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  • Sybille Heidenreich

    DAS ÖKOLOGISCHE AUGE Landschaftsmalerei im Spiegel nachhaltiger Entwicklung

    2018

    BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

    Coverabbildung: Caspar Wolf, Der Lauteraar-Gletscher, 1776 Basel, Kunstmuseum

    © Hans Hinz – Arthothek, Bildagentur der Museen

    © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

    Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com

    Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

    ist unzulässig.

    Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau

    Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien

    Satz: Michael Rauscher, Wien

    ISBN 978-3-205-20667-5 | eISBN 978-3-205-20032-1

    Wir danken der Andrea von Braun Stiftung, München, für die großzügige Förderung der Publikation.

    Die Publikation wurde ebenfalls unterstützt mit Mitteln der Sparkassen-Finanzgruppe Baden-Württemberg.

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • 5

    Inhalt

    Geleitwort 9

    Danksagung 11

    Einführung: Landschaftsbilder und das ökologische Auge 13

    TEIL I DAS GAB ES SCHON

    Schlechtes Wetter und die Geburt von Ungeheuern : Kleine Eiszeit, Klimawande. Das Bild : Valckenborch, Ansicht von Antwerpen mit zugefrorener Schelde 23Das ökologische Auge : Klimawandel 27

    Menschen im Wald : Nutzung und Übernutzung der Wälder. Das Bild : Waldmüller, Reisigsammler im Wienerwald 45Das ökologische Auge : Nutzung und Übernutzung des Waldes 50

    Ökonomie im Wald: Romantik und neue Waldliebe. Das Bild: Friedrich, Der Abend 63Das ökologische Auge : Ökonomisierung des Waldes 70

    Flusslandschaft mit schöner Aussicht : Die Entstehung der Wasserauto-bahn. Das Bild : Lasinsky, Der Rhein bei Koblenz-Ehrenbreitstein 79Das ökologische Auge: Flussregulierungen 81

    Bauernland, privatisiert : Der Weg zur Agrarindustrie. Das Bild : van Gogh, Die Ebene bei Auvers 97Das ökologische Auge : Von der Kulturlandschaft zur Agrarindustrie 103

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

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    Inhalt

    Trockenlegung der Sümpfe und Moore : Ödland und Wildnis verschwin den. Das Bild : Modersohn-Becker, Frau mit Kindern in der Torfkuhle 115Das ökologische Auge : Die Trockenlegung der Sümpfe 121

    Rauchende Schlote : Kohle und die Industrialisierung. Das Bild : Meunier, Das schwarze Land 131Das ökologische Auge : Kohlezeitalter 132

    Überall hinkommen : Globalisierung. Das Bild : Kandinsky, Murnau – Ansicht mir Burg, Kirche und Eisenbahn 145Das ökologische Auge : Geschwindigkeit und Konstruktion 152

    TEIL II DAS GAB ES NOCH

    Wildnis. Das Bild : Savery, Waldlandschaft mit Eremit 163Das ökologische Auge : Grenzgebiete und neue Wildnis 172

    Drachen und andere wilde Lebewesen. Das Bild : Altdorfer, Laubwald mit dem Heiligen Georg 183Das ökologische Auge: Die Rückkehr der wilden Tiere 193

    Vielfalt im Rasen. Das Bild : Dürer, Das große Rasenstück 203Das ökologische Auge : Von der Wiese zum Rollrasen 208

    Kühe im Freien. Das Bild : Corot, Marcoussis – Weidende Kühe 221Das ökologische Auge : Massentierhaltung 227

    Bunte Felder. Das Bild : Monet, Mohnfeld 233Das ökologische Auge : Beikräuter in Feldern, in Hecken, an Wegrändern 239

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • 7

    Inhalt

    Mäandernde Flüsse. Das Bild : Birmann, Blick vom Isteiner Klotz 249Das ökologische Auge : Auenlandschaften 252

    Wilde Meere. Das Bild : Achenbach, Ein Seesturm 263Das ökologische Auge : Gemeinsames Erbe der Menschheit 269

    Erhabene Berglandschaften. Das Bild : Wolf, Der Lauteraar-Gletscher 277Das ökologische Auge : Nachhaltige Bewirtschaftung der Alpen 286

    Ausblick 289

    Anmerkungen 291

    Literatur und Quellen 299

    Bildnachweise 311

    Register 312

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Einführung: Landschaftsbilder und das ökologische Auge

    Landschaften werden durch das Sehen gebildet. Wir betrachten Land-schaften in der Natur und sehen Bilder, die wir aus dem Bildervorrat der Geschichte kennen. Bilder haben über Jahrhunderte hinweg gezeigt, was in der Perspektive des künstlerischen Blicks überhaupt eine Landschaft sein kann. Umgekehrt haben wir aus der Malerei gelernt zu sehen, was eine schöne, liebliche, erhabene oder bildwürdige Landschaft ist. Landschaft spielt sich in Projektionsräumen ab, mit vielen Facetten, in denen Natur und Kultur zusammenwirken. Insofern hat das Genre auch das Bewusstsein für den Wert der Natur entscheidend mitgeprägt. Immer wieder zeigt sich eine Bewegungsrichtung zurück zu den Ursprüngen des Natürlichen, in denen man auch die Ursprünge der Kreativität aufsuchte. Dabei drücken sich in Landschaftsbildern – inneren wie äußeren – jeweils unterschiedli-che historische Sichtweisen der Natur aus, Bilder der Welt als Weltbilder im wahrsten Sinne des Wortes.

    Die drei Bildbeispiele zeigen, dass hier entscheidende Blickwechsel statt-gefunden haben. Wir sehen im heiligen Hain aus dem antiken Pompeji einen Widerschein der Utopie vom Goldenen Zeitalter, vom Künstler mit hoher Kunstfertigkeit und illusionistischer Wirkung festgehalten. Die Frömmigkeit des Mittelalters hebt die Bedeutung der erzählten Geschichte durch einen Goldgrund hervor, während Landschaftselemente zeichen-haft den Ort der Erzählung angeben. Und schließlich tritt uns im frü-hen 16. Jahrhundert eine Landschaft entgegen, die Eigenwertigkeit bean-sprucht : Sie zeigt sich selbst und ihre Schönheit. In Gelehrtenkreisen der Renaissance hatte sich eine neue Lust auf die Entdeckung der Natur ange-bahnt, die auch den Blick auf die Landschaft veränderte.

    In der Frühen Neuzeit konnte Landschaft einfach einen Siedlungsraum mit seinen Bewohnern bezeichnen. Mit dem Bedeutungsgewinn gemalter

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    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Landschaften werden auch die emotionalen Bezüge, die Menschen mit diesen Bildern verbinden, und die Sinnebenen, die sich der Betrachtung auftun, deutlicher. Der Blick auf die Natur, gespiegelt in den gemalten Bildern, bietet dem Betrachter Deutungsmöglichkeiten an, die das Sinn-repertoire der Zeit bereitstellt. Dass die Entwicklung der Landschaftsma-lerei zeitlich parallel verläuft zur nutzenorientierten Rationalisierung des Naturverständnissen, mag etwas mit einer kompensatorischen Sehnsucht nach einer Schönheit zu tun haben, die der Entzauberung der Natur durch Technik und Industrialisierung entgegenwirkt.1

    Die tradierte Bildwürdigkeit der Landschaft wird im Zuge der Erobe-rung der Natur durch Verkehrswege, Städte und Agrarflächen immer frag-würdiger. Insofern ist die Landschaft heute in die Bedeutungsperspek-tive einer ökologischen Krise gerückt. Auch die historischen Perspektiven sagen etwas über die Beziehungen und Beziehungsprobleme aus, die sich mit Industrialisierung und Modernisierung zwischen Menschen und der umgebenden Natur entwickelt haben. Heutige Problemlagen deuten sich früh an und lassen sich in Bildern ablesen. Die Beziehungen zwischen Menschen und Natur finden sich in einer Krise wieder, die sich parallel zu den optimistischen Modernisierungsprozessen schon lange abgezeichnet hatte. Heute ist Natur ein bedrohtes Gut, ihre Bildwürdigkeit steht auch deshalb auf dem Spiel, weil jedes Bild als eine unzulässige Verharmlosung der Katastrophe lesbar wäre. Natur ist aufgesplittet in die Roten Listen ihrer gefährdeten Elemente.

