere tatschliche Erfahrung zu achten und zu sehen, wie verschieden sie von unseren Gedanken und Vorstellungen ist, die wir uns ber diese Erfahrung machen. Wenn wir erst einmal gesehen haben, da das Ich oder Selbst nicht gefunden werden kann, ist der Geist frei und frchtet sich nicht mehr.

    Der Vorgang ist hnlich wie bei dem Gespenst, vor dem man sich nicht mehr frchtet. In der Kindheit war unsere Angst vor ihm vielleicht sehr stark und real. Dann wurden wir erwachsen, und die Angst verschwand. Nicht etwa, weil wir Wege fanden, das Gespenst durch Bittgesnge und Rituale aus dem Kleiderschrank zu verbannen, auch nicht, weil wir wirksame Methoden erfanden, um den Schrank

  • am Abend zu verbarrikadieren, und auch nicht, weil wir lernten, uns abzulenken und den ganzen Tag bis zum Abend zu amsieren, und dadurch nicht mehr an es dachten. Es verschwand, weil wir erwachten und die Wirklichkeit erkannten. Das Gespenst hatte nie existiert. Wir erkannten, da das Gespenst, vor dem wir jahrelang Angst gehabt hatten, nur in unserer Phantasie bestanden hatte.

    So ist es auch mit unserem Selbstgefhl. Die Fragen, was das Selbst ist, wie lange es besteht, was passiert, wenn unser Krper stirbt und zerfllt und unser Bewutsein erlscht, beruhen alle nicht auf dem, was wir tatschlich sehen, sondern auf dem, was wir uns vorstellen. Es stellt sich heraus, da die schrecklichen Probleme, vor denen wir immer Angst haben, nur in unseren Gedanken, Vorstellungen und Phantasien existieren und nicht in der Wirklichkeit.

    Durch das sorgfltige Achten auf unsere tatschliche, direkte Erfahrung kann dies jeder von uns unmittelbar sehen. Und wenn wir dies wirklich sehen, sind wir von viel mehr erlst als den irrationalen ngsten unserer Kindheitsphantasien. Wir sind dann frei von den tiefen ngsten und dem groen Schrecken, die die Menschheit erbarmungslos qulen.

    Jeder von uns kann aus diesen ngsten erwachen, ohne Zuflucht zu Geschichten und Tricks zu nehmen. Endlich knnen wir dann sehen, da es nur eine Illusion war, die uns beunruhigt und verngstigt hat.

    Wir haben also gesehen, da das bleibende Selbst oder die Seele, diewir im allgemeinen zu sein glauben, eine Illusion ist, ein Produkt unserer Phantasie. Vielleicht knnen wir nun auch verstehen, da wir all die unzhligen Aspekte der Welt auf die gleiche Weise Wahrnehmen. Statt den Wind oder die Wellen - oder einen Bach, eine Tasse, ein Buch als stndigen Flu zu sehen, der sie sind, stellen wir sie uns als feste, dauerhafte, getrennte, unvernderliche Dinge vor.

  • Wir statten sie auf die gleiche Weise mit einer Dinghaftigkeit aus,mit der wir dem Menschen eine Individualitt geben. Statt die alles durchdringende Bewegung, den Lauf und das Flieen der Erfahrung zusehen, stellen wir uns eine riesige Ansammlung von unzhligen getrennten Dingen vor. Kurz gesagt, wir statten alles, was wir auerhalb von uns finden, mit einem Selbst aus.

    Dann verfallen wir einem weiteren Irrtum. Genauso wie wir uns ein Selbst erschaffen und diesem Begriff ein Nicht-Selbst gegenberstellen, genauso nehmen wir noch ein anderes Paar von gegenstzlichen Begriffen fr bare Mnze Existenz und Nicht-Existenz. Wir werden immer wieder in diesen Gegensatz verwickelt, weil wir nicht bereit sind zu sehen, da er, genau wie Selbst und Nicht-Selbst, ein Phantom ist, das unser Bewutsein erschaffen hat. Diese Begriffe (wie alle anderen Begriffe) knnen die Wirklichkeit einfach nicht einfangen.

