das magazin zum themenjahr 2018

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Kirchliche Feiertage als kultureller Reichtum Grü ß e aus dem Kirchenjahr DAS MAGAZIN ZUM THEMENJAHR 2018

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Kirchliche Feiertage als kultureller ReichtumGrüße aus

dem Kirchenjahr

DAS MAGAZIN ZUM THEMENJAHR 2018

VORWORTINHALT

KARFREITAG

52 DEUTUNG DES TODES JESU Viel ist gestritten worden über das richtige Verständnis VON HORST GORSKI

54 WIE JESUS SELBST DEN TOD MIT GOTT GESTORBEN IST Die Bedeutung des Karfreitages VON THOMAS SÖDING

56 WACHET MIT MIR An Karfreitag wird greif-bar, dass Gott wirklich Mensch geworden ist VON GERHILD BECKER

57 DAS „TANZ VERBOT“ AM KARFREITAG Nicht alles Leben ist Trubel und Unterhaltung VON HANS ULRICH ANKE

58 FRÖHLICHE DANKBARKEIT Warum mir der Karfreitag als stiller Feiertag wichtig ist VON EDUARD KOPP

59 „ICH LEBE, WEIL EIN MENSCH GESTORBEN IST“ Das Thema Karfreitag aus einer ganz anderen Perspektive VON MARCUS HAUSMANN

60 HIOB LEBT IMMER Karfreitags- Spiegelungen im Urbild des Leidens VON GEORG LANGENHORST

61 INFO LEBEN IST LEIDEN Zur Thematisierung des Leidens im Buddhismus VON ANDREAS GRÜNSCHLOSS

OSTERN

64 DAS HÖCHSTE FEST DER CHRISTENHEIT – OSTERN Ohne die Auf erweckung Jesu gäbe es den christlichen Glauben nicht VON CHRISTINE AXT-PISCALAR

66 OSTERNACHT – DIE HERZMITTE DES KIRCHEN- JAHRES Historische, theologische und liturgische Schwerpunkte VON HELMUT SCHWIER

68 KARFREITAG, UND WAS DANN? Der Trauerweg der Jünger zwischen Glaube und Zweifel VON ECKHARD ETZOLD (†)

70 ÖKUMENISCHER EMMAUSGANG Alltägliche und ungewöhnliche Orte neu ent-decken und auf Jesu Leiden, Sterben und Auferstehen hin deuten VON LUDWIG SCHNEIDER- TROTIER

PFINGSTEN

74 PFINGSTEN LIEGT NOCH VOR UNS Fest der Gemein-schaftserlebnisse VON CHRISTIAN GRETHLEIN

76 RUACH – GEISTKRAFT IN DER FEMINISTI-SCHEN THEOLOGIE Die Leben schaf-fende Gegenwart Gottes VON CLAUDIA JANSSEN

77 VIEL GEIST ZU PFINGSTEN Vom Wunder religi-öser Kommunikation VON ILONA NORD

78 AUFBRUCH, FERNE, ABENTEUER UND FREIHEIT Verkündigung in der Freizeitwelt VON KAY-ULRICH BRONK

80 PRAKTISCH UND NICHT MIRAKULÖS Ein Aufbruch, der alles Gewohnte infrage stellt VON PAUL M. ZULEHNER

82 ÖKUMENISCHE PFINGSTNACHT Feierlicher Abschluss der Osterzeit, um das Pfingstfest neu zu entdecken VON MICHAEL OERTLIN

ADVENT

20 UNSERE ADVENTS-LIEDER UND IHRE THEOLOGIE „Gesungenes Dogma“, das in vielen Gottes-diensten und Andach-ten lebendig wird VON JOCHEN ARNOLD

22 DER ANDERE ADVENT Impuls geber zwischen Alltag und weihnachtlicher Besinnlichkeit VON ISOLDE KARLE

23 ADVENT. MEINE HOFFNUNG AUF HEIL Das Unheile soll wieder heil werden, mit Gottes Hilfe VON MICHAEL DIENER

24 PROFILIERUNG UND RELIGIÖSE BILDUNG Ursprünge, Zusammenhänge und Symbole der kirchlichen Feste erlebbar machen VON JOHANNES KILLYEN UND ANNETT HELMECKE-POSSEHL

WEIHNACHTEN

28 GOTT IST MENSCH GEWORDEN Weihnachtslieder als Spiegel unseres über-lieferten Glaubens VON GÜNTER RÖHSER

30 WEIHNACHTEN UND DAS KIND IN UNS Weihnachten ist auch ein thera peu-tisches Fest VON ANSELM GRÜN

31 WEIHNACHTEN – EIN FROMM DEKORIERTES VOLKS-FEST FÜR ALLE VON FRANK THOMAS BRINKMANN

33 DIE WEIHNACHTS-STUBE Die Auswanderung des Festes aus der Kirche ins Private VON JOHANNES GOLDENSTEIN

34 DIE HEILIGEN NÄCHTE Eine Anleitung für eine besondere Zeit VON ECKHARD LUKOW

35 EINE KLEINE NEUERUNG IM KIRCHENJAHR Die Weihnachtszeit endet jetzt „stabil“ mit Lichtmess VON MARTIN EVANG

PASSION

38 EINE BEWUSST ZURÜCK- HALTENDE SPRACHE Das Leiden Jesu im Spiegel neuer Passionslieder VON STEPHAN GOLDSCHMIDT

40 DAS LEIDEN CHRISTI BEDENKEN Stationen der Passions frömmigkeit VON VOLKER LEPPIN

41 FASTEN Frei für Gott und den Nächsten VON PETER ZIMMERLING

42 FASTEN IN DER ALTEN KIRCHE Hilfe zur Konzentration auf das Wesentliche VON ANDREAS MÜLLER

43 RENDEZVOUS MIT DER FREIHEIT „7 Wochen Ohne“ VON SUSANNE BREIT- KESSLER

44 DIE KUNST, SICH FAST ZU TODE ZU HUNGERN Fasten und Selbst optimierung VON ANDREAS URS SOMMER

46 SODENER PASSION Die Passionszeit als Chance erfahren VON HANS GENTHE

47 VIGIL IN DER GRÜN-DONNERS TAG NACHT Eine Nachtwache VON LEBRECHT SCHILLING

48 DIE OBER AMMERGAUER PASSIONSSPIELE Mit dem Passionsspiel neue Wege gehen VON WOLFGANG REINBOLD

49 MYTHOS BACHPASSION Was vielen Menschen ein Leben lang in der Seele klingt VON REINHARD MAWICK

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

die kirchlichen Feiertage gehören zu den funda­mentalen Beiträgen des Christentums zur Kultur unserer Gesellschaft.

In ihrer humanisierenden Funktion sind sie eine Chance für eine Gesellschaft im Wandel und dienen der Gesellschaft im Ganzen. Sie sind kein Überbleibsel einer vergangenen Epoche.

Die kirchlichen Feiertage geben dem Zeit­empfinden einen Rhythmus und gewähren einen regelmäßigen Freiraum. Auf diese Weise ver­helfen sie zu dem notwendigen Abstand vom Alltag.

Sie bieten einen Raum, sich die wichtigen und entscheidenden Fragen bewusstzumachen: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Aus welcher Quelle lebe ich? Wofür lohnt es sich zu leben? Sie bieten ebenso Raum für herausgehobene, festlich ge­staltete Begegnungen mit anderen.

Der gesellschaftliche Wandel hat aber selbst wiederum Auswirkungen auf den Umgang auch vieler Christinnen und Christen mit den kirch­lichen Feiertagen. Einer grundsätzlichen Ver­bundenheit steht bisweilen eine geringer wer­dende Kenntnis der religiösen und kulturellen Bedeutung dieser Tage gegenüber. Viele sind ver­legen und wissen nicht, wie sie diese Tage feiern und gestalten sollen.

Das EKD­Themenmagazin „Kirchliche Feier­tage als kultureller Reichtum“ widmet sich da­her in verschiedenen Beiträgen den einzelnen Festzeiten des Kirchenjahres, bietet theologische und historische Reflexionen, Berichte über Tra­ditionen rund um Festtagsbräuche und weitere Informationen zu einzelnen Festtagen. Aus der Wiederentdeckung alter Traditionen ergeben sich Anregungen für die Praxis.

Allen Autorinnen und Autoren und allen, die am Magazin mitgearbeitet haben, danke ich herzlich.

Ich wünsche mir, dass dieses Magazin in Kirchengemeinden, Bildungseinrichtungen und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit breites Interesse findet. Ihnen, die Sie in diesem Magazin blättern und lesen, wünsche ich eine anregende Lektüre.

Herzlich Ihr

LANDESBISCHOF DR. HEINRICH BEDFORD-STROHM Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

EINLEITUNG2 KIRCHLICHE FEIERTAGE

ALS KULTURELLER REICHTUM VON THIES GUNDLACH

FEIERN IM RHYTHMUS DER ZEIT

6 ZEITEN DES LEBENDIGEN VON KARLHEINZ GEISSLER

10 DER RHYTHMUS DES KIRCHENJAHRES VON CHRISTIAN AL BRECHT

12 PERMANENTE KONKURRENZ VON ULRICH VOLP

14 WOZU WIR BRÄUCHE BRAUCHEN VON GUNTHER HIRSCHFELDER

16 CHRISTLICHE FESTE MIT KINDERN FEIERN VON MICHAEL DOMSGEN

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IMPRESSUMRedaktion Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Thies Gundlach (verantwortlich), Konrad Merzyn, Henning Kiene, Rolf Becker

Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Herrenhäuser Str. 12 30419 Hannover Tel.: 0800/5040602 E-Mail: [email protected] www.EKD.de EKD.de @EKD

Gestaltung und Produktion Hansisches Druck- und Verlags haus GmbH Emil-von-Behring-Str. 3 60439 Frankfurt/Main

Projektleitung: Sebastian Knöfel Bildredaktion: Dorothee Hörstgen Layout: Lisa Fernges Schlussredaktion: Andrea Wicke, Thomas Steinhoff

Printed in EU

INFORMATION83 SCHÖPFUNGSFEST

Tag der Bewahrung der natürlichen Umwelt VON GEORGIOS VLANTIS

DER BLICK HINÜBER94 UNTERBROCHENER

ALLTAG Das Wesen anderer Religionen erfassen VON ALF CHRISTOPHERSEN

95 NATURVERBUNDEN Neuheidnische Feste und Rituale VON MICHAEL UTSCH

AUSBLICK96 „BEI DEINEM

NAMEN GENANNT“ KATHARINA, MARIA, MARTIN, NIKOLAUS Auch nach 2017 geht es mit dem protestantischen Projekt weiter VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN UND KLAUS-MARTIN BRESGOTT

97 WIR BRAUCHEN EINEN GEMEINSAMEN RHYTHMUS DER ZEITEN Das Kirchenjahr – eine schöne Erfindung VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN

TRADITION92 INFO DAS ENDE DES

KIRCHENJAHRES Der Herbst erinnert uns an die Vergänglichkeit allen Lebens VON JÜRGEN-PETER LESCH

REFORMATIONSTAG

88 DER REFORMATIONS- TAG ALS DENKMAL IN DER ZEIT Überlegungen zum Refor-mationstag als Feiertag VON MARTIN HAUGER

90 REFORMATIONSTAG IM AUFSCHWUNG Ein Tag mit wechselvoller Geschichte gewinnt an Bedeutung VON KONRAD MERZYN

STATIONEN

IM KIRCHEN-

JAHR.

Umkehr- und

Fastenzeiten

Licht- und

Christusfestzeiten

Lebens- und

Wachstumszeiten

Heiliger Geist und

Reformation

Laufrichtung

Variable Anzahl

von Stationen

Advent

Weihnachten

Epiphanias Trinitatis

Ende des Kirchenjahres

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TRINITATIS-ZEIT

Das Schaubild STATIONEN

IM KIRCHENJAHR findet der Leser

zum Herauslösen in der Heftmitte.

Die dort verwendeten Piktogramme

für die kirchlichen Feiertage

wurden im Magazin übernommen.

Die ONLINE-AUSGABE dieses Magazins und MATERIALIEN ZUM DOWNLOAD sind eingestellt unter

WWW.KIRCHLICHE-FEIERTAGE-ALS-KULTURELLER-REICHTUM.DE

EINLEITUNG

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Europa braucht gute Ideen, um seinen inneren Zusammen halt zu stärken

VON THIES GUNDLACH

KIRCHLICHE FEIERTAGE

ALS KULTURELLER REICHTUM

I.Europa braucht in diesen Tagen wirklich drin­gend gute Ideen, um seinen inneren Zusammen­halt zu stärken. Eine solche gute Idee war der „Europäische Stationenweg“, der im Rahmen des Reformationsjubiläums von November 2016 bis zum Mai 2017 achtundsechzig Orte in achtzehn europäischen Ländern miteinander verband. Ein Reformationstruck sammelte jeweils die lokalen Reformationsgeschichten ein und zeigte damit, dass es viele verschiedene Reformationen in Europa gegeben hat. Das Europäische Kultur erbe­ jahr ist auch solch eine gute Idee. Denn Europa braucht ein neues Selbstbewusstsein, sonst schaut es allen „Exit­Bestrebungen“ nur traurig und hilflos hinterher. Das europäische Erbe bewusst zu machen ist ein Weg, neues Selbstbewusstsein zu tanken. Denn in und durch alle Krisen und Kriege hindurch ist Europas Kultur herangereift zu einer weltweiten Verheißung, einem Sehn­suchtsort für ungezählt viele Menschen, die mit Europa Frieden und Rechtsstaatlichkeit, soziale Sicherheit und Demokratie verbinden. Und es ist hier wie so oft im wirklichen Leben: Fremde können in aller Regel besser auf Europa stolz und dankbar sein als die Europäer selbst. Deswegen ist ein gemeinsames Europäisches Kulturerbe­jahr der richtige Ansatz: Der Blick zurück kann den Blick nach vorn läutern und stärken. FO

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EINLEITUNG

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II.Erstmals nach der Luther­ bzw. Reformations­dekade von 2009 bis 2016 und dem Jahr des Reformationsjubiläums 2017 stellt sich die Evangelische Kirche in Deutschland gemeinsam mit ihren Gliedkirchen mit diesem Themen­magazin gleichsam hinein in ein europäisches Themenjahr.

Denn Anlass und Grund für dieses Themen­jahr 2018 ist das vom Europäischen Parlament und dem Rat gemeinsam ausgerufene „Euro­pean Cultural Heritage Year 2018“. Das Euro­päische Kulturerbejahr ist der Versuch, gerade angesichts der hohen und stetig wachsenden Pluralität von Kulturen und Traditionen, von Überzeugungen und Werten in Europa das ge­meinsame kulturelle Erbe als „Potenzial für Identifikation, Teilhabe und Entwicklung“ zu entfalten. Wir werden eingeladen, in diesem Jahr Europas reiche Geschichte zu bezeugen, die „durch Werte wie Vielfalt, Toleranz und inter­kultureller Dialog entscheidend geprägt (ist)“. Dass dies eine recht einseitige und positive Be­schreibung der „reichen Geschichte Europas“ ist, liegt auf der Hand; denn Europas Geschichte ist auch eine lange Lerngeschichte, herausgewach­sen aus Gewalt und Intoleranz, Nationalismus und Antisemitismus. Die zentrale Zielsetzung des Kulturerbejahres wird wohl nur erreichbar sein, wenn Europa nicht nur seine Erfolgswerte wie Toleranz und Dialog erinnert, sondern auch seine Schattenseiten.

III.Darüber hinaus wurde inzwischen zu Recht an­gemerkt, dass dem Europäischen Kulturerbejahr eine „übergeordnete konzeptionelle Idee“ fehlt und deswegen „die ökonomischen und sonstigen sekundären Aspekte des kulturellen Erbes (Kre­ativität, Innovation, Tourismus, Schaffung von Arbeitsplätzen, Bildung, Konfliktprävention und Beziehungen zu Drittstaaten) überbetont“ werden. Das Jahr sei zu stark auf seinen „instrumentalisier­baren Nutzen“ festgelegt. Diese Kritik kann man sich als Evangelische Kirche so zu eigen machen, insofern man mit einigem Erstaunen feststellen muss, dass zum Europäischen Kulturerbe offenbar die christliche Religion und ihre „Verzauberung der Welt“ (Jörg Lauster) in gar keiner Weise gehört. Jüdisch­christliche Traditionsbestände kommen nirgends explizit vor, und dies, obgleich eigens da­rauf verwiesen wird, dass „ein Ausgangspunkt [. . . ] das bauliche und archäologische Erbe sein“ könne. Aber die jüdisch­christliche Prägung Europas gerät weder in Form steingewordener Zeugnisse der vielen Kirchen als Kulturdenkmäler in den Blick noch in seinem immateriellen Reichtum in Gestalt von Rhythmen und Zeiten, Werten und Orientierung. Man ist versucht, einen Zusam­menhang zwischen „starker Instrumentalisie­rung“ und „mangelnder Religionsverortung“ zu erkennen: Sollte das europäische Erbe tatsächlich funktional allein zur Bewältigung der wachsen­den Vielfalt in Europa und der ökonomischen Wertsteigerung verzweckt werden, weil die im­materiellen, geistigen Erbschaften nicht im Blick sind? Ein Europäisches Kulturerbejahr aber kann nur einer existenziellen Orientierung und einer Vertiefung der Gewissensbildung, einer Klärung von Identitäten und Stärkung der Gemeinschaft dienen, wenn es auch seiner geistigen Reichtümer gedenkt: „Was von den Vätern Du ererbst, er­wirb es, um es zu besitzen“ hat der Weltgeist aus Weimar formuliert; aber dieses Erwerben meint auch ein immaterielles Erwerben von Haltungen und Einsichten, nicht zuerst von Arbeitsplätzen und ökonomischen Vorteilen.

IV.Das vorliegende Themenmagazin regt nun an, innerhalb des Europäischen Kulturerbejahres das immaterielle Erbe der jüdisch­christlichen Religion sichtbar zu machen: die Fest­ und Ge­denkkultur. Dieser immaterielle Reichtum einer öffent lichen Religion rhythmisiert die Zeitläufe und gliedert trotz aller Pluralisierung der Lebens­stile die Woche so selbstverständlich wie das ganze Jahr. Natürlich werden auch die kirch­lichen Feste und Traditionen nicht mehr in gleicher Weise beachtet und gefeiert, wie das zu früheren Zeiten üblich war. Zugleich jedoch gilt: Wer sich jetzt frei und ohne gesellschaftlichen Zwang in diese Traditionen stellt, der weiß sie aus freien Stücken zu schätzen. Und auch wer den Sonntag nicht zum Kirchgang nutzt, weiß, dass dieser Tag in Familien und Freundschaf­ten irgendwie anders zu gestalten ist als alle anderen Wochentage. Und selbst wer kaum noch Auskunft geben kann über Sinn und Herkunft der drei großen christlichen Festkreise (Advent und) Weihnachten, (Karfreitag und) Ostern und Pfingsten, der spürt, dass es nicht ganz norma­le Werktage sind. Weil die kirchlichen Feiertage noch prägende und heilsame Kraft auch im ganz säkularen Gewand haben, nennen wir sie nicht zuerst Kulturerbe, sondern kulturellen Reich­tum. Bei einem Erbe ist der Erblasser gestorben, die kirchlichen Feiertage aber sind lebendig.

V.Natürlich nimmt der Druck zur Ökonomisierung auch dieser Tage immer stärker zu, weil sich der Irrtum weiterhin in vielen Köpfen hält, dass mehr Einkaufszeiten mehr Umsatz bringen. Aber dies ist bestenfalls Strohfeuer, sodass schon nach we­nigen Jahren für das Linsengericht eines kurzen Umsatzplus das Erstgeburtsrecht an Feiertagen aufgegeben wird. Dieses Themenmagazin ver­sucht dagegen, das immaterielle Erbe kirchlicher Feiertage als Reichtum und Segen ins Licht zu rücken, auch um den Begehrlichkeiten der Kom­merzialisierung entgegenzutreten. Die fünf groß­en christlichen Festräume Advent, Weihnachten, Passion, Ostern und Pfingsten sollen deutlich werden als das, was wir Christen immer, überall und zu allen Zeiten feiern. Es werden keine Zu­satzaufgaben angeregt oder neues Engagement empfohlen, sondern es wird Material zusammen­getragen, das das vertieft und entfaltet, was christ­liche Gemeinden sowieso immer machen. Dass das Wissen um Sinn und Bedeutung kirchlicher Feierrhythmen und ­zeiten abnimmt, liegt auf der Hand; dass manche Feste wie Advent und Pfingsten in ihrem Ursprungssinn neu erschlossen werden müssen, ebenso. Aber die Zahl derer, die neugierig nachfragen, weil sie die Traditionen als „unbekannte Wesen“ interessant finden, nimmt auch zu. Insofern versteht sich dieses Themen­magazin nicht nur als Erinnerung an ganz basale europäische Traditionsbestände, sondern auch als Beitrag zu einer Kultur des Dialogs verschiedener Traditionen. Denn es ist ebenso festzustellen für das Europäische Kulturerbejahr, was insgesamt gilt: Angst vor fremder Religion hat nur, wem die eigene Religion fremd geworden ist.

DR. THIES GUNDLACH ist Vizepräsident des Kirchen-amtes der EKD in Hannover. Er leitet die Hauptabteilung II „Kirchliche Handlungsfelder und Bildung“.

WEIL DIE KIRCHLICHEN

FEIERTAGE NOCH PRÄGENDE UND HEILSAME

KRAFT AUCH IM GANZ

SÄKULAREN GEWAND HABEN,

NENNEN WIR SIE

KULTURELLEN REICHTUM

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FEIERN IM RHYTHMUS DER ZEIT

ir leben – und das seit etwa 600 Jahren – in und mit zwei

Zeiten, den Zeiten der Natur und den Zeiten der Uhr. Die

gegen Ende des Mittelalters er­fundene mechanische Uhr und

deren Erfolgsgeschichte hat mit ihrem Angebot, den Zeigerverlauf

als Zeitanzeige zu interpretieren, eine zweite Zeitreferenz in die Welt gesetzt. Das hat die Menschen um eine Entscheidungsmöglich­keit reicher gemacht, hat sie aber, weil hiermit zu­gleich auch ein Entscheidungsproblem entstand, auch unruhiger und ungeduldiger werden lassen. Das moderne Leben zwingt zur Wahl: Lässt man die mechanisch hergestellte tote Uhrzeit über das Zeitleben entscheiden, oder orientiert man sich an jenen Zeitsignalen, die die Natur, vor allem die eigene lebendige Zeitnatur, vorgibt? Nicht immer, nicht in jeder Situation lässt sich frei zwischen der Zeitansage der Uhr und den Zeit­zeichen der Natur wählen. In vielen Fällen jedoch

heißt die Entscheidung: Zählbare, inhaltslose und tote Uhrzeit oder erzählbare, qualitätsvolle, lebendige Naturzeit? Die Alternative zwischen Uhrzeit und Naturzeit ist darüber hinaus zu­gleich auch die Wahl zwischen zwei Zeitmustern.

Die Zeitforschung spricht dann von „Zeit­mustern“, wenn sie die Ordnungsstrukturen und die Verlaufsformen der Zeit in den Blick nimmt. Zeitmuster gewähren, eröffnen oder verschließen raum­zeitliche Spielräume des Erlebens, der Er­fahrung, der Wahrnehmung und des Zeit handelns in jeweils spezifischer Art und Weise. Sie ver­leihen dem Zeithandeln eine Art „Zeit­Melodie“, sind quasi der Faden, mit dem die Zeiten des Lebens wie die Perlen eines Colliers zusammen­gehalten werden.

Zeiten des Lebens sind die Zeiten des Gestal­tens, des Erduldens und des Erfahrens. Sie folgen nicht der kalkulierten Ordnung der Uhrzeiger­verläufe. Sie springen vor und zurück, bewegen sich im Zickzack und im Auf und Ab. Sie sind unberechenbar. Vergangenheit und Gegenwart,

Phasen der zeitlichen Leere, des raschen Zeit­flusses, aber auch solche, in denen sich die Zeit staut, vermischen und überlagern sich. Mensch­liche Erlebniszeit verläuft weder linear noch chronologisch. Das mechanische Gleichmaß des Uhrzeigerverlaufs und das berechenbare Ticken der Sekunden unterscheiden sich grundlegend von der Zeit des menschlichen Lebens und Erle­bens. Die Uhr sagt und garantiert uns, dass jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde gleich lang ist. Un­ser Zeitgefühl, unsere Zeitnatur, unsere Körperzeiten signalisieren, dass die Stunden, die Minuten, die Sekunden unterschiedlich, also verschieden breit und gewichtig sind. Die Tage lassen sich zählen, man kann sie aber auch wiegen. Naturzeit ist lebendige, Uhrzeit tote, von einer Zeitmessmaschine hergestellte Zeit. Das quantifizierende Leben und das qualifizie­rende Leben lassen sich beim bes ten Willen und

bei größter Anstrengung nicht in Übereinstim­mung bringen, da das Messbare an keiner Stelle an das Erfahrbare und Erlebbare heranreicht. Die charakterlose Uhrzeit unterscheidet nicht zwischen hellen und dunklen Stunden, differen­ziert nicht zwischen guten und schlechten Zeiten

und sträubt sich, ihre Zeit mit so etwas wie Gefühlen, Erfahrungen und Stimmungen in einen Zusam­menhang zu bringen. Die Uhr­zeit entzaubert den Kosmos und reduziert die Natur auf berechen­ und beherrschbare Wirkungs­zusammenhänge und Kräftespiele. Um die Qualitäten der Zeit zu erspüren und zu erfahren, braucht

es die Distanz zur Uhr und den Kontakt zur äußeren und inneren Natur. Uhr oder Leben? Wer hat recht, wenn’s um Zeit geht? Die Antwort gibt Rainer Maria Rilke in einem seiner „Briefe an einen jungen Dichter“: „Glauben Sie mir: das Leben hat recht, auf alle Fälle.“

ZEITEN DES LEBENS FOLGEN

NICHT DER KALKULIERTEN

ORDNUNG DER UHRZEIGER-

VERLÄUFE

Das Fühlen und Erleben des Menschen braucht Kontur, sein Tun und Lassen Qualität VON KARLHEINZ GEISSLER

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FEIERN IM RHYTHMUS DER ZEIT

Geordnet, strukturiert und geprägt werden das Zeitleben und das Zeiterleben durch die beiden unterschiedlichen Zeitmuster „Rhythmus“ und „Takt“. Dem Verlaufsmuster des Taktes folgt die Uhr und deren mechanisch hergestellte Zeit, dem des Rhythmus folgt alles Lebendige, die innere und die äußere Natur. Der Gesang der Amsel, der Herzschlag und die Jahreszeiten sind rhythmisch, das Geräusch des Staubsaugers, das Fließband und die Silvesterknalle­rei sind es nicht. Der Rhythmus ist das Leitbild, dem das Werden und Vergehen der Natur, einge­schlossen das der menschlichen Natur, folgen. Vertaktung, die für eine kalkulier­ und be rechenbare Welt sorgt, stiftet Regel mäßigkeit, eine Abfolge des Immergleichen. Rhythmus hingegen nennen wir die Abfolge des Ähnlichen, die Wiederkehr des Verwandten, die Wiederholung des Vergleich­baren. Organismische Dynamiken verlaufen in Wiederholungen, Spiralen und Zyklen, sie ent­wickeln sich Maß­voll, altern und kennen ein „Genug“.

Sprechen wir von „modernen“ Zeiten, dann reden wir von der Vorherrschaft des mecha­nischen Zeitverständnisses, von der wirk­mächtigen Dominanz vertakteter, rhythmus­

armer Zeit. Die Moderne löst die einst bestehende enge Korrespondenz zwischen den von den Menschen gemachten lebensweltlichen Zeit­ordnungen des Arbeitens und Lebens und den sich periodisch wiederholenden Zeitläufen der Natur auf.

Es ist der mechanische Charakter der Uhr, der in der Moderne auf die Wahrnehmung und

die Gestaltung der äußeren Welt übertragen wird und der das Zeit­erleben und Zeitverhalten ihrer Nutzer dominiert. Für den „spät­barocken“ italienischen Film­regisseur Federico Fellini sind die damit einhergehenden Denatura­lisierungen der Zeiterfahrung und des Zeit erlebens Anlass zur Klage. In den Vorstudien zu seinem Film „Orchesterprobe“ kritisiert er:

„Unser Land ist arm an Rhythmus.“Die antiken Griechen haben im Rhythmus,

der einen ordentlichen Wandel und einen Wan­del der Ordnung ermöglicht und garantiert, eine sozial­dynamische Kraft gesehen. Wo der Takt zwischen richtig und falsch scharf trennt, flie­ßen bzw. pendeln die Rhythmen zwischen den Polen „angemessen“ und „unangemessen“ und reagieren sensibel auf Dynamiken, Belastungen und Veränderungen der Umwelt. Rhythmische

DER RHYTHMUS

IST DAS LEITBILD, DEM DAS WERDEN

UND VERGEHEN DER NATUR

FOLGEN

PROF. DR. KARLHEINZ GEISSLER schreibt, lehrt und lebt als Universitäts professor in München (www. timesandmore.com).

Verläufe lassen und geben Spielraum für Neues und zeigen sich im Rahmen ihrer jeweiligen Schwankungsgrenzen flexibel und geschmeidig. Die Rhythmizität des Lebendigen sorgt für ein pulsierendes und abwechslungsreiches Leben, das zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Höhen und Tiefen, Zufälligem und Geplantem, Anfängen und Abschlüssen, Werden und Ver­gehen schwingt. Es ist dieses Entwicklungsprin­zip des Lebendigen, das schließlich auch für die Gestaltung des sozialen Zeitlebens das richtungs­weisende Orientierungsmaß abgibt.

Mit den lebendigen Zeiten, die dem Fühlen und Erleben der Menschen Profil, Kontur und Charakter verleihen und deren Wahrnehmung, dem Tun und ihrem Lassen Qualität geben, befasst sich die „Chronobiologie“. Sie ist die Wissen schaft von der zeitlichen Organisation biologischer Systeme.

Der wirkmächtigste Rhythmus im Drama unseres Alltagslebens ist der Wechsel zwischen Wachsein und Schlafen, zwischen Aktivität und Passivität. Darüber hinaus können die Chronobiologen mehr als hundert menschliche Körper funktionen nennen, die im Tagesverlauf rhythmischen Schwankungen unterliegen. Alle Experten und Expertinnen der menschlichen Zeitnatur sind sich einig, dass es dem Menschen ebenso wenig möglich ist, seiner rhythmischen

Zeitnatur zu entfliehen wie den Gesetzen der Schwerkraft. Gegen den in modernen Gesell­schaften auftretenden Druck zur Entrhythmi­sierung reagiert der Körper mit Ermüdung, mit Erschöpfung und im Extrem mit jener Form der psychischen Privatinsolvenz, für die sich der meta phorische Begriff des „Burnout“ eingebür­gert hat. Für den Körper angemessen sind nur jene Zeiten, die dem Zeitmuster „Rhythmus“ Raum geben. So ist es denn auch nicht allzu über­raschend, dass die Zahl tanzender und singender Menschen weit größer ist als die Zahl derer, die eine Uhr tragen. Dass der Rhythmus auch dem Autofahrer im Blut liegt, wie das eine Schlager­weisheit verbreitet, spüren auch die in ihrem Fahrzeug allein am Steuer sitzenden Verkehrs­teilnehmer. Vier von fünf rhythmisieren sich während der Fahrt durch Singen oder Pfeifen. Ein nicht immer wohlklingender, in jedem Fall aber lebendiger Beweis für eine Zeitnatur des Homo sapiens, die den Rhythmus braucht, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Selbst dort, wo die Diktatur der Uhr und die Impera­tive des Takts die Unterdrückung des Rhythmus verlangen, lässt sich dieser nicht ausschalten oder wie einen Regenschirm für ein paar Stunden an der Garderobe abgeben. „Wir können die Natur nur beherrschen, indem wir uns ihren Gesetzen unterwerfen“ (Francis Bacon). FO

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FEIERN IM RHYTHMUS DER ZEIT

ELEMENTE DES KIRCHENJAHRESDas Kirchenjahr bildet eine den Zeitraum des Jahres strukturierende Ordnung, in der unter­schiedlich entstandene, zum Teil auch kollidie­rende Zyklen miteinander verzahnt sind.1

Das Grundprinzip bildet die endlose Kette der Sonntage, der zufolge nach dem Urbild der Schöp­fungsruhe jeder siebte Tag zum Herrentag erklärt ist. Sie liefert dem christlichen Jahr den Grund­zyklus, weist über die Grenzen der Monate und über die Wende der Jahre hinaus und betont das lineare Moment der christlichen Zeitrechnung.

Der zweite Zyklus besteht im Osterfestkreis. Er reicht von der vorösterlichen Bußzeit bis Pfingsten und bestimmt – in der evangelischen Tradition – Zahl und Datum der Trinitatissonn­tage bis zum Ewigkeitssonntag. Der Osterfest­kreis orientiert sich, wie das jüdische Passah, am Mondkalender, ist aber in die Kette der Sonn­

tage integriert. Der Auszug aus Ägypten sowie die Auferstehung in der Osternacht werden in Beziehung gesetzt und akzentuieren jeweils die Erinnerung an die Erlösung vom Tod. Der Oster­festkreis stellt den zentralen und ältesten Schwer­punkt des Kirchenjahres dar.

Einen dritten Zyklus bilden Weihnachten und Epiphanias mit ihren Vorbereitungs­ und Folgezeiten. Sie sind an den Sonnenkalender ge­bunden. Damit überschreiten sie den Wochen­rhythmus. Sie tragen das Motiv der Mensch­werdung Gottes als Wende vom Tod zum Leben in das Kirchenjahr ein.

Einen weiteren Zyklus könnte man sehen im Jahr der Heiligentage, das ebenfalls an feste Da­ten und an den solaren Kalender gebunden ist. Häufig kollidieren seine Festtage mit der Kette der Sonntage und mit dem Oster­ und Weih­nachtskreis, was durch agendarische Regelungen

abgefedert werden muss. Weitere nachgeordnete Kreise könnten gesehen werden in Festtagen, die im Bezug zu vegetativen Zyklen stehen (Ernte­bitt­ und ­danktage) sowie in Festen, die auf kir­chengeschichtliche Ereignisse zurückgehen (zum Beispiel das Reformationsfest). Auch diese nach­geordneten Zyklen fügen sich in konstruktiver Sperrigkeit in die anderen ein.

Die Grundstruktur des Kirchenjahres ver­bindet den lunar­beweglichen Osterfestkreis mit dem solar­unbeweglichen Weihnachtsfestkreis auf der Matrix des weder lunar noch solar be­stimmten Wochenzyklus. Das Kirchenjahr zeigt sich damit als ein Konstrukt aus recht unter­schiedlichen Motiven und Traditionen, die sich gerade nicht auf eine Einheit oder Uniformität bringen lassen, sondern einander in ergänzender, präzisierender und korrigierender Weise zuge­ordnet sind. Damit wird der Aufbau des Kirchen­jahres zum Ausdruck und zur Darstellung einer Vielfalt von Traditionskomplexen. Im Aufbau des Kirchenjahres bildet sich insofern ab, was auch das Christentum im Ganzen auszeichnet: die Verbindung ganz unterschiedlicher Einflüsse und Motive.

KIRCHENJAHR IM WANDELHinzu kommt, dass das Kirchenjahr niemals eine statische Struktur hatte, sondern beständigem Wan­del unterworfen war. Schon in der Alten Kirche zeigte sich eine zunehmende innere Zersplitterung des Osterzyklus, das Entstehen eines eigenen Weihnachtszyklus und das Hinzutreten historisie­render Christusfeste (Kreuzesfeste, Beschneidung, Taufe usw.). Im Frühmittelalter wurden sie ergänzt durch Ideen­ und Devotionsfeste (Trinitatis, Fron­leichnam, Herz Jesu, Christkönig). So verblasste die Bedeutung des Sonntags als des Herrentags und des Osterfestes als Herz des Kirchenjahres zuneh­mend. Erst in den römisch­katholischen Liturgie­ reformen des 19. und 20. Jahrhunderts gelang es, die Osterfeier wieder ins Zentrum des Kirchen­jahres zu rücken und manche seiner Auswüchse so zu beschneiden, dass sein Charakter als Herren­jahr trotz der integrierten Parallelstruktur des Heiligenkalenders wieder deutlicher hervortrat.

Die Reformation zielte zunächst auf eine Rei­nigung des Festkalenders. Alle Heiligen­, Apos tel­ und Marienfeste, für die es keine biblische Grundlage gab, wurden getilgt, um nur die­ jenigen Feste beizubehalten, die sich in ein christologisch geprägtes Kirchenjahr einfügen ließen. Bald aber tauchten in zahlreichen Kirchen­ ordnungen des 16. Jahrhunderts weitere Christus­ feste, Apostel­ und Heiligentage auf, zudem in regionaler Differenzierung. Die Preußische Agende von 1822 schrieb neben den Herrenfesten

auch Neujahr, Karfreitag, eine Totenfeier und einen Jahresbußtag vor.

Die stärksten Kräfte, die auf den Wandel des Kirchenjahres in der Neuzeit wirken, ergeben sich aus dem Wechselverhältnis zwischen Kir­chenjahr und bürgerlichem Jahreszyklus. Das bürgerliche Jahr entsteht aus dem kirchlichen Jahr und verwandelt es zugleich. Es hat seinen ei­genen Festkalender. Dazu zählen die staatlichen Feiertage, durchaus unterschiedlich in Rang und Popularität; es zählen auch jene kulturell einge­spielten Feiertage dazu, an denen ganze Gruppen von Heiligen kollektiv gefeiert werden (Mutter­tag) oder betrauert (Volkstrauertag). Den christ­lichen Ideenfesten vergleichbar, kennt auch das bürgerliche Jahr Programmfeste (Tag der Arbeit, Internationaler Frauentag, Weltkindertag etc.).

Bestimmte Festtage des Kirchenjahres werden durch ursprünglich zugehörige, später abgelöste und mit dem ursprünglichen Festanlass konkur­rierende Bräuche zurückgedrängt, so in der Über­lagerung des Allerheiligentages durch Halloween. Brauchtum, das ursprünglich auf das Kirchenjahr bezogen ist, wandert aus und verselbstständigt sich in eigenen Festkreisen, wie sich zum Beispiel am Fasching bzw. Karneval zeigt.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Bedeutungsverschiebungen, denen überlieferte Feste und Festzeiten des Kirchenjahres unter­ worfen sind. In der einen Richtung dürfte das Weihnachtsfest hierfür das signifikanteste Beispiel darstellen – nach vorn in eine Vorfestzeit von hoher ökonomischer Bedeutung ausgedehnt, nach hinten in eine dem Urlaub dienende Nachfestzeit. Theolo­gische Sinnbezüge treten hinter gesellschaftlichen Bedeutungswandel zurück. In einer anderen Rich­tung sind Tendenzen einer zunehmenden Attrak­tivität von Gottesdiensten an Weihnachten, am Erntedanktag, in der Osternacht sowie an ande­ren, zum Teil regional unterschiedlichen Festtagen zu beobachten. Sie begründen und beleben neue Formen einer Kirchenjahresfestfrömmigkeit.