    Mit dem Bewusstsein der Gefährdung wachsen jedoch auch die Rettungsprogramme. Deren größtes entstand mit dem Pariser Klima-schutzabkommen 2015, das eine globale Krise mit globalen Maßnahmen beantwortet. Das Vorhaben, Landschaftsbilder unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit zu betrachten, resultiert aus einer Konstellation, in der Bewusstsein von Verlust und Hoffnung auf Wandel sich überschneiden. Vor dem Hintergrund der Gefährdung zeigt sich in der historischen Landschaftsmalerei ein Bildreservoir, das mehr bietet als rückwärtsge-wandte Verklärung.

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    Einführung: Landschaftsbilder und das ökologische Auge

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Diese Publikation ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern wirft Schlag-lichter auf besonders anschauliche Beispiele. In jedem der Beispiele wird ein prägnantes Thema bis in die Gegenwart hinein verfolgt. Die Auswahl der Bilder kommt von den gegenwärtigen Problemlagen her. Die Themen orientieren sich an den Schritten zur Eroberung der Natur, die – zunächst als Bewältigungsversuche – auf die Schrecken der Kleinen Eiszeit folgten. Einen generellen Rahmen setzen die ökologischen Ziele der sogenannten Agenda 2030 der UNO, die seit 2016 die global gültigen Handlungsfel-der für nachhaltige Entwicklung abstecken : Klimaschutz, Meeresressour-cen, Landökosysteme, nachhaltige Waldwirtschaft, biologische Vielfalt. Das Verständnis nachhaltiger Entwicklung folgt einer mittlerweile weit-verbreiteten Formulierung aus dem Brundtland-Bericht (1987), wonach Sustainable Development bedeutet : „Development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ Nachhaltig ist also eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befrie-digen. Es wird darum gehen, Lebensstile zu entwickeln, die für künftige Generationen tauglich und zugleich global verallgemeinerbar sind. Damit verbindet sich das sogenannte Drei-Säulen-Modell, gemäß dem Ökono-mie, Ökologie und Soziales gleichermaßen nachhaltig zu entwickeln sind, wobei in dieser Publikation der Schwerpunkt auf der Ökologie liegt. Die geschichtliche Herkunft des Begriffs aus der Waldwirtschaft wird im Kapitel „Menschen im Wald : Nutzung und Übernutzung der Wälder“ ausführlich erläutert. Generell ist für die Begriffsdefinition in Übereinstimmung mit Armin Grunwalds Ausführungen vorausgesetzt, dass Nachhaltigkeit heute ein ethisch-normativer Begriff ist, eine Beurteilungsvorschrift, vergleich-bar dem kategorischen Imperativ Immanuel Kants, die nicht abschlie-ßend bestimmt werden kann. Grunwald nennt dies einen „großformatigen Begriff“, ähnlich wie Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenwürde oder Transzendenz, der immer wieder Reflexion, Konflikte und große Debatten herausfordere.2 Entsprechend diesem reflexiven, dynamischen und offenen

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    Einführung : Landschaftsbilder und das ökologische Auge

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Charakter des Begriffs beinhalten die Interpretationen in dieser Publikation auch Stellungnahmen in normativem Sinne, die zur Diskussion auffordern.

    Im ersten Teil dieser Publikation unter der Überschrift „Das gab es schon“ werden sieben Darstellungen von Landschaft betrachtet, die die wesentlichen Schritte der Eroberung der Natur begleiten : Klimawandel, Übernutzungen und Ökonomisierung der Wälder, Regulierung der Flüsse zu Wasserschnellstrecken, Industrialisierung der Landwirtschaft, Bebauung von Ödland und Wildnis durch Trockenlegung von Sümpfen und Mooren, Schwund der Artenvielfalt, Verbrennung fossiler Ressourcen. Diese Aspekte werden in jedem Kapitel unter der Überschrift „Das ökologische Auge“ behandelt. Dabei können Bilder auch als Zeitzeugen interpretiert werden, die Entwicklungen sichtbar machen, deren Ausläufer bis in die Gegenwart wirken. Dass wir heute ökologische Aspekte in den Darstellungen ablesen können, ist ein Bedeutungsaspekt, den die Bilder quasi unbewusst durch die Geschichte getragen haben.

    Auch umgekehrt gibt es Bilder, die zeigen, was „Renaturierung“ meinen könnte. Im zweiten Teil „Das gab es noch“ handelt es sich quasi spiegel-bildlich um (ebenfalls sieben) Rückprojektionen in eine vergangene Welt, in der es noch wilde Tiere gab, Waldwildnis, bunte Wiesen und Felder, gewundene Flüsse, erhabene Landschaften mit Gletschern und freie, wilde Meere. Die Themen behandeln die großen Linien mehr oder weniger aus-sichtsreicher Renaturierungsprojekte : Entwicklung neuer Wildnisgebiete und Wiederansiedlung wilder Tiere, Renaturierung von Auwäldern, Wie-derbelebung der Artenvielfalt und Natur in der Stadt, die Idee des gemein-samen Erbes der Menschheit für Meere und Berge. Manches müssen wir vielleicht schon verloren geben, aber viele dieser Bilder entwickeln utopi-sche Potenziale und können als Impulsgeber wirken.

    Landschaftsmalerei hat seit ihrer Entstehung auch kompensatorisch in einer zunehmend zivilisierten und industrialisierten Welt gewirkt. Es lässt sich bis in die Antike und die Wanddekorationen römischer Villen eine Traditionslinie der Landschaftsdarstellungen zurückverfolgen, in denen der locus amoenus als der liebliche Ort des Refugiums auf dem Land in

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    Einführung: Landschaftsbilder und das ökologische Auge

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Verbindung tritt mit den imaginierten ländlichen Idyllen der Hirten Arka-diens und einem Goldenen Zeitalter, das sich in christlichen Zeiten prob-lemlos an die Visionen vom Paradies anschließt.3 Dadurch rührt Malerei an nostalgische Sehnsüchte, die sich auch auf die Zukunft richten können. Man könnte auch von einer Wiederverzauberung der Natur sprechen. Aber es ist eine Wiederverzauberung im Zeichen der Melancholie, denn alle Ver-suche der Renaturierung tragen das Bewusstsein des unwiederbringlich Ver-lorenen in sich. Immerhin zeigen sie auch die Grenzen des Machbaren auf.