    Buddha drckte dies sehr berzeugend aus:

    Im allgemeinen neigt die Welt zu zwei Sichtweisen: Existenz und Nicht-Existenz. Fr die, die das Entstehen der Welt, wie sie gerade geworden ist, mit rechter Weisheit wahrnehmen, gibt es den Begriff der Nicht-Existenz in der Welt nicht... Fr die, die das Vergehen derWelt, wie sie gerade geworden ist, mit rechter Weisheit wahrnehmen, gibt es den Begriff der Existenz in der Welt nichtWenn wir einfach nur sehen - wenn wir uns nur auf die Wahrnehmung verlassen, so wie sie ist, ehe irgendeine Vorstellung von einem dauerhaften, unvernderlichen Selbst, das getrennt von allem anderen ist, erscheint -, dann taucht der Begriff der Nicht-Existenz nicht auf. Unser Glaube an die Nicht-Existenz entsteht nur als Ergebnis des Festhaltens an dem Begriff der Existenz. Nur weil wir so durchdrungen sind von einem Gefhl des Ich und der von mir getrennten Welt und nur weil wir so sehr daran glauben, erleben wirVerwirrung, Angst und Schrecken.

  • Wenn wir umgekehrt das Vergehen der Welt, wie sie in diesem Augenblick gerade geworden ist, mit rechter Weisheit wahrnehmen, wenn wir die flchtige Natur aller Dinge sehen, ohne das Gesehene mit Begriffen zu berlagern, dann taucht die Vorstellung von einem fortdauernden Selbst gar nicht auf. Obwohl immer noch Gedanken und Gefhle vorhanden sind, gibt es keine Vorstellung von einem andauernden Selbst - nur geistigen Frieden und Furchtlosigkeit.

    Es ist gleich, ob wir vom Werden und Vergehen des Ich oder der Welt sprechen, denn beide Illusionen entstehen gleichzeitig. Wennwir einfach nur wahrnehmen - ohne Begriffe zu formulieren -, tritt dieVorstellung von einem Selbst oder einer Welt auerhalb des Ichnicht auf. Nur wenn wir den Begriff der Existenz akzeptieren, werden wir zu einem der beiden unseligen Extreme vom Glauben an die Ewigkeit oder an das Nichts getrieben oder schwanken zwischen beiden hin und her.

    Wie Buddha darlegte, kann keine dieser beiden Sichtweisen von tatschlicher Erfahrung abgeleitet werden.

    Buddha sagte: ... mit rechter Weisheit wahrnehmen ... , und wir sollten uns klarmachen, da diese Wahrnehmung uns allen zugnglich ist, gleich jetzt, sofort. Wir nehmen alle das gleiche wahr, ob wir ein Buddha sind oder nicht. Wir alle nehmen Wahrheit und Wirklichkeit jetzt, in diesem Augenblick, wahr. Wenn dies nicht so wre, wrde eskeine Hoffnung auf Erwachen geben.

    Ein gewhnlicher Mensch ist einfach der, der in diesem Augenblick nicht erwacht ist. Ein Buddha ist ein Mensch, der erwacht ist. Das istalles. Bei der Sinneswahrnehmung, unserer sinnlichen Erfahrung der Welt, gibt es zwischen einem Buddha und allen anderen keinen Unterschied.

    Was ist dann der Unterschied zwischen einem Buddha und einem gewhnlichen Menschen? Er liegt nicht in der Wahrnehmung, sondern

  • im Erkennen. Bei einem Buddha - einem Menschen mit rechter Weisheit - gibt es kein gewohnheitsmiges berlagern der wahrgenommenen Erfahrung mit Begriffen, Ideen, berzeugungen, Vorstellungen, vorgefaten Meinungen, mit denen man die Erfahrung erklren will. Wir alle haben die Fhigkeit zu erwachen.

    Es ist unsere Gewohnheit, die sinnliche Erfahrung - die Wahrnehmung - sofort, ehe wir berhaupt wissen, was wir tun, in Begriffe zu zerteilen. Dann kennzeichnen wir diese Begriffe, sortieren sie und bringen sie in einem ausgeklgelten Gestell unter, an dem wir lange mit Flei und Hingabe gearbeitet haben.

    Ein Buddha dagegen lt sich auf so etwas nicht ein. Wenn Buddhas etwas in Begriffe fassen (und sie tun das durchaus), dann wissen sie, was sie tun, und lassen sich von ihnen nicht tuschen. Schlielich ist nicht das begriffliche Denken das Problem, sondern unser Hngen daran, wodurch wir unsere Begriffe flschlicherweise fr die Wirklichkeit halten.

    Die Erwachten haben Gedanken und Vorstellungen, genau wie alle anderen Menschen auch. Im Unterschied zu diesen sind sie sich aber bewut, da das, was sie tatschlich sehen, sich von dem unterscheidet, was sie denken.

    Buddha nannte diese Bewutheit rechte Weisheit.

    ( aus Buddhismus kurz und bndig von Steve Hagen )