Was sich im Verhältnis von Kirchenjahr und bürgerlichem Jahr zeigt, ist eine Dynamik, die ihre Wurzeln in der Entstehung des christlichen Festjahres hat. Auch die antiken Kalender mit ihren Festen wurden nicht einfach ignoriert oder verworfen, sondern aufgenommen, umgedeutet oder mit neuen Inhalten gefüllt. Und dem gegen­wärtig vielfach beklagten oder befürchteten Bedeutungsverlust christlicher Feste ließe sich möglicherweise ebenfalls in der Anknüpfung an alte Traditionen begegnen – nämlich in der Erin­nerung an die sinnvergewissernde Funktion der Feste, die die Orientierung im Alltag durch die Unterbrechung des Alltags und die zeitweilige Abstandnahme von ihm gewähren.

PROF. DR. CHRISTIAN ALBRECHT ist Professor für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

DER RHYTHMUS DES KIRCHENJAHRES

Einander zugeordnete Motive und Traditionen VON CHRISTIAN ALBRECHT

1Dazu Karl-Heinrich Bieritz: Das Kirchenjahr, neu bearbeitet von Christian Albrecht, München 20149, 65 ff. IL

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FEIERN IM RHYTHMUS DER ZEIT

Ostern, Weihnachten, Pfings­ten, Epiphanias (6. Januar): Die wichtigsten christlichen Feiertage gehen auf die an­

tike, die sogenannte Alte Kirche zurück. Von Pfingsten (griechisch „pentēkostē hēméra“ = der 50. Tag) ist schon im Neu­en Testament die Rede (1 Kor 16,8 und Apg 20,16), und Osterfeiern sind schon im zweiten Jahrhundert gut belegt. Beide Anlässe stehen in einem kalendarischen Zusammenhang mit jüdischen Festen: dem in der Passionsgeschichte genannten Passahfest und dem 50 Tage danach ge­feierten jüdischen Fest Schawuot. Später etablierte Feste wie das Epiphanias­ und das Weihnachtsfest wurden dagegen mit „heidnischen“, paganen Festtraditionen in Verbindung gebracht. Beziehungen und mögliche Abhängigkeiten zwischen Formen, Daten und Inhalten christ­licher Feste und Feiern und solchen der nichtchristlichen Umwelt werden immer wieder diskutiert, zumal in einer globa­lisierten Welt, in der Christen immer stär­ ker mit nichtchristlichen Festtraditionen konfrontiert werden.

Das historische Interesse an christ­lichen Feiertagen begann mit der theolo­gisch geleiteten Prüfung der Legitimität dieser Feste. Die Reformation führte zu einer massiven Veränderung der christ­lichen Festkultur, weil Heiligenfeste wie der Johannes­ oder der Urbantag genauso wie die damit verbundenen Heiligen ihre Be­deutung für evangelische Christen verloren. Martin Luther selbst plädierte erfolgreich für eine Aufwertung des „Chris tusfestes“ Weihnachten gegenüber dem Heiligen­fest Nikolaus. Zu den Gründungsanstren­gungen der reformierten schottischen Kirche im 16. Jahrhundert gehörte gar ein radikales Infragestellen aller kirchlichen Feiertage, die sich nicht auf eine konkrete biblische Tradition berufen konnten. Im 17. Jahrhundert kämpften englische Cal­vinisten gegen weihnachtliche Trinkgelage und Tanzveranstaltungen und zogen dabei auch die Historizität eines Geburtsdatums Jesu am 25. Dezember in Zweifel, das im vierten Jahrhundert erstmals erwähnt wird und seit dem achten Jahrhundert fester Teil der verbreiteten Chronologien gewesen war. Die römisch­katholische Apologe­tik versuchte daraufhin, in antiken Über­lieferungen Beweise für die Richtigkeit des Datums zu finden – wenig erfolgreich,

aber auch einigermaßen folgenlos für die christliche Festkultur.

Im 19. Jahrhundert schien die Sache entschieden, und man wandte sich statt­dessen der Frage zu, wie es überhaupt zur Etablierung des Weihnachtsfestes in der Antike gekommen war. Man kam zu zwei unterschiedlichen Theorien: Die einen verstanden unter Weihnachten schlicht ein umgewidmetes Fest für den heidnischen Sonnengott Sol invictus („unbesiegter Son­nengott“), was die kalendarische Nähe zur Wintersonnenwende erklären sollte. Man verband dafür eine antike Notiz über ein (nicht näher einem Menschen oder einer Gottheit wie Sol zuzuordnenden) Invictus­ Fest am 25. Dezember mit kirchlichen

Äußerungen, wonach die Christen mit dem Weihnachtsfest zum Sonnenwend­datum „denjenigen feiern, der größer ist als die Sonne“ (Augustinus an Faustus 20,4), oder sie Christus als die wahre „Sonne der Gerechtigkeit“ ansahen (vgl. Mal 3,20). Auch die kalendarische Nähe von Epiphaniasfest und einem ägyp­tischen Sonnenfest wurde für diese Theo­rie ins Feld geführt.

Die anderen sahen den Grund für das Weihnachtsdatum in einer bestimmten theologischen Auslegung der Weihnachts­ oder der Schöpfungsgeschichte: Da Jesus Christus der Sohn des Schöpfers ist, musste auch bei seinem Geburtsdatum Schöp­fungsgemäßheit vorliegen. Die Winter­

sonnenwende passte vollkommener­ maßen dazu – so jedenfalls eine der antiken Auslegungen des Weihnachts­ datums. Vor allem die erste Theorie wurde im 20. Jahrhundert begeistert aufgenom­men und zu einem populären religions­geschichtlichen Umformungsmodell er­weitert: Kaiser Konstantin († 337) habe aus politischen Gründen ein eigentlich heidnisches Fest christianisiert und nicht nur den Sonntag als allgemeinen Ruhetag, sondern auch das Weihnachts­fest als höchsten Feiertag staatlich ver­ordnet.

Tatsächlich entstanden weihnacht­liche Festtraditionen aber erst und ausge­rechnet zu der Zeit, als in der Hauptstadt

Konstantinopel eine der größten Synoden der Antike zusammentrat (381). Auch ließ sich ein Sol invictus­Festbrauch am 25. 12. nicht verifizieren. Stattdessen zeichnet sich heute ein komplexeres Bild der frü­hen christlichen Festkultur, ihrer Inhalte und Motive ab. Im Zentrum der antiken Kirchlichkeit standen gottesdienstliche Zusammentreffen am Sonntag, dem Auf­erstehungstag. Der wöchentliche Gottes­dienst verwies hierdurch auf Ostern, das auch als Tauftermin eine zentrale Rolle für die Alte Kirche spielte. An die Martyrien der Verfolgungszeiten erinnerten zunächst die Heimatgemeinden von Märtyrern wie Cyprian von Karthago oder Polykarp von Smyrna. Immer öfter wurden auch

überregional Gottesdienste an ihren Todestagen gefeiert und selbst weniger prominenter Christen begann man an bestimmten Tagen zu gedenken. Dadurch etablierte sich im dritten Jahrhundert eine ausdifferenzierte Fest­ und Gedenkkultur. Daneben entstanden weitere Festtraditi­onen wie die des Epiphaniasfestes.

Man muss von einer permanenten Konkurrenz zwischen christlichen und nichtchristlichen Festen, Bräuchen und Riten ausgehen. Dabei finden sich sowohl Beispiele für die Abschaffung als auch für die Ersetzung und inhaltliche Neu­bestimmung nichtchristlicher Fest­ und Feier traditionen sowie die Schaffung völlig neuer Formen und Inhalte. Erfolglos war ein Kampf gegen Vorhandenes, wenn sich damit starke gesellschaftliche oder individualpsychologische Funktionen ver­banden, man denke an den aussichtslosen Kampf der Alten Kirche gegen die rituali­sierte Totenklage. Eine Neuschaffung war dagegen einfacher, vor allem, wenn sie individuellen und/oder gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht zuwiderlief und dem Zeitgeist entsprach. Eine Neuinterpre­tation bestehender Traditionen wie des Totengedenkens wurde durch Mecha­nismen zu Vereindeutigung möglich, wie sie die christliche Predigtpraxis und die Schriftlesung im Gottesdienst, bei Taufen und Bestattungen zur Verfügung stellten. Sie schufen eine „narrative Land­karte“ aus biblischen Geschichten, die die Grundlage für die christliche Festkultur wurde. Aus den erhaltenen Predigten und Schriftauslegungen erfährt man konkret, wie die großen Feste inhaltlich gefüllt wur­den: In ihnen wurde mit Berechnungen der Schöpferbezug der Oster­ und Weih­nachtsfesttermine plausibilisiert, Chris tus wurde mit der alttestamentlichen „Son­ne der Gerechtigkeit“ identifiziert, vom Gottes sohn wurde berichtet, wie er in die menschliche Zeit eingetreten war, in die Niedrigkeit von Krippe und Kreuz, in die Taufe, wie er nach Jerusalem einzog und hingerichtet wurde – und wie die christ­liche Kirche mit all ihren Festen „am 50. Tag“ entstand.

Entstehung einer christlichen Festtradition in einer nichtchristlichen Gesellschaft VON ULRICH VOLP

PERMANENTE KONKURRENZ

PROF. DR. ULRICH VOLP ist Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte (Schwer-punkt: Alte Kirche) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes- Gutenberg-Universität in Mainz.

IN EINER GLOBALISIERTEN WELT WERDEN

CHRISTEN IMMER STÄRKER

MIT NICHT-CHRISTLICHEN

FESTTRADITIONEN KONFRONTIERT

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Zwar wird in Deutschland immer mehr gefeiert, und sogar die Eröffnung eines neuen Autohauses wird als Event dekla­riert, aber der Brauch an sich ist trotz­

dem auf dem Rückzug – der religiöse zumal. Das mag daran liegen, dass Bräuche nicht nur aus dem jeweiligen christlichen Fest und dem zugehörigen Gottesdienst bestehen, sondern von allerlei Welt­lichem begleitet werden: dem Suchen der Ostereier, dem Beisammensein unter dem Weihnachtsbaum, der Feier nach dem Aufstellen der Pfingstkrone.

Warum ist der Brauch dann unter Druck? Weil er sich nicht nur in der Familie abspielt, sondern in der sozialen Gruppe. Das kann die Gemeinde sein, früher war es meist die Dorfgemeinschaft. Eine Ge­sellschaft aber, in der sich Sozialgefüge nicht mehr auf die Gruppe bezieht, sondern auf das Individu­um, braucht das verbindende Element des Brauchs natürlich viel weniger. Was ja nicht schlecht sein muss, denn jedes soziale System hat auch einen Zwangscharakter, legt den Menschen auf eine Rolle fest, auf seinen Status, auf ein gefordertes Verhalten.

Weltdeutung und Sinnstiftung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft VON GUNTHER HIRSCHFELDER

WOZU WIR BRÄUCHE BRAUCHEN

PROF. DR. GUNTHER HIRSCHFELDER ist Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität in Regensburg.

Nun gibt es heute ein ziemliches Begriffswirr­warr um die Frage, was ein Brauch überhaupt ist. Zunächst handelt es sich um einen altmodischen Begriff, vor allem in seiner umgangssprachlichen und nicht korrekten Form „Brauchtum“. Aber Brauch ist keineswegs beliebig. Ein Brauch ist per definitionem immer eine gemeinschaftliche Handlung, die regelmäßig wiederkehrend voll­zogen wird, die eine symbolische Bedeutung hat und deren Nichtausübung sanktioniert wird. Im Rahmen solcher Brauchkomplexe haben frühere Dorf­ und auch Stadtgesellschaften nicht nur gefeiert, sondern auch Gemeinschaften darüber definiert, sie haben sich abgesetzt, und der Brauch konnte Status­ und Machtverhältnisse neu aus­handeln. Heute sind Gesellschaften freier, und sie sind mehr auf das Individuum zugeschnitten. Der Mensch ist nicht mehr so elementar auf die Gruppe angewiesen wie noch vor 100 Jahren. Deshalb gibt es andere Interaktionsformen. Etwa das Ritual, das auch einzeln vollzogen werden kann, das viel unverbindlicher und kurzfristiger ist: ein Blumenstrauß zum Hochzeitstag oder gar die Verwendung von Amulett und Talisman.

E in Brauch ist dagegen viel komplexer! Und es gibt auch einen Unterschied zum Event. Denn ein Event wird, aus kommerziellen

oder weltanschaulichen Interessen, planmäßig erzeugt. Und es erhebt den Anspruch, einzig­artig zu sein. Deshalb muss ein Event sich immer stei­gern. Nur das Erlebnis steht im Vordergrund, nicht die Gemeinschaft. Das Individuum ist hier nur Zuschauer. Es sucht Gemeinschaft, findet sie aber – wie auf einem Musikfestival – nur für kurze Dauer und so lange es dafür bezahlt. Ein Event hat den Anspruch, Vorreiter einer globalen Kultur zu sein. Aber im Grunde ist es nur Vor­reiter einer kapitalistischen Kultur, in der das Erlebnis zur Ware geworden ist.

Die Welt ist so modern geworden, dass man glauben könnte, wir würden den guten alten Brauch gar nicht mehr brauchen. Ökonomisch betrachtet stimmt das auch. Aber der Mensch ist eben nicht so modern wie die Welt, in der er lebt. Er bleibt ein soziales Wesen, das auch in der mobilen Individualgesellschaft Gemeinschaft braucht – reale, analoge Gemeinschaft. Nicht nur „Public Viewing“, sondern Dinge, in die man wirklich eingebunden ist.

Bräuche haben, wenn man so will, Vor­ und Nachteile. Sie eröffnen den Brauchträgern nur begrenzte Gestaltungsspielräume, sie können auf Rollen festlegen. Aber beim Brauch ist man da­für auch Akteur. Die Handlungsanweisung muss man nicht selbst erfinden, sie ist durch Tradition erlernt. Und vor allem sind Bräuche in einen

Weltdeutungskontext eingebunden – sie stiften Sinn. Zum Beispiel Weihnachten: Nur schenken und essen ist langweilig. Wer daran denkt, dass der Weltschöpfer der Menschheit seinen Sohn ge­schenkt hat und wir uns deshalb in Analogie dazu auch etwas schenken, fühlt sich im Schenken sicherer und geborgener. Das muss ja nicht die alleinige Leitperspektive für Weihnachten sein. Aber es sollte als Baustein fungieren. Auf diese Weise liefern Bräuche Gelegenheit zu Selbst­reflexion und Gespräch. Und Bräuche zwingen ja heute nicht mehr in Gemeinschaften, die wir nicht wollen, sondern sie konstituieren Gemein­schaft. Mit wem ich Weihnachten feiere oder wen ich zu Hochzeit und Geburtstag ein lade, der ge­hört zum Familien­ und Freundeskreis.

Zudem gibt es einen weiteren Grund, weshalb Bräuche unverzichtbar sind. Früher haben die Jahreszeiten und der Rhythmus der Natur be­stimmt, wie die Zeit eingeteilt war, und am Tag war es hell und in der Nacht dunkel. Heute ist die Nacht beleuchtet, im Januar pflanzen die Städte Stiefmütterchen in die Grünanlagen, frische Erdbeeren haben wir ohnehin das ganze Jahr, und dank Billigfliegern ist die Sonne immer nah. Wunderbar? Nicht nur. Wir verlieren das Gefühl für den Rhythmus der Zeit. Den brauchen wir aber, um unser Leben zu segmentieren und da­mit überhaupt erfahrbar zu machen. Und da sind die Bräuche des Jahreslaufs ein ganz wunder­bares, in die Kultur eingraviertes Instrument.

Passions­ oder Adventszeit sind nicht nur Schlemmergelegenheiten, sondern kön­nen auch Taktgeber des Lebens sein. All­

tagskulturell ist da schon vieles angekommen, aber die Wahrnehmung hat sich verschoben: Vor Ostern ist das jahreszeitliche Dekorieren für viele wichtiger als das Gedenken des Leidens und Ster­bens Christi. Überhaupt: Was wird bleiben? Der Pfingstmontag ist kaum mehr im Bewusstsein, die Sache mit den Feuerzungen der Mehrheit sus­pekt, und der Karfreitag scheint jungen Leuten absurd: Freiwilliger Kreuzestod und Wieder­auferstehung, das klingt zu dick aufgetragen.

Ist der Brauch damit am Ende? Mitnichten: Die unruhige Zeit der Gegenwart und die Sorge um die Zukunft schaffen Sehnsucht nach Tradi­tion und lassen uns kulturelle Wurzeln neu be­werten. Und nicht nur für Kindergärten, Schu­len und Kirchen sind Bräuche eine wunderbare Plattform, um Inhalte zu vermitteln und Men­schen zusammenzubringen – sondern gerade auch für Medien und Tourismus. Gelebte und gleichzeitig moderne Tradition ist attraktiv und schön. Insofern war der Brauch vielleicht noch nie so wertvoll wie heute!

DIE UNRUHIGE ZEIT DER GEGENWART UND DIE SORGE

UM DIE ZUKUNFT SCHAFFEN

SEHNSUCHT NACH TRADITION

Der Mensch bleibt auch in

der mobilen Individual­

gesellschaft ein soziales Wesen,

das Gemein­ schaft braucht

FEIERN IM RHYTHMUS DER ZEIT

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Kinder feiern gern. Besonders gilt das für sich wiederholende Feste mit einer ord­nenden Struktur und übergreifender Bedeutung. Weihnachten, Ostern und

Geburtstag sind Höhepunkte im Jahr, die nahezu alle in ihren Bann ziehen.

Feste unterbrechen den Alltag und bringen Farbe ins Leben. Zugleich strukturieren sie unser Dasein. Die Vorfreude darauf ist dabei oft genau­so wichtig wie das Fest selbst. Auf diese Weise entstehen verdichtete Zeiten, die sich in wohl­tuender Weise abheben vom alltäglichen Einer­lei. Die regelmäßige Wiederkehr von Vertrautem gibt Sicherheit, Kraft und Orientierung und ist nicht zuletzt für die emotionale Entwicklung von Kindern sehr wichtig. Das gemeinsame Erleben und Gestalten fördern das Zusammengehörig­keitsgefühl und stärken zugleich den Einzelnen in seiner Selbstwerdung. Das Gefühl, nicht allein zu sein, befördert eine vertrauensvolle Sicht auf das Leben und die Welt. Nicht immer stellt sich das beim Feiern automatisch ein.

Feste haben keine unabänderliche Form, in die Kinder und Erwachsene nur hineinschlüpfen

müssen. Die gewinnbringende Teilnahme be­nötigt nicht nur das Einverständnis aller, sondern auch verschiedene Arrangements. Gerade bei Familienfesten wird deutlich: In der Begegnung der Generationen können unterschiedliche Kul­turen aufeinanderprallen. Das erfordert bisweilen Veränderungen. Familienrituale brauchen neben aller Verlässlichkeit immer auch Flexibilität und Lebendigkeit. Dabei sind es vor allem die Kinder, die dies mit viel Erfindergeist und Kreativität ein­tragen.

Christliche Feste sind von alledem nicht aus­genommen. In ihnen liegt ein großes Potenzial, insofern die christliche Botschaft in besonderer Weise mit familiären Interaktionen verbunden wird und so als hilfreich und unterstützend erfahren werden kann. Damit das zum Tragen kommen kann, braucht es Gestaltungsformen, die für heutige Familien stimmig sind. Fixe Vor­gaben mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit für möglichst alle gibt es nicht mehr. Die Bedeutung überlieferter Formen nimmt ab. Das ist Fluch und Segen zugleich. Die damit einhergehende Offenheit kann überfordern, denn mit der Un­

Die christliche Botschaft ist in besonderer Weise mit familiären Interaktionen verbunden VON MICHAEL DOMSGEN

PROF. DR. MICHAEL DOMSGEN ist Professor für Evangelische Religions pädagogik an der Theologischen Fakultät der Martin- Luther-Universität in Halle-Wittenberg.

verbindlichkeit von Vorgaben gehen auch Im­pulse verloren, die Familien bereichern können. Gleichzeitig jedoch ermöglicht diese Offenheit Gestaltungsspielräume, die wichtig sind, um Feste in ritualisierter Form lebendig zu halten.

A nknüpfungspunkte dafür liefern Fami­lien auch heute in vielfältiger Form. Auch dann, wenn sie nicht explizit religiös

erziehen, ermöglichen sie Kindern in der Regel Erfahrungen, die grundlegend sind, um sie für den Glauben ansprechbar zu machen. Dazu ge­hören Gemeinschaftserfahrungen, Erfahrungen von Schuld und Vergebung oder die Erfahrung, bedingungslos angenommen zu sein. All das ist uneingeschränkt zu würdigen. Zugleich jedoch zeigen sich Unsicherheiten und Defizite, wenn es darum geht, der eigenen Religiosität Ausdruck zu verleihen oder auf Fragen von Kindern nach Tod und Leben, Himmel und Erde, Gott und Mensch Antworten zu geben. Die selbst erlebte religiöse Erziehung hilft hier oft nur bedingt weiter, weil deren Formen heute nicht mehr selbstverständ­lich als tragend erlebt werden. Dazu kommt, dass

die Vielfalt religiöser Positionen in den Familien zugenommen hat. Das alles lässt religiöse Er­ziehung oft zu einem als problematisch angese­henen Feld werden, dem man am besten dadurch begegnet, dass man es ganz aus dem Familien­leben verbannt. Damit jedoch wird Kindern und Eltern die Möglichkeit genommen, sich weiterzu­ent wickeln und neue Perspektiven für sich zu ent decken. Christliche Feste eignen sich beson­ders gut, um hier neu anzufangen oder über Vertrautes hinauszuwachsen. Dass dabei Eltern unterschiedliche Akzente setzen und eigene Aus­formungen prägen, die unter Umständen für das Kind sogar in Abhängigkeit von einem Elternteil variieren, ist eine Folge der Vielfalt familialer Lebensformen sowie religiöser und weltanschau­licher Positionierungen. Um zu einer stimmigen Feierpraxis zu kommen, bedarf es vielfältiger Impulse. Unterstützung dafür können Interes­sierte nicht nur in Kirchengemeinden finden, die sich einer familienorientierten Gemeindearbeit verschrieben haben, sondern auch im Internet und in einer Reihe von Büchern im Rahmen reli­gionspädagogischer Ratgeberliteratur.

CHRISTLICHE FESTE MIT KINDERN FEIERN

CHRISTLICHE FESTE EIGNEN

SICH BESONDERS GUT, UM NEU ANZUFANGEN

ODER VERTRAUTES WEITERZU-

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Advent Advent ReFLeXIOn

E s ist eine reizvolle Aufgabe, die etwas mehr als 20 Adventslieder unseres Evangelischen Gesangbuchs (EG) ein­mal nach ihrer „Theologie“ zu befragen.

Was sagen sie aus über unseren Glauben an Gott und Jesus Christus? Inwiefern sind diese Aus­sagen bis heute aktuell und relevant für uns? Wir verstehen die Lieder als „gesungenes Dogma“, das in vielen Gottesdiensten und Andachten vor Weihnachten lebendig wird. Die Spanne des Materials reicht vom ambrosianischen Hymnus um 386 (EG 4) bis zu den Volksliedern und Sing­sprüchen des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Im Zentrum der Adventslieder steht Jesus Christus. In unzähligen Variationen wird er an­gerufen und gepriesen, ja kommt selbst verkündi­gend zu Wort. Die Prädikate reichen vom „Herrn der Herrlichkeit“ und „Sohn Davids“ bis hin zum „Friedensbringer“. Besonders reizvoll sind

Wendungen wie „Kind und Knecht“ oder „König in niederen Hüllen“ (EG 14) beziehungsweise „Kind als König“ (EG 20,7), die sich dem Ge­heimnis der Menschwerdung annähern. Reich an Bildern ist die Mystik, allen voran das Lied vom kommenden Schiff (EG 8). Der Dichter entwirft ein Bild für die schwangere Maria, die Gott in sich trägt. Bild­ und Sachhälfte sind je mit einer eigenen musikalischen Struktur verbunden (6/4­ bzw. 4/4­Takt), so dass hörbar wird: Mitten auf der Erde kommt der Himmel zur Welt. Besonders innig wird es, wenn das ewige Wort als Bräutigam (EG 3,3), Sonne oder Stern verehrt wird (EG 7).

Die alten Adventslieder EG 3 und 4 – Martin Luther und Thomas Müntzer stehen hier in der Bearbeitung älteren hymnischen Materials auf Augenhöhe nebeneinander – nehmen in ihrer Beschreibung des adventlichen Geschehens gleichsam das Ganze der Heilsgeschichte in den

Blick. Von Christus singen heißt für sie: Gottes Rettung der Welt in drei Stufen beschreiben. Da ist vielfach Bewegung drin: „Sein Lauf kam vom Vater“ oder „sein Weg er zu laufen eilt“ (EG 4,3 und 4,2), aber auch „Aus seiner Mutter Kämmer­lein ging er hervor als klarer Schein“ (EG 3,3). So entstehen bewegte Bilder.

Fast noch reizvoller erscheinen Aussagen vom Heil, in denen wir selbst bittend und bekennend vorkommen. Davon finden wir besonders reiches Zeugnis bei Paul Gerhardt (EG 11). Spitzen­sätze wie „Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los“ klingen ähnlich leben­dig wie die Zusage: „Ihr dürft euch nicht erschrecken vor eurer Sünden Schuld, nein, Jesus will sie decken mit seiner Lieb und Huld.“ Damit wird der Kern der Advents­botschaft entfaltet: Gott gibt sich dahin für uns, für seine Welt. Die eng an Jesaja 40 anschlie­ßende Zusage der Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft klingt vor dem Hintergrund der Flüchtlingsproblematik ebenso aktuell wie attraktiv: „Freundlich, freundlich rede du / und sprich dem müden Volke zu: Die Qual ist um, der Knecht ist frei, all Missetat vergeben sei.“ (EG 15,3) Das sind Sätze, die wir selbst hörend empfangen oder tröstend an andere weitergeben und ­singen können.

Hoch politisch kommt das Lied „Das Volk, das noch im Finstern wandelt“ (EG 20) daher. Dort heißt es: „Er kommt mit Frieden. Nie mehr Klagen, nie Krieg, Verrat und bittre Zeit. Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, weil Stiefel auf das Pflaster schlagen.“ Das ist in manchen Ge­genden der Welt noch Zukunftsmusik – und wird doch im gesungenen Wort schon heute Wirklich­keit. Christen sind Zeugen der Hoffnung einer anderen, einer versöhnten Welt. Wenn sie ver­stummen, müssen die Steine schreien (Lk 21).

Der dreifache Horizont des adventlichen Ereignisses leuchtet auch in den Adventsliedern auf. Jesus ist gekommen, ist gegenwärtig und kommt wieder.

Sehr pointiert geschieht diese Rede vom drei­fachen Advent Christi in „Gottes Sohn ist kom­men“ (EG 5). Nach der Erinnerung an die Heilstat Gottes in Jesus wenden die Böhmischen Brüder ihren Blick in die Gegenwart des christlichen Gottesdienstes: „Er kommt auch noch heute und lehret die Leute“ beziehungsweise „Denn er tut ihn’ schenken in den Sakramenten, sich selber zu Speisen, sein Lieb zu beweisen“. Worte, die man sich buchstäblich auf der Zunge zergehen lassen kann. Doch auch die Wiederkunft Christi am

Jüngsten Tage (vgl. Proprium am 2. Advent) ist hier noch Thema (vgl. EG 5,6­8 und EG 6, 11, 16). Da kann sogar das vermeintlich schreckliche Ge­richt herbeigesehnt werden: „Ach, lieber Herr, eil zum Gericht“ (EG 6,5). Ebenso paradox wie tröst­lich klingt diese Perspektive bei Jochen Klepper (EG 16,5): „Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. / Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt. / Der sich den Erdkreis baute, /

der lässt den Sünder nicht. / Wer hier dem Sohn vertraute, / kommt dort aus dem Gericht.“

Zuletzt: Etliche Advents­lieder spannen sehr deutlich einen trinitarischen Horizont auf. Die Klassiker EG 3 und 4 schließen mit einem Lobpreis auf den Dreieinigen, dem soli Deo gloria. Das wahrscheinlich

beliebteste Advents lied „Macht hoch die Tür“ geht einen anderen Weg: Lobpreisend schreibt es dem König Jesus drei wesentliche Attribute zu: Er ist (zugleich auch) Schöpfer, Heiland und Tröster. Damit hat Christus Anteil an dem Werk des Vaters und des Heiligen Geistes. Das eigent­liche Wunder jedoch geschieht erst, wenn dieser König in die Städte (Str. 4) und in die Herzen einzieht, wie es die letzte Strophe im Gebet aus­drückt: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, mein Herzens Tür dir offen ist . . .“

DAS EIGENTLICHE WUNDER GESCHIEHT

JEDOCH ERST, WENN DIESER KÖNIG

IN DIE STÄDTE UND IN DIE HERZEN

EINZIEHT

„Gesungenes dogma“, das in vielen Gottesdiensten und Andachten lebendig wird VON JOCHEN ARNOLD

PROF. DR. JOCHEN ARNOLD ist direktor des Michaelis- klosters Hildesheim – evange lisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik der evangelisch- lutherischen Landes-kirche Hannovers und Privatdozent an der Universität in Leipzig.

BIBLISCHE UND LITURGISCHE ANKNÜPFUNGEN gibt es reichlich. Die Tore des Tempels – oder besser: die Tore der Welt – sollen weit aufgehen, wenn der himmlische König kommt (Psalm 24; vgl. EG 1). Diese Perspektive des 1. Advents wird mit der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem ver bunden, der in EG 9, 11, 13, 14 und öfter an-klingt (vgl. Mt 21). Dazu gehört die Weissagung aus Sacharja 9,9 vom König auf dem Esel. Der Wochenspruch zum 2. Advent kann (EG 21) bibelwörtlich als kleiner Singspruch erklingen: „Seht auf und erhebt eure Häupter“ (Lk 21,28). Zum 3. Advent, der bis jetzt stark unter dem Vorzeichen der Begegnung mit Johannes dem Täufer stand, kommt das Lied „Tröstet, tröstet“ in den Blick, das den Beginn des zweiten Jesajabuchs (Jes 40) aufnimmt. Weitere Verse aus Jes 64, Jes 45, Jes 11 finden wir in „O Heiland, reiß die Himmel auf.“ Eine wunderbare zeit genössische Aus legung der Weissagung aus Jes 9 bietet „Das Volk, das noch im Finstern wandelt“ (EG 20). Kleine Entdeckungen waren für mich der Bezug zum Tempel gebet Salomos in 1 Kön 8,12 (EG 16,5) und der Sprung ins letzte Kapitel der Bibel, Offb 22,16f (vgl. EG 19). Die Freude des 4. Advents wird zum Thema in „Tochter Zion“ (EG 13) oder „Nun jauchzet all“ (EG 9). Dazu können Magnificat-Vertonungen aus anderen Teilen des Evangelischen Gesangbuchs treten.

UNSERE ADVENTSLIEDER UND IHRE THEOLOGIE

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Advent ReFLeXIOn

Advent und Weihnachten spielen eine zentrale Rolle für das mo­derne Christentum. Wie keine

andere Zeit im Jahr motivieren sie zum Nachdenken und zur religiösen Praxis, ob das Gottesdienste oder Konzerte sind, die in dieser Zeit besonders gut besucht sind, oder ob man sich über einen Kalender wie „Der Andere Advent“ dazu anregen lässt, jeden Tag ganz individuell ein paar Minu ten innezuhalten, einen Text zu le­sen, ein Bild zu meditieren und den Alltag zu unter brechen. Wurde die Adventszeit bis ins 20. Jahrhundert hinein primär als Bußzeit verstanden, überwiegt heute das Ankunftsmotiv, das sich auch im Brauch­tum wie Adventskranz, Adventskalender, Adventsschmuck und Weihnachtsmärkten widerspiegelt. Diese Bräuche qualifizieren die Adventszeit als Zeit der Vorfreude und Vorbereitung auf Weihnachten. Der Mensch braucht Zeiträume, in denen er sich vom zweckrationalen Alltag distan­zieren und sich selbst reflektieren kann –

dazu bedarf er des Festes. Advent und Weihnachten sind besonders markante Feste, wobei die hohe Bedeutung der Adventszeit in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern und den USA ins Auge fällt.

Für viele verbinden sich mit Advent und Weihnachten bedeutsame Kindheits­erinnerungen. An Weihnachten rückt das Kind der Vergangenheit und damit der eigene „Lebensroman“ ins Zentrum der Er­innerung. Zugleich werden Veränderungen an Weihnachten – etwa nach der Geburt des ersten Kindes – als ganz besondere Zä­suren wahrgenommen, sie schreiben sich tief in das Familiengedächtnis ein. Advent und Weihnachten haben insofern viel­schichtige lebensgeschichtliche Dimen­sionen und sind nicht zuletzt deshalb für religiöse Deutungen besonders offen.

Viele Menschen suchen nach einem anderen Advent, einem Advent, der nicht nur aus Geschenkekaufen, Kitsch und Stress besteht, sondern gezielt dem Nach­

Daran sterbe ich nicht – ich über­lebe das. Ich bin voller Hoffnung.“ Mit so einem zuversichtlichen

Bekenntnis hatte ich ganz und gar nicht gerechnet. War Frau K. nicht gerade dem Tod von der Schippe gesprungen, hatte ihr Krebsleiden überwunden, nur um nun mit einer noch bedrohlicheren Krank­heitsdiagnose konfrontiert zu werden? Und tatsächlich behielt sie recht – die erlebte Heilung machte sie stark, stark zur erneuten Hoff­nung, anstatt in Trübsal oder Selbstmitleid zu ver­sinken.

Besonders in der Ad­ventszeit muss ich öfter an mein früheres Gemeinde­glied Frau K. denken. Nicht nur weil ich sie in einer Adventszeit erstmals besuchte, son­dern auch deshalb, weil sie mir als ein be­sonders adventlicher Mensch erschien.

Adventszeit ist Hoffnungszeit. Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten. Wir glauben als Christenmenschen an einen Gott, der diese Welt nicht nur geschaffen, sondern auch gerettet hat. Wir glauben an einen Gott, dem das Treiben auf dem Erd­ball nicht zu bunt wird, der sich nicht ab­

wendet oder aussteigt, sondern zuwendet und einsteigt – Mensch wird, ganz klein. Also bei Gefahr oder Verdruss nicht fliehen, sondern retten. Das ist doch das Weihnachtsmotto. Das Unheile soll wie­der heil werden, mit Gottes Hilfe.

Ich finde es absolut hilfreich, Advent ganz bewusst zu begehen: In der Advents­zeit fällt der Blick auf den König auf

dem Esel, auf adventliche Menschen wie Johannes den Täufer und Maria, die Mutter Jesu. Und in der Adventszeit erinnere ich nicht nur, dass Gott Mensch wurde, sondern ich hoffe auf neues Heil. Der, der Mensch wurde, ist der, der wiederkommt. In seinem ersten Kommen hat Gott uns gezeigt, wie

aus seiner Liebe, Vergebung und Hingabe neues Leben möglich ist, wie es heil werden kann unter uns Menschen. Das erinnere ich. Bei seinem zweiten Kommen wird Gott diese Welt durch und durch erneuern, heilen, neu schaffen – ohne Leid und Tränen, ohne Gewalt und Terror. Das hoffe ich, das erhoffe ich.

Erinnerung und Hoffnung sind die Zwillinge des Advents. Und in ihnen

steckt eine große Kraft für das Leben heute. Denn die Perspektive, dass am Ende alles gut wird, dass das Ende ein neuer Anfang ist, macht mich stark für das Leben heute. Und im Heute lebe ich zugleich mit der Ausdauer der Liebe, die Jesus Christus uns in seiner Menschwer­dung, seinem Leben, seinem Tod und sei­ner Auferstehung hat zuteilwerden lassen.

Christliche Hoffnung auf Heil ver­tröstet nicht, macht nicht passiv, sondern sie ermutigt zum aktiven Einsatz in un­serer Welt heute. Was im Leben in der Spur Jesu heute oft so klein und nutzlos wirkt, wie Tropfen auf einem heißen Stein, ist aus der Perspektive des zukünftigen Heils der Anfang eines wundervollen Regens. Und es „tropft und tropft“ an so vielen Orten, unter uns und weltweit.

Wie bei Frau K. – die erfahrene Hei­lung machte sie hoffnungsvoll. Es ist schon einmal gut geworden, und es wird endgültig gut werden.

So erlebe ich Advent: als dankbare Hoffnungszeit für das, was Gott schon getan hat, auch durch uns heute tut und am Ziel endgültig tun wird.

DIE PERSPEKTIVE, DASS AM

ENDE ALLES GUT WIRD, DASS

DAS ENDE EIN NEUER ANFANG

IST, MACHT MICH STARK FÜR DAS LEBEN HEUTE

Impulsgeber zwischen Alltag und weihnachtlicher Besinnlichkeit VON ISOLDE KARLE

das Unheile soll wieder heil werden, mit Gottes Hilfe VON MICHAEL DIENER

DER ANDERE ADVENT

PROF. DR. ISOLDE KARLE ist Professorin für Praktische theologie und Leiterin des Instituts für Religion und Gesellschaft an der Ruhr-Universität in Bochum.

PFARRER DR. MICHAEL DIENER ist Präses des evangelischen Gnadauer Gemeinschafts-verbandes mit Sitz in Kassel und Mitglied im Rat der eKd.

denken, der Besinnung und Einkehr Raum gibt. Hilfreich ist dabei eine Orientierung an einem Kalender wie „Der Andere Ad­vent“, der als ritueller Alltagsbegleiter und Impulsgeber zwischen Alltag und weihnachtlicher Besinnlichkeit vermit­telt. In einer empirischen Untersuchung, die wir an der Ruhr­Universität Bochum bei Leserinnen und Lesern des „Anderen Advent“ durchgeführt haben, konnten wir feststellen, dass die Erfahrung des an­deren Advent nicht nur mit Stimmung, Wohlgefühl und dem Einschwingen auf eine besonders festliche Atmosphäre zu tun hat, sondern auch mit der reflexiven Auseinandersetzung mit der Weihnachts­erzählung, mit dem Kind in der Krippe, in dem Gott den Menschen nahekommt, mit dem Austausch über Weihnachten im Familien­ und Freundeskreis. Advent und Weihnachten scheinen dabei leichter anschlussfähig an moderne Religiosität zu sein als Karfreitag und Ostern. Es sind Feste, die in der Regel mit vielen positiven familiären Assoziationen verbunden sind – und die zugleich dazu motivieren, sich zu hinterfragen und über die Ungerech­tigkeit in der Welt nachzudenken, gerade angesichts des Kindes in der Krippe, das an Weihnachten unter äußerst prekären Bedingungen zur Welt kommt.