    Die Werke der Landschaftsmalerei eindimensional als Dokumente einer Umweltgeschichte aufzufassen wäre jedoch ein Missverständnis, so wie ihre Intentionen auch nicht vorrangig in der „naturgetreuen“ Abbildung zu suchen sind. Daher werden die Arbeiten unter der Überschrift „Das Bild“ jeweils auch in ihrer Eigenart als Kunstwerk, also mit dem kunst-historischen Auge betrachtet. Auch diese Sichtweise birgt überraschende Erkenntnisse. Gerade die älteren Werke wollen im Rahmen einer an der klassischen Rhetorik und Poetik orientierten Kunsttheorie durchaus emo-tional bewegen und sinnhaft belehren.4 Dadurch ergeben sich spannende Bezüge zwischen damals und heute. Neben den Bildern werden auch immer wieder erzählerische Texte befragt, die den Horizont der Bildinterpreta-tion weiten.

    Die Auswahl der Beispiele ist unvollkommen, wie dies bei fachüber-greifenden Ansätzen leicht vorstellbar ist. Kunsthistoriker/-innen wer-den wichtige Bildbeispiele vermissen, Biolog/-innen, Ökolog/-innen und Umwelthistoriker/-innen wichtige Themen oder Begriffe. Die exempla-rische Methode, die hier gewählt wurde, hat jedoch gegenüber chrono-logischen Ansätzen den Vorteil großer Offenheit und kann so mehrere Linien nebeneinander herlaufen lassen. Viele Geschichten sind noch längst nicht zu Ende erzählt, andere beginnen erst. Zahlreiche Lösungsansätze zur „Großen Transformation“5 überkreuzen sich mit dem Beharrungsver-mögen tradierter Denk- und Handlungsmuster. Das neue Metasystem für den gesellschaftlichen Paradigmenwechsel ist noch nicht geschaffen. Diese Offenheit ermöglicht auch, Stimmen aus literarischen Texten zu integrieren,

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    Einführung : Landschaftsbilder und das ökologische Auge

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • deren Sprachkunst ebenso eindrucksvoll wirkt wie die Bilder. So ergibt jedes Bildbeispiel als Case Study einen Tiefenschnitt, der die historischen Schichten bis zur Ebene der Gegenwart sichtbar macht. Mosaikartig setzte sich so ein Bild zusammen, das zukunftsoffene Leerstellen aufweist.

    Obwohl die Themen bis in die Gegenwart ausgeführt werden, reicht die Bildauswahl bis zur Epochenschwelle der Moderne zu Beginn des 20. Jahr-hunderts. Mit der Autonomisierung der Kunst und der Weltsprache der Abstraktion verliert Landschaft an Bildwürdigkeit. Auf der anderen Seite entwickeln sich zahlreiche Positionen, die Natur neu thematisieren. Land Art, die Arbeit mit Naturmaterialien als Stoff, Joseph Beuys als großer Ein-zelner oder Gerhard Richters Auseinandersetzung mit Bild und Landschaft seien hier genannt. Die Positionen der Gegenwartskunst verdienen eine eigene Publikation wie auch die Komplexität der zeitgenössischen Kunst-welt eines eigenen methodischen Zugangs bedarf.

    Den Fachgebieten Kunstgeschichte, Biologie, Umweltgeschichte und Ökologie verdankt diese Arbeit viel.6 Das „ökologische Auge“ ist jedoch in diesem Zusammenhang nicht gleichzusetzen mit dem Fachwissen der Ökologie. Es bezeichnet vielmehr eine spezifische Sichtweise, in diesem Fall auf Kunst, wie es z. B. eine feministische oder postkoloniale Sichtweise gibt, und ist vergleichbar mit Ecocriticism in der Literaturwissenschaft.7 Dabei überlagern sich verschiedene Ebenen der Interpretation wie eine Abfolge von Gesteinsschichten und durchdringen sich zum Teil gegenseitig. Auf der ersten Ebene, die an der Oberfläche liegt, steht der Inhalt der Bilder im Vordergrund. Bei dieser ziemlich positivistischen Fragestellung geht es um kultur- und naturhistorische Details : Was machen die Ährenleserin-nen ? Was sät der Sämann ? Was sammeln die Menschen im Wald ? Auf der zweiten Ebene geht es um eine ästhetische Würdigung der Bilder und ihre Einordnung in den Strom der Kunstgeschichte. Auf einer dritten Ebene kommt eine (kunst)philosophische Aussage zur Sprache, eine historische Sichtweise auf Natur, die anschließt an Deutungsmuster der Epoche als Sinnmuster des Denkens über die Welt. Hier schließt das „ökologische

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    Einführung: Landschaftsbilder und das ökologische Auge

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Auge“ mit der Frage an, auf welchen Wegen es zu den Problemen gekom-men ist, die wir heute haben.

    Die Metapher des Auges kann dabei auch die eigenwertigen Sichtwei-sen, die sich in den jeweiligen Werken ausdrücken, begleiten und for-mulieren. So kommen das „klare Weltauge“ Arthur Schopenhauers, das „unschuldige Auge“ John Ruskins oder das „durchscheinende Auge“ Ralph Waldo Emersons zur Sprache. Allen drei Varianten der Augenmetapher ist gemeinsam, dass sie das Subjektive und Persönliche auflösen möchten. Ein relativierender Perspektivismus, die erfahrungsgefärbten Vorurteile des Alltags oder die Horizonte des Vorwissens sollen überstiegen werden. Diese Spur ist wichtig, um die Werke nicht auf das Dokumentarische zu reduzieren. Jede Interpretation hat einen konstruktiven Anteil, der das „unschuldige Auge“ ergänzt. Diesen schmalen Grat begehbar zu machen ist ein Anliegen dieses Buches.

    Wir verzichten also stellenweise auf das „unschuldige Auge“ der reinen Kunstbetrachtung, um erzählerische Elemente oder Hintergrundinformati-onen zur Sprache zu bringen, die ökologische Zusammenhänge beleuchten. Diese Informationen werden natürlich auch im Nachhinein in die Bilder hineingelesen, denn wir wissen erst heute, wie die Geschichten ausgegan-gen sind. Aber die historischen Bilder und Texte und zeigen auch feine Linien von Sehnsucht und träumerischer Melancholie, die sich parallel zu den fortschreitenden Entwicklungen der Technik und der Industrialisie-rung durch die Geschichte ziehen. Diesen feinen Linien nachzugehen ist ebenfalls ein Ziel dieses Streifzugs durch die Landschaftsmalerei.