Typisch deutsch, alles durchzählen, be-rechnen, managen, um die Zeit am besten zu überbrücken. Warum auch nicht? Irgendwie wollen die 24 Tage ja kreativ bewältigt werden – oder nicht?Kalender in allen Variationen: Oft gibt es jeden Tag bis zum eigentlichen Fest eine kleine Leckerei. Nicht unbedingt kalorien-ärmer, aber doch lebendiger und vor allem Neugier weckender ist ein Kalender, der durch die Straßen zieht. Von Fenster zu Fenster in der Gemeinde, 24 Nummern

an 24 noch verschlossenen Fenstern, 24 Tage lang, an 24 verschiedenen Orten. Groß und Klein, Alt und Jung treffen sich jeden Abend vor dem Fenster mit der Nummer des Tages, singen ein paar Adventslieder, lauschen einer Geschichte, beten und plauschen noch ein wenig bei Plätzchen und Punsch, gut ökumenisch natürlich. Weihnachten kann es nun werden.

PFARRERIN SUSANNE ERLECKE ist Mitarbeiterin im Kirchenamt der eKd, sowohl im Projektbüro Reformprozess als auch in der Abteilung für Ökumene und Auslandsarbeit als Referentin für die Kirchlichen Weltbünde.

ALLTAGSGESCHICHTEAdventskalender

Advent ReFLeXIOn

ADVENT. MEINE HOFFNUNG AUF HEIL

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Über 60 Dorfkirchen prägen das Bild des Kirchenkreises Zerbst der Evangelischen Landeskirche

Anhalts, der in einer ländlichen Region zwischen Magdeburg und Wittenberg zu finden ist. Für die langfristige Siche­rung dieser Kirchen setzt sich die 2005 als Treuhandstiftung der Deutschen Stif­tung Denkmalschutz errichtete Stiftung Entschlossene Kirchen ein. Zugleich sol­len Kirchenräume geöffnet werden, damit Besucher ihre Besonderheit erfahren und dort Kraft für den All­tag tanken können.

Ebenso wichtig ist die inhaltliche Profilierung einiger Kirchen unter dem Aspekt der religiösen Bildung mit dem von Pfarrer Thomas Meyer initiierten Projekt der „Themen­kirchen“:

Die „Weihnachtskirche“ in Po­lenzko und die „Osterkirche“ in Trüben sind durchgehend geöffnet und informieren ganzjährig über zwei zentrale kirchliche Feste, um sie vor allem Menschen, denen das Christentum entfremdet ist, auf ein­fache und bildhafte Weise näherzu­bringen. Im Chorraum der Weih-nachtskirche befinden sich drei Meter hohe Krippenfiguren (es sind die größten in Deutschland), die der Holzbildhauer Horst Sommer aus Zerbst geschaffen hat. Ebenso wird an einem Bildprogramm zur Weih­nachtsgeschichte gearbeitet. An der Osterkirche Trüben ist im Kirch­garten eine noch nicht ganz fertige Dauerausstellung zu sehen, die die Leidensgeschichte Jesu vom Einzug in Jerusalem bis zur Konfrontation mit dem leeren Grab in Bildern und Installationen in Szene setzt.

Seit 1994 nutzt die ökumenische Initiative Bibelturm, die in Träger­

schaft der Evangelischen Landeskirche Anhalts steht, die ehemalige Türmerwoh­nung des 66 Meter hohen Kirchturms der St.­Petri­Kirche in Wörlitz als Ausstel­lungsfläche. Die neue Ausstellung „feste feiern“ will Ursprünge, Zusammenhänge und Symbole der Feste des christlichen Kirchenjahres wieder bewusst und erlebbar machen und nimmt den Besucher auf eine interaktive, intermediale Entdeckungsreise

zu zentralen Festen des Kirchenjahres mit. Nachdem eine Kirchenjahresuhr einen Überblick über das Kirchenjahr, seinen eigenen Rhythmus im Jahreslauf sowie die Berechnung der verschiedenen Feiertage und Festzeiten gegeben hat, werden auf der nächsten Ebene Advent, Weihnachten und Epiphanias näher beleuchtet. Neben der biblischen Weihnachtsgeschichte können die Besucher dort die unterschiedlichen

Symbole und Bräuche dieser Zeit in­teraktiv erkunden. Eine Ebene weiter dreht sich alles um die Passionszeit und Ostern. Beginnend mit einem Kreuzweg, der die Feiertage der Kar­woche aufnimmt, über die biblische Ostergeschichte bis hin zu Symbolen der Osterzeit beschäftigt sich dieser Raum mit dem Osterfestkreis. Das Ok­tagon, der oberste Raum des Turmes, ist Himmelfahrt und Pfingsten vor­behalten, ein Raum der Stille und An­dacht. In dieser Atmosphäre können sich die Besucher mit der biblischen Himmelfahrts­ und Pfingstgeschichte befassen und dem verbindenden Element – dem Heiligen Geist.

INFORMATIONEN unter www.entschlossene-kirchen.de und www.bibelturm.de

Ursprünge, Zusammenhänge und Symbole der kirchlichen Feste erlebbar machen – Bibelturm und themenkirchen in der evangelischen Landeskirche Anhalts

VON JOHANNES KILLYEN UND ANNETT HELMECKE-POSSEHL

PROFILIeRUnG Und RELIGIÖSE BILDUNG

JOHANNES KILLYEN ist Presse- sprecher der ev. Landeskirche Anhalts.

ANNETT HELMECKE-POSSEHL ist Kuratorin der Ausstellung „feste feiern“ im Bibelturm Wörlitz.

Zentrale christliche Feste werden Menschen auf einfache und

bildhafte Weise nähergebracht

„Lustig, lustig, trallalalala, heut’ ist Nikolausabend da“ – das haben wir gerade gesungen, nachdem ich den Kindern die Geschichte vom Bischof Nikolaus erzählt habe. Doch: Wird der Nikolaus auch

seinen Weg zu uns finden? In die Wüste von Katar? Wo doch jeder weiß, dass der Nikolaus mit einem Schlitten und Rentieren unterwegs ist! Bange Fragen, die die Kinder mir schon zu Beginn des

Nachmittags gestellt haben. Doch endlich, da kommt er ja! Von Ferne sieht man einen Pick-up über die Sanddüne kommen. In der Wüste ist der Nikolaus ganz ungewohnt unterwegs. Aber dass er

es ist, daran besteht kein Zweifel. Die Kinderherzen schlagen hoch, als der Nikolaus an unserem kleinen Lagerfeuer hält. Gut, dass er auch die Kinder in den heißen Ländern

außerhalb von Deutschland im Blick hat. „Nikolaus in der Wüste“ ist eine Veranstaltung der Deutschsprachigen Christlichen Gemeinde Doha. Seit acht Jahren erfreut sich das Treffen für Erwachsene und Kinder einer ungebrochenen Beliebtheit.

Für viele deutsche Familien in Katar ist diese Veranstaltung der erste Kontakt mit der Gemeinde.

„Seid ihr auch alle brav gewesen?“ Diese Frage wird vom Nikolaus gestellt. Die Befragung der Kinder geht auf das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14–30) zurück, das an diesem Tag gelesen wird. Der Tag ist nach Nikolaus von Myra benannt, einem Bischof aus dem 4. Jahrhundert, von dessen Menschenfreundlichkeit zahlreiche Legenden erzählen. Mit Hilfe von Goldklum-pen, die er des Nachts heimlich durch das

Fenster warf, soll er drei Töchter einer ver-armten Familie vor der Prostitution gerettet haben. Das nächtliche Füllen der Schuhe am Nikolaustag geht auf diese Legende zurück. Die Ablehnung der Heiligenverehrung durch die Reformation führte dazu, dass an vielen Orten das Christkind zum Gaben- bringer wurde. Die heute typische Darstellung des Nikolaus gab es bereits im 19. Jahr-hundert. SUSANNE ERLECKE

Nikolaus, 6. Dezember

EINE WEITERE THEMENKIRCHE ist die „Gesangbuchkirche“ in Luso, in der ausgediente Gesangbücher gesammelt und aufbewahrt werden. In Garitz befindet sich in einer ehemaligen Stärkefabrik ein deutschlandweit ein-maliges „dorfkirchenmuseum“, unter anderem mit zahlreichen Modellen von dorfkirchen aus der Region.

INFO

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PRAXISNIKOLAUS

IN DER WÜSTE

PFARRERIN KIRSTEN WOLANDT ist Pfarrerin der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Iran und zuständig

für die pastorale Versorgung der Deutschen in Katar und Oman.

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Unsere Weihnachtslieder sind nichts anderes als eine Fortset-zung jenes ersten Lobpreises, mit dem die Hirten aus der

Weihnachtsgeschichte auf das reagiert ha-ben, „was sie gehört und gesehen hatten“ (Lk 2,20). Deswegen verwundert es nicht, dass die Lieder die zentralen Motive der bib- lischen Weihnachtserzählungen aus dem Matthäus- und dem Lukasevangelium auf-nehmen und entfalten: den Stern, das Kind in der Krippe, die Engel, die Hirten, die Weisen, die Erfüllung der Verheißungen, Friede auf Erden. Eine besondere Rolle spielt das Motivfeld Licht / heller Schein /Sonne / Strahlen / Stern / Morgenstern, das von Advent bis Epiphanias an Bedeutung gewinnt. Es passt nicht nur zu den bib-lischen Texten, sondern auch zu dem späte ren Datum des Christfestes (Winter-sonnenwende), und unterstreicht mit sei-ner Verbindung zu Ostern (vgl. EG 74,2: „du durchdrangst des Todes Nacht“) nach-drücklich den Heilscharakter des Festes – nicht nur dessen Erinnerungscharakter (Lk 2,11: „Euch ist heute der Heiland geboren“).

Es bleibt also nicht bei der (teilweisen) Nacherzählung (EG 29; 52) oder Nach-in szenierung (EG 45: „Herbei, o ihr Gläub’gen“; 48: „Kommet, ihr Hirten“) der Weihnachtsgeschichte, sondern es wer-den weitere Bibelstellen und theologische

Inhalte hinzugezogen. Die zentrale theo-logische Aussage ist dabei – in Aufnahme von Joh 1,14 („Das Wort ward Fleisch“) – der Satz: Gott bzw. Gottes Sohn ist Mensch geworden bzw. als Mensch geboren (wobei die Menschwerdung streng genommen bereits in der wunderbaren Empfängnis stattfindet). Daneben stehen Aussagen über die Heilsbedeutung dieses Ereignisses. Die einfachste Form dieser Verbindung findet sich exemplarisch in EG 29 (3. Teil) ausgedrückt: „Gottes Sohn ist Mensch geborn, hat versöhnt des Vaters Zorn.“ Der erste Teilsatz beschreibt das Heilsereig-nis, der zweite dessen Be-deutung für die Menschen.

In der Regel werden somit in den Lie-dern Aussagen über das Geheimnis der Person Jesu und solche über sein Heils-wirken für die Menschen miteinander verbunden. Dabei werden Formulie-rungen sowohl aus der biblischen als auch aus der dogmatischen Tradition (Christo-logie) verwendet. So kann das Geheim-nis der Person Jesu mit Hilfe der Zwei-naturenlehre zur Sprache gebracht werden (vgl. EG 12,3: „der wohl zweigestammte Held“; 38,1: „Gottes und Marien Sohn,

Gott und Mensch“). Es kann der Weg Jesu beschrieben und dabei der Kontrast zwischen seiner göttlichen Hoheit und seiner menschlichen Niedrigkeit betont werden; dabei spielt Phil 2,6–8 („Er er-niedrigte sich selbst“) eine besondere Rol-le (vgl. EG 27,3). Die Heilsbedeutung für die Menschen wird in zwei Grundformen

zum Ausdruck gebracht: Zum einen wird das gan-ze christliche Heil in der Geburt des Erlösers kon-zentriert. Mit seiner Epi-phanie (Erscheinung) ist gewissermaßen über alles Heil bereits entschieden. Ein schönes Beispiel dafür ist die letzte Strophe von Nikolaus Hermans Weih-nachtslied „Lobt Gott, ihr

Christen alle gleich“: „Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Para-deis . . . “ (EG 27,6). Weihnachten ist gleich-bedeutend mit der Rückkehrmöglichkeit ins Paradies. Im selben Lied (Strophe 4 und 5) findet sich das bekannte Motiv vom wunderbaren Wechsel: Gottheit und Menschheit vertauschen die Rollen; „er wird ein Knecht und ich ein Herr; das mag ein Wechsel sein“ (EG 27,5). Das Motiv erinnert an 2Kor 8,9 (Wechsel von Reich-tum und Armut; vgl. EG 23,6: „Er ist auf

Erden kommen arm. . .“; 38,2). Zur ver-gegenwärtigenden Redeweise kann man auch die Qualifizierung von Weihnachten als „die rettende Stund“ (EG 46,3 „Stille Nacht“) rechnen. Zum andern wird aus der Perspektive der Geburt Christi seine künftige Erlösungstat ins Auge gefasst: Er „will euch führn aus aller Not, er will eu’r Heiland selber sein, von allen Sünden ma-chen rein“ (EG 24,3 „Vom Himmel hoch“).

Für die meisten Lieder ist wichtig, dass es sich bei dem Neugeborenen nicht nur um ein besonderes, sondern um ein einzigartiges Kind handelt, das durch seine Gottessohnschaft und wunderbare Empfängnis (Geistzeugung) vor allen an-deren Menschen ausgezeichnet ist. Umso stärker wird der Kontrast zu den arm-seligen äußeren Umständen seiner Geburt empfunden und artikuliert. Am Rande sei notiert, dass dies in der Weihnachts-geschichte anders ist: Hier wird zwar die Geburt Jesu als eine ganz gewöhnliche geschildert (Windelmotiv); die Krippe ist aber kein Zeichen besonderer Armut oder

Obdachlosigkeit (an einen Stall ist wohl nicht gedacht), sondern dient ausschließ-lich dazu, damit die Hirten das Kind er-kennen (Lk 2,12.16). In den Liedern hin-gegen wird das Elend der heiligen Familie breit ausgemalt und damit die Solidarität Jesu mit den Menschen unterstrichen.

Beispielhaft seien hier abschließend drei Lieder in Erinnerung gerufen, die alle genannten Sinndimensionen von Weihnachten in sich vereinigen und als kleine Kompendien der Theologie von Weihnachten dienen können:

EG 23 „Gelobet seist du, Jesu Christ“ führt in unseren Gesangbüchern die Rei-he der Weihnachtslieder an. Hier liegt der Akzent einerseits auf dem Kontrastmotiv, andererseits auf der Erlösungstat Christi. Um beides zu verbinden, bedient sich der Verfasser (Martin Luther) der Licht-metaphorik (Strophe 4: ewiges Licht / neuer Schein / leuchtet mitten in der Nacht / Kinder des Lichtes).

EG 30 „Es ist ein Ros entsprungen“ geht aus von der prophetischen Hoff-

nung Jesajas (ein Reis aus der Wurzel Jesses) und endet mit einem Ausblick in die Ewigkeit. Dazwischen werden Person („Wahr’ Mensch und wahrer Gott“) und Werk Christi („rettet von Sünd und Tod“) konzis beschrieben.

EG 35 „Nun singet und seid froh“ (La-teinisch „In dulci jubilo“) vergleicht Jesus in der Krippe mit der Sonne und apostro-phiert ihn als A und O (Offb 1,8). Ihm und den durch ihn erworbenen Freuden des Himmels gilt die ganze Sehnsucht dieser Strophen.

Fazit: Trotz vieler gemütvoller Mo-mente („In dulci jubilo“, „Stille Nacht“, „Ihr Kinderlein, kommet“) führen viele unserer Weihnachtslieder alle Inhalte des überlieferten Glaubens mit sich und müssen deshalb theologisch genauso ernst genommen werden wie Passions- und Osterlieder.

FÜR DIE MEISTEN LIEDER

IST WICHTIG, DASS ES SICH

BEI DEM NEUGEBORENEN UM EIN EINZIG­

ARTIGES KIND HANDELT

Weihnachtslieder als Spiegel unseres überlieferten Glaubens VON GÜNTER RÖHSER

GOTT IST MENSCH GEWORDEN

PROF. DR. GÜNTER RÖHSER ist Professor für neues testament an der evangelisch- theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

ALLTAGSGESCHICHTE

Es ist Heiligabend und 35 Grad im Schatten, die Kerzen liegen seit gut einer Woche im Gefrierfach. Wir befinden uns in einem kleinen Dorf im Regenwald im Norden von Australien. In den letzten Wochen wurde eifrig geprobt, immer wieder mit anderen Kindern, denn wer weiß denn schon, ob er an diesem Tag auch da sein wird? Der Gottesdienst ist auf 17 Uhr angesetzt. Im Dorf regt sich nichts. Nur in der Kirche werden die Päckchen für die Kinder gepackt. Mehr als 80 Stück sind es. Das dauert, zumal die Liste nicht von oben nach unten abgearbeitet wird. Denn nur eine der Frauen kann lesen. Mit dem Pick-up fahre ich durchs Dorf, sammle ein, wer da ist. Die anderen, es sind nicht wenige, holt die Lehrerin von der Badestelle am Wasserfall. Gegen 18 Uhr bimmle ich mit der Glocke zum Gottesdienst.

Das KrippenspielSo langsam kommen alle. Der Gottesdienst be-ginnt und alle Kinder spielen eifrig ihren Part. Immerhin drei hatten schon mal eine Probe mitgemacht. Die Hirten prügeln sich zwischen-durch, aber wen kümmert es? Vielleicht war es auch damals so. Es ist Weihnachten. Jesus hat Geburtstag und das feiern wir anders als gewohnt, aber ausgesprochen herzlich und eindrucksvoll. Denn der Engel verkündet: „Fürchtet euch nicht!“ SUSANNE ERLECKE

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Die Psychologie liebt heute das Bild vom „Kind in uns“. Jeder von uns trägt in sich ein göttliches Kind.

Das göttliche Kind ist ein Bild für das wahre Selbst, oder man könnte auch sa-gen: Es steht für das einmalige Bild, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat. An Weihnachten feiern wir die Geburt des göttlichen Kindes. Und wir feiern nicht nur die Geburt Jesu vor über 2000 Jahren, sondern – wie der schlesi sche Dichter und Mystiker Angelus Silesius es ausgedrückt hat – die Geburt Christi in uns: „Wird Christus tausendmal in Beth-lehem geboren und nicht in dir, du wärest ewiglich verloren.“ Das göttliche Kind zeigt uns, dass in uns ein Raum der Stille ist, zu dem der Lärm der Welt keinen Zu-tritt hat. In diesem inneren Raum der Stille sind wir frei von den Erwartungen und Ansprüchen der Menschen. Da sind wir heil und ganz. Dort kann niemand uns verletzen. Die verletzenden Worte treffen uns emotional weiterhin. Aber in den inneren Raum der Stille können sie nicht vordringen. Und dort, wo das göttliche Kind in uns ist, sind wir ursprünglich und authentisch. Da lösen sich alle Bilder auf, die andere uns übergestülpt haben. Und auch unsere eigenen Routinen der

Selbstentwertung („ich bin nicht richtig“) oder der Selbstüberschätzung („ich muss immer perfekt sein, cool sein, erfolgreich sein“) lösen sich auf. Und ich bin einfach da, ohne mich rechtfertigen und ohne etwas vorweisen zu müssen.

Wir haben aber – so sagt uns die Psychologie – nicht nur ein göttliches Kind in uns, sondern auch ein verletztes Kind. Die Weih-nachtsgeschichte, die uns Matthäus erzählt, spricht von dem gefährdeten Kind, das von Herodes verfolgt wird und vor ihm nach Ägypten fliehen muss. Das verletzte Kind in uns mel-det sich immer zu Wort, wenn es heute auf ähnliche Weise verletzt wird wie in unserer Kind-heit. Das übersehene Kind schreit auf, wenn wir heute von unserem Ehepartner oder vom Chef übersehen werden. Das zu kurz gekommene Kind schreit auf, wenn wir in der Gemeinschaft, in der wir stehen, zu kurz kommen. Das Kind, das den Erwartungen der Eltern nie genügen konnte, meldet sich heute zu Wort mit Gedanken wie: Ich bin nicht gut genug als

Mutter, als Vater, ich genüge in meinem Beruf nicht den Erwartungen der Firma.

Die Weihnachtsbilder zeigen uns, wie Maria ihr Kind umarmt. So sollten auch wir wie Maria das verletzte Kind in

uns umarmen und ihm zusprechen: „Ich übersehe dich nicht. Für mich bist du gut genug.“ Und wir sollten uns vom verletzten Kind zum göttlichen Kind in uns führen lassen, in den inne-ren Raum der Stille.

C. G. Jung, der Schweizer Psychologe, nennt das Kir-chenjahr ein therapeutisches System. Wir feiern in den Festen des Kirchenjahres heilsame Bilder für unsere Seele. Und indem wir diese

Bilder feiern, bilden sie sich in uns ein und bringen uns in Berührung mit den heilenden Kräften unserer Seele. So ist auch Weihnachten ein therapeutisches Fest. Es will das verletzte Kind in uns heilen und uns in Berührung bringen mit dem göttlichen Kind in uns.

Wenn die Tage merklich kürzer gewor-den sind, die Wachablösung zwischen dem goldenen Oktober und einem nasskalten November stattgefunden

hat, die Ernsthaftigkeit des Lebens und Sterbens von traurigen Toten- und Ewigkeitssonntagen angemahnt worden ist – dann beginnen sie end-lich, die Vorbereitungen auf das wichtigste und beliebteste Fest unseres christlich geprägten Kulturkreises. Doch nicht nur im Diesseits der Kultstätten und sozialen Zellen des Chris-tentums, sondern auch unter Nichtchristinnen und -christen darf und will groß gefeiert werden, dass Weihnachten ist: Zu gemütlichem Zierrat mit Krippenfigürchen und Kerzen, zu heiligem Lied-gut für die „Stille Nacht“, zu Tannenbäumen und Gänsebraten, vor allem jedoch zu Geschenken greift auch, wer sich bewusst von religiösen Kul-turen und Bekenntnissen distanziert, um ein Fest der Liebe zu zelebrieren. Als solches kommt es ge-genwärtig gut zu stehen und zu ruhen, hat es doch eine weite Reise durch die Zeitströme, eine lange Karriere mit vielen Höhen und Tiefen hinter sich.

Gewiss hatten die Evangelisten solches nicht vor Augen, als sie, um Informationslücken zu schließen, die Jahrzehnte vor den Karfreitags-ereignissen und Ostererfahrungen episodisch rekonstruierten und den Lebensweg Jesu mit allerlei theo logisch ambitionierten Erzählungen

auffüllten. Und auch die christlich konvertierten römischen Cäsaren hatten, als sie die Festtraditi-onen ihres Kulturkreises geschickt mit biblischen Episoden verknüpften und flugs aus dem Gott-heitsgeburtstag des Sol invictus das Datum der Christengott-Menschwerdung hervorgehen ließen, sicherlich längst noch nicht jenes Mega event im Sinn, das heutzutage alle Jahre wieder am Abend des 24. Dezember beginnt. (Denkwürdig ist übrigens, dass für die Vorbereitung der Feierlich-keiten immer mehr Zeit in Anspruch genommen wird, das eigentliche Fest hingegen oftmals schon abrupt mit Entsorgungsvorgängen zwischen dem ersten und dem zweiten Weihnachtstag endet. Man trennt sich von Geschenkpapier, Altglas und entfernten Verwandten.)

Aber so funktioniert sie wohl ganz grundsätz-lich, die Menschheitsgeschichte. Aus Altem ent-steht Neues oder anderes, Dinge und Gedanken entwickeln sich machtvoll, eigendynamisch und überraschend, lassen sich mitunter kaum noch normativ einholen oder regulativ bändigen. Und genau mit diesem Umstand wird man konfron-tiert, wenn man sich aufmacht, die gesellschaftliche Wertschätzung des Christfestes zu hinter fragen oder den aktuellen Bedeutungshorizont aller Weihnachtsfeierlichkeiten und -botschaften zu vermessen. Erdrückend ist die Fülle von bisweilen sehr unkonventionellen Datensätzen, die jedoch

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Weihnachten ist auch ein therapeutisches Fest VON ANSELM GRÜN

VON FRANK THOMAS BRINKMANN

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PROF. DR. FRANK THOMAS BRINKMANN ist Professor für Praktische theologie / Religions pädagogik am institut für evange-lische theologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen.

DR. ANSELM GRÜN ist Ordenspriester und lebt in der Benediktinerabtei Münster-schwarzach. FO

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für eine genaue Recherche allesamt erhoben und ausgewertet werden müssten, obwohl sich doch nur noch wenige – etwa hinsichtlich der Brauchtümer, Befindlichkeiten oder Denkweisen – schnell und einwandfrei dem traditionellen Überlieferungs-bestand des Christentums zurechnen lassen. Aber vielleicht ist das Basismaterial, nament lich: die hochdramatische Weihnachtserzählung mitsamt aller an- und eingelagerten Motive und Meta-phern, schlichtweg zu vielseitig? Oder zu anfällig?

Tatsächlich, unbedrohlich schnurrt und ge-schmeidig zerrinnt das verfügbare Weihnachts-material unter dem Zugriff; macht Weihnachten so elegant, gefällig, passförmig. Da können sich Ver-fechter konservativer Gesellschaftsbilder an Maria, Josef und dem Kind in der Krippe abarbeiten und die heilige Familie demonstrativ als Inbegriff der wichtigsten sozialen Zelle idealisieren, während sich zeitgleich allerlei Rebellen progressiv gegen Spießertum und Migrationsfeindlichkeit aufstellen, indem sie auf die verstörende Fremdheit zwischen der Gottesmutter Maria und dem Nichtvater Josef verweisen oder die Flucht nach Ägypten als hoch-politische Affäre mit Gegenwartsbezug stilisieren. Beides geht – und lässt dazwischen noch genug Platz für alle sozialromantisch touchierten Men-schen, die von idyllischen Zeiten und Zuständen träumen, wenn sie sich des großen Bildes von Schäfern, Schäfchen und geschulterten Lämmlein unter einem gütigen Sternenhimmel bedienen.

Kurzum: Die biblischen, von der Christen-tumskultur gepflegten und immer wieder neu durchgemischten und superharmonisch ange-reicherten Narrationen bilden jenes symbolische und metaphorische Repertoire, das Weihnach-

Auf Weihnachten in der Kirche hat die kleine Sofie keine beson-dere Lust. „Man singt ihr dort

zu schlecht, und das Übrige versteht sie nicht, und es macht ihr Langeweile.“ Aber das ist nicht schlimm. Sofies Familie fei-ert Weihnachten zu Hause, mit Freunden. Erst ist Bescherung. Die liebevoll deko-rierten Geschenke werden getauscht und begutachtet. Dann zieht Sofie den Vater ans Klavier, und alle singen. Und beim Tee, während die Kinder mit ihren Ge-schenken spielen, kommen die Erwach-senen ins Philosophieren: Was feiern wir eigentlich an Weihnachten?

Eine Heiligabend-Szene aus dem bil-dungsbürgerlichen Berlin im Jahr 2016? Nicht ganz. Sofie, ihre Eltern und de-ren Freunde gehören zum Setting eines Büchleins aus dem Jahr 1806, verfasst von Friedrich Schleiermacher, Prediger, Schriftsteller, Professor, Theologe und preußischer Reformer: „Die Weihnachts-feier. Ein Gespräch.“

Wer sich für die kulturgeschichtliche Herkunft unserer Feier- und Schenk-rituale interessiert, wird hier fündig. Die Auswanderung des Festes aus der Kirche ins Private; die heimelige Weih-

nachtsstube, in der die Familie sich selbst feiert; das Fest der Liebe, fürs Gemüt, voll Freude und Innigkeit; der inszenierte Gabentausch als „reine Darstellung“ dieser Freude, die sich „in ungesuchtem Wohlmeinen, Geben und Dienen äußert“; die Musik als Inbegriff des Festlichen – und gleichzeitig eine kritisch-aufgeklärte Distanz gegenüber der Geschichte vom Kindlein im Stall: Das alles ist über 200 Jahre alt.

Was feiern wir an Weihnachten? Liegt der Lebensnerv des Festes vor allem in den festlichen Gebräuchen statt in der christlichen Verkündigung – Weihnach-ten, das Fest eines Kindes für Kinder? Oder ist dies die „eigentliche Natur dieses Festes“: dass sich der Mensch, der sich in einem existenziellen Zwiespalt befindet, etwas Erlösendes spürt und erahnt und sich „der unerschöpflichen Kraft des neu-en ungetrübten Lebens bewußt“ wird? „Die Mutterliebe ist das Ewige in uns, der Grundakkord unseres Wesens.“

Man kann das Büchlein für zu kon-struiert halten, kann sich an der aus heutiger Sicht schwülstigen Sprache sto-ßen – die Fragen, die Schleiermacher da-rin gestellt hat, stellen sich bis heute, und

mit unseren Antworten sind wir vielleicht weniger weit gediehen, als uns lieb ist.

Nach 130 Seiten des Philosophierens kommt ein letzter Gast. Josef. „Alle For-men sind mir zu steif, und alles Reden zu langweilig und kalt“, sagt er. „Kommt und laßt mich Eure Herrlichkeiten sehen, und laßt uns heiter sein und etwas From-mes und Fröhliches singen.“ Na also! Weihnachten? Einfach feiern.

Die auswanderung des Festes aus der Kirche ins Private VON JOHANNES GOLDENSTEIN

DIE WEIHNACHTSSTUBE

PFARRER DR. JOHANNES GOLDENSTEIN ist theologischer Referent für gottesdienstliche arbeit im amt der Vereinigten evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands

Es begann damit, dass eines der West-pakete bereits weit vor Heiligabend geöffnet wurde. Unsere Tante Erni aus Bielefeld hatte Zitronat und Orangeat geschickt, die in der DDR so gut wie nicht zu bekommen waren. Der Duft beim Öffnen ihres Pake tes gab uns Kindern einen ersten Vorgeschmack. Ein zweiter folgte an einem der Wochentage um Nikolaus. Noch vor unserem Aufstehen hatte unsere Mutter die Zutaten zum Teig zusammengerührt. Er gärte in einem länglichen Holztrog. Das ganze Haus roch nach Hefe. Nach dem Ende des Schultages führte am Nachmittag der Weg sofort in die Speise-kammer. Dort lagen nun fünf braun gebackene Stollen. Sie

waren bereits mit flüssiger Butter beträufelt und mit Puderzucker reichlich bestreut.Am Heiligen Abend wurde der erste Christ- stollen angeschnitten. Dass dieser das königliche Kindlein symbolisierte, in weißen Windeln aus Puderzucker liegend, davon ahnten wir Kinder nichts. Aber wir schmeckten die teuren Zutaten. Und wir wussten, dass neben dem Christkind auch unsere Tante Erni ein besonderes Ge-schenk war. JÜRGEN SCHILLING

Die Deutschen haben nicht immer in den Abendstunden des 24. Dezembers beschert. Früher geschah dies um Mitternacht – wurde dann aber nach und nach auf den Abend und dann den Spätnachmittag des 24. Dezember vor- verlegt. Inzwischen ist dieser Brauch so fest verankert, dass er auch von Deutschen im Ausland gepflegt wird.Deutsche Weihnachten: Danach kann man ruhig schlafen. Die Kinder im englisch sprachigen Sprachraum müssen noch warten. Für sie liefert Santa Claus erst nach Mitter-nacht die Geschenke – meist können die Kinder in der Nacht vor

Aufregung kein Auge schließen, bis sie morgens zum Kamin stürmen dürfen. „Sean hat’s gut. Er hat zweimal Besche-rung.“ So lautete die Feststellung unserer Acht jährigen nach der Bescherung am Heiligen Abend in unserer deutschen Familie: Wir lebten damals in Kanada. Um sie herum Berge von Geschenk- papier, Bücher, Schokolade, Spiele. Ihr Freund Sean hat eine kanadische Mutter und einen deutschen Vater . . .

Wer verzichtet schon auf seine Tradition? Zur Not wird doppelt beschert. ANTJE M. ERNST

ALLTAGSGESCHICHTEALLTAGSGESCHICHTE Der Duft von Weihnachten Die Bescherung

ten in nahezu jeder Gestalt und in fast belie-biger Ausgestaltung ermöglicht. Die stilisierten Krippenarrangements der jüngeren Frömmig-keitsgeschichte, von zahllosen Lokaltraditionen modifiziert, sukzessiv radikal und unkritisch vervollständigt (bis hin zur Namenfindung von Kaspar, Balthasar und Melchior), machen an-schaulich, wie viele Lesarten mit den Figuren verknüpft werden: Da gibt es Arme und Reiche, Gescheite und Einfältige, Gutmenschen und Böse wichte, Charakterlose, Gottlose und Gottes-fürchtige, Vertrauensselige, Heilsbringer und Flügelwesen, Exoten und Tiere.

Und das Kind eben, das sich nicht nur für steile theologische Thesen eignet, sondern auch dem schlichten Zugriff empfiehlt. Denn wirk-lich niedlich ist es schon, dieses Neugeborene, so ganz unschuldig und schutzbefohlen, dazu noch gesund und unversehrt, und so steht es zu Recht, übrigens ganz anders etwa als ein gekreuzigter Schmerzensmann, für einen feinen Anfang. Dieses Kind macht nicht allein die eigenen Eltern glücklich, meint die Bibel; es hat fernerhin das Zeug, alle glücklich zu machen – und ist insofern auch eine feine Legitimation für das (weihnacht-liche) Schenken (vgl. EG 27,1). Wen wundert es da noch, dass ein ganzer Kulturkreis auch ohne kirchliche Nachhilfestunde davon überzeugt ist, dass es sich lohnt, Weihnachten zu Hause zu sein („I’ll be home for Christmas, if only in my dreams“, Bing Crosby, 1943), vielleicht, um dann, wie es einige Filmtitel verraten, an einer „schö-nen“ (1989), einer „wüsten“ (1998) oder gar an einer „total verrückten Bescherung“ (2010) teil-zunehmen?

DIESES KIND HAT DAS

ZEUG, ALLE GLÜCKLICH ZU MACHEN

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Weihnachten tRaDitiOn

D ie Idee, die Tradition der (zwölf) „Hei-ligen Nächte“ in unserer Kirchenre gion wieder aufzugreifen, ist im Zusam-

menhang der „außerordentlichen“ Jahreswende 1999/2000 entstanden. Sie war uns Anlass, ein-mal das christliche Zeitverständnis in beson-derer Weise zu betonen und zum anderen die Synergieeffekte einer regionalen Zusammen-arbeit von Kirchengemeinden erfahrbar zu machen. Die Resonanz auf die Gestaltung der „Heiligen Nächte“ damals war so positiv, dass wir sie seither jedes Jahr angeboten haben.

Ein Kreis Ehrenamtlicher legt das jährliche – in der Regel weihnachtliche – Thema der „Heiligen Nächte“ fest, das sich an die Vorgaben, das jewei-lige Tages proprium des liturgischen Kalenders,

anlehnen kann, während in den Gottesdiensten ja meist Themen wie Jahreswechsel und Jahreslosung an die Stelle der weihnachtlichen Proprien treten.

Das Feiern der „Heiligen Nächte“ hat das Ziel, dem gesellschaftlichen Trend der Vermischung von Advent und Weihnachten bzw. der Redukti-on von Weihnachten auf Heiligabend entgegen-zuwirken. Auch soll so das Verbundenheits- und Regionsbewusstsein bei Gemeindemitgliedern der beteiligten Kirchengemeinden gefördert werden.

Die einzelnen Abende der „Heiligen Nächte“ bestehen jeweils aus zwei Teilen: Der halbstün-digen Andacht um 18 Uhr, in freier liturgischer Gestaltung durch Ehren- oder Hauptamtliche, folgt eine halbstündige Begegnung mit schlichter Verköstigung.

Über Gemeindebriefe, Internet, Zeitung und Plakate wird eingeladen. Bei uns reihen sich elf lutherische und eine katholische Kirchengemein-de ein. Die Andachten beginnen am 25. Dezem-ber in der St.-Andreas-Kirche in Springe und enden am 6. Januar im Kloster Wülfinghausen. Es kommen zwischen 50 und 150 Besucher. Die Witterung hat auf die Besucherzahl erstaunlicher-weise wenig Einfluss.

Motive für die Teilnahme sind Kennenlernen der Kirchenregion, Vermeidung von Alleinsein, Regeneration nach kräftezehrendem Engagement zuvor, Erfahrungsaustausch mit anderen Kirchen-gemeinden, Freude am gemeinsamen Singen oder an der weihnachtlich geschmückten Kirche.

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Gemeinde deutscher Sprache . Äthiopien

D as Kirchenjahr ist ein Gelenkbus. Vorn, von Ostern bestimmt, der längere Teil. Hinten, von Weih-

nachten bestimmt, der kürzere. Dazwi-schen eine Ziehharmonika. Rechts aus-einandergezogen, schiebt sie sich links zusammen. Und umgekehrt. Liegt Ostern – abhängig vom ersten Frühlingsvollmond – früh, verkürzt sich die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern. Dann folgt auf das Fest der Erscheinung des Herrn (6. Januar) im äußersten Fall nur ein, näm-lich der letzte Sonntag nach Epiphanias. Zugleich verlängert sich die Zeit zwischen Ostern und Weihnachten. Dann folgen auf Trinitatis im Extrem 24 Sonntage nach Trinitatis plus die drei letzten Sonntage des Kirchenjahres. Und andersherum: Liegt der erste Frühlingsvollmond und damit Ostern ganz spät, haben wir maximal sechs Sonntage nach Epiphanias und minimal 19 Sonntage nach Trinitatis. Das Kirchenjahr ist ein Gelenkbus. Jeweils am Schluss sind

der Osterfestkreis und der Weihnachtsfest-kreis flexibel. Ein Geben und Nehmen.

Die neue Ordnung der gottesdienst-lichen Lesungen und Lieder, gültig ab 1. Advent 2018, bringt auch eine kleinere Neuerung ins Kirchenjahr. Der Weih-nachtsfestkreis, der am 1. Adventssonntag beginnt, wird nun auch an seinem Ende stabil: immer drei plus ein Sonntage nach Epiphanias. Der Osterfestkreis beginnt entsprechend künftig nicht stabil mit dem dritten Sonntag vor der Passionszeit (Sep-tuagesimä), sondern mit dem fünften, vierten, dritten oder zweiten Sonntag vor der Passionszeit. Die Extensionen und Kontraktionen zwischen Weihnachten und Ostern betreffen dann nicht mehr die weih-nachtliche Nach-Epiphanias-Zeit, sondern nur noch die Zeit vor Ostern bzw. genauer: vor der Passionszeit. Beide Seiten der Zieh-harmonika gehören dann zu Ostern.

Der Grund für die Änderung? „Als die Tage ihrer Reinigung nach dem Ge-

setz um waren, brachten sie ihn hinauf nach Jerusalem, um ihn dem Herrn dar-zustellen“ (Lukas 2,22). Damit erfüllen Maria und Joseph zwei biblische Gebote. Ein Reinigungsritual für die Frau, vierzig Tage, nachdem sie einen Jungen gebo-ren hat. Und die Heiligung des männ-lichen Erstgeborenen. Vierzig Tage nach Weihnachten liegt der 2. Februar. Der hat in unseren Kalendern zwei Namen: Darstellung des Herrn im Tempel und Mariä Lichtmess. Darstellung: der grei-se Simeon erkennt in dem Säugling den Messias. „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ (Lukas 2,30). Lichtmess: die liturgische Gestaltung war früher mit einer Lichterprozession und Kerzenweihe verbunden. „ . . . ein Licht zur Erleuchtung der Heiden“ (Lukas 2,31). Mit der kleinen Korrektur des Kirchen jahres fallen der letzte Sonntag nach Epiphanias und der 2. Februar immer zusammen. Jedenfalls ungefähr. Künftig sollen auch bis dahin durchgehend die weißen Altar- und Kan-zeltücher hängen – und sollen Christbäu-me und Herrnhuter Sterne die Kirchen und Häuser erleuchten. „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein, neuen Schein“ (Martin Luther, EG 23,4).

Am 19. Januar wird in Äthiopien das Fest der Tauferinnerung gefeiert. Lange bereitet man sich in der Nacht darauf vor. Wenn dann am Morgen der Patriarch die ersten Spritzer Wasser ausbringt, entwickelt sich eine regelrechte Wasserschlacht. Zur Tauferinnerung springen junge Männer

in Wasserbecken, Priester und Diakone sorgen mit Feuerwehr- schläuchen dafür, dass in der Menge keiner trocken bleibt. – Mit

dieser Tauferinnerung „aus dem Vollen“ wird in Äthiopien zugleich die Taufe Jesu im Jordan durch Johannes den Täufer gefeiert.

PFARRER KARL JACOBI ist Pfarrer der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Äthiopien.

Weihnachten ist nicht auf Heiligabend beschränkt: eine Anleitung für eine besondere Zeit VON ECKHARD LUKOW

Die Weihnachtszeit endet jetzt „stabil“ mit Lichtmess VON MARTIN EVANG

TAUFERINNERUNG AUS DEM VOLLEN

Die heiLiGen nÄchte

EINE KLEINE NEUERUNG IM KIRCHENJAHR

PFARRER ECKHARD LUKOW ist Pfarrer in St. andreas Springe und St. Vincenz Springe-altenhagen.

PFARRER DR. MARTIN EVANG ist Ober-kirchen rat und theologischer Referent der Union evangelischer Kirchen in der eKD.

Auf evangelischer Seite spricht man vom „Fest der Erscheinung“ (Gottes im Fleisch). Epiphanie und Geburt Christi wurden ursprünglich am 6. Januar in einem Fest gefeiert. Volks-tümlich ist der 6. Januar der Tag der Heiligen Drei Könige. Biblischer Hintergrund ist die Geschichte von den Weisen, die einem Stern folgen (Mt 2,1–12). Von einer bestimmten Anzahl ist hier nicht die Rede, von Kö-nigen ebenso wenig. Die Weisen ge-hen nach Bethlehem und finden das Kind und beten es an. Bereits in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts gestaltet sich das Fest als Tauftag Jesu (Mt 3,13–17). SUSANNE ERLECKE

Die heiligen Nächte

Epiphanias (Heilige Drei Könige) – 6. Januar

INFO

INFO

Die heiligen Nächte, auch Rau(c)hnächte, sind einige Nächte um den Jahreswech-sel, denen im europäischen Brauchtum oft besondere Bedeutung zugemessen wird. Meist handelt es sich um die zwölf Weihnachtstage vom Weihnachtstag (25. Dezember) bis zum Epiphanias tag (6. Januar). ROLF BECKER

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Passion REFLEXion

Können Sie mir helfen, zeitgenös­sische Passionslieder zu finden, die in den Gemeinden auch heute noch gesungen werden können?“,

fragte mich neulich ein freundlicher An­rufer. Der Hintergrund der Frage wurde schnell klar: Es ging um Lieder, die ohne sühnetheologische Sprache das Leiden Jesu beschreiben. Und hier herrscht im aktuellen Bestand des Evangelischen Ge­sangbuches wahrlich ein gewisser Mangel. Zwar besitzen Lieder wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt durchaus Strophen, die das Leiden Jesu lediglich beschreiben und die Relevanz seines Todes für den eigenen Tod hervor­heben. Aber auch hier gibt es Passagen, die ohne Verständnis für den sühnetheo­logischen Hintergrund geradezu zynisch wirken: „Ich danke dir von Herzen, o Jesu, liebster Freund, für deines Todes Schmer­zen . . . “ Und wenn Adam Thebesius im Lied „Du großer Schmerzensmann“ das Leiden Jesu am Kreuz als eine strafende Handlung Gottes qualifiziert („vom Vater so geschlagen“), dann stellt sich tatsächlich die Frage, welche Gottesbilder die traditio­nellen Passionslieder transportieren.

Durch ihre sühnetheologische Sprache werden die Passionslieder früherer Zeiten nicht obsolet. Gerade Paul Gerhardts Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ hat sich tief verwurzelt in der Volksfrömmigkeit. Hier wird mit den Mitteln und der Theo­logie des 17. Jahrhunderts dem Tod Jesu und dem Geheimnis seiner Heilsbedeu­tung nachgespürt. Aber in der Gegenwart stellt sich die Frage, wie ein zeitgenös­sisches Passionslied klingen muss.

Eine ganze Reihe von neueren Passions­liedern beantwortet diese Frage durch eine bewusst zurückhaltende Sprache, mit der das Leiden und Sterben Jesu beschrie­

ben und theologisch gedeutet wird. Ich möchte im Folgenden dies an zwei neuen Passionsliedern exemplarisch darstellen, die in den ab Advent 2018 geltenden neuen Wochenliedplan aufgenommen werden: • Wir gehn hinauf nach Jerusalem

(EG Hessen 545)• In einer fernen Zeit (Singt Jubilate 17 /

Kommt atmet auf 0146).

Beim Singen des Liedes „Wir gehn hinauf nach Jerusalem“, 1970 von Karl­Ludwig Voss aus einer schwedischen Vorlage ins Deutsche übertragen, macht sich die sin­gende Gemeinde mit Jesus auf den Weg nach Jerusalem. Für die Gemeinde stellt sich die gleiche Frage, die auch die Jün­ger Jesu einst bewegte: „Wer will bei dem Herren bleiben“, und zwar vor dem Hinter­grund seines besonderen Weges, der sich immer deutlicher als Leidensweg erweist? Bei Jesus bleiben kann deshalb bedeuten, vom gleichen bitteren Kelch zu trinken und sich mit ihm in Todesgefahr zu begeben.

Die zurückhaltende Sprache bedeutet für Karl­Ludwig Voss allerdings nicht, sich von traditionellen Deutungen des Todes Jesu zu verabschieden. So kann er den Tod Jesu als „Opfer der Welt“ bezeichnen und davon sprechen, dass „einer für alle stirbt, um uns einen Platz [bei Gott] zu bereiten“.

Das Lied schließt in der vierten Strophe, indem es Leiden und Ohnmacht in dieser Welt mit Christi Leiden identifiziert. Im Sinne des Gleichnisses vom Weltgericht (Mt 25,40b) ist Christus dort zu finden, wo in dieser Welt gelitten wird.

Otmar Schulz formuliert in seinem Lied „In einer fernen Zeit“ ein Gebet, das stau­nend den Leidensweg Jesu betrachtet. Wer dieses Lied mitsingt, wird zum Beter, der den Weg Jesu ans Kreuz von Golgatha

Das Leiden Jesu im spiegel neuer Passionslieder VON STEPHAN GOLDSCHMIDT

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PFARRER DR. STEPHAN GOLDSCHMIDT ist oberkirchenrat und im Kirchenamt der EKD zuständig für das Referat Gottesdienst und Kirchenmusik sowie die Geschäftsführung der Liturgischen Konferenz.

meditierend mitgeht und damit ganz und gar vergegenwärtigt. Die Form des Gebetes scheint eine geeignete Weise für ein zeit­genössisches Passionslied zu sein. Dogma­tische Spitzenformulierungen werden ver­mieden. Stattdessen wird die Deutung des Todes Jesu in dem vorliegenden Lied mit einer spirituellen Haltung verknüpft und greift zurück auf eine ganze Reihe von bib­lischen Bezügen, die teilweise erst auf den zweiten Blick deutlich werden.

In Vers eins wird auf die Leidensankün­digungen Jesu in den synoptischen Evan­gelien angespielt. In Vers zwei findet sich ein Anklang an die Gottesknechtslieder des Jesaja, die zugleich christologisch gedeutet werden: „Fürwahr, er trug unsere Krank­heit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre“ (Jes 53,4). Jesus scheint in dem vor­liegenden Lied auf seinem Weg hinauf nach Golgatha der Gottesknecht zu sein, der um das Leiden und die Schmerzen weiß und diese dennoch zu tragen bereit ist.

In Vers drei wird die Verlassenheit Jesu thematisiert, die im Garten Gethse­mane besonders deutlich wird, wo nicht einmal die engsten Freunde erkennen, in welcher Situation sich Jesus befindet.

Bemerkenswert ist, wie im zweiten Teil des dritten Verses der Kreuzestod Jesu als eine aktive Handlung beschrieben wird: „. . . bringst du dein Leben dar . . .“ Hier ist Jesus alles andere als das Opferlamm, das von einem anderen zur Schlachtbank geführt wird.

In Vers vier spielt Schulz mit den Metaphern „draußen vor dem Tor“ und „mitten in der Welt“ und macht damit deutlich, dass Jesu Tod eine Bedeutung hat, die der ganzen Welt gilt. Deshalb kann im abschließenden fünften Vers das betrach tende Gebet zur Bitte werden, die sich an den vom Tode Auferstandenen wendet: „Erstehe neu in mir.“

Wer diese neuen Passionslieder mit­singt, lässt sich auf den Weg Jesu nach Jeru­salem und ans Kreuz auf Golgatha ein und begreift trotz der zurückhaltenden Sprache, dass dieser Tod eine Bedeutung hat, die im Leben und im Sterben trägt und hält.

Wir gehn hinauf nach Jerusalem

1. Wir gehn hinauf nach Jerusalem in leidender Liebe Zeiten und sehen, wie einer für alle stirbt, um uns einen Platz zu bereiten.

2. Wir gehn hinauf nach Jerusalem. Wer will bei dem Herren bleiben und kosten von einem so bittern Kelch? Die Angst soll uns nicht von ihm treiben.

3. Wir gehn hinauf nach Jerusalem, das Opfer der Welt zu sehen, zu spüren, wie unsere Not vergeht, und unter dem Kreuze zu stehen.

4. Wir gehn hinauf nach Jerusalem, zur Stätte der ewgen Klarheit. Wo Leiden und Ohnmacht in unsrer Welt, da finden wir Christus in Wahrheit.

Text: Karl-Ludwig Voss, 1970, nach dem schwedischen original von Paul nilsson, 1906 Melodie: alte nordische Volksweise (arrebos Psalter, 1627)

In einer fernen Zeit

1. In einer fernen Zeit gehst du nach Golgatha, erduldest Einsamkeit, sagst selbst zum Sterben ja.

2. Du weißt, was Leiden ist. Du weißt, was Schmerzen sind, der du mein Bruder bist, ein Mensch und Gottes Kind.

3. Verlassen ganz und gar von Menschen und von Gott, bringst du dein Leben dar und stirbst den Kreuzestod.

4. Stirbst draußen vor dem Tor, stirbst mitten in der Welt. Im Leiden lebst du vor, was wirklich trägt und hält.

5. Erstehe neu in mir. Erstehe jeden Tag. Erhalte mich bei dir, was immer kommen mag.

Amen, Amen, Amen.

Text: otmar schulzMelodie: andreas Brunion

Passionslieder: Die singende

Gemeinde macht sich mit Jesus auf den WEG

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Passion REFLEXion

Gerne wird es betont: Der Kar­freitag sei für Evangelische ein besonders hoher Feiertag  – aber die Lebensrealität sieht

oft anders aus. Der Gedanke an Opfer und Blut schreckt vielfach ab, erscheint als Ausdruck eines grausamen Gottes. Dabei ist er zunächst vor allem der tiefste Ausdruck dessen, dass Gott wirklich Mensch geworden ist.

Passionsfrömmigkeit ging von den hei­ligen Stätten in Jerusalem aus: Im voröster­lichen Unterricht schritt der Bischof mit den neu Bekehrten ganz konkret die Lei­densorte ab. Besonders gut bezeugt ist dies in den Taufkatechesen des Kyrill von Jeru­salem († 386): In einer Zeit, in der nach der Aufwertung des Christentums unter Kon­stantin das christliche Bekenntnis immer normaler wurde, erinnerte er daran, dass Christus selbst sich nicht unter die Mäch­tigen gemischt, sondern mitten hinein in das Leiden dieser Welt begeben hatte.

Der Gedanke wirkte fort: Das Leiden Christi zeigte seine Solidarität mit den Menschen und ermöglichte den Glauben­den eine Identifikation mit ihrem Herrn. So beschreibt Bernhard von Clairvaux († 1153) Jesus Christus als den, der durch

Gebet, Fasten, Verfolgung und schließlich Kreuzigung zum Heil der Menschheit ge­kommen ist – und der nur dadurch, dass er so weit hinabgestiegen ist, die Liebe wecken kann, durch die der Mensch wie­der zu ihm emporsteigt.

Dieser Grundgedanke, dass uns Chris­tus erst im Leiden ganz nahekommt, vertiefte sich in der Leidensfrömmig­keit des späten Mittelalters. Schmerzensmann­ und Vesperbilddarstellungen erinnern bis heute in vielen Kirchen an diese Fröm­migkeit. Wie intensiv sich diese Passionsfrömmigkeit gestalten konnte, zeigt sich etwa bei dem Dominikaner Heinrich Seuse (†  1366), einem Vertreter der deut­schen oder besser: oberrheinischen Mystik im 14. Jahrhundert, der betonte, dass nie­mand zu Christus kommen könne, ohne durch seine Menschheit und sein Leiden hindurchzuschreiten – das ging bei ihm dann so weit, dass er sich den Namen Jesu in die Brust ritzte: Im eigenen äußeren Leiden wurde Christus innerlich nahe.

Dies war eine extreme Ausdrucksform der Passionsfrömmigkeit, die sich vielfach eher in Gebet und Lektüre abspielte. Von Johannes von Paltz († 1511) ist ein Medi­tationsgebet erhalten, das dazu anleitet, die eigenen Sünden geistlich in die fünf Wunden Christi zu legen und so die Er­

lösung spürbar zu ma­chen. Wie Paltz gehörte auch Johann von Staupitz († 1524) dem Orden der Augustiner eremiten an. Von ihm stammen Predig­ ten, in welchen er in der Fastenzeit des Jahres 1512 in Salzburg das Leiden Christi von Bethanien bis zur Grab legung nachzeich­nete. Dabei wollte er vor allem eines deutlich ma­chen: „All unser leiden und

all unser krankhait ist ganz verstrickt und überwunden in seinem leiden.“ Das Lei­den Christi zieht den leidenden Menschen in sich hinein – und gerade darin wird der Gekreuzigte zum „allersüssist Jesus Chri­stus“, in dem allein „alle genad“ zu finden ist.

Staupitz war Luthers Beichtvater. So überrascht es nicht, dass dieser selbst von

früh an das Leiden Christi in den Mit­telpunkt seines Denkens rückte. 1519 erschien sein „Sermon von der Betrach­tung des Leidens Christi“. Als Ziel der Leidensbetrachtung sollte letztlich die Erkenntnis der eigenen Sünde erwach­sen – das konnte Luther dann auch kon­kret am Leiden Christi durchführen: „nu sich, wa Christus eyn dorne sticht, da solten dich billich mehr dan hun­derttaussent dornen stechen, ja ewiglich solten sie dich alßo unnd vill erger ste­chen. Wa Christo eyn nagell seynn hend adder fueß durch martert, soltestu ewi­ge solch und noch erger negell erleyden“ (WA 2,137,30–33): Das Elend Christi wird zum eigenen, weil sein Leiden ihn mit uns und uns mit ihm vereinigt. Luther hatte schon im Jahr zuvor in der Heidelberger Disputation deutlich ge­macht: Die Theo logie des Kreuzes stellt alles menschliche Tun und Denken un­ter das Zeichen des Kreuzes der Ernied­rigung, in welcher durch die Gottes­ferne hindurch Gott ganz nah wird.

Damit hat Luther der evangelischen Theologie aus dem Mittelalter heraus eine eigene Prägung mitgegeben: Die Kreuzestheologie wurde zu einem mar­kanten Element evangelischen Selbst­verständnisses. Und auch das Stechen der Dornen und Martern der Nägel klingt noch in den Bachschen Passi­onen nach, gibt der Bedeutung des Karfreitages für evangelische Fröm­migkeit intensiven Ausdruck. Mit der Aufklärung allerdings verschwand die­se intensive Bespiegelung des Leidens weitgehend aus dem evangelischen Gefühlshaushalt. Tatsächlich liefe eine moralisierende Pädagogik des Leidens nicht nur an der Moderne vorbei, son­dern auch an der reichen Tradition der Passionstheologie.

Aber in einer Welt des Terrors, der Vertreibung und der Zerstörung kann die tiefste Einsicht der christlichen Tradition neu konkret werden: Nir­gends ist Christus uns näher als im Leiden. Nicht, um im Leiden stecken zu bleiben, sondern um es für immer zu überwinden.

NIRGENDS IST CHRISTUS UNS NÄHER

ALS IM LEIDEN. NICHT, UM IM

LEIDEN STECKEN ZU BLEIBEN,

SONDERN UM ES FÜR IMMER

ZU ÜBERWINDEN

Eine Möglichkeit der identifikation – stationen der Passionsfrömmigkeit in der Kirchengeschichte VON VOLKER LEPPIN

PROF. DR. VOLKER LEPPIN ist Professor für Kirchengeschichte (Mittelalter und Reformation) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard- Karls-Universität in Tübingen.

DAS LEIDEN CHRISTI BEDENKEN

er Protestantismus hat das Fas­ten wiederentdeckt! Seit den 60er Jahren entwickelte sich

die Überernährung mehr und mehr zu einem Gesundheitsproblem. Diät­ und Fastenkuren boten sich als Ausweg an. Der Boden war bereitet für das Fasten als geistliche Übung. Damit müssen sei­ne nichtspirituellen Aspekte keineswegs ausgeblendet werden. Vielmehr stellt das Fasten eine ganzheitliche Übung dar, die gesundheitliche, spirituelle und sozial­politische Aspekte umfasst. Fas­ten gibt es nur im Dreierpack!

Es ist hier nicht der Ort, um die posi­tiven Auswirkungen des Fastens auf den menschlichen Organismus zu entfalten, die weit über das Moment der Entschla­ckung hinausgehen. Auch der sozial­ politische Aspekt des Fastens soll nur kurz bedacht werden: Schon das Alte Testament warnt davor, das Fasten los­gelöst vom Dienst am Nächsten zu be­trachten (Jes 58, 1–12). Jesus verschärft diese Kritik am Fasten als selbstzentrier­te religiöse Übung noch (Mt 6,16–18). Zum Fas ten gehört untrennbar die Ausrichtung auf den Nächsten. Fasten als politisches Mittel, um gegen gesell­schaftliches Unrecht zu protestieren, besitzt also durchaus eine biblische Be­gründung. Allerdings verkommt es ohne die Berücksichtigung der spirituellen Di­mension zum Druckmittel in der tages­politischen Auseinandersetzung.

Welche spirituellen Konsequenzen besitzt das Fasten? Beim Fasten legt der Mensch die vielen Ersatzbefriedigungen aus der Hand, die ihn betäuben und blind machen gegenüber seiner eigenen Realität. Fastende lernen, sich so zu se­hen, wie sie wirklich sind, und brauchen nicht länger vor sich selbst davonzu­

laufen. Indem Fastende ihre Wünsche und Begierden aus der Hand geben, machen sie deutlich, dass letztlich nur Gott selbst ihren Hunger und ihre Sehn­sucht nach Leben zu stillen vermag. „Im Fasten erkennt der Mensch seine Ge­schöpflichkeit an, den Spalt des Nichts, der in seiner Existenz klafft, und betet Gott als seinen Schöpfer an, der allein seinen Mangel an Sein beheben kann als das unendliche und ewige Sein“ (Søren Kierkegaard). Indem Fastende das Selbstverständliche durchbrechen, werden sie vor Lebensüberdruss be­wahrt. Sie gewinnen einen Raum, in dem Neues wachsen kann. Sie werden frei zur Buße, zum Umdenken und zur Umkehr als Grundakte des Evangeli­ums. Die Bewohner von Ninive reagie­ren auf die Bußpredigt des Propheten Jona, indem sie fasten, und erleben so Gottes Barmherzigkeit (Jona 3,5).

Fasten verändert die Wahrnehmung der Welt. Es stellt einen Protest gegen jede Form von Materialismus und da­mit gegen die Tyrannei des Sichtbaren dar. Indem es Distanz zur sichtbaren Welt bringt, verschafft es den nötigen Freiraum, um sich mit den Dingen der unsichtbaren Welt Gottes zu beschäfti­gen. Die Evangelien gehen davon aus, dass das Fasten die Ernsthaftigkeit des Gebets unterstützt (Mk 9,29), ja sogar seine Wirksamkeit erhöht. Fasten för­dert die Sensibilität für Gottes Wort und seinen Willen und bereitet so auf die Begegnung mit Gott vor (Dtn 9,9; Mt 4,1–17).

FASTEN

PROF. DR. PETER ZIMMERLING ist Uni versitätsprediger und hat eine außer-planmäßige Professur der Praktischen Theologie an der Theo logischen Fakultät der Universität in Leipzig inne.

Frei für Gott und den nächsten VON PETER ZIMMERLING

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Passion Passion REFLEXion

eit mehr als 30 Jahren gibt es im evangelischen Christentum die Aktion „7 Wochen Ohne“. In einer Zeit, in der Menschen

des uneingeschränkten Konsumierens müde wurden, entschlossen sie sich, die altkirchliche Tradition des vorösterlichen Fastens wieder aufzunehmen. Um was für eine Tradition handelt es sich dabei aber? Und entspricht sie überhaupt der evangelischen Freiheit?

In der Alten Kirche dienten die vierzig Tage vor Ostern der Vorbereitung von Ka­techumenen auf die Taufe. Sie wurden nicht nur im Glauben unterrichtet, sie bereiteten sich vielmehr auch ganz individuell auf das große Ereignis vor. Dazu gehörte auch das Fasten, das sogenannte Quadragesimal ­ fas ten. Damit knüpften die Christen an Jesus selbst als Vorbild an. Dieser hatte sich vor seinem öffentlichen Auftreten schließ­lich vierzig Tage fastend in die Wüste zu­rückgezogen (Mt 4,1–11 par.). Auch zahl­reiche andere biblische Personen von Moses (Ex 34,28) bis hin zu Johannes dem Täufer (Mt 11,18f.) dienten den frühen Christen als Vorbild in der Fastenpraxis.

Das Fasten vor Ostern ist erstmals durch das Ökumenische Konzil von Nizäa 325 n. Chr. festgelegt worden (can. 5). Ähnlich wie die ebenfalls entstehende Fastenzeit vor Weihnachten dient das Fasten auch der Vorbereitung auf das bevorstehende Fest. Dementsprechend bleibt vor Ostern das Fasten nicht auf die Taufbewerberinnen und ­bewerber be­schränkt. Fasten bedeutete dabei schon in der Alten Kirche keinen radikalen Nahrungsverzicht, sondern insbesondere ein Verbot bestimmter Nahrungsmittel wie Fleisch und im christlichen Osten auch Fisch. Lediglich in den zwei Tagen vor ihrer Taufe fasteten die Taufanwärter – wohl in Anlehnung an das Initiations­fasten in den antiken Mysterienkulten – gemeinsam mit einigen Gemeinde­gliedern noch einmal besonders radikal.

  eben dem Fasten vor Ostern bürgerte sich auch früh die wöchentliche Fastenpraxis in

Anlehnung an und zugleich in Abgren­zung von den jüdischen Bräuchen (Lk 18,12) ein. Bereits in der ältesten erhal­tenen Kirchenordnung aus dem frühen zweiten Jahrhundert, der Didache, wird das Fasten am Mittwoch und am Freitag

vorgeschrieben (Did 8,1). Die Tage sind mit dem Verrat und dem Tod Christi ver­bunden, an die man mit dem Fasten auch im Sinne der Buße gedenkt.

Besonders im altkirchlichen Mönch­tum wurde das Fasten immer weiter aus­gebaut. Mönche und Nonnen sahen darin eine Möglichkeit der Konzentration auf das Wesentliche und somit auch einer körperlichen Vorbereitung auf die Begeg­nung mit Gott zum Beispiel in Form der mystischen Vereinigung. Die körperliche

Anstrengung beim Fasten sollte eine Be­gegnung mit Gott keineswegs erzwingen, wohl aber der Vorbereitung auf eine sol­che, der Steigerung von Wachsamkeit und der Konzentration auf Wesentliches dienen. Radikal hat dementsprechend der Mönchsvater Johannes Sinaites im sechsten Jahrhundert formuliert: „So wie wohlbeleibte Vögel nicht fähig sind, zum Himmel zu fliegen, so auch derjenige nicht, der sein Fleisch nährt und pflegt“ (Klimax 26/3,7). Vor Leistungsdruck beim Fasten wurde allerdings strikt ge­warnt. Im Zentrum der mönchischen Fastenpraxis stand vielmehr die innere Freiheit und die Möglichkeit zur Konzen­tration, die mit ihr gegeben sind.

Die Reformatoren brachen strikt mit der Praxis des Fastens, weil sie in ihr ein menschliches Werk sahen, mit dem man Gott näherkommen wollte. Besonders an­schaulich wurde die Ablehnung in dem Zürcher Wurstessen beim Buchdrucker Froschauer im Jahr 1522, das Huldrych Zwingli initiiert hatte. Zwölf Teilnehmer verspeisten dabei mitten in der Fastenzeit zwei Würste. Damit wurde evangelische Freiheit gegenüber religiöser Gesetzlichkeit demonstrativ in die Öffentlichkeit getra­gen. Zwingli rechtfertigte kurz darauf mit seiner Schrift „Von Erkiesen und Freiheit der Speisen“ die Aktion. Unter Rückgriff auf die Paulusbriefe betont er, dass Speisen an sich weder gut noch schlecht seien und nur ihr Missbrauch dem Menschen scha­den würde. Zwingli lehnte dabei das Fasten nicht generell ab, wohl aber den Fasten­zwang. Dementsprechend ist für Zwingli – ganz ähnlich wie für Martin Luther – das Fasten kein religiöses Werk mehr, das – wie zum Beispiel von Thomas von Aquin be­hauptet – Nachlass der Sünde erwirkt.

  enn man Fasten nicht als gutes Werk versteht, sondern als Hilfe zur Konzentration

auf das Wesentliche, zur Besinnung auf uns selbst und auf Gott, so ist Fasten durchaus auch im evangelischen Chris­tentum des 21. Jahrhunderts in aller Frei­heit sinnvoll.

PROF. DR. ANDREAS MÜLLER ist Professor für Kirchen- und Religions geschichte des 1. Jahrtausends an der Theologischen Fakultät der Christian-albrechts-Universität in Kiel.

Hilfe zur Konzentration auf das Wesentliche –

Besinnung auf uns selbst und auf Gott

VON ANDREAS MÜLLER

in DER aLTEn KiRCHE Die Passionszeit – das sind sieben

Wochen Konzentration auf das Wesentliche; Reduktion von Ober­

flächlichem, um in die Tiefe des eigenen Selbst zu gelangen. Sich und anderen nahekommen ohne Ballast, befreit auf­leben. Am Horizont wartet Ostern als Fest überschäumender Lebensfreude und neuer Hoffnung nach dem Dunkel des Grabes. Das Lamm, das der Welt Sünde trägt mit einer Siegesfahne im Rücken. Aber schmerzfrei sind Neuanfänge nicht zu haben.

Mit der Passionszeit beginnt alljähr­lich die Fastenaktion der evangelischen Kirche, an der sich Millionen Menschen beteiligen. Sie haben ihre Freude daran, von Aschermittwoch bis Ostern darauf zu schauen, was im Leben besser werden könnte. Die verschiedenen Motti zielen auf Haltung, auf Mentalitäten. Wie jetzt? Fasten heißt doch Verzicht – auf Alkohol, Tabak, Schokolade, auf das, was in Mengen nicht zuträglich ist. Klar kann man sieben Wochen lang trainieren, mit kleinen und großen Süchten souveräner umzugehen.

Aber richtiges Fasten, wie es „7 Wo­chen Ohne“ empfiehlt, ist etwas anderes. Fasten kommt von „fastan“, festhalten, im Auge behalten. Die drei Dimensionen menschlicher Existenz – die Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zum Nächs­ten – werden im Fasten in den Blick genommen. Ziel ist, die Fastenzeit zur

Selbstbesinnung zu nutzen. Der Verzicht auf bestimmte Speisen und Getränke, auf Konsum und Vergnügen, alles dies ist je­dem in christlicher Freiheit freigestellt.

Vorgegeben ist ein Denkimpuls, ein Anstoß für die tägliche, bewusste Selbst­reflexion in der Aufgeregtheit des Alltags, in der Privatheit unserer Gedanken. Den teilnehmenden Menschen ist es wichtig, die Fastenzeit als „Denkreservat“ zu nut­zen, als Lebensveränderung auf Zeit mit oft erheblicher Langzeitwirkung. Fasten ist ein Rendezvous mit der Freiheit. Es verlockt, sich der Menschlichkeit zu ver­schreiben. Wenn ich verzichte, gewinne ich bislang verborgene Einsichten und kann neue Lebensvollzüge ausprobieren.

Durch Verzicht schaffe ich Platz für Veränderungen und entwickle neue Per­spektiven: Wie will ich leben? Was ist wichtig, was Ballast? Schonungslos sagt Jesus: „Was aus dem Menschen heraus­kommt, das macht den Menschen un­rein . . .“ (Mk 7,20). Deshalb ist es not­wendig, sich auf das eigene Innere zu konzentrieren. Fasten ist innere Umkehr. Es macht frei. Mich auf mich selbst zu konzentrieren, schafft der eigenen Per­sönlichkeit Raum, schenkt Muße für das Leben selbst. Und neue Nähe zu Gott.

„7 Wochen ohne“ – oder lieb gewordene Gewohnheiten aufgeben VON SUSANNE BREIT- KESSLER

RENDEZVOUS MIT DER FREIHEIT

SUSANNE BREIT- KESSLER ist Regional-bischöfin des Kirchenkreises München und ständige Vertreterin des Landesbischofs.

Am Mittwoch vor dem ersten Fastensonntag (Invokavit) be-ginnt die Passionszeit, die vier-zigtägige Vorbereitung auf das Osterfest. Das Bestreuen mit Asche findet sich schon im Al-ten Testament als Zeichen der Buße (Jona 3,6; Dan 9,3). Mit dem Ritual soll an die eigene Vergänglichkeit erinnert und zur Umkehr aufgerufen werden. Der „fleischlich“ gesinnte Mensch wird dem geistlich gesinnten entgegengestellt (Röm 8,5).Besonders in lutherischen Kir- chen wird dieser Tag mit einem Bußgottesdienst begangen. „Bekehrt euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen!“ (Joel 2,12–18). Im Evangelium warnt Jesus allerdings die Jünger vor einer Fastenpraxis, die nur darauf aus ist, Eindruck bei den Menschen zu erzielen (Mt 6, 16–21). SUSANNE ERLECKE

Aschermittwoch

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Passion REFLEXion

E r wäre das Idol all jener Teenager gewe­sen, die heute im Internet auf „Pro Ana“­Seiten unterwegs sind – auf jenen Seiten, die das Sich­Aushungern zum Lebens­

inhalt machen und die Anorexie nicht für eine Krankheit, sondern für ein Glaubensbekenntnis halten. Er hieß Hegesias, stammte aus der griechi­schen Stadt Kyrene in Libyen und gehörte einer

Philosophenschule an, die die Lust zum obers ten Prinzip erklärte. Doch irgendwie muss ihm seine Schulweisheit verleidet worden sein. Zwar hielt Hegesias daran fest, dass die Lust das höchste Gut sei, bestritt aber gleichzeitig, dass sie und mit ihr das Glück je zu erreichen seien. Alle Lust wurde ihm zu Unlust, so dass er es für das Beste hielt, nie geboren zu sein. Denn wer lebt, leidet – physisch

Fasten und selbstoptimierung: sich in den Griff bekommen und sich im Griff behalten VON ANDREAS URS SOMMER

DiE KUnsT, siCH FasT ZU TODE ZU HUNGERN

und psychisch. Daher schien es dem unlustigen Philosophen geraten, sich möglichst bald aus die­sem Leben zu verabschieden – oder es schien ihm geraten, wenigstens allen anderen zu raten, dieses Leben hinter sich zu lassen.

Hegesias soll, berichtet Cicero zwei oder drei Jahrhunderte später, ein Buch unter dem Titel „Apokarteron“ geschrieben haben, wahlweise als „Der Faster“, „Der Hungerkünstler“ oder „Der Hungerselbsttöter“ zu übersetzen. Darin ging es um einen Mann, der sich durch Nahrungsverzicht hatte umbringen wollen, aber von Mitmenschen daran gehindert wurde, um diesen dann ausein­anderzusetzen, warum das Leben sich nicht lohnt. Niemanden wird überraschen, dass Hegesias sich nicht nur den Beinamen „Peisithanatos“, „der zum Tode Überredende“ einhandelte, sondern dass ihm König Ptolemaios schließlich auch verbot, seine Lehren weiterzuverbreiten. In unseren Tagen meint der Philosoph Ludger Lütkehaus mit leich­tem Augenzwinkern, Hegesias habe sich daraufhin ins jüdische Exil abgesetzt, um sich als Spezialist der Lebens­verachtung unter dem Namen Kohelet ein neues Betätigungs­feld zu schaffen und als Prediger Salomo in die Bibel einzugehen.

Sicher, unbedingt sterben wollen die magersüchtigen Teenager ja nicht, die Hegesias heute nacheifern, ohne seinen Namen je gehört zu haben. Aber auch ihnen ist das normale Leben eine Last, das sie nur ertragen können, wenn sie ihm Zügel anlegen, die tief ins Fleisch schneiden. Magerkeit ist Selbstdisziplin, Magerkeit ist Schönheit. Die Teenager, die mit dem Fasten ganz an die Grenze des Menschen­möglichen gehen, wollen sich in den Griff be­kommen und sich im Griff behalten. Wenn man das Leben sonst schon nicht im Griff hat. Ähn­liche Ambitionen hegte auch schon der antike philosophische Hungerkünstler.

 N un wird man einwenden, der anorek­tische Extremismus heutiger Teenager und vorgestriger Philosophen habe rein

gar nichts zu tun mit der gediegenen Form ritu­alisierten Fastens, wie es die Kirchen empfehlen oder vorschreiben. Dies sei eine Praxis des Maß­haltens, die in der modernen Welt des Dauer­konsums eine ganz neue Bedeutung gewonnen habe. Es gehe darum, dem reißenden Strom be­sinnungsloser Ressourcenverschwendung einen achtsamen Umgang mit der Schöpfung entgegen­zusetzen. Dem diene das Fasten.

Das mag ja alles sein, lenkt aber nicht wirklich vom Umstand ab, dass Jesus selbst zumindest in

einer frühen Phase seines Wirkens in die Katego­rie der anorektischen Extremisten gehört haben dürfte, jedenfalls, wenn man dem Lukasevange­lium Glauben schenken will, das von den 40 Tagen in der Wüste berichtet: „Die ganze Zeit über aß er nichts.“ Nach solcher Kasteiung musste ihm – das würde jeder Mediziner bestätigen – der Leibhaftige fast zwangsläufig erscheinen: ein typischer Fall von Hungerdelirium.

 Den anorektischen Extremisten erscheint das Hungern als die einzige Möglich­keit, Kontrolle zu gewinnen – Kontrolle

über sich selbst, weil die Welt sich der Kontrolle entzieht. Die ironische Pointe besteht darin, dass man im Hungerdelirium die Kontrolle am Ende wieder – lustvoll? – verliert.

Aber niemand muss das Fasten so weit treiben wie die anorektischen Extremisten – und kaum eine Weltanschauung, kaum eine Religion verlangt das von ihren nicht zu grandioser Einseitigkeit

begabten Anhängern. Fasten in Maßen ist im menschlichen Le­ben eher die Regel als die Aus­nahme. Denn Menschen sind verzichtende Wesen: Wenn sie etwas tun, verzichten sie da­rauf, all das andere zu tun, das sie auch noch tun könnten. Je vielfältiger die Möglichkeiten sind, die ihnen eigentlich offen­

stehen  – und die Moderne kennzeichnet gerade die Vervielfachung der Möglichkeiten –, desto mehr müssen die Menschen verzichten, wenn sie überhaupt etwas tun wollen. Selbst der größte Schlemmer, der sein Dasein damit zubringt, erle­sene Speisen zu sich zu nehmen, ist im Blick auf das meiste, was ihm dieses Dasein sonst noch böte, ein großer Verzichter: Er verzichtet um der Nahrungs­aufnahme willen beispielsweise auf gute Bücher, interessante Gespräche, leidenschaftlichen Sex.

Nun wird man dem Schlemmer vielleicht nicht nachsagen wollen, er sei eigentlich ein Fas ter. Fasten heißt nicht einfach, auf beliebige Möglichkeiten zu verzichten. Sondern auf jene Möglichkeiten, die man eigentlich gerne ver­wirklichen würde. Wer keinen Hunger empfin­det, fastet nicht, sondern nur derjenige tut das, der gerne äße, aber willentlich darauf verzichtet. Er fastet, weil er sich fokussieren, weil er sich sel­ber formen, sich zu einem besseren Menschen machen will.

Aber der Mensch tut gut daran, es mit solcher Selbstoptimierung nicht zu übertreiben. Denn er ist ein Wesen, das wesentlich von der Fülle seiner Möglichkeiten lebt – und nicht nur aus dem Ver­zicht auf Möglichkeiten.

DER MENSCH IST EIN WESEN,

DAS WESENTLICH VON DER FÜLLE

SEINER MÖGLICH-KEITEN LEBT

PROF. DR. ANDREAS URS SOMMER ist Professor für Philosophie mit schwerpunkt Kultur philosophie an der albert-Ludwigs- Universität in Freiburg.

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Passion Passion TRaDiTion

Ort: Krypta, Seitenkapelle; variable Sitz­ordnung (Stühle), um ein Taufbecken herum oder neben einem kleinen Altar; Beleuchtung: Kerzen, dazu vielleicht ge­dimmtes elektrisches Licht.

Zeit: Gründonnerstagabend bis Karfreitag­morgen (6 Uhr), in stündlichem Wechsel.