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    Einführung : Landschaftsbilder und das ökologische Auge

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Schlechtes Wetter und die Geburt von Ungeheuern : Kleine Eiszeit, Klimawandel

    Das Bild : Valckenborch, Ansicht von Antwerpen mit zugefrorener Schelde

    Alle Gesellschaftsschichten zeigt uns der Maler : vornehme Paare beim Eis-laufen, Arbeiter an den Schiffen, Bauern, Brennholzsammler und einfache Leute, die sich am Feuer wärmen. Ein Bild vom Winter, das Einblick gibt in die Lebensweise der Menschen : Es war zu kalt, um sich tagsüber in den weitgehend unbeheizten Häusern aufzuhalten, und weil viele Handwerke im Winter bei großer Kälte nicht ausgeübt werden konnten, hielt man sich im Freien auf.8 Mit der Darstellung von Feuer und Eis spielt der Maler auf die Elementarkräfte an und öffnet den Blick über das Alltägliche hinaus. Klein, aber farblich auffallend in Gelb, ist auf der rechten Seite eine Dame auf dem Eis gestürzt : Das Eis bietet, wie das Leben, offenbar nur eine trü-gerische Sicherheit. Der Maler gibt seinem Bild so auch eine moralische Botschaft mit. Dass diese Interpretation nicht falsch liegt, zeigt ein Blick in die Kunstgeschichte : Lucas van Valckenborch (ca. 1535–1597) stellt sich in eine Tradition von Winterbildern, die vor allem durch die Maler der Familie Bruegel geprägt ist. Nun gibt es einen Kupferstich von Hie-ronymus Cock aus dem Jahre 1553 „Winterszene vor dem Antwerpener Stadttor St. Georg“ nach einer Zeichnung von Pieter Bruegel d. Ä., die folgende Inschrift trägt : „Lubricitas Vitae Humanae. A Lubricité de la vie humaine. De Slibberachtigheyt van’s Menschen Leven“. Auch auf diesem Bild sehen wir eine auf dem Eis ausgeglittene Frau liegen. So werden wir also Zeugen der Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens.9 Das Städel Museum, Frankfurt am Main, verfügt über ein zweites Winterbild Valcken-borchs, das ebenfalls die bekannten Elemente versammelt : die gestürzte Frau auf dem Eis, Feuer, Reisigschneider, verschiedene Stände und Tätig-keiten. Ein Bild der Welt und der vormodernen Gesellschaft in einer Zeit, deren unterschwellige Gefährdungen mitschwingen.

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    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Wie die Bildbeschreibung des Städel Museums in Frankfurt vermerkt, war die Schelde bei Antwerpen 400 Meter breit und fror sicherlich nicht oft zu, außer in der sogenannten „Kleinen Eiszeit“, mit der wir es hier zu tun haben. Auf dem Höhepunkt der Kleinen Eiszeit war der Strom von fes-tem Eis bedeckt, wie es von zahlreichen anderen Flüssen in Europa und Nordamerika in dieser Phase ebenfalls berichtet wird. Viele Winterbilder entstehen, ein ganzes Genre entwickelt sich. Valckenborchs Winterland-schaft ist vor diesem Hintergrund Gegenstand einer überaus melancholi-sche Betrachtung im Roman „Austerlitz“ von W. G. Sebald :

    Er deutete auf das breite, in der Morgensonne blinkende Wasser hinaus und sprach davon, daß auf einem um die Mitte des 16. Jahrhunderts, während der so genann-ten kleinen Eiszeit, von Lucas van Valckenborch gemalten Bild die zugefrorene Schelde vom jenseitigen Ufer aus zu sehen sei und hinter ihr, sehr dunkel, die Stadt Antwerpen und ein Streifen des flachen, gegen die Meeresküste hinausgehenden Lands. Aus dem düsteren Himmel über dem Turm der Kathedrale Zu Unserer Lie-ben Frau geht gerade ein Schneeschauer nieder, und dort draußen auf dem Strom, auf den wir jetzt dreihundert Jahre später hinausblicken, sagte Austerlitz, vergnü-gen sich die Antwerpener auf dem Eis, gemeines Volk in erdfarbenen Kitteln und vornehmere Personen mit schwarzen Umhängen und weißen Spitzenkrausen um den Hals. Im Vordergrund, gegen den rechten Bildrand zu, ist eine Dame zu Fall gekommen. Sie trägt ein kanariengelbes Kleid ; der Kavalier, der sich besorgt über sie beugt, eine rote, in dem fahlen Licht sehr auffällige Hose. Wenn ich nun dort hinausschaue und an dieses Gemälde und seine winzigen Figuren denke, dann kommt es mir vor, als sei der von Lucas van Valckenborch dargestellte Augenblick niemals vergangen, als sei die kanariengelbe Dame gerade jetzt erst gestürzt oder in Ohnmacht gesunken, die schwarze Samthaube eben erst seitwärts von ihrem Kopf weggerollt, als geschähe das kleine, von den meisten Betrachtern gewiß über-sehene Unglück immer wieder von neuem, als höre es nie mehr auf und als sei es durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen. Austerlitz sprach an die-sem Tag, nachdem wir unseren Aussichtsposten auf der Wandelterrasse verlassen

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    Kleine Eiszeit, Klimawandel

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • hatten, um durch die Innenstadt zu spazieren, lange noch von den Schmerzens-spuren, die sich, wie er zu wissen behauptete, in unzähligen feinen Linien durch die Geschichte ziehen …10

    Die feinen Linien der Schmerzensspuren, die sich durch die Geschichte ziehen, berühren auch manche Darstellung in dieser Publikation. Nicht ohne Grund beginnen wir den Streifzug durch die Geschichte der Land-schaftsmalerei mit einem Bild, das nur auf den ersten Blick harmloses Vergnügen zeigt.

    Lucas van Valckenborch, Mitglied einer flämischen Malerdynastie, hatte nach einer bewegten Lebensgeschichte 1594 in Frankfurt Bürgerrecht erhal-ten, wo vier seiner Arbeiten in der Sammlung des Städel Museums zu sehen sind. In der Kunstgeschichte gilt er als bedeutender Vertreter der flämischen Landschaftsmalerei. In der Tradition von Pieter Bruegel d. Ä. schuf er vor allem Jahreszeitenbilder mit kleinen Szenen aus dem Leben der Menschen, die oft auch als moralische Botschaften lesbar sind. Seine Landschaften folgen oft dem Typus der Welt- oder Überschaulandschaft (z. B. sein „Turmbau zu Babel“ im Landesmuseum Mainz), der auch von anderen flämischen Malern bekannt ist. Die Landschaftsmalerei hatte sich im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts in den südlichen Niederlanden als eigenständiges Genre etabliert. Es handelt sich nicht um realistische Landschaftsporträts, sondern im schöpferischen Wettstreit mit der Natur sollte die ideale Schönheit der von Gott geschaffenen Welt zum Vorschein gebracht werden. So waren diese Landschaften denn auch – nach Skiz-zen – im Atelier komponiert, ganz kreative ideale Gestaltung. Nicht sel-ten transportierten die Landschaftsgemälde dieser Zeit Botschaften über das menschliche Leben, sie sind gleichermaßen lesbar als „Zeugnisse einer künstlerischen Handschrift, als Abbildungen gesehener oder gedachter Orte und als emotional anrührender Ausdruck einstiger Weltsichten und vielfältig argumentierende Sinnbilder.“11

    Wenn Valckenborch also das Eis als Symbol des menschlichen Lebens zeigt, so gibt ihm dies Gelegenheit, sein Bild mit Assoziationen an den

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    Valckenborch, Ansicht von Antwerpen mit zugefrorener Schelde

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Sündenfall (die gestürzte Frau) und die Gefährdungen, denen der Mensch in dessen Folge ausgesetzt ist, aufzuladen. Auch die Wechselfälle und Umwälzungen des Weltgeschehens dürften im Bedeutungsraum einer sol-chen Metapher eine Rolle gespielt haben.