Verantwortliche: Die konkrete Gestal­tung, zum Beispiel Liedauswahl, Gebets­texte, liegt bei der jeweiligen Gruppe bzw. Gemeinde oder Konfession. Je nach Tra­dition ergibt sich daraus eine Abwand­lung der Grundstruktur, wobei jedoch alle Verantwortlichen sich der medita­tiven Haltung verpflichtet wissen.

Themenstellung: Evangelienberichte über das Geschehen der Gründonnerstag­nacht (Gethsemane – Verhaftung – Verhör – Verleugnung des Petrus – Todesurteil des Hohen Rates). Dabei kann Romano Guardini „Der Kreuzweg unseres Herrn“ als wertvolle Anregung zur Betrach­tung dienen. Möglich sind auch die Ge­staltungsvorschläge des Ökumenischen Kreuzweges der Jugend ([email protected]).

Ablauf: Jeweils zur vollen Stunde Über­gaberitus mit Willkommensgruß und ge­meinsamem Vaterunser. Die Andacht baut sich aus folgenden Grundbestandteilen auf: Psalmgebet – biblische Lesung – ggf. (Bild­)Betrachtung – Stille – Gebet  –

Lied(strophe). Der Übergabe in die näch­ste Gruppe geht der Segen voraus.

Medien: Neben reiner Textbetrachtung vor allem Bilder in Gestalt großflächiger Vergrößerungen. Diese bleiben die Nacht über im Blickfeld der Teilnehmer (an ei­ner Art Ikonenwand). Die Projektion per Beamer/Diaprojektor hat sich als zu un­ruhig für die Betrachtung herausgestellt. Lieder, bedachtsam verwendet, fördern die Konzentration. Das EG liegt aus.

Werbung: Mit gleichbleibendem Stich­wort/Logo empfohlen.

Zielgruppe: Für Menschen, die Be­sinnung und Stille suchen, ist die Vigil gedacht als Angebot in Ergänzung zu den

Sonntagsgottesdiensten der Passions­zeit bzw. als Ausgleich für jene, die die sonntäglichen Gottesdienste nicht wahr­nehmen können. Soweit sie über die ar­beitsfreien Tage an Ostern nicht verreisen, finden sie Gelegenheit, sich konzentriert auf den Kern der christlichen Verkün­digung einzulassen. Die Zahl der Teil­nehmenden zum abendlichen Beginn und bei der letzten Vigil am Karfreitagmorgen zeigt, dass das Angebot auf erfreuliche Resonanz stößt.

In den Stunden nach Mitternacht sinkt die Zahl der Teilnehmenden; dafür wird die Stille umso tiefer empfunden.

Eine Nachtwache, um sich auf die Evangelientexte zu konzentrieren VON LEBRECHT SCHILLING

ViGiL in DER GRÜn DonnERsTaGnaCHT

PFARRER LEBRECHT SCHILLING war Pfarrer in Herford und lebt dort auch im Ruhestand.

Von „Grün“ keine Spur, auch wenn vielerorts Spinat oder Grünkernsuppe an diesem Tag gegessen wird. Der Name des Tages leitet sich vom mittel-hochdeutschen „gronan“ („greinen“ = weinen) ab. An diesem Tag wurden ehemals die Büßer, auch „Weinende“ genannt, wieder in die volle kirch- liche Gemeinschaft aufgenommen. Um

Gemeinschaft ging es auch Jesus. Er feiert mit seinen Jüngern am Abend vor seinem Tod ein festliches Mahl (als Passahmahl?) und schenkt ihnen ein Ritual für die Zukunft miteinan-der nach seinem Tod am Kreuz (Mt 26,17–30 par., vgl. auch 1 Kor 11,23–26); allgemein gilt dies als Einsetzung des Abendmahls. SUSANNE ERLECKE

Gründonnerstag

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PASSION TRADITION

D ie Passionszeit neu erfahrbar machen: Dieser Gedanke liegt der Sodener Passion zugrunde. Äußeres Zeichen ist ein großes

hölzernes Kreuz, das Sodener Christen – Protes­tanten, Katholiken und Methodisten – in der Zeit vor Ostern durch ihre Stadt tragen und an öffent­lichen Orten aufstellen. So stand es in den vergangenen Jahren schon im Sozialamt oder in Schulen, im Krankenhaus oder in der Stadt­galerie. Aktionen mit Künstlern, Filme oder Konzerte sowie Vor­träge und Diskussionen bringen das Kreuz einem breiteren Publi­kum näher. Am Samstag vor dem Palmsonntag wird zur Freude der Kinder das Kreuz von einem Esel begleitet. Nach einer alten hes­sischen Tradition bekommt jedes Kind danach ein lila „Palm­Ei“.

„Weil das Kreuz in Bad Soden öffentlich getra­gen und diskutiert wird, muss niemand mit dem Kreuz seines eigenen Lebens alleinbleiben“, sagt Pfarrer Dr. Achim Reis, Mitinitiator der Sodener Passion. Erkennungszeichen der jährlich wie­derkehrenden Aktion ist das Bad Sodener Stadt­

wappen: der Reichsapfel, an dessen Kreuz zusätz­lich der Gekreuzigte geheftet ist. Der Blick auf das Kreuz Christi soll helfen, mit eigenen Kreuzen umzugehen, sie zu tragen, ohne unter ihnen zu zerbrechen. So kann die Passionszeit als Chance erfahren werden, sich den schwierigen Seiten des

eigenen Lebens zu stellen. Jedes Jahr hat die Sodener

Passion ein anderes Thema. 2014 bildete „Die Farbe Lila“ das Zen­trum des Geschehens – vom Auf­tritt einer Deep­Purple­Coverband über Steven Spielbergs Film bis hin zur lila Verhüllung von Altar und Kreuz. 2015 wurde medizinisch und religiös dem „Fasten“ nach­gespürt. „Heilig. Heilig? Heilig!“ lautete 2016 die Einladung zur Auseinandersetzung mit dem Le­ben der Gestalten, denen die Bad

Sodener Kirchen einst geweiht worden waren. Und im Reformationsgedenkjahr 2017 stand die Dop­pelfrage im Raum: „Was trennt? – Was eint?“ Als Zeichen der Einheit wurden dann im ökumenischen Gottesdienst am Ostermontag sowohl katho­ lische als auch evangelische Taufen gefeiert.

Die Passionszeit als Chance erfahren, sich den schwierigen seiten des eigenen Lebens zu stellen VON HANS GENTHE

SODENER PASSION

PFARRER HANS GENTHE arbeitet als social-Media- Pfarrer im Evange-lischen Medienhaus in Frankfurt am Main.

Weitere informationen: www.sodener- passion.de

WEIL DAS KREUZ ÖFFENTLICH

GETRAGEN UND DISKUTIERT WIRD, MUSS

NIEMAND MIT DEM KREUZ

SEINES EIGENEN LEBENS ALLEIN-

BLEIBEN

Zur FREUDEDER KINDER wird das Kreuz von einem Esel begleitet

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I n zwei Jahren ist es wieder so weit: Den ganzen Sommer hindurch wird das kleine bayerische Dorf Ober­

ammergau die Geschichte „der Passion des Jesus von Nazareth“ nachspielen. Mehr als 2000 einheimische Frauen und Männer werden vom 16. Mai bis zum 4. Oktober 2020 mehr als einhundert Mal den halben Tag auf der Bühne stehen und vor mehr als 450 000 Besuchern aus aller Welt spielen, singen und musizieren.

Die Oberammergau­er Passionsspiele gehen zurück auf ein Gelübde aus dem Jahr 1633. Wäh­rend des Dreißigjährigen Krieges wütete die Pest in der Region. Mehr als 80 Tote hatte das kleine Dorf zu beklagen. Da ge­lobte man, von nun an in jedem zehnten Jahr die Geschichte „vom Leiden, Sterben und Auferste­hen unseres Herrn Jesus Christus“ aufzuführen. 1634 fand die erste Auf­führung statt. 2020 jährt sie sich zum 42. Mal.

Spielleiter ist 2020 zum vierten Mal der Intendant des Münchner Volkstheaters, Christian Stückl. Er hat das traditionelle Spiel gemeinsam mit dem zweiten Spielleiter Otto Huber in den letz­ten drei Jahrzehnten grundlegend erneuert und ihm zu neuer Ausstrahlung verholfen.

Der Ruf des alten „Oberammergau“ war seit den 60er Jahren schlecht. Die Spiele galten als Inbegriff einer religiös begründeten christlichen Judenfeind­schaft, die „die Juden“ für den Tod Jesu verantwortlich machte. Insbesondere für viele Juden war es unfassbar, dass Ober­ammergau auch vier Jahrzehnte nach

der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz immer noch an der alten Text­vorlage Joseph Alois Daisenbergers aus dem 19. Jahrhundert festhielt. Selbst der Vorsitzende der Deutschen Bischofskon­ferenz, Kardinal Julius Döpfner, hatte das Dorf anfangs nicht zu einer durchgreifen­den Revision des Spiels bewegen können. Dabei lag auf der Hand, dass Daisenber­

gers Text durch und durch antisemitisch war. Seine „Juden“ waren durchtrieben, hinterhältig, geldgierig und zu allem be­reit, was Jesus ans Kreuz brachte.

Das änderte sich mit Stückls und Hu­bers Aufführung im Jahr 2000. Seither sind in Oberammergau Dinge möglich ge­worden, die noch im Jahr 1980 unvorstell­bar schienen. Plötzlich war von der Ver­antwortung des Pilatus für den Tod Jesu die Rede. Von einer Neuentdeckung der jüdischen Grundlagen des christlichen Glaubens. Von einer festen Verwurzelung

Jesu in der jüdischen Tradition. „Es muss ganz klar werden, dass Jesus vom Denken und Fühlen her Jude war“, sagt Christian Stückl. Wir spielen „keine Christen­ gegen­Juden­Geschichte, sondern eine innerjüdische Geschichte“. Damit wurde der Blick frei für den eigentlichen Gehalt des Passionsspiels, der von der Wucht des Antijudaismus überdeckt war.

Der Mut der Oberam­mergauer, mit dem alt­hergebrachten Passions­ spiel neue Wege zu ge­hen, verdient größten Respekt. Ein jüdischer Beobachter sagte vor ei­nigen Jahrzehnten ein­mal, Oberammergau sei für ihn das Spiegel­bild der Christenheit in Deutschland. So habe ich es bei meiner Beschäfti­gung mit den Spielen oft auch empfunden. Es ist verblüffend zu sehen, wie sehr sich die Trends des jeweiligen Jahrzehnts in den Texten wiederfinden. 2010 hat man unter an­derem die sogenannten lebenden Bilder, in denen Szenen aus der Hebrä­ischen Bibel dargestellt

werden, fast alle ersetzt, weil kaum jemand mehr die alten Geschichten kennt. Diese Herausforderung dürfte in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Wie erzählt man die Geschichte der letzten Tage Jesu heute so, dass sie in ihrer geistlichen Dimension verstanden wird?

Vom Mut, mit dem althergebrachten Passionsspiel neue Wege zu gehen VON WOLFGANG REINBOLD

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PROF. DR. WOLFGANG REINBOLD ist Beauftragter für Kirche und islam der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und außerplanmäßiger Professor für neues Testament an der Georg-august-Universität in Göttingen.

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MATTHÄUS-PASSION: originalpartitur (Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ und Evangelisten-rezitativ aus dem zweiten Teil). staats-bibliothek zu Berlin

Was vielen Menschen ein Leben lang in der seele klingt

VON REINHARD MAWICK

MYTHOS BACHPASSION

Noch heute erklingen sie oft am Karfreitag, aber nicht nur dann, sondern auch in den Wochen davor und völlig losgelöst vom

Kirchenjahr weltweit in Kirchen, Konzert sälen, und auf Festivals – immer und immer wieder, seit jenem 11. März 1829, seit der 20­jährige Felix Mendelssohn mit der Berliner Singakademie die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach auf­führte, die völlig in Vergessenheit geraten war. 1833 folgte die Wiederauffüh­rung der Johannespassion, eben­falls durch die Singakademie. Seitdem sind diese klingenden Ikonen christlicher Musik in der Welt und ziehen immer wieder Menschen in ihren Bann.

Beide Werke sind sehr unter­schiedlich: Die Johannespassion ist kompakter als ihre große Schwester, ihre Aufführung er­streckt sich „nur“ über zwei Stunden und besticht durch ihre Dramatik. Die Matthäuspassi­on ist von der Anlage her groß­flächiger und mit zwei vierstimmigen Chören und zwei vollständigen Orchestern üppig besetzt, und sie dauert drei Stunden. Beide Werke beginnen mit großangelegten Eingangschören und führen dann die Gattung der christlichen Passions­oratorien auf einen Gipfel – jedenfalls im Urteil der staunenden Nachwelt seit dem 19. Jahrhun­dert. Mit Rezitativen, Chören der Volksmenge und den betrachtenden Arien und Chorälen ent­falten sich musikalisch­theologische Kunstwerke, die vielen Menschen ein Leben lang in der Seele

klingen und die ihrerseits wiederum Künstler zur Befassung und Nachahmung anregen. So den weltberühmten Ballettimpresario John Neu meier, der in den 80er Jahren eine spektakuläre Ver­tanzung der Matthäuspassion schuf, die bis heute auf der ganzen Welt gezeigt wird.

Selbst Philosophen, die dem Christentum skeptisch gegenüberstehen, können sich der Kraft der Bachpassionen nicht entziehen. Der Philosoph

Hans Blumenberg (1920–1996) schrieb unter dem Titel „Mat­thäuspassion“ ein großes philo­sophisches Traktat. Darin entfal­tet er den Gedanken, dass in der großen Passion Bachs eigentlich die einzige Möglichkeit für nach­christliche Hörer liege, den exis­tenziellen Wert des christlichen Passionsgeschehens zu ermessen. Und der rumänische Aphoristi­ker Emile Cioran (1911–1995), sonst eher ein pessimistischer Skeptiker, versteigt sich gar zu der Aussage: „Wenn wir Bach hören,

sehen wir Gott aufkeimen, sein Werk ist gottheits­gebärend.“

Johann Sebastian Bach selbst hätte sich solche Lobeshymnen nie träumen lassen. Von seinen Leipziger Aufführungen der Passionen ist jeden­falls keine einzige zeitgenössische Reaktion über­liefert. Kaum zu glauben, aber wahr.

SELBST PHILOSOPHEN,

DIE DEM CHRISTENTUM

SKEPTISCH GEGENÜBER

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REINHARD MAWICK ist Chefredakteur und Geschäftsführer von „zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft“.

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Karfreitag Karfreitag refLeXiON Karfreitag refLeXiON

Das Kreuz Jesu ist der Erkenntnisgrund aller wahren Rede von Gott. „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber“ (2 Kor 5,19).

So ist alle Rede über das Kreuz Rede über Gott. Es ist bekannt, wie schwer sich die ersten Chris­

ten mit dem Kreuz taten. Den Juden war es ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit, schreibt Paulus (1 Kor 1,23). In den Katakomben von Rom finden sich Wandzeichnungen, auf denen der Gekreuzigte

mit einem Eselskopf dargestellt ist. Soll heißen: Nur Esel glauben an einen gekreuzigten Gott.

Jesu Tod am Kreuz ist das Ende aller Gottes­bilder. Es erzählt von dem wahren Gott, der mit den Mitteln der Vernunft nicht zu fassen ist. Es redet von einem Gott, der berührbar ist, der sich in seiner ganzen souveränen Freiheit ins Menschsein hat verwickeln lassen, bis in den Tod. Aus Liebe ist Gott Mensch geworden, am Kreuz durch die Gewalt von Menschen gestorben

Viel ist gestritten worden über das richtige Verständnis VON HORST GORSKI

DEUTUNG DES TODES JESU

DR. HORST GORSKI ist Vizepräsident des Kirchenamtes der eKD in Hannover und Leiter des amtes der Vereinigten evange-lisch-Lutherischen Kirche Deutschlands.

und danach auferstanden. Gott hat sich aus Liebe hingegeben, gerade darin ist er Gott.

Das Kreuz Jesu ist damit auch der Erkennt­nisgrund aller wahren Rede vom Menschen. Denn das Leben der Menschen ist im Kern nicht Gier, Kampf, Aggression und Gewalt, sondern liebende Hingabe an Gott und die Menschen. Das Kreuz Jesu legitimiert nicht etwa Gewalt, es überwindet die Gewalt. Jedes Kreuz, das wir aufhängen oder zeigen, ist ein Mahnmal gegen Gewalt und für die Liebe.

Jesu Tod am Kreuz versteht sich nicht von selbst. Es bezeichnet so sehr den Einbruch des „ganz anderen“ in unsere Welt, dass

es unser Verstehen übersteigt. Wer glaubt, das Kreuz verstanden zu haben, hat es nicht verstan­den. Es bleibt ein Bedeu­tungsüberschuss, der sich nicht einholen lässt. Das Kreuz als Erkenntnis­grund aller wahren Rede von Gott weist auf einen Gott als „Geheimnis der Welt“, wie Eberhard Jün­gel formulierte.

Viel ist gestritten wor­den über das richtige Ver­ständnis des Kreuzestodes Jesu. Die ersten Christen, die Juden waren, deuteten den Tod in Analogie zum Ritual am großen Versöhnungsfest, dem „Jom Kippur“. Es ist im 3. Buch Mose, Kapitel 16, be­schrieben. Da wird die Sünde des Volkes symbo­lisch einem Bock auf die Schultern geladen, der anschließend in die Wüste getrieben wird, wo er stirbt und die Sünden des Volkes mit in den Tod nimmt. Dieser Vorgang wird als „Sühne“ bezeich­net, man spricht deshalb vom Sühnetod Christi. Daneben stehen in der Heiligen Schrift andere Deutungen, wie die von Jesus als Passahlamm oder das Bild des Loskaufes. Schon die Vielzahl der Deutungen im Neuen Testament zeigt, wie die Christen von Anfang an um das richtige Ver­ständnis des Todes Jesu gerungen haben. Prägend ist später besonders die Lehre des Anselm von Canterbury geworden, der sich den Tod Jesu in juristischen Kategorien seiner Zeit erklärte und ihn als Genugtuung zur Wiederherstellung der Ehre Gottes verstand. Dies nennt man die „Satis­faktionstheorie“. Allerdings ist Anselm oft miss­verstanden worden, als hätte ein zorniger Gott zu seiner Besänftigung den Tod seines Sohnes ver­langt. Entscheidend ist auch für Anselm, dass am Kreuz Gott selbst zur Erlösung für die Menschen in den Tod gegangen ist.

Strittig ist, wie viel am Gebrauch bestimmter For­mulierungen hängt. Ob man zum Beispiel unbe­dingt an der Formulierung festhalten muss, dass Jesus uns „durch sein Blut erlöst hat“. Sind Über­setzungen in andere Formulierungen möglich oder geht damit die inhaltliche Substanz verloren?

Die Kritiker neuer Ansätze zum Verständ­nis des Todes Jesu haben insofern recht, als oft nur eine blasse moralische Deutung übrigbleibt. Wenn einfach nur ein besonders guter Mensch hingerichtet wurde und wir dies als moralische Botschaft für heute begreifen sollen – dann ist das zwar an und für sich genommen nicht falsch, bleibt aber hinter der vollen Botschaft weit zurück.

So steht jede Übersetzung der Deutung des Todes Jesu in moderne Sprache, moderne Bilder

und Gedanken vor der Aufgabe, den vollen Ge­halt der Botschaft aus­zuschöpfen – und wenn dies nicht möglich ist, weil die Botschaft auf einem Geheimnis gründet, dann aber diesem Geheimnis eben den Raum zu lassen, den Gott in der Welt be­anspruchte, als er in Jesus Christus Mensch wurde. Jede angemessene Rede vom Tode Jesu muss also sozusagen „nach oben of­

fen“ bleiben, muss dem Geheimnis Raum geben. Das Geheimnis Gottes lässt sich nicht in eine Schachtel frommer Sprache packen und in die Westentasche stecken. Das vergessen gelegentlich diejenigen, die glauben, mit der Wiederholung der alten Formeln sei schon alles gesagt.

D er Tod Jesu am Kreuz erschließt sich nur von der Auferstehung her. Als Tod allein betrachtet, könnte alles aus sein. Gott sel­

ber wäre tot, für immer und ewig, wenn es kein Ostern gäbe. Der Gott, der sich aus Liebe zu den Menschen der Gewalt von Menschen ausgeliefert hat, eines gewaltsamen Todes gestorben ist, ist stärker als die Gewalt und holt das Nichts wieder ins Sein. Fortan braucht kein Mensch Angst zu haben, ins Nichts zu stürzen. Gott hat das Nichts zurück ins Sein geholt. Deshalb wird auch der Mensch ins Sein zurückgeholt und leben.

In dieser geheimnisvollen Hingabe an die Menschen erweist Gott nicht nur seine Liebe, er erweist sich selbst als Liebe. Im Tode Jesu am Kreuz tut die Liebe ihre größte Tat: Sie gibt sich hin für andere. Zu Ostern wird diese Liebe beglaubigt: Sie lebt. Und wir mit ihr.

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Karfreitag refLeXiON Karfreitag refLeXiON

Kann man den Tod eines Menschen fei­ern? Nicht, ohne der Trauer Raum zu geben, dem Schmerz und der Klage. Sonst wird es schnell zynisch. Selbst

wenn ein Mensch einen gnädigen Tod sterben sollte, ist er doch ein Verlust, wenigstens für die­jenigen, die den Verstorbenen geliebt haben und über den Tod hinaus immer noch lieben.

Darf man den Tod eines Menschen verges­sen? Auf vielen Traueranzeigen steht, der Ver­storbene werde immer im Gedächtnis bleiben. Aber diejenigen, die guten Glaubens dieses Versprechen abgeben, werden es beim besten Willen nicht halten können, weil sie selbst ster­ben werden. In der Öffentlichkeit wird der Tod schnell verdrängt. Aber er wird jeden Menschen ereilen. Es ist eine Illusion, die Augen davor zu ver schließen, dass jedes irdische Leben definitiv endet. Es ist menschlich, den Tod zur Sprache zu bringen: in Worten, in Gesten, in Gesängen und Bildern, so dass er als Tod eines Menschen zu Herzen geht, auch wenn es ein unmenschlicher Tod sein sollte.

Der Karfreitag ist der Tag im Jahr, der dafür steht, dass man den Tod eines Menschen nicht ver­gessen darf, ohne sich überfordern zu müssen, und dass man ihn feiern kann, ohne ihn schönzureden. Der Mensch, dessen Tod am Karfreitag gedacht wird, heißt Jesus. Sein Tod war von einer verstö­renden Brutalität. Er ist keinen sanften, keinen edlen, keinen gnädigen Tod gestorben, sondern einen schändlichen und furchtbaren: den Tod am Kreuz, den Tod eines Sünders, eines verfluchten Gotteslästerers, wie er mit den Augen seiner Zeit gesehen wurde.

Im Mittelpunkt des Karfreitages steht die Erin­nerung an diesen Kreuzestod Jesu. In der Kirche wird die Johannespassion gelesen, die mit quä­lender Genauigkeit einen Justizmord schildert, eine Folterung und bis zum Lanzenstich, der Blut und Wasser aus der Seite Jesu hervortreten lässt, einen Tod, der scheinbar gottgefällig, in Wahr­heit aber unmenschlich ist.

Der Evangelist Johannes hat allerdings in sei­ner Leidensgeschichte vom Tod Jesu so erzählt, dass die Unantastbarkeit seiner Würde als Mensch zur Sprache kommt, die ihm durch die Verurtei­lung und Hinrichtung genommen werden soll. „Seht, der Mensch“, sagt Pilatus, als er den Mann mit der Dornenkrone der Menge zur Schau stellt, um ihn öffentlich zu demütigen. Doch weil dieses Ecce homo Teil des Evangeliums ist, wird für die­jenigen, die das Buch lesen, gerade der gegenteilige Effekt erzeugt: Der leidende und sterbende, der ge­demütigte und gefolterte Jesus tritt für die Würde der Menschen ein, gerade der leidenden und ster­benden, der gedemütigten und gefolterten. Die Johannespassion ist ein Plädoyer gegen die Todes­strafe; sie ist ein Plädoyer für eine Kultur des Mit­leids, das nicht tatenlos zusieht, wie Menschen in den Dreck gezogen oder schlicht und einfach ver­gessen werden, sondern das mit den Opfern von Gewalt solidarisch ist und mit denen empathisch, die keine Stimme haben.

Die Johannespassion ist aber gerade deshalb auf diese Weise menschlich, weil sie die Augen für Gott öffnet. Jesus tritt gerade für den Gott ein, in dessen Namen er verworfen wird. Jesus ist zeit seines Lebens – Johannes hat diesen Zug wie kein zweiter Evangelist betont – ein Mensch,

Die menschliche, politische und kulturelle Bedeutung des Karfreitages VON THOMAS SÖDING

WIE JESUS SELBST DEN TOD MIT GOTT GESTORBEN IST

der auf Gott schaut, auf ihn hört, von ihm lernt und zu ihm betet. Er ist ein Mensch, der sich von Gott auf eine Weise geliebt weiß, dass er diese Liebe der ganzen Welt weitergeben soll. Er ist ein Mensch, der Gott aus ganzem Herzen liebt und deshalb die Menschen in sein Herz geschlossen hat, auch wenn sie ihn verkennen, verleumden und verurteilen.

Die Johannespassion lässt erkennen, dass Jesus gerade deshalb die Würde der Menschen ver­körpert, weil er Gott ein Wort, einen Namen, ein Gesicht, ein Leben gibt. Der Jesus, dessen Tod am Karfreitag nicht ver­gessen, sondern gefeiert wird, steht dafür ein, dass Gott und Mensch, Gott und Schuld, Gott und Leid, Gott und Tod nicht möglichst weit voneinander entfernt werden, damit der Name Gottes geheiligt werde. Im Gegenteil – dieser Jesus steht dafür ein, dass zwischen Gott und Mensch eine unendliche Nähe ent­steht, so dass Sünden vergeben und Tränen getrocknet werden können. Ja sogar der Tod hat nicht das letzte Wort. Er wird besiegt als letzter Feind Gottes und der Menschen, wie es bei Paulus heißt.

Der Karfreitag ist ein staatlicher Feiertag, den es ohne die Kirche nicht gäbe. In der Kirche ist er ein prägender Tag des Kirchenjahres, früher vor allem in den evangelischen Gemeinden gefeiert, heute auch fest in der katholischen Kirche ver­ankert. Karfreitag gehört untrennbar mit Ostern zusammen: Wäre Jesus nicht von den Toten auf­erstanden, wäre sein Tod eine leere Geste geblie­

ben. Umgekehrt wird der Karfreitag durch Ostern nicht vergessen, sondern vergegenwärtigt. Der Evangelist Johannes hat in seinem Evangelium gezeigt, wie die Erniedrigung schon die Erhöhung des Gekreuzigten sein kann: weil das Ende, Gott sei Dank, die Vollendung des irdischen Lebens­weges Jesu ist, der ihn durch die Auferstehung zu Gott führen wird – für die Menschen, die ihm nachfolgen sollen. Im johanneischen Oster­evangelium trägt der Auferstandene immer noch die Wundmale, an denen der ungläubige Thomas

ihn erkennen wird, um zu dem Be­kenntnis geführt zu werden: „Mein Herr und mein Gott.“

Für die Gesellschaft ist dieser kirchliche Feiertag von großer Bedeutung. Er erinnert sie daran, dass die Menschenwürde nicht auf einem Gesellschaftsvertrag beruht, sondern dass sie jedem Recht und jeder Politik vorgegeben ist. Er zeigt ihr, dass Gottes Heiligkeit nicht die Gewalt von Gotteskrie­gern befeuert, sondern die Liebe

anfacht, die Gott mit den Menschen verbindet, so dass auch die Menschen untereinander Frieden finden können.

Je klarer am Karfreitag in den Lesungen, Pre­digten, Liedern und Gebeten der Tod zur Sprache kommt, wie Jesus selbst ihn mit Gott gestorben ist, desto deutlicher wird auch die menschliche, die politische und kulturelle Bedeutung, die die­sem Feiertag zu eigen ist. Er vergisst den Tod des Menschen Jesus nicht, sondern feiert ihn, um zu bezeugen, dass die Liebe stärker ist als der Tod.

PROF. DR. THOMAS SÖDING ist Professor für Neues testament an der Katholisch- theologischen fakultät der ruhr-Universität in Bochum.

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Karfreitag Karfreitag refLeXiON

Jesus ist im Garten Gethsemane ganz allein, während die Jünger schlafen. Die nächt­liche Einsamkeit in der Erwartung eines

unsicheren Morgens, das unmittelbare Geworfen­sein auf sich selbst vor dem Hintergrund körper­licher Bedrohung und existenziellen Leidens – das ist eine menschliche Erfahrung, die im Kranken­haus gar nicht selten ist. Die langen Nächte mit den sorgenvollen Gedanken an den nächsten Morgen: Welche Diagnosen, welche Prog­nosen mag er bringen? Bei einem medizinischen Eingriff das Über­queren der „Schleuse“, hinter der die Angehörigen zurückbleiben müssen, die letzten Minuten vor einer Opera­tion, wenn man im Flügelhemd auf den Operationstisch steigen muss – da ist man allein, existenziell allein.

In der Szene vom Garten Gethsemane wird ge­schildert, dass Jesus in der Nacht mehrfach seine Jünger gebeten hat: „Wachet mit mir“ (Mt 26,38). Doch die Jünger sind immer wieder eingeschla­fen. In dieser biblischen Geschichte werden zwei Aspekte deutlich: Jesus sucht Ruhe und Kraft und findet sie im Gebet. In der Stille des Allein­seins kann eine große Kraft liegen. Ein Weg zur Selbsterkenntnis, vielleicht auch zu einer tiefen Zweisamkeit mit Gott. Im Alleinsein kann jedoch auch eine schmerzhafte Sehnsucht nach anderen

Menschen keimen. Wird diesem Bedürfnis nicht entsprochen, wird das Alleinsein zur Einsamkeit. Wir Menschen sind Beziehungswesen. In seiner Bitte „Bleibt hier und wachet mit mir“ ist Jesus ganz Mensch.

Cicely Saunders, die Begründerin der mo­dernen Hospizbewegung, sah in den schlichten Worten Jesu im Garten Gethsemane auch die existenziellen Bedürfnisse schwerstkranker und

sterbender Menschen und ihrer An­gehörigen zusammengefasst: Wir können das Leiden nicht abschaf­fen, wohl aber ihm begegnen. Das „Kar“ (althochdeutsch: Kummer) korrespondiert mit der „Palliative Care“ (englisch: kümmern). Dabei bedeutet das Wachen sowohl eine gleichbleibende Aufmerksamkeit

und Wachsamkeit für die Bedürfnisse als auch eine Achtung vor der individuellen Persönlich­keit unheilbar kranker und sterbender Menschen. Wachen heißt manchmal jedoch auch, auszu­halten, was wir nicht verstehen. So wie man den Karsamstag als quälend langes Pausenzeichen aus­halten muss, bevor dann endlich der Ostersonntag kommt. So dürfen wir den Karfreitag im Lichte des Ostersonntages verstehen. Jedoch bewahrt uns der Karfreitag davor, Ostern auf ein „zuckersüßes Häschenfest“ zu reduzieren.

ich lass dich beten, lass du mich tan­zen!“ Zu solchen Leitsätzen formiert sich gelegentlich öffentlichkeitswirk­sam Widerstand gegen den staat lichen Schutz der Sonn­ und Feiertage, ins­

besondere an stillen Feiertagen wie Kar­freitag. Der staatliche Feiertagsschutz bleibt davon in seinem Kern unberührt. Er hat eine lange Tradition. Die geltende Verfassungsgrundlage geht noch auf die Weimarer Reichsverfassung zurück. Sie ist so fast 100 Jahre alt und zugleich hochaktuell: „Der Sonntag und die staat­lich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Gesetz­gebung, Verwaltung und Rechtsprechung haben diese Regelung über die Jahrzehnte unter der Geltung des Grundgesetzes immer wieder aktualisiert und in ihrem wesentlichen Gehalt durchgetragen. Denn mit dem Sonn­ und Feiertagsschutz zeigt auch der freiheitliche demokratische Rechtsstaat, was ihn kulturell und sozial prägt und trägt.

Der staatliche Sonn­ und Feiertags­schutz knüpft wesentlich an die christ­liche Taktung im Wochen­ und Jahres­ablauf an. Er trägt damit sowohl der kulturellen Tradition als auch den religi­ösen Bedürfnissen der vielen Christinnen und Christen in Deutschland Rechnung. So schützt er die großen Freudenfeste wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Aber auch ernste Feste werden gerade in ihrem Charakter als „stille Feiertage“ be­sonders geschützt. Mit leicht unterschied­licher landesgesetzlicher Ausgestaltung gilt das bundesweit, insbesondere für den Karfreitag. An ihm sind öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen nur erlaubt, soweit sie den ernsten Charakter des Ta­ges wahren – volkstümlich verkürzend als „Tanzverbot“ bezeichnet.

Einen solchen religionsbezogenen Ruhe schutz mögen manche im freiheit­lichen säkularen Staat nicht akzeptieren.

Sie wollen auch, oft sogar gerade am Kar­freitag, nicht von Tanz und öffentlichen Spaßveranstaltungen lassen. Die Recht­sprechung bis hin zum Bundesverfas­sungsgericht hat immer wieder den Schutz des Karfreitages als in seinem ernsten Charakter zu wahrenden „stillen“ Feier­tag bestätigt. Widerstreitenden Rechten und Belangen ist dabei mit Befreiungs­

möglichkeiten im Ausnahmefall Rech­nung zu tragen. Das Bundesverfassungs­gericht hält konsequent an Kriterien fest, mit denen auch bei ausnahmsweise zu­lässigen Veranstaltungen der ernste Cha­rakter des Tages gewahrt werden kann: geschlossener Raum, überschaubare Teil­nehmerzahl, geringe Auswirkungen auf den öffentlichen Ruhe charakter sowie die Möglichkeit, mit weiteren Auflagen dem Ruhe­ und Stilleschutz gerecht zu werden.

Es lohnt sich, gerade auch die „stillen Feiertage“ wie den Karfreitag in ihrem

nachdenklichen Charakter anzunehmen. Denn es tut der Gesellschaft wie dem Einzelnen gut, wenn das geschäftige Treiben des Alltags an einem solchen besonders geprägten Feiertag eine auch äußerlich besonders deutlich zu spüren­de Unterbrechung erfährt. Nicht alles Leben ist Trubel und Unterhaltung. Für den christlichen Glauben ist es von

zentraler Bedeutung, Jesu Leiden und Sterben zu bedenken. Dieses auch in äußerlich gewährleisteter Stille tun zu können, hat die Feiertagskultur in Deutschland geprägt. Niemand wird ge­zwungen, sich dem anzuschließen. Das aber zu respektieren, ist auch für ande­re zumutbar. Dieses auch rechtlich zu gewährleisten, ist Teil des kulturellen Erbes, das es zu bewahren gilt.

WIR KÖNNEN DAS LEIDEN

NICHT ABSCHAFFEN, WOHL ABER

IHM BEGEGNEN

an Karfreitag wird greifbar, dass gott wirklich Mensch geworden ist VON GERHILD BECKER

Nicht alles Leben ist trubel und Unterhaltung VON HANS ULRICH ANKE

WACHET MIT MIR

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DR. HANS ULRICH ANKE ist Präsident des Kirchenamtes der eKD in Hannover.

PROF. DR. MED. GERHILD BECKER ist Lehrstuhlinhaberin für Palliativmedizin und Ärztliche Direktorin der Klinik für Palliativ - medizin am Universitäts-klinikum in freiburg. Sie ist internistin, Diplomtheologin, Diplom-Caritaswissen-schaftlerin und Master of Science Palliative Care des King’s College (University of London).

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Karfreitag Karfreitag refLeXiON Karfreitag refLeXiON

Der Altar vorn im Chor ist allen Schmucks entkleidet: kein Tuch, keine Kerzen, keine Blumen. Das

Kreuz mit dem Korpus ist mit einem schwarzen Tuch verhangen. Totenstille herrscht zu Beginn des Karfreitagsgottes­dienstes in der Kirche. Auch die Menschen sind schwarz gekleidet. Die Kinder wagen sich nicht zu räuspern.

In der katholischen Kirche nebenan ein ganz ähnliches Bild. Hier ist zusätzlich auch der Tabernakel wie ausgeräubert: Die Türen stehen offen, die Gefäße mit den geweihten Hostien sind weg. Der ganze Chorraum macht einen verwüsteten Eindruck.

Die Karfreitagsgottesdienste zählen für mich zu den eindrücklichsten Gottes­diensten überhaupt. Schon als Kind ist er mir als Tag des Todes Jesu, des Abschieds­schmerzes, der Gottverlassenheit bewusst und wichtig gewesen. Da schwangen Ge­fühle der Ungerechtigkeit mit hinein, des Ärgers über die feigen Anhänger Jesu, die Brutalität der Kreuzigung. Und deutlich war mir: Da hängst du massiv mit drin. Diesem Mann, dem Sohn Gottes, würde nicht so übel mitgespielt, wenn er es nicht für mich, für uns alle auf sich nähme.

Ich spürte im und nach dem Kar­freitagsgottesdienst, was Gottverlassenheit bedeutet. Ich habe diesen Gottesdienst nie gefeiert ohne die Empfindung, dass dieser Sohn Gottes nun wirklich fehlt. Wir waren nicht nur für ein paar Momente getrennt, nein, es verlief eine tödliche Grenze zwi­schen uns. Der Tod Jesu nahm meine kindliche Seele in Beschlag. Er ist „für uns gestorben“, er hat sich bereitwillig für uns quälen lassen.

Den Karfreitag persönlich still zu be­gehen, ist für mich immer eine selbstver­ständliche Pflicht gewesen und ist es wei­ter. Das hat nichts mit Larmoyanz oder einer überzogenen Opfertheologie zu tun. Im Laufe vieler Lebensjahre hat sich der Blick geweitet, nicht nur bei mir, sondern bei vielen anderen auch. Karfreitag ist nicht deshalb ein außerordentlicher Tag, weil an ihm Jesus schmerzhaft zu Tode

gequält wurde. Vielmehr ist er der kon­sequente Schlusspunkt eines menschen­freundlichen, aufopferungsvollen Lebens. Alles darin war und ist uns zu Nutzen, dient unserer Erlösung: Von Jesu Pro­testen gegen die Gesetzesgläubigkeit über seine Friedensbotschaften, seine Men­schenfreundlichkeit, wie sie in Heilungen und Gesprächen zum Ausdruck kommt, bis zu seinen Appellen für Gerechtigkeit. Deshalb mischt sich in die Trauer über die

Kreuzigung auch Bewunderung und Dank hinein dafür, dass Jesus kompromisslos zu uns Menschen gehalten hat. Er hätte, wie andere Endzeitprediger seiner Zeit auch, seine Haut retten und einfach von der Bildfläche verschwinden können. Aber er blieb sich und seinem Auftrag, letztlich uns treu. Daran denke ich – mit Ehrfurcht.

Jetzt das große Aber. Unabhängig von meinen Vorstellungen über den Karfreitag halte ich es allerdings für übertrieben, von Gesetzes wegen an Karfreitag alle „un­ernsten“ Veranstaltungen zu verbieten. Ich hätte keine Angst davor, wenn an Kar­

freitag das Gebot zur Stille zum Beispiel um 21 Uhr endete. Dann ist nämlich auch dieser Tag im religiösen Sinne zu Ende. Der Tod Jesu geschah zur neunten Stunde des Tages, also am Nachmittag. Wichtig ist mir nur, dass Gottesdienste selbst nicht gestört werden. Übrigens: Auch Juden und Muslime müssen es hinnehmen, dass an ihren großen Feiertagen Christen weiter ihren Alltag leben.

Der Karfreitag gibt die Möglichkeit, sich nicht nur des Todes, sondern eines ganzen ereignisreichen Lebens bewusst zu werden. In diesem Tag und seiner Kreuzi­gung verdichtet sich das ganze Leben und Wirken Jesu. Er dient nicht der Verehrung des Todes, sondern dem Respekt für ein Lebenswerk. Deshalb ist der Karfreitag immer beides: die Erinnerung an ein be­sonderes Leben, das (gerade deshalb) un­aufhaltsam in den Tod führte. Kar freitag ist also Todeserinnerung ebenso wie Lebens bejahung, tiefe Trauer ebenso wie fröhliche Dankbarkeit.

Natürlich darf man einer säkulari­sierten Gesellschaft an diesem Tag eine gewisse Stille abverlangen. Dieselbe Ge­sellschaft nimmt ja auch wie selbstver­ständlich die Segnungen der arbeitsfreien Sonntage und Feiertage in Anspruch. Ge­messen daran ist die gesetzlich gebotene Stille an Karfreitag eine sehr, sehr geringe Einschränkung eines Feiertages, den die ganze Gesellschaft, Christen wie Nicht­christen, selbstverständlich genießt. Und sie profitiert auch von zahlreichen christ­lichen Freudenfesten: zum Beispiel Weih­nachten und Ostermontag.

Wenn wir Christen nach außen ver­mitteln können, dass der Tod (und die Trauer darüber) nicht alle anderen Glau­bensinhalte dominieren, sondern unser Gott ein Gott des Lebens (und des Fei­erns) ist, dann ist das der Karfreitag, der mir wichtig ist.

Ich weiß nicht viel über den Mann, von dem ich meine Lunge habe. Ich weiß noch nicht einmal sicher, ob es ein Mann ist, aber ich gehe da­

von aus, weil das Organ recht groß ist. In meinen Brustkorb passte es perfekt. Er muss in der Nähe von Berlin tödlich verunglückt sein, am Abend des 10. März 2015. Ich lebe auf der Nordseeinsel Amrum und schlief, als um 0:15 Uhr das Handy klingelte: Machen Sie sich bereit, wir haben eine Spenderlunge für Sie. Eine Stunde später ging es mit dem Seerettungskreuzer ans Festland, der Rettungswagen raste dann quer durch Schleswig­Holstein in die Hamburger Klinik. Um sieben Uhr begann die Operation.

Ich habe Mukoviszidose, eine erb­liche Krankheit, die das Lungensekret zähflüssig macht. Abhusten und Einatmen wird schwer, der Körper leidet unter Sauerstoffmangel, viele Patienten sterben früh. Ich war sechs, als die Diagnose gestellt wurde. Mit Anfang zwanzig hatte ich eine erste lebensbedrohliche Krise, mit vierzig die zweite, von der ich mich nicht mehr richtig er­holte. In dem Jahr vor der Transplantation bekam ich dauerhaft Sauerstoff. Der Weg von der Couch zum Kühlschrank glich einem Halbmarathon. Nach draußen ging ich nur mit Rollator. Ich hatte trotzdem Glück: Die Luft auf Amrum ist heilsam, ich habe eine tolle Frau und wunderbare, fast er­wachsene Zwillingsmädchen.

Als ich auf die Transplantationsliste kam, hat­te ich keine Angst, keine Bedenken. Natürlich: Im Grunde wartete ich darauf, dass ein anderer Mensch stirbt. Aber ich sah das pragmatisch und tue das auch jetzt noch. Ich bin diesem Menschen

sehr, sehr dankbar, dass er einen Organspendeaus­weis hatte. Und seine Lunge in einem guten Zustand erhalten hat. Ich kann heute so leben, wie ich lebe, weil ein Mensch gestorben ist, das stimmt. Aber ich plage mich nicht mit Schuldgefühlen. Er ist nicht für mich oder meinetwegen gestorben. Das sind zwei voneinander unabhängige Geschichten.

Mir fällt in dem Zusammenhang immer das Wort Demut ein. Ich habe mich demütig gefühlt nach der Operation. Ich habe ein großes Ge­schenk bekommen, und ich habe es angenommen. So wie ich vorher die Krankheit angenommen habe. Das Leben hat auch nicht neu begonnen mit der neuen Lunge, aber es ist so viel leichter geworden. Nicht nur, dass ich jetzt einfach draufloslaufen

kann, ich rede plötzlich so viel, sagte meine Frau einmal. Ja, weil das wieder geht!

Es war übrigens Karfreitag, als ich das erste Mal nach der Operation vor die Tür ging. Ich habe gebrüllt vor Vergnügen, bin ein bisschen hin und her gelaufen, habe die frische Luft einge­atmet – es war herrlich. Ein paar Wochen später bin ich erblindet. Eine Infektion des Sehnervs. Ich fiel in ein tiefes Loch, natürlich. Ich habe mich wieder herausgekämpft. Auch, weil ich fand, es wäre dem Spender meiner Lunge gegenüber un­gerecht gewesen, jetzt aufzugeben. Ich bin heute wieder sehr glücklich. Insofern hat er mir noch ein zweites Geschenk gemacht.

MIR FÄLLT IN DEM

ZUSAMMEN-HANG

IMMER DAS WORT

DEMUT EIN

Warum mir der Karfreitag als stiller feiertag wichtig ist, wir aber dennoch nicht in todesstarre verfallen sollten VON EDUARD KOPP

Das thema Karfreitag aus einer ganz anderen Perspektive VON MARCUS HAUSMANN

FRÖHLICHE DANKBARKEIT

ICH LEBE, WEIL EIN MENSCH GESTORBEN IST

EDUARD KOPP ist Diplom-theologe und leitender redakteur für theologie beim evangelischen Magazin chrismon.

MARCUS HAUSMANN, Jahrgang 1966, engagiert sich seit 30 Jahren ehrenamtlich in der Mukoviszidose-Selbst-hilfe und -auf lärung und rief 2004 einen Volkslauf auf der Nordseeinsel amrum ins Leben, um Spenden für die fachklinik Sattel düne zu sammeln. Dort werden Kinder und Jugendliche mit Mukoviszidose und anderen atemwegs-erkrankungen be handelt. Der ausgebildete Speditionskaufmann ist frühberentet und wohnt mit seiner familie auf amrum.marcus.hausmann @gmx.com

SCHWARZ als liturgische farbe ist – anstelle von Violett – am Karfreitag

und Karsamstag auch möglich

Protokolliert von HANNA LUCASSEN. Sie ist freie Journalistin in frankfurt am Main und arbeitet unter anderem für chrismon und die fasten aktion „7 Wochen Ohne“.fO

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Karfreitag Karfreitag iNfOrMatiON

D ie Zeit ist hiobreif “, schrieb der evange­lische Theologe Hans Ehrenberg im Jahr 1952. Denn tatsächlich: Bis in unsere Zeit

hinein identifizieren sich zahllose Menschen im Leid mit dem biblischen Hiob. Wie keine andere Gestalt der Geistesgeschichte symbolisiert er das Ringen des schmerzgeplagten Unschuldigen mit seinem Gott, der angesichts des Leidens zum Rät­sel, zur unbeantworteten Frage geworden ist. Ob in Lyrik, im Roman oder auf der Theaterbühne – gerade in der Li­teratur wird Hiob den Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts zu einem zeitlosen Zeitgenossen.

Mehr als 60 Hiob­Thea­terstücke sind allein in dieser Zeit erschienen, vom „Spiel um Job“ des Amerikaners Archi­bald MacLeish (1957) bis zu „Hiob proben“ des deutsch­un­garischen Schriftsteller István Eörsi (1999). Ungezählt sind die Hiob­Gedichte, in denen Leidende in diesem Bild um einen Sinn ringen, seien dies jüdische Lyriker wie Yvan Goll, Karl Wolfskehl oder Nelly Sachs, christliche Poe­ten wie Paul Claudel und Eva Zeller, aber auch nichtreligiöse Autoren wie Johannes R. Becher oder Robert Gernhard. Hinzu treten Werke wie der selbst im Deutschunterricht der Schulen noch viel gelesene „Hiob: Roman eines einfachen Mannes“ von Joseph Roth (1930), Muriel Sparks „Das einzige Problem“ (1984) bis hin zum an

Hiob orientierten „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier (2004). Schließlich finden sich phi­losophische Deutungen in Essays von so unter­schiedlichen Autoren wie C. G Jung, Ernst Bloch oder Navid Kermani.

Der Befund ist offensichtlich: In keiner an­deren biblischen Figur spiegeln Menschen ihre Erfahrungen in gleicher Weise. „Hiob lebt im­mer“, räumt ein Charakter im Theaterstück von

MacLeish ein, in dem man nicht lange suchen muss, um die Rol­le des so benannten Helden zu besetzen. Im Bild Hiobs erhält das Karfreitagsgeschick ein Pro­fil, das zur Wahrnehmung der eigenen Situation beiträgt. Sich im Mann am Kreuz wiederzu­finden, fällt vielen schwer. Hiob ist einer von uns. Ein Leidender, ein Dulder, ein Rebell. Der sein Leid herausschreit. Der mit

Gott ringt. Der seinen Weg durch alle Höhen und Tiefen mit Gott geht.

Nein, die Schriftsteller gehen dabei nicht alle Schritte Hiobs mit. „Man nennt mich noch im­mer Hiob / doch ich bin nicht mehr der“, lässt der deutsch­israelische Dichter Manfred Winkler den Sprecher seines 1997 erschienenen Langgedichts „Hiob spricht“ formulieren. Im Zeichen Hiobs gibt es beides: Zustimmung und Widerspruch, Identifikation wie Abgrenzung. In beidem gibt er der Karfreitagserfahrung ein Gesicht.

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GEISTESGESCHICHTE SYMBOLISIERT

HIOB DAS RINGEN DES SCHMERZ-

GEPLAGTEN UNSCHULDIGEN

MIT SEINEM GOTT

KarfreitagsSpiegelungen im Urbild des Leidens VON GEORG LANGENHORST

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PROF. DR. GEORG LANGENHORST ist Professor für Didaktik des Katholischen religions unterrichts/religionspädagogik an der Katholisch- theologischen fakultät der Universität in augsburg.

Mehr als 60 HIOB-THEATERSTÜCKE

sind allein seit dem 20. Jahrhundert

entstanden

Karfreitag traDitiON

Zur thematisierung des Leidens im Buddhismus VON ANDREAS GRÜNSCHLOSS

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Die rechte Hand ist erhoben als ZEICHEN der Zurückweisung des Leidens (tiantan Buddha, insel Lantau)

INFO

g eburt ist Leid, Altern ist Leid, Krankheit ist Leid, Tod ist Leid, mit Unliebem vereint sein ist Leid, von Liebem getrennt sein ist

Leid, nicht zu erlangen, was man begehrt, auch das ist Leid“ (MV 1,6). Trotz aller Unterschiede zwi­schen frühen und späteren Traditionsbildungen der buddhistischen Religionsgeschichte ist die Auffassung grundlegend, dass alles Leben aus­nahmslos von Leiden umfangen ist: Es ist unbe­friedigend, frustrierend, unbeständig und leidvoll.

Der historische Siddhartha Gautama, genannt der „Buddha“ (der Erleuchtete), diagnostiziert – einem Arzt gleich – das „Leiden“ (pali: dukkha) als die grundlegende „Krankheit“ aller menschlichen Existenz. Seine „Anamnese“ lautet: Diese Krank­heit wurzelt im „Durst“ (tanha), in Ver langen oder Gier, also einer inneren Bindung an die Welt. Ent­sprechend ist seine Heils­„Therapie“ darauf ausge­richtet, den Keim dieses Eingebundenseins an das stets neue Wiedersterben und Wiedergeboren­werden nachhaltig aufzulösen: Sein „achtfacher Pfad“ biete die konkrete „Arznei“, die drei Grund­übel Gier, Hass und Verblendung zu überwinden, aus dem endlosen Leidenskarussell auszusteigen und die Flamme des Durstes endgültig zum „Er­löschen“ zu bringen. Erst wenn es dem Menschen gelingt, seine materiellen Bindungen zu relativie­ren und sich – etwa in der Achtsamkeitsmedita­tion – von all dem Leid produzierenden Zugriff auf das vordergründige Dasein zu distanzieren, könne endgültige Befreiung entstehen.

Wichtig ist hierbei die Einsicht in die „Substanz­losigkeit“ der Person (anatta) und letztlich allen Lebens in dieser Welt – womit sich der Buddha gegenüber sonstigen indischen Vorstellungen von einer dauerhaften „Seelensubstanz“ (atman, jiva) kritisch oder zumindest sehr skeptisch positioniert. Und gerade in dieser gemeinsamen Substanz losigkeit allen lebendigen Seins gründet die buddhistische Grundtugend der empathi­schen Verbundenheit mit aller leidenden Kreatur.

Entsprechend gilt als zentraler ethischer Appell, alles zu unternehmen, was dem „Nicht­ Schädigen“ von Leben dient – das heißt: In Mitgefühl und liebender Güte alles zu unterlassen, was Leid pro­duziert. Jede Verletzung anderen Lebens würde zudem karmisch auf die eigene Person zurück­fallen. Berufe wie der eines Metzgers, Jägers oder Fischers waren Laienanhängern daher schon in

der Frühzeit untersagt, und zur Zeit des Kaisers Ashoka entstanden erste Tierkliniken auf buddhis­tischer Grundlage. Später lassen sich auch mehr­fach Tendenzen zum Vegetarismus erkennen.

Angesichts dieser universalen Leidensdia­gnose kann buddhistischerseits auch im Blick auf Menschen anderer Religionen positiv anerkannt werden, was ihnen zur Leidensüberwindung ge­reicht. Pragmatisch heilskonzentriert darf gemäß dem Buddha nämlich keine Vernunftlogik, religi­öse Autorität oder Ideologie als solche Wahrheit beanspruchen, sondern es kann nur dem Geltung zuerkannt werden, was konkret Hass vermindert, Verblendung reduziert und vor allem Leiden ver­hindert oder wenigstens minimiert (vgl. Rede an die Kalamer, AN 3.66). So kann beispielsweise der 14. Dalai Lama Jesus deshalb als ein „erleuchte­tes Wesen“ (Buddha/Bodhisattva) würdigen, weil Menschen in seiner Nachfolge offenkundig „Be­freiung und Freisein von Leid“ erfahren haben (Dalai Lama, „Das Herz aller Religionen ist eins“, 1997, 142f).

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PROF. DR. ANDREAS GRÜNSCHLOSS ist Professor für religionswissenschaft an der theologischen fakultät der georg-august-Universität in göttingen.<

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Ohne die Auferweckung Jesu durch Gott gäbe es den christlichen Glauben nicht VON CHRISTINE AXT-PISCALAR

Denn das Kreuz ist nicht der vermeint­liche Endpunkt geblieben, als der es dem vorösterlichen Blick erscheint. Durch Jesu Auferweckung und die Selbstver­gegenwärtigung des auferweckten Ge­kreuzigten kommt das Neue auf, das die Welt im Ganzen sowie das Leben eines jeden Einzelnen in das verwandelnde österliche Licht rückt und auf die escha­tologische Vollendung hin ausrichtet. So erzählen und verkündigen es die neu­testamentlichen Texte. Sie holen den Leser und die Leserin herein in ihre österliche Perspektive – auf Jesus, den Christus; auf Gott, der nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden ist (Mk 12,27); auf das neue, im Osterglauben gelebte Leben (Röm 8).

Den ersten Christuszeugen, die vor­mals von Missverstehen und Verkennen bestimmt waren, gehen die Augen und ihr Herz auf für die neue Wirklichkeit des auferweckten Gekreuzigten, der kein anderer als der Gekreuzigte, vielmehr der Gekreuzigte in einer anderen Wirk­ lichkeitsgestalt ist. Es kommt im Oster­glauben dazu, dass die ersten Zeugen den auferweckten Gekreuzigten als ihren Herrn bekennen und ihn, von ihm dazu berufen (Mk 16,14ff. par., 1 Kor 15,8ff.), als den Erlöser der Welt verkündigen. Es kommt dazu, dass das Evangelium Jesu Christi seinen Lauf nimmt, dass Glau­ben geweckt wird, Gemeinden entstehen, Christenheit wird und wächst, die zu allen Zeiten und an allen Orten bekennt: „Der Herr ist auferstanden, er ist wahr­haftig auferstanden.“

Es ist, wenn man so sagen will, eine „wirkungsgeschichtliche Tatsache“, dass das Evangelium vom auf­

erweckten Gekreuzigten zum verwan­delnden Sauerteig der Welt geworden ist. Schon dies lässt, nüchtern betrachtet, an der Stichhaltigkeit jener Hypothesen zweifeln, welche die Erscheinungen des durch Gott auferweckten Gekreuzigten sowie die neutestamentliche Verkündi­gung mit der produktiven Einbildungs­kraft der Jünger zu erklären versuchen: Diese hätten sich so kraft ihrer morgen­ländischen Fantasie oder durch Halluzi­nationen, wodurch auch immer bedingt, aus ihrer Enttäuschung über das Ende ihres Meisters selbst herausmanövriert.

Das neutestamentliche Zeugnis spricht anders. Es hebt den unableitbaren und

kontingenten Widerfahrnischarakter der Selbstvergegenwärtigung des Gekreuzigten als eines wirklich Auferstandenen und Le­bendigen hervor, durch die der Glaube der ersten Jünger einen Anfang nimmt – und die sich der Glaube als seinen Ermöglichungs­grund vorausgesetzt sein lässt. Und das Neue Testament gibt die Auferweckung des Gekreuzigten durchwegs als ein Handeln Gottes zu verstehen. Gott hat Jesus von den Toten auferweckt (Röm 4,24; 10,9; 2 Kor 4,14 u. ö.). Durch seine schöpferisch wirk­same Allmacht erweist er sich als Gott der Lebenden, der an seinem unvergänglichen Leben teilhaben lässt. Gottes schöpferische Macht endet nicht an der Todesgrenze. „Er ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mt 22,32). Er ist der Gott, „[. . .] der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei“ (Röm 4,17). Darin erweist sich Gott als Gott; dadurch ist er geradezu definiert. Gott und Leben gehören zusammen. Der an seinem unver­gänglichen Leben Anteil gebende Gott und sein Geschöpf gehören zusammen. Dies ist in der Auferweckung des Gekreuzigten manifest und offenbar geworden. Und durch Taufe und Glauben zieht der Aufer­standene uns hinein in die verwandelnde Kraft seiner Auferstehungswirklichkeit, die in diesem Leben anhebt und im Reich Gottes an uns und aller Kreatur vollendet werden wird. Luther hat dies in ein schönes Bild gebracht. Der Christ „hat den Vorteil, dass er bereits aus dem Grabe ist mit dem rechten Bein, und hat einen gewaltigen Ge­hilfen, der ihm die Hand reicht, nämlich seinen Herrn Jesus Christus, der aus dem Grabe schon längst heraus ist und ihn bei der Faust fasset und mehr als die Hälfte schon herausgezogen hat, dass nicht mehr als der linke Fuß dahinten bleibt. Denn die Sünde ist ihm schon vergeben und ausge­tilgt, Gottes Zorn und die Hölle ausgelöscht, und er lebt bereits gar in und bei Christo nach dem besten Stück [. . .] teilhaftig des ewigen Lebens“ (WA, 36, 581,21–28).

In diese neue Wirklichkeit holt der Osterglaube den Christenmenschen herein und entfaltet seine Kraft, indem er uns nicht auf das unserem Verstand geläufige Wirklichkeitsverständnis festlegt, sondern Neues und Hoffnung auf Zukunft und Vollendung aufkommen lässt. Darum singt die Christenheit: „Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit; denn unser Heil hat Gott bereit’.“

Das Kreuz ist nicht der vermeintliche endpunkt geblieben.

Durch Jesu AUFERWECKUNGkommt das neue auf

PROF. DR. DR. H. C. CHRISTINE AXT-PISCALAR ist Professorin für systematische theologie und Leiterin des Institutum Lutheranum an der theologischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen.

Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!“ So bekennt es an Ostern die Chris­tenheit in der ganzen Welt und

über alle Unterschiede der Konfessionen hinweg. Ohne die Auferweckung Jesu durch Gott gäbe es das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, dem Erlöser der Welt, nicht; gäbe es den christlichen Glau­ben, ja, gäbe es uns Christen nicht. Die Botschaft, dass Gott den gekreuzigten Je­sus von den Toten auferweckt hat, ist Ur­sprung und Fundament des christlichen Glaubens wie der christlichen Verkündi­gung. „Ist Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch unser Glaube ver geblich“ (1 Kor 15,14) – und wir Christen wären „die elendsten unter allen Menschen“ (1 Kor 15,19).

Ohne die Auferweckung Jesu durch Gott wären die Jünger Jesu damals zurück­geblieben mit dem niederschmetternden Eindruck des Endes, den der Kreuzestod für Person und Wirken Jesu darstellt. Zurückgeblieben in Furcht und in Zittern darüber, dass die religiösen wie politischen Mächte und Gewalten sich an diesem Jesus vergriffen, ihre Macht an ihm ausgetobt und sich durchgesetzt haben. Ohne die Auferweckung Jesu durch Gott hätte der Tod, der letzte Feind des Lebens, seine vernich tende Macht an Jesus demonstriert. Ohne die Auferweckung Jesu durch Gott wäre der, der ganz aus der Einheit mit sei­nem himmlischen Vater gelebt hatte, in der Gottesferne des Verworfenen geblieben, die der Fluchtod am Kreuz darstellt.

Ohne die Auferweckung Jesu durch Gott blieben mithin auch wir von Gott getrennt und den lebenswidrigen Mächten und Ge­walten ausgeliefert, die nach unserem Le­ben greifen und unter denen der Tod den größten aufdringlichen Schatten auf unser Leben wirft. Aus dieser Selbst­ und Welt­erfahrung reißt die Auferstehungsbotschaft uns heraus, indem sie die Wirklichkeit des Neuen zusagt. In Jesus Christus, in sei­nem Leben und Sterben und seiner Auf­erweckung, hat Gott Sünde und Tod die Macht genommen und „gibt uns den Sieg durch unsern Herrn Jesus Christus“ (1 Kor 15,57). Die lebenswidrigen Mächte und Ge­walten, die nach unserem Leben greifen, sind ein für allemal entmachtet; heraufge­führt ist die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, die durch nichts mehr getrennt wer­den können von der Liebe Gottes, die in Je­sus Christus erschienen ist (Röm 8,31–39).

DAS HÖCHSTE FEST DER CHRISTENHEIT – OSTERN

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Ostern Ostern reFLeXIOn Ostern reFLeXIOn

Um Mitternacht in die Kirche ge­hen oder vor Sonnenaufgang? Dazu muss es schon besondere Anlässe geben wie Weihnach­

ten und Ostern. Und diese Anlässe füh­ren auch zu besonderen Gottesdiensten wie die Christnacht oder die Osternacht.

Die Osternacht wird seit der Frühzeit der Christenheit besonders gefeiert. An­fangs begingen Christen die Osternacht am Passahfest, also in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan des jüdischen Kalen­ders. In der Passahnacht, in Ex 12,42 als „Nacht des Wachens“ bezeichnet, wurde des Befreiungshandelns Gottes beim Exo­dus gedacht. In der jüdischen Auslegung und Frömmigkeit verband sich damit früh die Erinnerung an die Schöpfung, an Abraham und die Bindung Isaaks so­wie an die Erwartung des Kommens des Messias samt der damit einsetzenden endgültigen Erlösung am Ende der Zeit. Diese Elemente prägten auch die frühen christlichen Feiern der Osternacht. An­fangs wohl aus zwei Phasen, einer Trauer­ und einer Freudenfeier, bestehend endete hier das gemeinsame Fasten. Das Fasten und Wachen diente der intensiven Erwar­tung des wiederkommenden Christus, der als „Passahlamm“ (1 Kor 5,7) die

entscheidende Wende zum Heil der Men­schen vollbracht hat und dessen Kommen („Maranatha“, aram.: „Komm, o Herr“ [1 Kor 16,22; Didache 10,6]) erfleht wird.

Auf dem Konzil von Nizäa (325) wur­de nach heftigen Streitigkeiten, die über 100 Jahre gedauert hatten, der Oster­termin auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond festgelegt und damit vom jüdischen Festkalender getrennt; da­mit waren gleichzeitig die theologisch bestimmten Festgehalte der Schöp­fung, der Auferweckung Jesu als Neuschöpfung und der endzeitlichen Vollendung („achter Tag“) verbunden. Um die Wen­de vom 4. zum 5. Jahrhun­dert entwickelte sich, ausgehend von der Osternachtfeier in Jerusalem, eine viertei­lige Grundform, die bis heute prägend ist: Lichtfeier, Lesungen, Taufe, Abendmahl. In dieser Grundform ist viel Raum für un­terschiedliche Gestaltungen, theologische Deutungen sowie für sakramentale und spirituelle Akzente. Selbstverständlich steht die Feier der Auferweckung Jesu im Zentrum, aber sie ist umgeben von den reichen Themen und Motiven der Schöp­

fung, der Befreiung aus Ägypten, der Völkerwallfahrt zum Zion am Ende der Zeit, der Belebung der Totengebeine nach Ez 37, der Taufe als Mitsterben und Mitau­ferstehen. In christlicher Umformung sind damit auch die Gehalte der Passahtradi­tion aufgehoben und bewahrt. Auch wenn die Termine nicht mehr identisch sind, fei­ert die Kirche die Osternacht in bleibender und achtsamer Verbundenheit mit der

Heilsgeschichte und den Hoffnungen Israels.

Nach Jahrhunderten des Verfalls und Ver­schwindens der Oster­nacht wurde sie zunächst unabhängig voneinander in der evangelischen und der katholischen Kirche

seit der Mitte des 20. Jahrhunderts neu entdeckt. Mit großem Elan wurden Litur­gien zur Osternacht entworfen, auspro­biert und je nach kirchenrechtlicher Kon­stellation agendarisch geordnet. In den evangelischen Kirchen und Gemeinden gibt es heute eine Vielzahl an Osternacht­gottesdiensten in pluralen Gestaltungen und Stilen: in agendarischer oder frei entworfener Gestalt, verbunden mit alter Tradition, ausgerichtet auf die Möglich­

DIE OSTERNACHT WIRD SEIT

DER FRÜHZEIT DER CHRISTEN-

HEIT BESONDERS GEFEIERT

Historische, theologische und liturgische schwerpunkte VON HELMUT SCHWIER

OSTERNACHT – DIe HerZMItte Des KIrCHenJAHres

keiten und Herausforderungen vor Ort. Auch die Uhrzeiten des Beginns sind verschieden: Einige beginnen vor Mitter­nacht und enden kurz nach Mitternacht, andere beginnen kurz vor Sonnenaufgang, wieder andere feiern und wachen mehrere Stunden vom Karsamstagabend bis zum Ostermorgen. Auch damit werden theolo­gische Schwerpunkte gesetzt: die Feier des göttlichen Geheimnisses „in der Mitte der Nacht“, der erlebnisreiche Transitus vom Dunkel zum Licht, die strapaziöse Nacht­wache und das Aushalten der Dunkelheit von der Nacht bis zum Morgen.

Die vierteilige Grundform kennzeich­net auch heute evangelische wie katho­lische Osternachtfeiern. In der Lichtfeier wird die Osterkerze vorbereitet, entzün­det und mit dem alten Liedruf „Christus, Licht der Welt“ in die dunkle Kirche ge­tragen. Von ihr wird das Licht an jeden weitergeben. In der vom schimmernden Kerzenlicht geprägten Atmosphäre wird das Osterlob noch verhalten gesungen, tradi tionell mit dem um 400 in Nord­italien oder Südgallien entstandenen „Ex­sultet“ („Frohlocket nun, ihr Engel und himmlischen Heere“), das die universale Weite des Heilshandelns Gottes aufzeigt

und im bekannten Dialog („Der Herr sei mit euch [. . .] erhebet eure Herzen [. . .]“) auch das Abendmahl anklingen lässt. Die drei bis zwölf Lesungen spannen den Bo­gen von der Schöpfung über den Exodus bis zur Neuschöpfung. Die Taufe und das Tauf gedächtnis bieten mit Röm 6 auch eine sperrige Tauftheologie, vertiefen aber gleichzeitig die ökumenische Ausrich­tung des gemeinsamen Sakraments. Nach Osterevangelium, freudig gesungenem Halleluja und Predigt ist die Feier des Abendmahls von der Nacht des Verrats, der Lebenshingabe Jesu, der Mahlgemein­schaft mit dem auferweckten und erhöh­ten Herrn und der Bitte um seine Wieder­kunft theologisch reich gestaltet und um Kreuz und Auferstehung zentriert.

Nicht wenige Gemeinden laden an­schließend zum Osterfrühstück. Dies ist einerseits eine wünschenswerte gesellige Fortsetzung einer auch anstrengenden und langen Liturgie, nimmt andererseits aber auch altes Brauchtum der Segnung von Speisen (z. B. Brot, Butter, Eier und Fleisch), auf die in der Fastenzeit verzichtet worden war, wieder auf und lässt schließ­lich ein fröhliches Fastenbrechen gemein­sam begehen, zu dem je nach örtlichen

Gegebenheiten auch Nachbarn aus ande­ren Religionen eingeladen werden können.

Die Osternacht ist theologisch wie litur­gisch anspruchsvoll: der Höhepunkt und die Herzmitte des Kirchenjahres! Und sie öffnet weite Horizonte: Konfessionalistisch Ostern zu feiern ist ein Widerspruch in sich. Denn die Osternacht zeigt nicht nur ökumenische Konvergenzen in Gebeten, Lesungen, Riten und der gesamten Feier­gestalt, sondern verbindet die gegenwär­tige Gemeinde vor Ort mit der zeit­ und raumübergreifenden Kirche und dem in ihr bezeugten Gottesbekenntnis. Die Kir­che bekennt und lobt den einen Gott, der sein Volk aus der Sklaverei befreit, Christus von den Toten auferweckt und zu sich er­höht hat und der kommen wird, den Kos­mos zu verwandeln. Daher hat Karl Barth recht: „Wer die Osterbotschaft gehört hat, der kann nicht mehr mit tragischem Ge­sicht umherlaufen und die humorlose Exi stenz eines Menschen führen, der kei­ne Hoffnung hat.“ Fröhliche und gelassene Lebenszuversicht: Das ist evangelisch!

Gleich nach Ostern besuchte ich im Krankenhaus eine alte alleinstehende Frau. Unser Gespräch kam schnell auf die Feier der Osternacht. Die Gemeinde hatte sich zunächst um ein kleines Osterfeuer ver sammelt und daran die Osterkerze entzündet. Die Osterkerze, das Symbol für Christus als Licht der Welt, war dann in die dunkle Kirche ge tragen worden. Vielleicht viel lebhafter redeten wir dann vom großen lodernden Osterfeuer, das am Abend des Ostersonntags von der Jugend- feuerwehr auf einer Wiese entfacht worden war. Denn meine Gesprächs-partnerin stammelte plötzlich: „Ich habe zweimal in meinem Leben Brände gelegt.

Dass ich das war, ist aber nie rausge-kommen. Habe noch mit keinem darüber geredet. Jetzt komme ich in die Hölle!“ – Sprachlos angesichts dieser Beichte, kam es plötzlich singend aus meinem Munde – anders kann ich es nicht beschreiben: „Sünd und Hölle mag sich grämen, Tod und Teufel mag sich schämen; wir, die un-ser Heil annehmen, werfen allen Kummer hin.“ „Das kenne ich. Das soll an meinem Grab gesungen werden“, nahm die Frau fröhlich den Gesprächsfaden wieder auf. Wenige Wochen später stand ich dann mit Bestatter und Sargträgern an ihrem Grab und wir sangen diese Strophe aus dem Weihnachtslied. ROLF BECKER

ALLTAGSGESCHICHTEOsterfeuer

PROF. DR. HELMUT SCHWIER ist Professor für neutestamentliche und Praktische theo-logie an der theologischen Fakultät der ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg.

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Ostern reFLeXIOn

ECKHARD ETZOLD († 2011) war Pfarrer in Broitzen.

Der vollständige Aufsatz – mit dem umfangreichen Anmerkungsapparat – ist abgedruckt in: „Gott dem Herrn Dank sagen“. Festschrift für Gerhard Heintze. Herausgegeben vom Freundeskreis der Braunschweiger Kirchen- und sozialgeschichte, Wuppertal 2002, s. 33–45.

I. Die Fragestellung Wenn man den historischen Kern der Auferste­hung Jesu ergründen möchte [. . .], hat es keinen Sinn, danach zu fragen, was mit Jesus nach sei­nem Tode passiert ist und in welcher Daseins­form womöglich der Auferstandene existiert. Die Auferweckung Jesu wird im Neuen Testament als eine Tat Gottes (1 Kor 15,15; Apg 2,32; 4,10; 5,30) aufgefasst, und sie ist deshalb genauso wenig be­weisfähig wie die Annahme, dass ein Gott die Welt erschuf. [. . .] Sie ist also kein Erfahrungsge­genstand, sondern eine reine Glaubenssache. [. . .] Wenn sich die Auferstehung Jesu nun aber dem menschlichen Verstehen und der menschlichen Wahrnehmung derart entzieht, stellt sich jedoch die Frage, wie sie in den Horizont menschlichen Glaubens vermittelt worden ist. [. . .] Das letzte historische Faktum über Jesus, das wir haben, ist sein Tod am Karfreitag (Mk 15,37) und seine Grablegung (Mk 15,46). Von dem, was sich da­raufhin in den folgenden Tagen ereignete, ist das Einzige, das wirklich greifbar ist, die Erfahrung der Jünger [. . .], die Jesus in seiner letzten Lebens­phase begleitet haben. [. . .]

II. Die seelische Verfassung der Jünger Die Jünger standen unter Schock. Die Verur­teilung und der Tod Jesu hatte Entsetzen (Mk 14,50; Lk 24,37f.), Trauer (Lk 24,17; Joh 16,20) und Furcht (Mk 14,68­72par; Joh 20,19) in ihnen ausgelöst. [. . .] Es besteht kein Zweifel daran, dass die Jünger sich in Trauer befanden. [. . .] Norma­lerweise ist der Trauerprozess unumkehrbar. Er kann nicht den Toten wieder lebendig machen [. . .], sondern führt, wenn die Trauerarbeit ge­lingt, [zur] [. . .] Anerkennung seines Todes. [. . .]

III. Der Prozess der Trauer […] Yorick Spiegel [Der Prozeß des Trauerns]un­terscheidet vier Phasen des Trauerprozesses, die mehr oder weniger fließend aufeinanderfolgen und in unterschiedlichen Ausprägungen bei vie­len Trauernden zu finden sind: Zunächst ist da der Schock, [. . .] es folgt die „kontrollierte Phase“. [. . .] Die Welt erscheint [dem Trauernden] [. . .] unwirk­lich und fremd [. . .] und er versucht sich zusam­menzureißen. [. . .] Diese [. . .] Phase wird abgelöst durch die „regressive Phase“ [. . .] [Der Trauernde] träumt von dem Verstorbenen, er hofft [. . .] auf die

Der trauerweg der Jünger zwischen Glaube und Zweifel VON ECKHARD ETZOLD

KARFREITAG,

Aus einem ei schlüpft ein Küken, aus einem leblosen Gegen-stand entsteht neues Leben. In der Interpretation der christ-lichen Kirche bedeutet das Osterei den triumph des Lebens (das Küken) über den tod (die leblose schale), Jesu Christi Auferstehung nach der Kreuzigung.Dass die ersten „christlichen“ Ostereier wohl rot gefärbt waren, lässt sich aus einer Legende der griechisch-orthodoxen tradition schließen. ROLF BECKER

Das Osterei als Symbol neuen Lebens

INFO

Wiederkehr des Toten. [. . .] Allmählich vollzieht sich der Übergang zur „adaptiven Phase“, in der sich der Trauernde wieder neu der Welt zuwendet.

IV. Die Trauer der Jünger [. . .] Besonders die Beschreibungen der Wiederbe­gegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus passen sehr gut in das Bild der dritten Trauerphase. [. . .] Indizien dafür [. . .] sind die „Flüchtigkeit“ des Auferstandenen: Er erscheint plötzlich in der Mitte (Lk 24,36f.; Joh 20,19) und kann sich genauso schnell vor den Augen der anderen wieder gleich­sam in nichts auflösen (Lk 24,31) oder in den Him­mel entschweben (Lk 24,51). Ebenfalls spricht für die enge Verwandtschaft von Ostererscheinungen und Trauervisionen der Umstand, dass diese nur eine relativ kurze Zeit (Apg 1,3) auftraten, und auch die Beobachtung, dass Jesus nur den Personen er­schien, die zu ihm zu seinen Lebzeiten eine enge persönliche Beziehung hatten. [. . .]

V. Das Umkippen des Trauerschmerzes Bis zu diesem Punkt entsprechen die neutesta­mentlichen Überlieferungen weitgehend [. . .] unserer heutigen Kenntnis von Trauerprozessen [. . .]. An dieser Stelle kommt es allerdings zu den ersten Abweichungen: „Normal“ wäre [. . .], dass der Hinterbliebene, der eine visionäre Wieder­begegnung mit dem Verstorbenen erlebt und zu­nächst darüber erschrickt, a) diese Vision als eine Sinnestäuschung entlarvt und b) der Lebendig­keit des Verstorbenen in dieser Sinnestäuschung die Realität des Todes entgegenhält. [. . .] Im Fall der Ostervisionen geschieht jedoch in beiden Fällen das Gegenteil: a) Zunächst wird die Wirk­lichkeit des Geschauten als Wahrheit angesehen (1 Kor 15,5f.: er ist gesehen worden[. . .]) und b) wird der Inhalt des Gesehenen aus der Glaubens­perspektive heraus gedeutet (1 Kor 15,4: [. . .] dass er auferstanden ist [. . .]). Das Fazit der Jünger lautet schließlich: Jesus lebt (Röm 14,9; Off 2,8) [. . .] Und entsprechend wurde der realen Wahr­heit des Todes (Jesus ist tot, Mk 15,37; Joh 19,33) die Wahrheit der visionär [. . .] erfahrenen Wirk­lichkeit (Jesus ist auferstanden, Mk 16,6par) [. . .] gegenübergestellt und [. . .] [jener] gegenüber als höherwertig eingestuft. [. . .] Die Vision und ihre virtuelle Wirklichkeit wurden also gegenüber der physikalisch sichtbaren Welt ins Recht gesetzt und nicht als Sinnestäuschung entwertet. [. . .]