    Die politische Situation der Zeit war bewegt : Die sieben protestantischen Nordprovinzen der Niederlande hatten im Achtzigjährigen Krieg 1568 bis 1648 ihren Befreiungskampf gegen die habsburgische Herrschaft geführt. Die südlichen Niederlande dagegen blieben bei Habsburg und waren in der Folgezeit stark durch die katholische Gegenreformation geprägt. Unser Maler aber war ein Protestant. Die Stadt, die er malt, Antwerpen, war im 16. Jahrhundert eine reiche und die wichtigste Handelsmetropole des nördlichen Europa. Gelehrte und Humanisten aus aller Welt prägten ein offenes und geistig lebendiges Klima. Unter der Herrschaft Philipps II. – es ist der strenge spanische Herrscher, der Schiller zu seinem „Don Carlos“ inspirierte – setzten mit dem Abfall der Spanischen Niederlande auch poli-tische Verfolgungen ein. 1566 hatten calvinistische Bilderstürmer Kirchen und Klöster verwüstet, woraufhin der von Philipp als Stadthalter entsandte Herzog von Alba Tausende Bürger als Ketzer verfolgte.

    1578 reiste der Erzherzog Matthias – Protagonist des Bruderzwists im Hause Habsburg – in die Niederlande, um im Geiste des Ausgleichs eine Statthalterschaft anzutreten. Er vertrat nicht die Politik Philipps II., so dass die gemäßigten niederländischen Stände ihn zum Statthalter wählten. Lucas van Valckenborch trat in seinen Dienst. Er malt seinen Gönner im Jahre 1580 in altrömischer Tracht als „Publius Cornelius Scipio Africa-nus maior“, den Sieger über Hannibal und Retter Roms. Eine Vision des Glanzes, die nicht Realität wurde. Das Unternehmen scheiterte – Mat-thias hatte sich auf dem glatten politischen Parkett, das er überdies ohne Wissen seines Bruders Rudolf II. betreten hatte, nicht halten können und musste sich schnell unter den Schutz Wilhelms von Oranien und damit des schärfsten Gegners der Habsburger begeben. 1581 gab Matthias endgültig auf und zog mit einem kleinen Hofstaat nach Linz, wohin Valckenborch ihm um 1582 folgte.12 Um 1583 malte er Matthias noch einmal, diesmal

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    Kleine Eiszeit, Klimawandel

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • im konventionellen Stil der Herrscherbilder als Erzherzog in zeitgenössi-scher Tracht.

    1585 wurde die Stadt Antwerpen von katholischer Seite eingenommen und in der Folgezeit entwickelte sie sich zu einem Bollwerk der Gegenre-formation. Viele protestantische Einwohner verließen die Stadt. Lucas van Valckenborch befand sich 1593, zu der Zeit, auf die das Bild datiert ist, wahrscheinlich schon in seinem Exil in Frankfurt. Zusammen mit seinem Bruder Marten betrieb er dort eine erfolgreiche Familienwerkstatt, die die Kunstfertigkeit der flämischen Landschaftsmalerei in ganz Deutschland verbreiten half.

    Mit Antwerpen im Winter hat er möglicherweise eine Erinnerung gemalt an eine Stadt und ihre Herrscher, deren Aufstieg und Untergang in der Metapher vom glatten Eis des menschlichen Lebens noch mit erfasst wird.

    Mit der Metaphorik des Eises haben die Wintermaler eine universale Botschaft auf den Weg gebracht : Ein abgründiges Gefühl des Ausgeliefert-seins und der Hilflosigkeit musste um sich greifen, wenn das vermeintlich Unwandelbare in den Zyklen der Natur sich als trügerisch erwies. Wir bele-gen dieses Phänomen heute mit dem Begriff „Klimawandel“, ohne damit wirklich begreifbar zu machen, dass die Welt gerade wieder dabei ist, sich grundlegend zu ändern.

    Das ökologische Auge : Klimawandel

    Die Kleine Eiszeit

    Nur wenige Grade wich das Klima vom zuvor Üblichen ab, und schon gab es Katastrophen, Missernten, Hunger und Epidemien. Mit der soge-nannten Kleinen Eiszeit brach in Europa ein im wahrsten Sinne des Wortes finsteres Mittelalter an. Unwetter und Missernten wurden bösen Mächten zugeschrieben.

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    Valckenborch, Ansicht von Antwerpen mit zugefrorener Schelde

    ISBN Print: 9783205206675 — ISBN E-Book: 9783205200321© 2018 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien

  • Sahe man zwen Cometen, und war ein naßer Sommer, große hungersnot, so an etlichen orten die leüt gezwungen, das sie allerleyß, hund, pferd, und dieb von Galgen gefreßen, und galt zumß hoff in Waitlandß ein Schöffel korns 32 fl. Und weilen es sonsten den ganzen Sommer über geregnet, sint weit und breit, den Men-schen, Viehe und Getraid, durch die anlauffente Waßer, großer schaden geschenen.13

    So berichtet eine Chronik aus dem Jahr 1315. Für England wurde in die-sem Jahr nur die Hälfte der üblichen Getreideernte ausgewiesen. Das Jahr 1342 war das Jahr der Jahrtausendflut :

    In diesem Sommer war eine so große Überschwemmung der Gewässer durch den ganzen Erdkreis unserer Zone, die nicht durch Regengüsse entstand, sondern es schien, als ob das Wasser von überall her hervorsprudelte, sogar aus den Gipfeln der Berge (…) und die Schleusen des Himmels waren offen, und es fiel Regen auf die Erde wie im 600. Jahre von Noahs Leben (…).14

    Es ertranken Menschen und Vieh, Äcker, Wiesen, Gärten und Häu-ser wurden verwüstet, fruchtbarer Boden wurde abgeschwemmt. Neue Moore entstanden, den extremen Wetterereignissen folgten Krankheits-erreger und Schadinsekten. Die große Flut, genannt Große Mandränke, im Jahre 1362 forderte viele Menschenleben und veränderte den Küsten-verlauf der Nordsee. Die zweite Große Mandränke folgte im Jahr 1634 und legte den Küstenverlauf auf die heutige Form fest. Der durch Hun-ger und Seuchen verursachte Bevölkerungsrückgang ließ viel Kulturland brach fallen, menschliche Siedlungen wurden aufgegeben, so dass man in der Forschung von der spätmittelalterlichen Wüstungsperiode spricht. Der Anteil der Waldfläche nahm nach Schätzungen um über die Hälfte auf 40 Prozent zu. Wilde Tiere kehrten zurück.15 Der Dreißigjährige Krieg, der in die Periode der Kleinen Eiszeit fiel, hinterließ ebenfalls tiefgreifende Spuren.

    Die zeitlichen Grenzen der Kleinen Eiszeit sind fließend, aber Forscher vertreten die Auffassung, dass etwa zwischen 1315 und 1850 n. Chr. auf der

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  • Nordhemisphäre der Erde insgesamt kühlere Temperaturen herrschten als in der Periode zuvor und auch kühlere als heute. Der Begriff wurde von dem amerikanischen Klimaforscher François Matthes und dem schwedischen Wirtschaftshistoriker Gustav Utterström im Zeitraum etwa der 30er bis 50er Jahre des 20. Jahrhunderts etabliert. Generell, so das Gesamtergebnis, nahmen die Temperaturen um etwa 1 bis 2,5 Grad Celsius ab. Dabei han-delt es sich um einen allgemeinen Trend, den man in den Temperaturkur-ven des Weltklimarats (IPCC) ablesen kann und von dem einzelne Jahre und Regionen durchaus abweichen können. Die Kleine Eiszeit fasziniert die Forscher, denn sie liefert das Paradebeispiel für Klimafolgen und die Möglichkeiten der Klimaforschung schlechthin.