VI. Das Ende des Trauerschmerzes und die Freude über den wiedergewonnenen Jesus Schon wenige Tage nach dem Tode Jesu verkün­dete Petrus [. . .], der tote Jesus sei ihm als Leben­diger erschienen (Apg 2). Und die Jünger erlebten einen ungewöhnlichen Stimmungswandel, der

eigentlich nicht typisch ist für einen Trauerpro­zess. [. . .] Gleichzeitig gelingt es den Jüngern, nicht nur der Umwelt ihr Bild von dem Jesus, wie sie ihn kennengelernt haben, zu vermitteln, son­dern sie scheinen geradezu erst jetzt in der Lage zu sein, zu verstehen, was Jesus für sie und an­dere bedeutete. Was Spiegel in Hinsicht auf die Trauernden allgemein schreibt, träfe auch auf die Jünger und Nachfolger Jesu zu: „Erst der Tod eines geliebten Menschen macht es möglich, voll zu erfassen, was er für den nun ‚Verwaisten‘ be­deutet hat.“ [. . .] Bezogen auf Jesus bedeutet das: Sie erkennen, dass Gott in diesem Menschen in besonderer Weise präsent gewesen ist. Sie erken­nen, dass Jesus begonnen hatte, das Gottesreich auf Erden zu verwirklichen [. . .]. Jesus war zwar nun [. . .] nicht mehr körperlich anwesend wie vor seinem Tode. [. . .] Aber er war damit nicht ein­fach weg. Spiegel schreibt: „Die Form seiner Ge­genwart hat sich verändert, sie ist nicht mehr ge­bunden an seine persönliche Erscheinung.“ [. . .]

VII. Die Ursachen für den besonderen Trauerweg der Jünger[. . .] Eine Ursache [. . .] liegt in der Verkündigung Jesu zu seinen Lebzeiten. Diese war durchsetzt von vielen Gleichnissen, in denen Jesus den Menschen das anbrechende Gottesreich nahe­brachte. [. . .] Die Gleichnisse wurden von Jesus so angelegt, dass der Hörer sich der Wirkung nicht entziehen konnte. Eberhard Jüngel [Gott als Ge­heimnis der Welt, 400] [. . .] schreibt dazu: „Im Gleichnis spitzt sich die Sprache so zu, daß das, wovon die Rede ist, in der Sprache selber kon­kret wird und eben dadurch die Angesprochenen in ihrer eigenen Existenz neu bestimmt [. . .].“ Und so wie Jesus das unsichtbare Gottesreich in seinen Gleichnissen sichtbar werden ließ, wurde er selbst zum Gleichnis für jenen Gott, von dem er so weltlich erzählen konnte. [. . .]

UND WAS DANN?

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Ostern trADItIOn

Alltägliche und ungewöhnliche Orte neu entdecken und auf die Botschaft von Jesu Leiden, sterben und Auferstehen hin deuten VON LUDWIG SCHNEIDER-TROTIER

ÖKUMenIsCHer eMMAUsGAnG

A m Ostermontag brechen Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen frühmorgens gemeinsam zu

einem Pilgerweg auf. Bei Sonnenauf­gang wird die Osterbotschaft im Gehen, Schweigen, Hören und Singen ganz neu gehört. Den Abschluss bilden eine Mahl­

gemeinschaft (Agape) und ein gemein­sames Frühstück. Die Idee des Projekts ist es, alltägliche und ungewöhnliche Orte in Stadtteil und Gemeindegebiet neu zu entdecken und auf die Botschaft von Jesu Leiden, Sterben und Auferste­hen hin zu deuten. Pilgern als „Beten mit den Füßen“ wird Teil des Gemein­

delebens. Ökumenisch Engagierten und spirituell Suchenden wird ein besonderes Angebot zu Ostern gemacht.

Der Ausdruck Emmausgang bezieht sich auf die Geschichte der beiden Jün­ger, die auf ihrem Weg nach Emmaus den auferstandenen Christus treffen (Lk 24, 13–35), den sie zunächst nicht erkennen.

ALLTAGSGESCHICHTEOsterspaziergang

Erst als er mit ihnen das Brot bricht, er­kennen sie ihn. Daher kann eine Station auf dem Emmausgang „Brot des Lebens teilen“ lauten. Der Weg nach Emmaus ist der Weg aus der Verzweiflung zum Glauben, aus der Trauer in die Hoffnung, aus dem Dunkel der Nacht in das Licht des Morgens. Beim Gehen zu den ver­schiedenen Orten in der Stadt, am Fluss, in der Natur machen die Teilnehmenden Erfahrungen, die zwischen Protestmarsch und Pilger­weg sein können, von der Mahnwache bis zum spiri­tuellen Erleben der Schöp­fung. Auch kulturelle und politische Themen können einfließen. Der bekannte „Osterspaziergang“ aus „Faust“ von Goethe, dem evangelisch­luthe­rischen Patriziersohn aus Frankfurt am Main, kann gelesen werden. Goethe kam oft ins liberale Offenbach am Main, aus Liebe zu Lili Schönemann aus der huge­

nottischen Fabrikantenfamilie d’Orville. „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden: Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, […] aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht sind sie alle ans Licht gebracht.“ Es ist für

die am Emmausgang Teil­nehmenden ein Erlebnis, wenn nach einer Kurzan­dacht der gemeinsame Weg ins Freie, aus der Dunkelheit dem Sonnenaufgang ent­ gegen geht, zu einer Tages­zeit, die sonst kaum jemand bewusst mitbekommt. Die Flüchtlingstheo logie Johann Calvins, der selbst aus Frankreich nach Genf ge­

flüchtet war, kann vorgestellt werden: Ein Schiff, dem Schiffbruch droht, in dem die Jünger zu Jesus rufen „Herr, rette uns, wir gehen unter“ (Mt 8,25) erinnert an heutige „Boatpeople“. Die gewählte Form der Mahlgemeinschaft (Agapemahl) in ökumenischer Gastfreundschaft zeigt,

dass Christen auch da noch auf dem Weg sind.

Bei der jährlichen Gestaltung des „Öku­menischen Emmausgangs“ rückt jeweils ein anderer Aspekt in den Vordergrund, je nach Ideen der Vorbereitenden. Die katholische Kirche und die evangelische Kirche können Start­ bzw. Zielpunkt sein. Ein Friedhof kann eine Station auf der Weg­strecke sein. Hinzu kommen weitere zum jeweiligen Schwerpunktthema passende Stationen, etwa vor einem Bäckerladen („Brot des Lebens teilen“) oder in einer Bahnunterführung („Angst, Dunkelheit“). Zusätzlich zur inhaltlichen Vorbereitung erfolgen die Öffentlichkeitsarbeit, die Anmeldung der Route beim städtischen Ordnungsamt, die Vorbereitung des Früh­stücks und die Herstellung des Lieder­ und Textheftes.

ES IST EIN ERLEBNIS,

GEMEIN SAM AUS DER

DUNKELHEIT DEM SONNEN-

AUFGANG ENTGEGENZU-

GEHEN

PFARRER LUDWIG SCHNEIDER-TROTIER war seit 1994 Pfarrer in Frankfurt am Main und ist seit 2012 Pfarrer der Französisch-reformierten Gemeinde Offenbach am Main 1699.

Anre

gungen für die

PRAXIS

Komisch, dieser Spaziergang hat ein anderes Gewicht als sonst im Frühjahr. Ist es, weil schnell Hasen auf zwei Beinen vorweg gelaufen sind, um einige Eier zu verstecken und so Kinderaugen zum Leuchten zu bringen? Oder ist es diese besondere Thematik, die auch am Mittag beim Laufen noch nachklingt? Christus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden! Die Nacht, die Osternacht mit Kerzenschein in der stockdunklen Kirche, der langsam an brechende Tag, das gemeinsame Abendmahl im Halb dunkel, die fröhlichen Osterlieder oder auch das leckere Frühstück. Vor allem aber die Worte, die ein Mehr verheißen, den Aufbruch in eine neue Welt ermög lichen. Ja, spürbar ist sie, diese Auferstehung.

Nicht nur in der Natur. Das frische Grün leuchtet und duftet zugleich, kraftvoll wirkt es. Und da plötzlich ein wohl bekannter Klang, das Läuten der Kirchen-glocken durchbricht die Stille. Inmitten des Alltags erklingen sie wieder, ein neuer, vertrauter Weckruf der Auferstehung. SUSANNE ERLECKE

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Pfingsten Pfingsten Pfingsten

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Pfingsten RefLeXiOn

aufkommt – von keiner Synode angeordnet, ein­fach so – und in dem nicht nur nichtordinierte, vielmehr sogar nichtbeauftragte Menschen auf einmal anfangen zu sprechen – und zwar in ver­schiedenen Sprachen. Aus Vesperkirchen wird sol­ches manchmal berichtet, in denen Obdachlose im Winter Unterschlupf finden und auf einmal auch am Sonntagvormittag in der Kirche auftauchen. Oder auch von Kindern, die mit den anderen Abendmahl feiern wollen und denen die segnende Hand des Pfarrers zu wenig ist. Zuerst scheinen sie alles durcheinander zu bringen, doch langsam ent­deckt der eine und die andere in dem Störenden eine neue Lebendigkeit. Pfingsten ist sozusagen die Gegengeschichte zur staatsanalogen Institu­tion Kirche, die verlässlich funktioniert, exklusiv in der Hand weniger Milieus ist und deren Praxis ritualisiert und vorhersehbar ist.

Tatsächlich gab es in der Christentums­geschichte immer wieder Menschen, die sich auf Pfingsten beriefen und neue Gemeinschaften als Gegenüber zu der ihnen erstarrt erscheinenden Kirche bildeten. Der letzte und wohl wirkungs­vollste Aufbruch geschah bei den Treffen in der Azusa­Street in Los Angeles. Hier entstanden zwischen 1906 und 1909 eine Bewegung und dann neue Gemeinschaften, die mittlerweile Hunderte Millionen Menschen zählen. Die soge­nannten Pfingst­ und Heiligkeitskirchen nahmen hier ihren Anfang. Menschen begannen, ohne sich an vorformulierte Ordnungen zu halten, in Zungen zu reden. Es kamen Gebetsheilungen und Prophetien hinzu. In Afrika wurden Geister­traditionen und Heilererfahrungen aufgenommen. In Europa entstand diesseits und jenseits verfasster Kirchen die charismatische Bewegung in ihren mannigfaltigen Spielarten. In Südamerika bildete sich ein – nicht unproblematisches – „health and wealth gospel“ heraus.

I n der Apostelgeschichte braust es vom Him­mel, jede/­r predigt – und es entsteht eine Ge­meinschaft, in der jeder jede versteht. Diese

erscheint heute notweniger denn je. Ulrich Beck beginnt sein posthum erschienenes Schlusswerk mit dem lapidaren Satz: „Die Welt ist aus den Fu­gen.“ („Die Metamorphose der Welt“, 2017, 11). Er diagnostiziert für die Gegenwart gleichsam ein säkulares Pfingstereignis: die Metamorphose der Welt. Bisherige, ausgrenzende Sozialformen wie Nationen sind den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen. Eine „Neu­konfiguration des nationalpolitischen Weltbilds“ steht an, die „Kopernikanische Wende 2.0“ (9). Die neuen „Fixsterne“ sind „Welt“ und „Mensch­heit“ (19). Treffender hätte es ein heutiger Lukas wohl nicht formulieren können.

Tatsächlich: Pfingsten ist aufregend. Es kündet von dieser Gemeinschaft der Menschen, die dringend notwendig ist – und jenseits gewohnter Exklusionen und Grenzen liegt. Sie ist mit Auf­brüchen verbunden – vielleicht spüren das man­che Menschen intuitiv, die die Pfingsttage für Ausflüge ins Freie nutzen. Kirchengebäude und ­mauern kommen da nicht vor und stören eher. Wer schon einmal im Freien Gottesdienst fei­erte – das Zwitschern der Vögel hörte, das Blau des Himmels und majestätisch ziehende Wolken sah, den Geruch von Blüten in der Nase –, weiß, was ich meine. Pfingsten feiert die Gemeinschaft aller Menschen. Ist dies heute ohne Teilnahme von Menschen aus anderen Ländern, mit ande­ren Sprachen, Gepflogenheiten und religiösen Ansichten möglich? In Jerusalem kurz nach dem Tod und dem Gerücht von der Auferweckung Jesu jedenfalls nicht.

S o liegt Pfingsten wohl noch vor uns. Aus­flüge und Open­Air­Gottesdienste sind erste tastende Versuche in diese Richtung.

Konzeptionell bietet die Inklusionsdiskussion wichtige Impulse. Denn diese neue Gemeinschaft umfasst alle Menschen, sonst störende Hetero­genität bereichert. Der Gegenwind ist erheblich: ordentliche Verfahrensabläufe, milieubegrenzte Gemeinschaften, Besitzstandswahrung. Doch wer schon einmal einen Aufbruch mit anderen Men­schen erlebt hat, der den Horizont erweiterte, ist infiziert. In ihm/ihr schlummert das Wissen, wie Pfingsten als Fest gefeiert werden kann: als aufre­gendes Fest der Gemeinschaft aller Menschen. Pfingsten ist ein schwieriges Fest –

Pfingsten ist ein aufregendes Fest! An Pfingsten wird das Leben gefeiert. Es markiert den Höhe­ und Schlusspunkt

der österlichen Freudenzeit. Sieben Wochen fei­erte die Alte Kirche Ostern – und den Endpunkt bildete ein neues Fest: Pfingsten. Während es aber den Kirchen bei Ostern – und noch mehr bei Weihnachten – gelang, allgemeine Bräuche zu integrieren und volkstümlich zu werden, erwies sich Pfingsten als sperrig. Weder Pfingstlümmel noch Pfingstochse können mit dem Christkind bzw. Weihnachtsmann oder mit dem Osterhasen konkurrieren.

Woran liegt dies? An Pfingsten ist die Kirche als Gemeinschaft von Menschen Thema. Tatsäch­lich feiern Menschen gemeinsam im späten Früh­jahr – manchmal kann man schon vom frühen Sommer sprechen – draußen, im frischen Grün der Natur. Motorradfahrer putzen ihre Maschi­nen zur gemeinsamen Ausfahrt. Andere bestei­gen ihre Fahrräder und machen mit befreunde­ten Familien einen Ausflug. Mancherorts findet traditionell eine Kirmes statt. In ländlichen Ge­genden gibt es traditionell Flurbegehungen. Menschen ohne schulpflichtige Kinder fahren oder fliegen schon in den Urlaub, die Hotels und

Strände sind noch nicht so voll wie einige Wochen später, das Klima ist auch im Süden erträglich. Doch was hat dies alles mit Pfingsten zu tun?

Es markiert nicht nur ein Problem von uns heutigen Christen, dass das kirchliche Fest Pfings ten so merkwürdig abseitig vom sonstigen Treiben in der freien Natur liegt. Schon früher fiel es den Kirchen schwer, das Brauchtum im Über­gang vom Frühjahr zum Sommer zu deuten und aufzunehmen: Umzüge, Schmücken der Häuser mit Birken, Errichten eines Maibaums, Brotver­teilung und mancherlei Wasserbräuche. Ein Blick in die biblischen Lesungen zum Pfingstfest (Altes Testament: Num 11,11–12.14–17.24–25; Epistel: Apg 2,1–13; Evangelium: Joh 14,23–27) zeigt eine Konzentration auf innerkirchliche Motive. Der Bezug zum Naturjahr, das die Feste um Pfingsten herum beflügelt und sich bereits im jüdischen Schawuot als ursprünglichem Erntefest anbahnte, fehlt.

Dazu kommt, dass die Pfingsterzählung sich sperrig zur kirchlichen Praxis verhält. Man stelle sich einmal einen sonntäglichen Gottesdienst vor, in dem die Orgel nicht ein Lied aus dem 17. Jahr­hundert intoniert und der schwarz gekleidete Or­dinierte bedeutungsschwer auf die Kanzel steigt, sondern in dem es braust und ein gewaltiger Wind

PFINGSTEN IST MIT

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DAS MANCHE MENSCHEN

INTUITIV, DIE DIE PFINGST-

TAGE FÜR AUSFLÜGE INS FREIE NUTZEN

Die kirchliche Praxis und Pfingsten als fest der gemeinschaftserlebnisse VON CHRISTIAN GRETHLEIN

PFINGSTEN LIEGT NOCH VOR UNS

Wenn das Vieh zum ersten Mal im Jahr (feierlich) auf die Weide oder auf die Alm getrieben wurde, ließ man es anführen von einem festlich geschmückten Rind. Hier hat die Redensart „ge­schmückt wie ein Pfingstochse“ ihren Ursprung. Da es lange üblich war, diesen Ochsen für ein anschließendes Festessen zu schlachten (zuerst vielleicht eine vorchristliche, jahreszeitliche Tieropferhandlung?), könnte die Redensart auch jemanden be­zeichnen, der prächtig erscheint, dabei aber nicht ahnt, dass er bereits verloren ist.

Pfingstlümmel hieß für ein ganzes Jahr der Hütejunge, der als Letzter beim Weideauftrieb erschien. Im städtischen Umfeld wurde dann diejenige Person so tituliert, die am Pfingstsonntag als Letzte von der Familie das Bett verlässt. ROLF BECKER

Pfingstochse

Pfingstlümmel

INFO

PROF. DR. CHRISTIAN GRETHLEIN ist Professor für Praktische theo logie an der evangelisch- theologischen fakultät der Westfälischen Wilhelms- Universität in Münster.

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Pfingsten RefLeXiOn Pfingsten RefLeXiOn

PROF. DR. CLAUDIA JANSSEN ist Professorin für feministische theologie / theologische geschlechterforschung und neues testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel.

PROF. DR. ILONA NORD ist Professorin für Religionspädagogik und Didaktik des Reli-gionsunterichts am institut für evangelische theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg.

im Neuen Testament noch nicht angelegt ist. Gottes Geistkraft erfüllt die schwange­re Maria (Lk 1,35) und ist bei der Taufe Jesu (Mk 1,10) gegenwärtig, sie wirkt in Jesu Worten und Handeln und ebenso in den Menschen in der Nachfolge Jesu (Apg 2,1–21; 1 Kor 12,1–11). Durch die Geist­kraft wird die Nachfolgegemeinschaft zum Körper Christi (1 Kor 12,13). Paulus nennt die Auferstandenen soma pneumatikon (1 Kor 15,44), von Gottes Geist erfüllte Körper. Die enge Verbindung der mensch­lichen Körper mit Gottes Geistkraft, die sie belebt, ermutigt, mit Kräften und Fähig­keiten erfüllt, bedeutet zugleich eine Wert­schätzung der körperlichen Existenz: Sie ist erfüllt von Gottes Atem und Kraft.

In feministischen Theologien spielt das dynamische Moment der Geistkraft eine wichtige Rolle in der Gottesrede, auch als Kritik an der engen Verbindung von Männlichkeit und Göttlichkeit in der christlichen Tradition. Mit der latei­nischen Übersetzung spiritus und der Entwicklung der Trinitätstheologie in der Alten Kirche ging das Wissen um die weiblichen Aspekte Gottes weitgehend verloren. Eine Ausnahme bildet eine Dar­stellung der Trinität aus dem 14. Jahrhun­dert in Urschalling am Chiemsee. Die ruach als weibliche Seite Gottes ist heute in Liedern und Gebeten präsent. Gleich­zeitig wird betont, dass es auch nichtper­sonale Bilder braucht, die über tradierte Geschlechterrollen hinausweisen, um der Vielfalt und Unverfügbarkeit Gottes Aus­druck verleihen zu können.

Schöne Pfingsten!“, das ist kurz vor dem Fest ein oft zu hörender Wunsch. Ganz intuitiv hatte ich es

in den Tagen vorher einmal mit einer an­deren Grußformel probiert: „Schöne Tage und viel Geist zu Pfingsten!“ Die Antwort: „Ich erwarte da nicht viel und wüsste auch nicht, wo ich ihn finden sollte.“ Sie kam keineswegs von einer Person, die mit Kirche und Glaube nichts zu tun hätte. Eher im Gegenteil.

Doch diese Reaktion muss eigentlich auch nicht überraschen. Warum sollte man ausgerechnet an diesem Wochenen­de große Erwartungen an im weitesten Sinne religiöse Erfahrungen haben? An Pfings ten gibt es kaum feste Traditionen, keine Rituale. Wer nach dem christlichen Hintergrund dieses Festes fragt, bekommt wenig Auskünfte. Kirchliche Angebote sind an vielen Orten zurückgefahren wor­den, weil an Pfingsten verreist wird, weil Sportvereine Wettkämpfe und Jugend­camps durchführen und Kirche nicht wieder in Konkurrenz treten will.

Zudem tun sich Kirche und Theologie auch schwer, Pfingsten so zu füllen, dass die Leute sagen: „Pfingsten: Wow!“ Man nehme nur mal die Aussage, Pfingsten sei der Geburtstag der Kirche. Geburts­tag feiern ist nicht immer leicht. Aus dem persönlichen Bereich ist bekannt, dass manche Erwachsene ihren Geburtstag sozusagen ausfallen lassen oder im Stil­len feiern. Dennoch lohnt die Frage, was ein guter Geburtstag ist. Meine Antwort

lautet: Einer, an dem ich erfahren kann, dass Menschen mit mir mein Leben fei­ern wollen. Ein guter Geburtstag ist ein Tag, an dem ich spüren kann, dass ich in meiner Welt nicht allein bin. Ein Tag, an dem Menschen mit mir auf vielerlei Weise kommunizieren, sprechen, essen, trinken, lachen und anderes mehr, darin aufgreifen, was mich bewegt und mir damit sozusagen ganzheitlich Resonanz geben. Vielleicht könnte man sagen: Ein guter Geburtstag ist ein Tag, an dem Menschen mich und mein Dasein gutheißen, mich segnen. Doch jetzt tritt deutlich zutage, warum der Vergleich hinkt. Die Kirche ist nun mal kein Mensch, sondern eine Institution. Dies ist mindes­tens ein triftiger Grund, warum das Leit­motiv vom Geburtstag der Kirche nicht so richtig zündet.

Wechseln wir die Ebene, weg von der Institution hin zu den Menschen, die so­zusagen Kirche sind. Dann könnte man sagen, Pfingsten, das ist ein Fest, an dem wir nach frischen Eindrücken und bewe­genden Erfahrungen für unseren Glauben suchen. So etwa ließe sich auch das Anlie­gen der kirchlichen Aufbruchsbewegung „fresh expressions“ zusammenfassen, die in den letzten Jahren von England aus nach Deutschland gekommen ist: religiöse Erfahrungen ermöglichen und dabei mehr Gemeinschaft erleben, so dass Kirche sich wie von selbst erneuert. Denn miteinan­der über den eigenen Glauben zu spre­chen, verändert nicht nur ganz sachlich den Blick auf die Welt, sondern auch die

Die Leben schaffende gegenwart gottes VON CLAUDIA JANSSEN

Vom Wunder religiöser Kommunikation in der ersten Person VON ILONA NORD

RUACH – geistKRAft in DeR feMinistisCHen

tHeOLOgieVIEL GEIST

ZU PFINGSTEN

Das DREIFALTIGKEITSFRESKO in der Kirche st. Jakobus in

Urschalling

Es gibt durchaus Freude an

religiöser Kom­munikation

Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt. Kirche ist nicht nur Organisa­tion und Institution, sie ist Erzählgemein­schaft. Das ist übrigens auch das, was als Pfingstwunder berichtet wird: Alle, die zu­sammen gekommen waren, fingen plötz­lich an über ihren Glauben zu sprechen.

Fragt sich nun nur noch, wie dies so geschehen kann, dass offen und frei über den Glauben und aus Glauben gespro­chen wird. Doch Religion ist mehr und mehr zur Privatssache geworden. Es gibt im Grunde keine Selbstverständlich­keiten mehr, wie und wo in der Familie, im Freundeskreis, in Vereinen, mit ver­trauten oder fremden Personen über und aus Glauben gesprochen werden kann. Aus der Perspektive vieler Menschen sind es höchstens noch die Gottesdienste, in denen dies öffentlich und explizit ge­schieht; zugleich sind sie aber kaum Orte, an denen dazu herausgefordert wird, ei­gene Worte für den Glauben zu finden.

Es ist interessant zu sehen, dass wer religiöse Kommunikation sucht, häufig woanders Räume zum Austausch zu finden scheint: In vielen Social­Media­Plattformen tauschen sich Menschen aus ganz verschiedenen Milieus und aus un­terschiedlichen Altersgruppen über Reli­gionen und Glauben aus. Hier zeigt sich, dass es durchaus Interesse, Bedarf und Freude an religiöser Kommunikation gibt. Das geschieht nicht ohne Ambivalenzen und muss nicht jedermanns Sache sein. Hier wird eben unkontrolliert religiös kommuniziert und das kann bunte Blüten treiben. Aber wer Religion nicht in Moral aufgehen lassen will, muss sich wohl da­rauf einlassen. Es ist nicht so, dass unbe­dingt wie damals ein Wunder geschehen muss. Viel eher, dass man dem eigenen Glauben Worte gibt. Dass man Reso­nanzen findet, dass man den Geist Gottes wirken lässt, er ist immer schon da. So ge­sehen erinnert Pfingsten die Kirche daran, religiöse Kommunikation als ihre Basis wieder zu entdecken. Und sich daran zu freuen, wo immer Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen schon längst damit angefangen haben.

DAS WISSEN UM DIE WEIBLICHEN ASPEKTE

GOTTES GING MIT DER LATEINISCHEN ÜBER-

SETZUNG SPIRITUS UND DER ENTWICKLUNG

DER TRINITÄTSTHEOLOGIE IN DER ALTEN KIRCHE

WEITGEHEND VERLOREN

D ie Bibel in gerechter Sprache übersetzt das hebräische Wort ruach unterschiedlich: mit Wind,

Atem, Kraft, Geist oder Geistkraft. Gottes ruach weht am Beginn der Schöpfung, sie ist die Schöpfungskraft und zugleich der Atem, der die Geschöpfe lebendig macht und erhält (Gen 1,2; 2,7; Ps 104,29f), sie mit besonderen Kräften beschenkt (Jes 11,2), Heil und Gerechtigkeit schafft (Jes 32,15–20). Die Alttestamentlerin Helen Schüngel­Straumann geht davon aus, dass ruach ursprünglich mit dem Vor­stellungsbereich der Geburt verbunden gewesen sei, aus dem auch ihr gramma­tisch weibliches Geschlecht stamme. Die lebensspendende Kraft der ruach wird vor allem in Ez 37 sichtbar, wo sie den toten Gebeinen des Volkes Israel neues Leben einhaucht, ihm Hoffnung und Le­benskraft zurückgibt (vgl. Joh 3,5–8).

Das Neue Testament nimmt mit dem griechischen Wort pneuma dieses Bedeu­tungsspektrum auf und bezeichnet damit die Leben schaffende Gegenwart Gottes. Die Übersetzung „Geistkraft“ will die Dy­namik und das ursprünglich grammatisch weibliche Geschlecht der ruach sichtbar machen, das hinter dem griechischen Neutrum und deutschem Maskulinum („der Geist“) verschwunden ist. Dass das grammatisch weibliche Geschlecht der frühchristlichen Tradition bewusst war, zeigt das apokryphe Philippus evangelium (Log 17): „Sie sagen, ‚Maria ist schwanger geworden vom Heiligen Geist‘. Sie irren sich! [ . . . ] Wann wäre jemals ein Weib von einem Weibe schwanger geworden?“ Indem die Übersetzung „Geistkraft“ den Aspekt der bewe genden Lebensenergie betont, vermag sie zudem ein personales trinitarisches Verständnis abzuwehren, das fO

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dung von Natur und deutendem Wort aus dem Psalter und die Bereitschaft, beide zu verbinden. Wir brauchen Vorbilder, Deuteworte, die einen Ort oder einen Moment zum magischen Erlebnis ma­chen. Die Worte müssen nicht immer gesprochen werden, sie müssen nicht einmal bewusst sein, aber wir müssen ein inneres Organ ausgebildet haben, mit dem ein Sinneseindruck aufgenommen und mit einer Bedeutung versehen werden kann. Magische Momente, die uns für die Gnaden und die Schönheiten des Lebens öffnen, erzählen immer etwas über uns selbst. Und es muss nicht immer eine Reise in die Fer­ne sein. Entscheidend ist das Wo­anderssein. Fern des Alltags bre­chen die Fragen nach sich selbst auf und die Chance einer tieferen Selbsterkenntnis steht im Raum.

Nun gibt es allerdings kaum ein anderes Vorhaben über das Jahr, das so ent­täuschen kann, wie der Urlaub. Der Traum vom ganz anderen Leben entpuppt sich bisweilen als Illusion. Das kann ganz banale Gründe haben: schlechtes Wetter, schlechtes Hotel, schlecht ge­launte Kinder – und so weiter. Aber manchmal geht die Enttäuschung tiefer. Manchmal tritt ein verletzter, das Leben verfehlender oder sogar schuldbeladener Kain ans Tageslicht. Manchmal zeigt sich gerade in der idealen Ruhe des Urlaubs die Flüchtigkeit, die innere Unruhe einer un steten

Seele, die ihre Mitte verloren hat. Was im Alltag untergeht, kommt im Urlaub ans Tageslicht. Aber wo soll man hin mit dem Kummer, wenn man mit sich und einer hoffentlich gut gelaunten Familie unterwegs ist, wenn einem abends am Strand ganz unvermittelt die Tränen kommen?

Es gibt kaum einen Wirtschaftszweig, der so kontinuierlich wächst wie die Tourismusbranche. Und in den deutschen Urlaubsgebieten nehmen

Menschen die kirchlichen Ange­bote am Ort des Urlaubs – und oft nur noch hier – sehr rege wahr. Aufgrund dieser Dynamik ver­doppelt sich die Gemeindeglie­derzahl in den betreffenden Ge­meinden – nicht nominell, aber faktisch. Diese Entwicklung darf man nicht beklagen. Im Gegenteil. Die besondere Chance „Verkündi­gung in der Freizeitwelt“ gilt es zu

nutzen. Es wäre ein kirchliches Armutszeugnis, wenn Kirche sich da, wo sie gefragt, gewollt und geschätzt wird, zurückzieht.

Reisen ist Magie. Urbewegung des Menschli­chen. Patricia Schultz schließt ihre Einleitung zu den magischen 1000 Orten mit einer Aufforde­rung Mark Twains: „Lichten Sie also den Anker und verlassen Sie den sicheren Hafen. Lassen Sie den Passatwind in die Segel schießen. Erkunden Sie. Träumen Sie. Entdecken Sie“ (a. a. O., xiv).Kirche sollte dabei helfen.

Patricia Schultz formuliert in ihrem be­kannten Buch 1000 Orte, die du sehen musst, bevor du stirbst die These: „Das Leben wird nicht gemessen an der Zahl

unserer Atemzüge, sondern an den Orten und Momenten, die uns den Atem rauben“ (1000 Places To See Before You Die, 2006, iii). Dieser Satz birgt zwei Bekenntnisse: 1. Es gibt eine Magie, die sich an bestimmten Plätzen und in bestimm­ten Augenblicken ereignet. 2. Ich muss mich auf­machen, um diese Magie zu erleben. Hier kann man ahnen, inwiefern das Reisen eine spirituelle Angelegenheit ist.

Bahnhöfe und Flugplätze sind mythische Orte. Sie erzählen von Aufbruch, Ferne, Abenteuer und Freiheit. Sie inszenieren unsere Sehnsucht nach dem ganz anderen Leben. Der Aufbruch ist einer der schönsten Momente der Reise: Erfüllung und Erwartung fallen ineinander. Endlich geht es los, weg vom Alltag (Erfüllung) – aber das Meiste, das vermeintlich Schönste, steht noch aus (Er­wartung). Reisen ist eine Lebensäußerung des Menschlichen. Ich glaube, dass wir im Grunde genommen Nomaden sind. „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will [ . . . ] und ich will dich segnen.“ Abra­ham, gesegnet als einer, der alles Vertraute und Gewohnte hinter sich lässt. Obwohl, er hatte ei­nen Vorgänger, den Brudermörder Kain, dessen Wanderung ein tragisches Schicksal ist: „Unstet

und flüchtig sollt du sein auf Erden [ . . . ] So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn [ . . . ]“. Die Reise des Kain ist eine Flucht. Ich glau­be, dass unsere Reisen in ihrem tiefsten Grunde etwas von beidem haben: von Kains Flucht und Abrahams Aufbruch. Wir versuchen, flüchtig von etwas loszukommen, das irgendwie auf uns lastet, und wir hoffen gleichzeitig, dort anzukommen, wo wir im Eigentlichen landen – bei uns selbst und bei dem, der uns freimacht, von Zwängen, von Ängsten und manchmal auch von Schuld.

Nach Aufbruch und Trennung vom Alltag sind wir irgendwann am Ziel. Was sind das nun aber für magische Momente, die wir uns dort wünschen? Ich möchte von einem magischen Moment erzählen, den ich selbst erlebt habe: Die Sonne schob sich gerade über den Horizont. Ich nahm meine kleine abgegriffene Bibel, packte die Badehose ein und fuhr mit dem Fahrrad an den Strand. Kein Mensch da. Kühle Frische und glitzerndes Morgenlicht über glasklarem Wasser. Nach einigen Momenten der Ruhe las ich einen Psalm. Meer, Himmel und Sonne waren ein Echo auf den Psalm. Mehr noch: Der Psalm brachte etwas über die Schönheit des Moments zum Aus­druck, was ich ohne den Psalm gar nicht wahr­genommen hätte. Nach dem Amen ein Bad im Wasser. Kalt und belebend. Tauchen, auftauchen und ein lautes Danke Richtung Himmel gerufen.

Was gab diesem Moment seine Magie? Es war nicht allein die Natur, sondern es war die Verbin­

AM ORT DES URLAUBS – UND OFT

NUR NOCH HIER – NEHMEN

MENSCHEN DIE KIRCHLICHEN

ANGEBOTE SEHR REGE WAHR

Von der Magie des Reisens und der „Verkündigung in der freizeitwelt“ als Aufgabe der Kirche VON KAY-ULRICH BRONK

AUFBRUCH, FERNE, ABENTEUER UND FREIHEIT

PFARRER DR. KAY-ULRICH BRONK ist Propst des Kirchenkreises nordfriesland – Bezirk nord.

ich danke dem HeRRn von ganzem Herzenund erzähle alle deine Wunder. (Psalm 9, Vers 2)

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Stagnation, noch mehr Rück­entwicklung prägt derzeit die politische Entwicklung in der einen und doch so zerrissenen

Welt. England scheidet gegen den Wil­len der Mehrheit junger Menschen aus der Europäischen Union aus. Die übrigen 27 beschwören zwar Zusammenhalt und Einheit. Aber wenn es konkret wird, kommt das nationale Interesse zuerst. Das betrifft vor allem die Aufkündigung der Solidarität bei der Aufnahme von Menschen, die vor einem blutigen Krieg fliehen und bei uns Schutz suchen. Eine

starke rechtspopulistische Bewegung hat Europas Länder erfasst. Die Angst ist ihr Wählerkapital, das sie nicht nur ausbeu­tet, sondern künstlich mehrt. Lüge und verbale Gewalt prägen insbesondere die virtuelle Welt. Von „alternativen Fakten“ ist die Rede, wenn gelogen wird. Dass der Nationalismus schon mehrfach Euro pa in blutige Kriege geführt hat, vom 30­ jährigen Konfessionskrieg bis zu den bei­den Weltkriegen, wird vergessen.

Eine Angst ist derzeit stärker als viele andere. Es ist die Angst vor der Islamisie­rung Europas. Die Terroranschläge in den

verdrossen engagiert, bestätigte mir, dass sie viel Gegenwind spürt. Dann aber, so sagt sie, spüre sie „göttlichen Rücken­wind“. Ist nicht genau das Gottes Geist, der weht, wann und wo er will? Geschieht da nicht Pfingsten heute, mitten unter uns?

Von diesem göttli­chen Geist erzählen alte Hymnen. Etwa dieser aus der gemeinsamen Zeit der westlichen Chri­stenheit, gedichtet von Stephen Langton (1150–1228): „Er [der Heilige Geist] heilt, was verwundet ist; tränkt, was dürre steht; macht biegsam, was verhärtet ist; wärmt, was erkaltet ist; lenkt, was da irre geht.“

Es wäre viel gewonnen für die Menschheit, könnten durch Gottes Geist die Wunden der Angst geheilt werden – die Angst vor der Vergeblichkeit und

Endlichkeit, die Angst vor dem Tod, die Angst vor sozialem Abstieg und vor dem Verlust geliebter Menschen, die Angst vor kultureller Überfremdung oder die

bösartigste aller Ängste – nämlich die diffuse, gesichtslose Angst.

Es wäre ein Wunder, wenn durch Gottes Geis­tin, ruach, die Ängs te eines Menschen und ei­ nes Volkes kleiner wer­den. Denn dann hat solidarische Liebe eine Chance zu wachsen. Ge­rechtigkeit könnte sich

ausbreiten und den Frieden küssen (Psalm 85,11). Das wäre ein neues Pfings ten!

Es brauchte dann keine Politik (mit) der Angst mehr (Ruth Wodak), wir müssten dann nicht mehr eine Gesell­schaft der Angst sein (Heinz Bude). Gottes Geist selbst wäre es, der von den vielgesichtigen Ängsten heilt.

Das geschieht aber nicht mirakulös. Viel­mehr wohnt dieser Geist längst in der Welt und ringt zusammen mit allen Menschen guten Willens mit den dämonischen Mächten. Er wirkt in den Netzwerken und Gruppen außerhalb und innerhalb der großen Religionsgemeinschaften (ja, nicht nur in christlichen, sondern auch in muslimischen Kommunitäten!). Er lenkt nicht wenige standfeste Menschen in der Politik und verhindert, dass Euro­pa in die Irre geht, in Angst versinkt und die Solidarität verrät. All diese Menschen halten es mit Franklin D. Roosevelt, der im Krisenjahr 1933 in seiner Antrittsrede als 32. Präsident der Vereinigten Staaten sagte: „The only thing we have to fear is fear itself“ – „Wovor wir einzig Angst ha­ben müssen ist die Angst selbst.“ Komm, Heiliger Geist!

PROF. DR. PAUL M. ZULEHNER wohnt in Wien und ist emeritierter Professor für Pastoral theologie und Religions- und Werteforscher.