    Den Beginn markiert eine deutliche Abkühlung der Sommer zwischen 1275 und 1300. Es gab viel Regen und das Eis nahm zu. Von 1430 bis 1455 wurde es noch einmal in ganz Europa kälter. Der Tiefpunkt der Kleinen Eiszeit wird etwa um 1550 angesetzt. Die Vegetationsperiode verkürzte sich, denn der Frühling begann später und der Winter kam früher. Man kann sich leicht vorstellen, dass dies gravierende Folgen für die Ernteerträge hatte. Im 16. und 17. Jahrhundert ist es am kältesten. Gletscher und Eiskappen dehnen sich aus, immer mehr Seen und Flüsse frieren ein.

    In Europa führten die neuen Umweltbedingungen zu schlechteren Ernten und Hungersnöten. Der Hunger trug wahrscheinlich zur Ver-schlechterung der Gesundheitsbedingungen bei und machte die Men-schen anfällig für Krankheiten. Die Pest, die 1347 Einzug gehalten hatte und in Wellen immer wiederkam, tötete im Mittelalter nach Schätzungen etwa 30 bis 50 Prozent der europäischen Bevölkerung. Mit dem 14. Jahr-hundert setzte eine lang anhaltende Phase der Teuerung ein. Grönland wurde von seinen Bewohnern verlassen, viele Menschen gingen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert nach Amerika, um dort ein besseres Leben zu suchen.16

    Zu den Ursachen der Kleinen Eiszeit gibt es unterschiedliche Vermu-tungen, dazu gehört, dass Auslöser in erster Linie Vulkanausbrüche, aber auch Veränderungen der Aktivität der Sonne waren. Da das Klima ein

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  • System ist, können viele kleinere Ursachen und Folgen, nichtlineare Pro-zesse, Rückkoppelungseffekte mit Verstärkungswirkung eine Rolle spielen.17

    Wie oft bei Klimaänderungen, gibt es Gewinner und Verlierer der Situa-tion, Gegenden, die „besser“ mit der Kälte umgehen – siehe unsere Eisläufer auf der Schelde –, und solche, denen es nicht gut ergeht. Insgesamt muss die Kleine Eiszeit bei den Menschen jedoch ein Gefühl der Ausgeliefert-heit an die Natur verstärkt haben. Eine Natur, die nicht als mütterliche Spenderin der Fruchtbarkeit und Fülle erscheint, sondern als bedrohlich unzuverlässige Feindin, die entzieht, verweigert und mit immer neuen Schrecken aufwartet. Im Großraum der Geschichte betrachtet, wird es vielleicht plausibel, dass die zahlreichen im Laufe der Entwicklung der Moderne unternommenen Bewältigungsversuche gegenüber der Natur sich aus dieser Hilflosigkeit speisten. Die Eroberung der Natur, die mit immer tieferen technischen Eingriffe verbunden war, bezog sich nicht auf die bedrohte Schönheit der blauen Kugel im All, die wir heute sehen, son-dern auf die kalte Königin des Eises und der Finsternis. Dass damit auch Erfindungen auf den Plan traten, deren Folgen ähnlich wie bei Franken-steins Kreatur nicht mehr kontrollierbar sind, ist heute nicht mehr von der Hand zu weisen.

    Dabei ist natürlich auch die Frage zu stellen, inwieweit kulturelle Ent-wicklungen überhaupt mit dem Klima in Zusammenhang gebracht wer-den können. Betrachtet man das Spektrum der Katastrophen, die in der Literatur genannt werden – Missernten, Hunger, Kriege, soziale Unruhen, Krankheiten und Seuchen, Inflation, Verfolgungen, weltweite Migration –, so lassen sich vor allem diejenigen Phänomene mit plausiblen Argumenten als klimabedingt vertreten, deren Zusammenhang mit dem Wetter schon den Zeitgenossen auffiel.

    Der Klimahistoriker Wolfgang Behringer bildet in seiner „Kulturge-schichte des Klimas“ eine Flugschrift aus dem Jahre 1562 ab, deren Titel lautet : „Über die grossen und erschrecklichen Zeichen am Himmel und auff Erden/ so in kurzer Zeit geschehen sind“. Eine Chronik von 1561 berichtet :

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  • Uff den fhürigen Himmel ist ein unsegliche grosse Kelte gefolget ; hatt gwäret vom Januario biss in mitten Aprellen. Uff disen fhürigen Himmel sind gevolget im Summer grusam und erschrokhenliche Hägel und Windstürm, die der glichen in mans gedenken nie erhört noch gesähen. Der Herr Gott wölle uns wyter gnedig sin und uns nütt noch unserem Verdienen strafen. Es ist auch darauff gfolget ein grusame Pestilenz und sterbend zuo Wie in Österrych, und des volgenden 62. jars zuo Nürenberg, und an andern Orthen mer.18

    Für die Menschen der Frühen Neuzeit war die Welt ein großes Buch der Zeichen und Wunder, dessen Rätsel entziffert und dessen Sinn gelesen werden konnten. Kometen, Polarlichter oder Wetterphänomene wurden als Botschaften verstanden, die auf den Willen Gottes hinwiesen. Nicht nur in Flugschriften, sondern in der Wunder- und Schauerliteratur der Zeit traten Missgeburten, Teufelswesen, bizarre Pflanzen und wilde Tiere, Monster und Drachen auf.

    In diesem Klima gedieh auch der Hexenglaube. Und die Hexen waren diejenigen, die in erster Linie für das Wetter verantwortlich gemacht wur-den. Diese Sündenbockrolle weitete sich aus auf Missernten, Kinderlosig-keit, Krankheiten von Mensch und Tier. Die schlimmsten Jahre der Klei-nen Eiszeit waren auch die der schlimmsten Hexenverfolgungen, nämlich die Jahre etwa von 1560 bis 1660. Was den Juden nicht angelastet werden konnte, mussten die Hexen tragen. Mit dem Unheil, das man den Hexen zuschrieb,

    waren einige der wichtigsten Probleme der Menschen in der Kleinen Eiszeit zusam-mengefasst : Kinderlosigkeit, Tierseuchen, die wiederkehrenden Missernten und die oft unbekannten Krankheiten. Kühe, die zu wenig Milch gaben, plötzlicher Kindstod, späte Fröste, lang anhaltende Regenfälle oder plötzlicher Hagelschlag im Sommer – für so teuflisches Unheil suchte man nach Schuldigen.19

    Dem Kälteeinbruch Anfang der 1560er Jahre waren 1570 eine Hungerkrise und jahrelange Missernten gefolgt ; ebenso brachte das Jahr 1626 heftigen

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  • Frost, der das Obst und die Weinstöcke verdarb. Das Volk, die Bauern – die leidende Bevölkerung – gerieten in Pogromstimmung gegen die Hexen, mit deren Tod die große Wende zum Guten erwartet wurde. Die Theolo-gen der Zeit wussten die Zeichen zu nutzen, indem sie aus dem Unheil der bösen Mächte den Aufruf zu Umkehr und Buße ableiteten.

    Der Teufel und das Teufelsbündnis gehörten um 1600 zu den belieb-testen Themen und es gab eine Welle von dämonologischer Literatur. In dieser Zeit kursierte die Historie vom Dr. Faustus, auch als Volksbuch bezeichnet. Dieser Faust steht am Anfang einer langen Reihe von litera-rischen Verarbeitungen, in der wir zum Schluss in Mary Shelleys Roman auch Frankenstein und seine Kreatur antreffen.

    Faust schließt ein Bündnis mit dem Teufel, um über die dem Menschen gesetzten Grenzen hinauszugelangen. 1589 erscheint eine dramatisierte Fassung der Sage von Christopher Marlowe, die bereits alle Elemente des Stoffes bereitstellt : Faust ist der wissens- und machtgierige Mensch, wie er dann auch bei Goethe auftritt. Er ist geleitet vom Drang, die engen Grenzen des Wissenshorizonts seiner Zeit und damit auch des gegebenen Glaubenshorizonts zu sprengen. Überhaupt ist die Befreiung des Drangs nach Wissen, der Curiositas oder Neugierde, in dieser Zeit erst dabei, sich aus der Stigmatisierung als Sünde zu befreien. Die Erzählung legt uns den Gedanken nahe, dass dieses Vorhaben ohne zauberische Kräfte nicht gelin-gen kann. Daher der Pakt mit dem Teufel. Bei Goethe ist Faust in Teil II des Dramas dann auch noch der Schöpfer einer Reihe von Artefakten und zivilisatorischen Leistungen – er erfindet das Papiergeld, es wird ein künstlicher Mensch geschaffen, der Homunculus, und Faust macht sich schließlich daran, dem Meer durch Eindämmung Land abzugewinnen, ein Unternehmen, dem die beiden arkadischen Alten Philemon und Baucis zum Opfer fallen. Die Literatur ist mit dem Faustmythos natürlich weit über den einfachen Hexen- und Teufelsglauben hinausgewachsen. Aber mit diesem Mythos verbreitet sich ein dunkler Schatten über die technischen Errungenschaften der folgenden Jahrhunderte. Auch bei Mary Shelley wird noch einmal die Zeit des Eises und der Finsternis Ungeheuer gebären.

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  • Zunächst aber entwickeln sich aus dem Kampf, der Natur ein besseres Leben abzuringen, zahlreiche Lern- und Rationalisierungsprozesse. Die Grenzen des Wissens, von Einzelnen angetastet, verschieben sich kollektiv. Mit dem Zeitalter der Aufklärung beginnt man Missernten und Hunger als Missmanagement aufzufassen.

    Die Öffentlichkeit war nicht mehr bereit, Predigten über göttliche Strafen hinzu-nehmen, sondern verwies auf die strukturellen Defizite und politischen Versäum-nisse, die den Ausgleich der Missernten verhinderten. Warum waren die Straßen so schlecht, dass man nicht schnell Brotgetreide importieren konnte ? Warum waren die Vorratshäuser nicht gefüllt ? Warum waren die Ernte zu gering, und warum hatten die königlichen Amtsträger keine ausreichende Vorsorge getroffen ?20

    Die kommenden Entwicklungen sind förmlich mit Händen zu greifen. Man wird Straßen bauen und Wasserwege, die Landwirtschaft reformie-ren und unabhängiger von natürlichen Gegebenheiten machen, man wird den Sümpfen und Mooren und dem Meer Land abgewinnen zur Ernäh-rung der Menschen, man wird die Hygiene verbessern, man wird Dämme bauen, die Wüsten bewässern und die Wildnis kultivieren. Der Publizist Philipp Blom leitet aus den Bewältigungsversuchen der Kleinen Eiszeit eine Vielzahl von tiefgreifenden politischen, kulturellen und wirtschaftli-chen Innovationen ab, die die Gesellschaft des Mittelalters schockartig in die moderne Welt stürzten.21

    Das Jahr ohne Sommer

    Bevor jedoch die industrielle Revolution einsetzte, war noch eine weitere Kältekrise zu bewältigen, die als das „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte einging. Im Sommer 1816, nach dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora, verdunkelte sich die Sonne in Europa und Nordamerika erneut. Im unmittelbaren Umfeld hatte der Vulkanausbruch einen Tsunami ausge-löst, der Zehntausende Tote hinterließ. Das Jahr gehört zu den schlimmsten

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  • und am besten untersuchten Klimakatastrophen der Geschichte, zumal aus dieser Zeit auch zahlreiche historische Dokumente vorliegen.

    Ähnlich wie bei der Luftverschmutzung heute konnten kleine Schwe-bepartikel in der Luft, sogenannte Aerosole, ergreifende Sonnenauf- und -untergänge erzeugen, die sich möglicherweise in der Malerei Caspar David Friedrichs oder auch William Turners niederschlugen.22 Der Vulkan hatte große Mengen Asche und Gas in die Luft geschleudert, die sich in der Höhenströmung auf bis über 40 Kilometer um den ganzen Erdball verteil-ten. Weniger Sonnenlicht gelangte zur Erde und die Aerosole verstärkten die Niederschläge. Klimarekonstruktionen lassen darauf schließen, dass das Jahr zu den kältesten der vergangenen 400 Jahre gehört. Nach Schät-zungen sind etwa 0,7 bis 1 Grad C der Abkühlung in Mitteleuropa direkt oder indirekt dem Tambora zuzurechnen, wobei die Temperaturen stellen-weise bis zu 3 Grad C und mehr nach unten sanken. Allerdings litten die Menschen offenbar noch viel mehr unter den erhöhten Niederschlägen.23 Seit den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts tragen Forscher zu die-sem Ereignis ihre Ergebnisse zusammen, eine Datenbank („tambora.org“) sammelt historische Quellen aus der ganzen Welt. Man erhofft sich ein besseres Verständnis des Systems „Mensch – Umwelt – Klima“. Zahlreiche Wettertagebücher und andere Berichte geben den Menschen, die unter den Folgen der Klimaänderung litten, eine Stimme. Die tiefen Temperaturen und der Regen führten zu verspäteten Ernten, zum Teil verrottete die Frucht auf den Äckern, in den Scheunen faulte das nasse Getreide. Die erste glo-bale Choleraepidemie breitete sich aus, womöglich, weil die Menschen in Europa geschwächt waren und der Krankheit wenig Widerstandskraft boten. Überdies waren die Menschen am Ende der Napoleonischen Kriege ohnehin individuell und gesellschaftlich in labiler Verfassung. Die schlechten Ernten setzten, wie oft zuvor, eine Teuerungsspirale in Gang. Bettler zogen durch das Land und die Kluft zwischen Reich und Arm wurde immer größer. Viele Menschen setzten sich in Bewegung, um anderswo ein besseres Leben zu finden. Politische Unruhen wegen der Knappheit und der hohen Preise der Lebensmittel setzten die politische Klasse in vielen Ländern unter Druck.24

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  • Letztlich beschleunigte aber die Krise einen weiteren Modernisierungsschub, der zahlreiche technische Innovationen nach sich zog.

    In diesem „Jahr ohne Sommer“ schrieb Mary Wollstonecraft, spätere Shelley (1797–1851), am Genfer See ihren „Frankenstein“-Roman. Das Monster geht am Ende ins ewige Eis. Von der Autorin einst auch mit Zügen des edlen Wilden versehen, geistert es bis heute zombiehaft durch die B-Movies.

    Die Geschichte der Entstehung des Romans ist selbst legendär geworden. Man trifft sich in der Villa Diodati bei Lord Byron, der inzwischen mit seinem Leibarzt Polidori ebenfalls am Genfer See eingetroffen ist. Matthew Gregory Lewis, Verfasser des Schauerromans „The Monk“, kommt hinzu. Das Wetter ist schlecht, trübe und regnerisch, man liest sich gegenseitig Gespenstergeschichten vor – German Horror – und genießt den Schrecken. Die Freunde diskutieren in dieser dunklen Runde auch über das Prinzip des Lebens und die geheimnisvollen Möglichkeiten der Elektrizität, denen man zutraut, den Funken des Lebens zu wecken. Byron schlägt vor, jeder der Versammelten solle eine Schauergeschichte schreiben. Nur Mary voll-endet ihre Geschichte.25

    1818 erscheint der Roman „Frankenstein ; or, The Modern Prometheus“. Frankenstein erschafft seine Kreatur nun ganz ohne Teufelspakt, nur auf den Spuren der zeitgenössischen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Er tritt uns als hybrider Wissenschaftler entgegen, der ohne Wissen um die Fol-gen Grenzen überschreitet, das Machbare ohne Skrupel in Angriff nimmt und Techniken einsetzt, deren Nebenwirkungen außerhalb seiner Steue-rungsmöglichkeiten liegen.

    Schnell beginnt das Wesen, das er ins Leben setzt, einen Lebensweg auf eigene Faust und ebenso schnell erweist es sich als unkontrollierbar. Sein Schöpfer trifft es zum ersten Mal wieder im ewigen Eis der Gletscher am Montblanc. Hier, in der Eiswüste, weitab von allen Menschen und fern der Zivilisation, hat sich die Kreatur verkrochen, und im Eis wird sie wieder verschwinden. Wir begegnen in der Erzählung einer wahrhaft erhabenen Berglandschaft :

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  • Ich verweilte in einer Felsnische und konnte mich nicht sattsehen an so wunderba-rem wie bestürzendem Schauspiel. Das Meer von Eis, oder besser, der ungeheure, zu Eis erstarrte Strom erstreckte sich in Krümmungen zwischen seinen Bergen, deren luftige Gipfel sich nahezu lotrecht über all den Rissen und Spalten erho-ben. Die vom Firne glitzernden Bergspitzen erglänzten hoch über den Wolken im Strahl der Sonne.26

    Die Kreatur verkörpert auch die dunkle Seite ihres Schöpfers Franken-stein, der sich bis zu Verzweiflung und Wahnsinn in diese Identifikation hineinsteigert. Die unheilvolle Schuldverflechtung zwischen Schöpfer und Geschöpf löst sich nur im Tod. Der Roman findet dieses Ende wieder im Eis : Am Nordpol treten die beiden sich erneut gegenüber und die Kre-atur erhält Gelegenheit zu einer langen Anklage- und Selbstanklagerede. Frankenstein stirbt und das Geschöpf sucht seinen Tod im ewigen Eis, in Dunkel und Ferne, wie in seinem Element. Die grandiosen Zonen der Kälte, des Eises und der Finsternis, die der Roman schildert, werden als Heimat der unseligen Kreatur auch zu letzten Refugien einer verkannten Güte.

    Ein melancholischer Gedanke, dass die Landschaften des Erhabenen und der Wildnis vielleicht für immer unwiederbringlich sind. Die Gletscher schmelzen, die Alpen sind als beliebte Wanderziele erschlossen und das Eis kann nicht mehr als ewig gelten. Räume für unbekannte wilde Geschöpfe sind in der vermessenen Welt nicht mehr vorstellbar. Der dunkle Zauber ist der Sorge um den Erhalt der Eislandschaften gewichen.

    Klimawandel, von Menschen gemacht

    In jüngster Zeit mehren sich die Nachrichten, nach denen das Eis der Arktis in nie gekanntem Ausmaß schmilzt. Damit setzt sich ein negativer Trend fort, der seit den 1970er Jahren über Satellitenmessungen belegt ist. Forscher betrachten diese Entwicklung als wichtigen Indikator für eine weiterhin fortschreitende globale Klimaerwärmung.27 Das Jahr 2016 ist mit 1,1 Grad C über vorindustrieller Zeit das wärmste seit Beginn der

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  • Tausende von Bildern und Gemälden zeugen von dem seit der zweiten Hälfte

    des 18. Jahrhunderts stark ansteigenden Interesse des europäischen Bürger-

    tums an den Bergen. Die meisten dieser Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen

    und Grafi ken sind Landschaftsveduten. Viele Künstler haben sich in ihren

    Werken aber auch mit den Gründen auseinandergesetzt, die Menschen moti-

    vieren, auf Berge zu steigen, sich Gefahren auszusetzen und Entbehrungen

    auf sich zu nehmen. Aspekte wie der Umgang mit der extremen Natur, das

    Anwenden von Techniken und der Nutzen von Hilfsmitteln, die Bewältigung

    von Angst und das Umgehen mit Versagen und Erfolg spielen dabei eine

    wichtige Rolle.

    Martin Scharfe hat aus den umfangreichen Sammlungen des Österreichi-

    schen und des Deutschen Alpenvereins solche Bilder ausgewählt, in denen

    Künstler die Faszination an der Bergwelt visualisiert haben. Er stellt diese

    Bilder vor und bringt sie zum Sprechen. Damit entsteht eine unterhaltsam-

    farbige und abwechslungsreiche, oft in überraschende Tiefen der Bergsteiger-

    seele führende „andere“ Geschichte des Alpinismus.

    2013. 216 S. 66 FARB. ABB. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-78918-5

    MARTIN SCHARFE

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    EINE ANDERE GESCHICHTE DES

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  • ALEXANDER DEMANDT

    DER BAUM

    EINE KULTURGESCHICHTE

    Die Bedeutung des Baumes ist so vielschichtig wie die Anzahl der Jahresrin-

    ge. Als Naturdenkmal prägt er Landschaften, ist wichtiger Rohstoff und gilt

    als Symbol für das Leben. In Mythen, heiligen Schriften, Märchen, in der

    Musik, der Literatur, der Bildenden Kunst, der Philosophie, in allen Kulturen

    und Zeiten kommt dem Baum eine überragende Bedeutung zu. Darüber hin-

    aus ist er mit zahlreichen Bräuchen verbunden: der Baum, der zur Geburt ei-

    nes Kindes gepfl anzt wird, der Maibaum, der Weihnachtsbaum. Der Histori-

    ker Alexander Demandt behandelt Baum, Wald und Holz in den Religionen,

    im Brauchtum und Schriftgut, im Denken und Reden und auf allen Gebieten

    der Literatur und der Kunst von der Antike bis zur Gegenwart. Das material-

    reiche Buch ist die lange erwartete, erweiterte und vertiefte Neubearbeitung

    seines Standardwerks „Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschich-

    te“ (2002).

    2., ÜBERARB. U. ERW. AUFL. 2014. 470 S. 50 S/W- UND 45 FARB. ABB. GB. MIT SU.

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    CoverTitle PageCopyrightTable of ContentsEinführung: Landschaftsbilder und das ökologische AugeTeil I: Das gab es schonSchlechtes Wetter und die Geburt von Ungeheuern : Kleine Eiszeit, Klimawande. Das Bild : Valckenborch, Ansicht von Antwerpen mit zugefrorener ScheldeDas ökologische Auge : KlimawandelDie Kleine EiszeitDas Jahr ohne SommerKlimawandel, von Menschen gemacht