Die letzte Glut erlischt, restlicher Rauch steigt auf. Er liegt in seinem Schlafsack, die Füße ausgestreckt Richtung Feuer­platz. Durch das Loch in der Mitte des Zeltdachs zieht der Rauch in Richtung Himmel. Er sieht Wolkenberge, die ziehen über den klaren Sternenhimmel. Es ist sein erstes Pfadfinderlager zu Pfingsten. Es ist kalt, es hat geregnet. Das hatte er sich anders vorgestellt; er denkt an sein Bett zu Hause und die Geschwis ter. Jemand schnarcht leise. Er kann nicht schlafen. Er fühlt sich ver­lassen. Die Mischung von Rauch und nasser Erde beißt in der Nase. Dunkler Schmerz in seinen Bauch hält ihn wach. Die Gedanken kreisen. Blauer Himmel strahlt durch das Rauch­loch. Er wacht auf. Schlafsäcke liegen ver­lassen da. Von draußen dringt munteres Stimmengewirr

herein, jemand lacht, Blechgeschirr klappert. Einer der Älteren ruft: „Kaffee!“ Jemand bringt ihm einen Becher. Den nimmt er in beide Hände, die Wärme breitet sich aus. „Schwierigkeiten hat fast jeder beim ersten Mal“, sagt der Kaffee­bote, „für uns ist es sehr gut, dass du mitgefahren bist.“ Das ermutigt ihn; er liest das Tagesprogramm, trägt sich für das Fußballturnier ein. Abends sorgt das Feuer wieder für Wärme. Jemand macht Musik, singt leise. Als er sich in seinen Schlafsack einrollt, ziehen die Gesichter der andern an ihm vorbei, er wiederholt einige Namen. Das ist eine gute Mannschaft. Die Wärme des Feuers macht ihn noch müder. Die Erde riecht nach Frühling. Sein Blick sucht noch einmal den Faden, den der Rauch nach oben zieht.

Zum Glück ist er hier. HENNING KIENE

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Wir müssen nicht mehr

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MIT ALLEN MENSCHEN GUTEN

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MÄCHTEN

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Metropolen werden als Vorboten angese­hen. Mit den Schutzsuchenden kommen Kriminelle und Terroristen, sagen selbst europäische Regierungen eintönig und wider besseres Wissen. Man müsse alle, die aus bestimmten muslimischen Län­dern kommen, an der Einreise hindern. Vormoderne arabische Länder in islamis­tische Gewaltherde umzudeuten ist irra­tional: Das bildet aber die Grundlage der Außenpolitik nicht weniger Länder. Sie schotten sich ab.

Der Club of Rome hatte schon 1991 prognostiziert, dass sich angesichts des vorhersehbaren „Globalen Marsches“ viele Menschen auf dem Weg vom Süden in den Norden und vom Osten in den Westen machen werden. Dieser Marsch werde ausgelöst durch Kriege, hoffnungs­lose Armut und Umweltkatastrophen. Das werde in den Zielländern zu einem „defensiven Rassismus“ führen und bei demokratischen Wahlen rechtsgerichtete Diktatoren an die Macht bringen.

Natürlich gibt es nicht nur diese dunk len Geschichten, die, schaut man auf die Gräuel des Krieges in Syrien, ge­radezu dämonisch dünken. Wie können Menschen nur derart teuflisch sein? „Der Krieg schaut niemandem ins Gesicht“, so der derzeitige Bischof von Rom Franzis­kus. Und wir neigen dazu, wegzuschauen und uns das Elend der Menschen vom Leib zu halten. Wir igeln uns in unserem erreichten Wohlstand ein und verwenden ihn als Schutzwall – nach außen gegen jene, die bei uns mitleben wollen. Aber nach innen wehren wir uns letztlich ge­gen unsere eigene Angst.

Es gibt aber auch die andere Seite: Die Regierenden, die sich um einen Waffenstillstand mühen und Waffenlie­ferungen erschweren. Jene, die standfest am Asylrecht festhalten und nicht bereit sind, es auszudünnen. Viele in der Zivil­gesellschaft haben die Willkommenskul­tur nicht aufgegeben, obgleich sie vielfach ironisiert wird: Die Gutwilligen wer­den als Gutmenschen beschimpft. Dazu kommt, dass die Integration von Men­schen aus fremden, oftmals vormodernen Kulturen, nicht leichtfällt. Integration lebt davon, die jeweilige Landessprache zu lernen, eine Wohnung und Arbeit zu finden. Aufnehmen war leicht, integrie­ren ist schwer und dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Eine Frau, die sich un­

– dass Pfingsten auch Dynamik verheißt, einen Aufbruch, der alles gewohnte infrage stellt VON PAUL M. ZULEHNER

PRAKTISCH UND NICHT MIRAKULÖS

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feierlicher Abschluss der Osterzeit, um das Pfingstfest neu und anders zu entdecken VON MICHAEL OERTLIN

ÖKUMenisCHe PfingstnACHt

Vor mehr als zehn Jahren mach­ten sich die evangelischen und katholischen Kirchengemeinden

in Grenzach­Wyhlen – einer Gemeinde auf der deutschen Seite des Rheinknies bei Basel – auf den Weg, das Pfingstfest neu und anders zu entdecken. Bis dahin war Pfingsten geprägt durch die kon­fessionellen Gemeindegottesdienste am Pfingstsonntag und gemeinsame, ökume­nische Traditionen gab es nicht. Durch die langen 14­tägigen Pfingstferien in Baden­Württemberg und Bayern ist Pfingsten mehr ein Anlass für vorgezogene Som­merferien als für ein religiöses Fest. Seine Bedeutung ist selbst den meisten Christen schwerer zu vermitteln als die mit Sym­bolen und Traditionen fast schon über­ladenen Feste Ostern und Weihnachten. Die Organisatoren fragten sich damals, wie man Pfingsten aus dem Alltag und der Bedeutungslosigkeit hervorheben und den Festcharakter betonen könne, und kamen sehr schnell zur Form einer nächtlichen Feier, vergleichbar der Osternacht und

der Christmette an Weihnachten. Da es die Pfingstnacht in keiner der Kirchen bis dahin als eigenständige liturgische Form gab, nahm man sich die Freiheit, neue

Formen und künstlerische Elemente in die Feier zu integrieren. So gab es bisher be­reits Video­Klang­Installationen mit sehr modernen Elementen, den Auftritt eines Hang­Künstlers mit seinen Percussion­ Instrumenten, das Spiel mit Feuer und Licht, Orgelimprovisationen und Gre­gorianik. Wichtig ist, dass neben den meditativen Textelementen auch immer alle Sinne angesprochen werden. Immer wiederkehrende Elemente sind in den Pfingstnächten die Gesänge aus Taizé, eine Firm­ oder Konfirmationserneuerung, die Geistzusage in Form einer Einzelsegnung und das Pfingstfeuer vor der Kirche. Die Pfingstnacht erlangte in der Gemeinde als eigenständige liturgische Feier eine wachsende Beliebtheit und ist einer der zentralen Gottesdienste einer ansonsten lebhaften Ökumene vor Ort.

Erst im 4. Jahrhundert begann man am 40. Tag der Osterfest­zeit die Rückkehr Jesu Christi als Sohn Gottes zu seinem Vater im Himmel zu feiern. Der Auferstan­dene nimmt Platz im Himmel zur Rechten Gottes (Lk 24,50–53 und Apg 1,1–11). Gesetzlicher Feiertag ist Himmel­fahrt seit den 1930er Jahren. Am gleichen Tag wird in Deutschland Vatertag (regional auch: Herren­tag) begangen. SUSANNE ERLECKE

Himmelfahrt

INFO er aus dem Griechischen stammende Begriff „Öku­mene“ bedeutete ursprüng­lich „bewohnte Erde“. In­dem die Christen an der

Heilung der Wunden, die sie einander verursacht haben,

und an der Wieder herstellung und Vertiefung der sichtbaren Einheit der Kir­che arbeiten, tragen sie zur Bewohnbarmachung der Welt überhaupt bei. Den Konflikten der Vergangenheit stellen sie ihre Vision echter Ge­meinschaft entgegen. Die christliche Gemein­schaftsvision lässt sich allerdings nicht nur auf das christliche oder menschliche Miteinander beschränken; ihr unbestreitbares Zentrum ist der lobzupreisende Schöpfergott. Dem Schöpfer kann man aber keine Ehre erweisen, wenn man gleichzeitig seine Schöpfung missbraucht. Das

ökologische Anliegen ist daher ex natura ein zutiefst ökumenisches.

Die Ökologie prägt die ökumenische Bewe­gung nicht nur im theologischen, sondern auch im gottesdienstlichen Bereich: Ursprünglich aus der Orthodoxie stammend (obwohl man die ökume­nischen Impulse dazu nicht unterschätzen darf, etwa vom Konziliaren Prozess für Frieden, Ge­rechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung) wird das Schöpfungsfest heute in einer großen Breite von kirchlichen und ökumenischen Kontexten gefeiert. Bereits 1989 hat der damalige Ökume­nische Patriarch von Konstantinopel Dimitrios I. dazu aufgerufen, dass der 1. September (das ist der erste Tag des orthodoxen Kirchenjahres) als Tag der Bewahrung der natürlichen Umwelt begangen wird. Einstimmig hat die orthodoxe Welt seinen Vorschlag angenommen; das Schöp­fungsfest wurde zum Bestandteil des orthodoxen

tag der Bewahrung der natürlichen Umwelt VON GEORGIOS VLANTIS

GEORGIOS VLANTIS, M. th., ist (orthodoxer) Diplomtheologe (Ökumenisches Patriarchat von Konstantinopel) und geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Bayern.

MICHAEL OERTLIN ist Pfarrgemeinderats- vorsitzender der katholischen Kirchen- gemeinde in grenzach-Wyhlen und seit vielen Jahren ehrenamtlich in der Vorbereitung von gottesdiensten und in der Ökumene tätig.

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liturgischen Kalenders. Der neue Feiertag hat aber auch Brücken zu anderen Kirchen gebaut: Die dritte Europäische Ökumenische Versamm­lung der Kirchen (Sibiu 2007) hat die Schöp­fungszeit ausgerufen. Die Versammlung ermutigte ihre Mitglieder dazu, sich auf ihre Verantwortung für Gottes Schöpfung zu be­sinnen, und den Zeitraum zwischen dem 1. September und dem 4. Oktober dem Gebet für die Bewah rung der Schöpfung zu widmen. Beim zweiten Ökume­nischen Kirchentag (Mün­chen 2010) proklamierte der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christ­licher Kirchen in Deutschland (ACK), Landes­bischof Friedrich Weber, im Namen der ACK den ersten Freitag im September als Schöpfungstag. Seitdem spielt die ACK auf Bundes­, Regional­

und Lokalebene eine zentrale Rolle bei der öku­menischen Gestaltung dieser Feier. 2015 hat auch Papst Franziskus den 1. September als jährlichen Gebetstag für die Schöpfung in den liturgischen

Kalender der Römisch­Katholischen Kirche einge­führt.

Die Überwindung kon­fessionalistischer Starrsin­nigkeit hilft den Kirchen, Schätze ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu entdecken, sich voneinander inspirieren zu lassen und dadurch eine gemeinsame christliche Zu­kunft kreativer zu gestalten. Das Omega ist nicht ohne

sein Verhältnis zum Alpha zu erfassen; die Escha­tologie setzt die Protologie voraus, die Teilhabe an der Neuschöpfung die Besinnung auf die Schöp­fung – und das intensive Gebet in ökumenischer Verbundenheit dafür.

Der Geburt und Namensgebung Johannes des Täufers (Lk 1, 5–23) wird am 24. Juni, dem antiken Da­tum der Sommersonnenwende, gedacht. Anlass zu diesem Bezug war der Ausspruch des Johannes: „Er [Jesus] muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ (Joh 3,30). Die Volkstümlichkeit dieses Tages ist wohl darauf zurückzuführen, dass das Naturjahr seinen Höhe­punkt erreicht hat (siehe das offi­zielle Ende des Spargel stechens).

Viele Bräuche ranken sich um das Fest, wie das Johannis­feuer oder der Johanniskuchen,

der noch warm nach Hause getragen wird (Elsass). Die Redensart „Hans Dampf in allen Gassen“ lässt sich

darauf zurückführen.

Das Michaelisfest ist ebenso popu­lär wie der Johannistag und wird oft gottesdienstlich gefeiert. Liturgisch läutet es schon das Ende des Kir­chenjahres ein. Die Epistel erzählt vom Kampf Michaels und seiner Engel mit dem Drachen (Offb 12,7–12a), das Evangelium (Lk 10,17–20) berichtet von der Macht, die die von Jesu beauftragten Jünger über die bösen Geister besitzen. Ursprüng­lich wurde am Michaelisfest auch aller anderen Engel einschließlich der Schutz engel gedacht. Als Boten Gottes stellen sich die Engel schüt­zend vor die Menschen.

In allen Religionen begegnet uns dieses Fest. Zu den religiösen Grundbedürfnissen gehört zu al­len Zeiten, Gott für die Ernte zu danken. Sich an den engen Zu­sammenhang zwischen Mensch und Natur zu erinnern, hat auch zukunftsweisenden Charakter. Das Fest soll deutlich machen, dass der Mensch die Schöpfung Gottes nicht unter Kontrolle hat, sondern deren Teil ist. Umweltschutz, Gen­technik und Verschwendung von Lebensmitteln spielt beim Feiern heute eine wichtige Rolle. In der Regel feiern evangelische Christen das Erntedankfest am Sonntag nach Michaelis oder am ersten Sonntag im Oktober. Den Altarraum mit den Erntegaben (Getreidegarben, Brot und Wein­trauben) zu schmücken, ist guter Brauch. Danken und teilen gehö­ren nach christlichem Verständnis zusammen. An vielen Orten wer­den die Gaben daher zugunsten sozialer Zwecke gespendet oder verkauft. SUSANNE ERLECKE

Johannistag, 24. Juni Michaelis, 29. September Erntedank

INFO

HOTSPOT: aus einer Gemeinde deutscher Sprache . Australien

„THIS LITTLE LIGHT OF MINE . . .“ Ein gewaltiger Asteroideneinschlag vor unvordenklichen Zeiten hat die Erde in Schieflage gebracht. Seither kreist sie nicht mehr kerzengerade um die Sonne. Wir verdanken der Schieflage die Jahreszeiten, den Wech-sel von Sommer und Winter – und dass sich Süd- und Nordhalbkugel damit abwechseln. So ist es im Süden Sommer, wenn in Deutschland die Kinder am Sankt-Martins-Tag im November ihre Laternen nehmen und am Martinszug teilnehmen. Wenn wir hier im Süden im November das Martinsfest mit den Kindern und Laternen feiern wollten, dann müssten die Kinder sehr lange aufbleiben, bis in die Nacht hinein,

weil es erst spät dunkel wird. Es würde auch nicht die richtige Stimmung aufkommen. Da wir schon Heiligabend und Weih-

nachten bei 40 Grad Hitze mit Barbecue am Strand feiern, wur-de der „weniger wichtige“ Sankt-Martins-Tag in Melbour-

ne Anfang der 2000er Jahre kurzerhand auf Ende Mai, Anfang Juni verlegt. Seither versammeln sich bis zu 500

große und kleine meist deutschsprachige Melbourner zum Laternenlauf. Die Kinder führen die Geschichte

vom Heiligen Martin mit dem Mantel auf. Alle halten die Lampen hoch, wenn wir das Licht

in der Kirche abschalten. Ein „richtiger“ Sankt Martin führt den Zug durch

den nahegelegenen Park an,

zusammen mit einer kleinen ehrenamtlichen Blaskapelle. Hinterher stärken wir uns mit Brat-wurst und Glühwein. So weit, so deutsch – nur falsches Datum. In diesem Jahr nehmen Vertreter der vietna-mesischen Community in Melbourne mit ihren Kindern und Laternen teil. Manche von den Erwachsenen waren in den 80er Jahren Boat-people, Flüchtlinge aus Vietnam, und verdan-ken dem deutschen Hilfswerk Cap Anamur ihr Leben. Unser Konsul, Michael Pearce, hat den Kontakt hergestellt. Vor unserem Laternen-umzug wird Mr. Phong berichten, wie das war, als er elf Jahre alt war und Angst hatte, draußen auf dem Meer. Da waren die Lichter der Pira-tenboote – und auf einmal die großen Lichter des Frachters Cap Anamur. Rettung. So werden wir mit den Menschen aus der viet-namesischen Community unsere Laternen an-zünden und hochhalten und sammeln für Menschen in Not, für Flüchtlinge. „This little light of mine . . .“

DIE ÜBERWINDUNG KONFESSIONALIS-TISCHER STARR-

SINNIGKEIT HILFT, EINE GEMEINSAME

CHRISTLICHE ZUKUNFT KREATIVER

ZU GESTALTEN

PFARRER CHRISTOPH DIELMANN ist Pastor an der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Dreifaltigkeitskirche

in Melbourne.

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Überwindung konfessioneller GräbenIn einer multireligiösen Welt wäre ein Refor­mationsgedenken als Ausdruck konfessioneller Selbstbehauptung ein Anachronismus. 2017 war die erste große Jahrhundertfeier im Zeitalter der Ökumene. Wilhelm Stählin hatte bereits in den 60er Jahren gemahnt, den Reformationstag „nicht mit dem Pathos konfessioneller Selbstsicherheit als das ‚Fest‘ unserer Überlegenheit [zu] begehen, sondern eher als einen Tag sowohl dankbarer wie bußfertiger Besinnung“. Auf katholischer Seite hat Karl Kardinal Lehmann das Jubiläum früh als ökumenische Chance begriffen. Nach anfäng­lichen Irritationen konnten evangelische und katholische Kirche unter dem Stichwort „healing of memories“ das Jubiläum unter dem Zeichen der Versöhnung als Christusfest feiern.

Ein halber Feiertag? Stählin hatte auch davor gewarnt, „aus konfessi­onellen Prestigegründen“ auf einen gesetzlichen Feiertag zu drängen. Da Luther mit seinen Thesen am Vorabend des Allerheiligenfestes zur Diskussi­on über das Ablasswesen aufgerufen habe, schlug er vor, Reformationsgedenken und Allerheiligen zu verbinden. Seine Idee, die „Väter der Reforma­tion [. . .] in der Mitte der Wolke der Zeugen und inmitten aller ‚Heiligen‘ zu sehen“, ist reizvoll, wenngleich kaum realistisch. Sie unterschätzt die Beharrungskraft geprägter Traditionen. Dass in einigen Bundesländern der Reformationstag, in anderen hingegen Allerheiligen Feiertag ist, dürf­te einer einheitlichen Regelung entgegenstehen.

Der Vorschlag des Ratsvorsitzenden hat in der Politik eine erstaunlich positive Resonanz gefunden; gleichwohl zeigt sich, dass die Debatte schnell umschlägt in eine allgemeine Feiertags­diskussion. Für den Reformationstag sprechen neben der Bedeutung der Reformation seine breite Akzeptanz und hohe Popularität. Zugleich steht er in Konkurrenz zu anderen Vorschlägen. Die vielerorts übliche Praxis, das Reformations­gedächtnis am Sonntag vor oder nach dem 31. Oktober zu begehen, behält daher ihren Reiz. Der Reformationstag zählt traditionell zu den „halben Feiertagen“. Es gibt gute Gründe, ihn als Feiertag beizubehalten, wo er es bereits ist; es gibt aber ebenso gute Gründe, ihn dort, wo eine (Wie­der­)Einführung nicht möglich ist, weiterhin am nächstgelegenen Sonntag zu feiern, gleichwohl als ökumenische Einladung und in einem gesamt­gesellschaftlichen Horizont. Das jedenfalls ist als Ertrag des Jubiläums festzuhalten.

Bereits Luther monierte mit Blick auf die zahlreichen Heiligenfeste: „Aber nun sind wir mit vielen Feiertagen ge­plagt . . .“ Eingeklemmt im Gedenktag­

stau zwischen Weltspartag, Allerheiligen und Allerseelen hat es der Reformationstag auch heu­te nicht leicht. Durch den Erfolg von Halloween droht er wie schon der Weltspartag in der Be­deutungslosigkeit zu verschwinden. Illuminierte Kürbisköpfe machen sich besser als die Erinnerung an den Thesenanschlag, und „Süßes statt Saures“ ist populärer als preußisches Sparsamkeitspathos.

Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Jubi­läum 2017 lässt jedoch hoffen, dass mit der Wür­digung als bundesweit arbeitsfreier Feiertag im Jubiläumsjahr auch die Bedeutung des Refor­mationstages gestärkt wird. Der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford­Strohm, hat daher vorgeschlagen, ihn dauerhaft zu einem bundes­einheitlichen Feiertag zu machen. Aber ist das sinnvoll, in einem Land, in dem nur noch jeder Dritte evangelisch ist? Ein Jubiläum ist kein Jah­restag. Der Kreis der Geladenen ist weiter, das Fest größer, die Feier länger, und die Kosten sind höher. Funktioniert die „Sonderschau“ des Jahr­hundertjubiläums auch als Dauerausstellung im Format eines jährlichen Feiertages, ohne dass die 2017 aufpolierte Erinnerung wieder einstaubt?

Rituale des Gedenkens Womöglich droht dem Reformationstag das gleiche Schicksal wie dem 1. Mai oder dem 3. Oktober, bei denen sich ideeller Gehalt und prak­tische Gestaltung weit voneinander entfernt ha­ben? Es dominieren Grillfeste und Ausflüge ins Grüne. Vom Feiertag blieb der Ferientag. Seine Bedeutung nehmen viele nur noch post festum in den abendlichen Nachrichten wahr, die von Maikundgebungen und Staatsakt berichten.

Spricht nicht auch der Mangel an „verbindlich kulturell­ritueller Praxis“ (Thomas Kaufmann) ge­gen einen Feiertag? Der Reformationstag erscheint blass gegenüber dem gruselig bunten Halloween. Und der Gang zur Sparkasse mit der rasselnden Büchse voller Groschen hat sich wie der Friedhofs­besuch an Allerheiligen tiefer in das kommunika­tive Gedächtnis ganzer Generationen eingebrannt als der Festgottesdienst am Reformationstag. Sein spiritueller Sinn erschließt sich nur über den Umweg historischer Erinnerung. Die Rituale des

„DENKMAL­PFLEGE“ IST MEHR ALS

GEDÄCHTNIS­ AUFFRISCHUNG;

SIE IST PFLEGE DES

KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES

UND VER­GEWISSERUNG

EINER GEMEINSAMEN

IDENTITÄT

DER REFORMATIONSTAG ALS DENKMAL IN DER ZEIT

PFARRER DR. MARTIN HAUGER ist oberkirchen-rat und im Kirchenamt der eKD zuständig für das Referat glaube und Dialog.

mann einschränkend hinzufügt, dass er sich ge­rade darum nur bedingt als kirchlicher Feiertag eigne. Denn die Intention der Reformatoren ließe sich mit den Folgen der Reformation nur schwer in eins bringen. Viele neuzeitliche Errungenschaf­ten wie Freiheit, Toleranz, Demokratie, Gleich­berechtigung und Bildung haben zwar Impulse der Reformation aufgenommen, sich aber erst im Wechselspiel mit anderen historischen Kräften entfaltet – oft gegen den Widerstand der Kirchen.

Heute tritt die evangelische Kirche aus eige­ner Überzeugung für eine offene Gesellschaft und eine demokratische Verfassung ein, für Bildung und individuelle Freiheitsrechte, für Gleichberechtigung der Geschlechter und re­ligiöse Toleranz. Sie begründet dies aus einer reformatorischen Haltung. Dahinter steht eine Lerngeschichte. Das Potenzial großer Ideen reicht weiter als die Vorstellungskraft ihrer Er­finder. Kirchliches und gesellschaftliches Ge­denken können sich wechselseitig ergänzen. Die reformatorische Freiheitsbotschaft drängt hin zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und Mitge­staltung. Neuzeitliche Freiheitsrechte gründen im Gedanken der unveräußerlichen Würde eines jeden Menschen als säkularem Erbe eines christ­lichen Menschenbildes.

kommemorativen Gedenkens sind darum andere als die Riten existenzieller Vergewisserung.

Denkmal in der Zeit Als „Denkmäler in der Zeit“ (Aleida Assmann) zeigen Feiertage, wie wir uns verstehen und wel­chen Erinnerungen im öffentlichen Raum eine identitätsstiftende Bedeutung zukommt. Damit ein historisches Datum zu einem Gedenktag werden kann, muss ihm in einer Gemeinschaft eine sinnstiftende Kraft zugeschrieben werden. „Denkmalpflege“ ist daher mehr als Gedächtnis­auffrischung; sie ist Pflege des kulturellen Ge­dächtnisses und Vergewisserung einer gemein­samen Identität. Es bedarf der Unterbrechung des Alltags. Es braucht Zeit und Raum für Inter­aktion und Partizipation, Gelegenheit für Wir­Inszenierung und Anstöße zur kritischen Refle­xion. Zum Festcharakter gehört das Vergnügen, zum Kirchweihfest der Jahrmarkt.

Der Reformationstag als „hybrider Feiertag“Luthers Thesenanschlag bleibt das Symbol datum einer Bewegung, die die Welt verändert hat. Kauf­mann sprach vom Reformationstag als „hybriden Feiertag“; er ist Gründungsdatum des Protestan­tismus und „Ereignis von Weltrang“. Wobei Kauf­

LUTHERS THESEN­ANSCHLAG bleibt das symboldatum einer Bewegung,

die die Welt verändert hat

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Überlegungen zum Reformationstag als Feiertag VON MARTIN HAUGER

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RefoRmationstag RefLeXion

mation in den Fokus stellte und neben grund­sätzlichen Beiträgen auch Bausteine für einen Gottesdienst am Reformationstag anbot. Religi­onspädagogische Perspektiven und praktisches Material für die konkrete Umsetzung wurden soweit vorbereitet, dass in der Praxis einzelne Elemente direkt angewendet werden konnten. Die Umsetzung dieser Konzeption hat inner­kirchlich zu der stärkeren Profilierung des Refor­mationstages beigetragen. Die Themenhefte tru­gen zudem mancherorts durch ihr frühzeitiges Erscheinen vor den Sommerferien eines Jahres auch zur Interpretation des Themenjahres der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Seite bei.

Das Gedenken an den 500. Jahrestag der Re­formation sowie die vorauslaufende Reformati­onsdekade scheinen ähnlich wie frühere Säkular­feiern die Bedeutung des Reformationstages neu ins Bewusstsein gebracht zu haben. Ausweislich der fünften Kirchenmitgliedschaftsunter suchung spielt der Gottesdienst am Reformationstag eine prominente Rolle in der Wahrnehmung der Kir­chenmitglieder. Als besonderer Anlass für den Gottesdienstbesuch rangiert er im Verlauf des Kirchenjahres hinter Heiligabend und Ostern, aber noch vor Erntedank, Volkstrauer tag und Ewigkeitssonntag. Diese Werte deuten darauf hin, dass der Reformationstag im volkskirch­lichen Bewusstsein im Zuge des Reformations­

gedenkens an Bedeutung gewonnen hat. Die Regelung, ihn für 2017 als gesetzlichen Feiertag zu erklären, wird diese Tendenz vermutlich noch verstärken. Bei den Feierlichkeiten zum 500­ jährigen Reformationsjubiläum gelingt es gegen­ wärtig erstmals, dieses in ökumenischer Offen­heit sowie ohne nationale Engführung und über­mäßige Lutherzentrierung zu begehen. Stattdessen wird an die Reformation als ein Ereignis erinnert, das als kirchliche Erneuerungsbewegung auch von katholischer Seite wahrgenommen wird und das darüber hinaus gesellschaftliche Ausstrah­lungskraft besitzt, insbesondere in der aktuellen gesellschaftlichen Wertediskussion.

 Die für das Jahr 2017 erreichte Sonder­regelung, den Reformationstag einmalig als bundesweiten gesetzlichen Feiertag

zu begehen, hat innerhalb der politischen Organe verschiedener Bundesländer und auch innerhalb der EKD eine Diskussion um einen zusätzlichen gesetzlichen Feiertag (sei es der Reformationstag oder der Buß­ und Bettag) ausgelöst. Ein dauer­hafter Status als gesetzlicher Feiertag in allen Bun­desländern würde den Reformationstag sicher weiter stärken und dabei helfen, das 500­jährige Reformationsjubiläum volkskirchlich und gesell­schaftlich auch nachhaltig zu verankern. Denn die Impulse der Reformation beeinflussen ohne Zwei­fel bis heute die Gesellschaft in Politik und Spra­che, Sozialwesen und Bildung, Kunst und Musik.

Obwohl also viel für die dauerhafte Einrich­tung eines bundesweiten Feiertages am 31.  Ok­tober spricht, empfiehlt sich bei nüchterner Be­trachtung dennoch ein wenig Gemach. Vor allzu vollmundigen Forderungen von Seiten der Kirche sollte die hoffentlich breite Rezeption des Feier­tages 2017 abgewartet und evaluiert werden. Ein erkennbarer Erfolg dieses Feiertages würde den Überlegungen bezüglich einer Ausweitung auf die kommenden Jahre zusätzliches Gewicht verleihen. Außerdem ist die Frage zu bedenken, welcher der momentan in Rede stehenden evan­gelisch geprägten Feiertage denn für die bundes­weite Arbeitsfreiheit gefordert werden sollte. Denn neben dem Reformationstag bietet sich natürlich auch der Buß­ und Bettag dafür an. Zu sondieren ist schließlich, ob das gesellschaftliche Klima für die (Wieder­)Einführung eines spezifisch evange­lisch geprägten Feiertages günstig ist oder ob aus politischer Perspektive eher säkulare Anlässe für einen zusätzlichen Feiertag in den Blick geraten. Vor diesem Hintergrund erscheint es klug, dass die evangelische Kirche einen dauerhaft arbeits­freien Reformationstag derzeit nicht von sich aus fordert, aber die entsprechenden Vorstöße aus Po­litik und Kultur natürlich sehr begrüßt.

Der bundesweite Feiertag am 31. Okto­ber des Jubiläumsjahres 2017 ist der vorläufige Höhepunkt der öffentlichen Wahrnehmung des Reformations­

tages. Dieser Gedenktag blickt auf eine wechsel­volle Geschichte zurück und hat in den vergange­nen Jahren stetig an Bedeutung gewonnen. Beide Aspekte verdienen an dieser Stelle eine kurze Betrachtung.

Das Reformationsgedenken am 31. Oktober hat in Deutschland eine bis in das 16. Jahrhun­dert hineinreichende Tradition. Seit 1667 wurde die Erinnerung an die Reformation mit dem 31. Oktober verbunden oder am darauffolgenden Sonntag begangen. Bei der Feiertagsregelung des Reformationstages, der in Deutschland in man­chen Territorien nach 1717 oder 1817 zum Feier­tag erklärt wurde, spielten die Säkularfeiern eine wichtige Rolle. Während der Zeit des Nationalso­zialismus war der Reformationstag im Deutschen Reich kein gesetzlicher Feiertag. Nach 1945 gab es in Ost­ und Westdeutschland unterschiedliche ge­setzliche Regelungen. So war der 31. Oktober bei­spielsweise bis 1966 gesetzlicher Feiertag in weiten Teilen der DDR (außer in Ostberlin), wurde dann aber ab 1967 wegen der Einführung der Fünftage­woche abgeschafft. Seit der Wiedervereinigung ist der Reformationstag in Brandenburg, Meck­lenburg­Vorpommern, Sachsen, Sachsen­Anhalt

und Thüringen gesetzlicher Feiertag. In den 70er und 80er Jahren wurden die Möglichkeiten, die der Reformationstag zur kirchlichen Identitäts­stiftung bot, teilweise aus den Augen verloren.

Als in den 90er Jahren Halloween auch in Deutschland Einzug in den kulturellen Main­stream erhielt, belebte die Konkurrenz um die Deutungshoheit des 31. Oktobers das kirchliche Geschäft wieder. Die Sorge, dass der 31. Oktober von nachwachsenden Generationen nur noch als Abend von Halloween wahrgenommen werden könnte, führte zu einer Vielzahl von kirchlichen Aktivitäten, die bis heute den Reformationstag beleben. Man mag über Lutherbonbons und an­dere Devotionalien geteilter Meinung sein. Zur Präsenz und öffentlichen Wahrnehmung des Reformationstages in der säkularen Gesellschaft tragen sie jedoch unzweifelhaft bei.

E inen weiteren Schritt zur inhaltlichen Qualifizierung und öffentlichen Wahr­nehmung des Reformationstages ging die

EKD in der Vorbereitung des Reformationsjubi­läums mit der Reformationsdekade und den mit ihr verbundenen Themenjahren. Seit 2008 wurde jeweils am Reformationstag ein weiteres Themen­jahr auf dem Weg zum Reformationsjubiläum eröffnet. Zu jedem Themenjahr erschien ein Magazin, das einen zentralen Impuls der Refor­

ALS BESONDERER ANLASS FÜR DEN GOTTES­

DIENSTBESUCH RANGIERT DER

REFORMATIONSTAG HINTER HEILIG­

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VOR ERNTEDANK, VOLKSTRAUERTAG UND EWIGKEITS­

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ein tag mit wechselvoller geschichte gewinnt an Bedeutung VON KONRAD

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REFORMATIONSTAG IM AUFSCHWUNG

PFARRER DR. KONRAD MERZYN ist ober-kirchenrat und im Kirchenamt der eKD zuständig für das Referat studien- und Planungsfragen. er leitet das Projekt-büro Reformprozess.

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Der Herbst erinnert uns an die Vergänglichkeit allen Lebens VON JÜRGEN­PETER LESCH

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Volkstrauertag

Der Volkstrauertag geht auf die Initiative des Vereins Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

(VDK) von 1920 zurück. Er sollte „als ein weltlicher Tag im engen Einverneh­men mit den Religionsgemeinschaften begangen werden“.

Zunächst 1922 und dann von 1925 bis 1932 jährlich fand eine zentrale Veran­staltung im Reichstag statt. Zugleich ver­anstalteten vor allem die Ortsverbände des VDK Gedenkfeiern. Ab 1926 wurde die zentrale Gedenkveranstaltung reichs­weit im Rundfunk übertragen.

1934 wurde der Volkstrauertag gesetz­licher Feiertag und in „Heldengedenktag“ umbenannt. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda über­nahm Mitverantwortung für die Gestal­tung des Tages.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm nur die Bundesrepublik den Volkstrauer­tag wieder auf. Ab 1950 fanden zentra­le Gedenkfeiern statt. 1952 empfahl das Bundesinnenministerium, den zweit­letzten Sonntag des Kirchenjahres zum Volkstrauertag zu bestimmen. Die Durch­führung der Veranstaltungen dieses Tages lag wieder beim VDK. In das Gedenken wurden zu den Soldaten der beiden Welt­kriege auch die zivilen Opfer des Bom­benkrieges und der Flucht und Vertrei­bung aufgenommen. Auch der Verfolgten des Nationalsozialismus wurde gedacht.

Fortan wurden beim Gedenken immer mehr Menschengruppen in den Blick genommen und auch zeitliche wie nati­onale Grenzen überschritten. Selbstver­ständlich wird der Toten und Verletzten in Kriegen und Bürgerkriegen weltweit gedacht und die Opfer aller terroristi­schen Anschläge werden miteinbezogen. Fremdenfeindlichkeit, Hass auf und Ge­walt gegen alle Fremden und alles Frem­de werden thematisiert. Die Hoffnung auf Versöhnung wird betont und die Bereit­schaft zu Frieden eingefordert.

Buß- und Bettag

 Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‚Tut Buße‘ usw. (Mt 4,17), hat er gewollt, dass das

ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ – Die erste von Luthers 95 Thesen berechtigt zur Frage, warum es in der evangelischen Kirche einen besonderen Buß­ und Bettag gibt. Nun, die Bußtage haben eine lange Geschichte. In den ersten Jahrhunderten gab es zwei wöchentliche Bußtage: der Mittwoch als Erinnerung an den Verrat Jesu durch Judas, der Frei­tag in Erinnerung der Hinrichtung Jesu am Kreuz. Wenig später kamen zu diesen Tagen kürzere und längere Bußzeiten: die Passionszeit und der Advent. Buße wur­de dabei immer sowohl als eine Zeit der Zurückhaltung beim Essen und Trinken als auch als Zeit der Vorbereitung auf ein Fest gesehen. Es ging darum, innezuhal­

ten, sich auf den Sonntag bzw. auf das Os­ter­ wie das Weihnachtsfest in Gedanken einzustellen, sich sozusagen zu „läutern“.

Außerordentliche Buß­ und Bettage sind von christlichen Landesfürsten in Zei­ten von Angst und Not eingesetzt worden.

Jährlich wiederkehrende Bußtage wa­ren in den deutschen Territorien ganz un­terschiedlich festgelegt. Ein einheitlicher Buß­ und Bettag am Mittwoch vor dem letzten Sonntag im Kirchenjahr wurde von der Eisenacher Konferenz evange­lischer Kirchenleitungen vorgeschlagen und schließlich 1893 in Preußen als allge­meiner Feiertag verordnet.

In der Weimarer Republik gab es Ver­ suche, den als arbeitsfreien evangelischen Feiertag anerkannten Buß­ und  Bettag durch einen Feiertag am 9. November zu ersetzen. Dagegen gab es heftigen Wider­stand. 1934 wurde der „Bußtag am Mitt­woch vor dem letzten Trinitatissonntag“ zwar gesetzlich festgeschrieben, 1939 nach Kriegsbeginn aber „zur Erhöhung der Arbeitsleistung“ auf den Sonntag verlegt.

Nach dem Krieg erhielt der Bußtag seinen Platz am Mittwoch vor dem Ewig­keitssonntag wieder zurück. In der DDR wurde er im Jahr 1966 abgeschafft, in der gesamten Bundesrepublik 1981 gesetz­licher Feiertag. Nach der Wiedervereini­gung war der Buß­ und Bettag von 1990 bis Ende 1994 in allen Ländern der Bun­desrepublik Deutschland gesetzlicher Feiertag. Ab 1995 wurde er in allen Bun­desländern außer Baden­Württemberg

und Sachsen zur Finanzierung des Ar­beitgeberanteils der Pflegeversicherung aus der Liste der gesetzlichen Feiertage gestrichen. Inzwischen ist der Buß­ und Bettag nur noch in Sachsen Feiertag.

Der Buß­ und Bettag bietet Christen Raum, sich auf ihre Verantwortung ge­genüber der eigenen Person, der Welt und Gott zu besinnen und zu erkennen, wo Verhalten nicht richtig ist – und wo eine Veränderung der Haltung, des Redens und des Handelns guttäte und richtig wäre. So ist es sinnvoll, dass er seit 1980 End­ und Höhepunkt der jährlichen Frie­densdekade ist, die am drittletzten Sonn­tag des Kirchenjahres beginnt.

Ewigkeits- oder Totensonntag

in der katholischen Kirche wird am 2. November das Allerseelenfest zum Gedächtnis an alle Verstorbenen des

letzten Jahres gefeiert. In der Reformation wurden alle Arten von Messen, die für und zum Nutzen von Verstorbenen ge­lesen wurden, und damit auch der Aller­seelentag, abgelehnt. Allerdings forderte Luther im Blick auf die Beerdigungen pietätvolles Verhalten und Gesang der Glaubens­ und Auferstehungslieder. Am Brauch, an bestimmten Tagen im Jahr der in der Gemeinde Verstorbenen zu ge denken, wurde dennoch festgehalten. So halten es schon frühe evangelische Kirchenordnungen fest.

In den wachsenden Städten nahm im 17. Jahr hundert die Zahl der Bestattungen so zu, dass das alltägliche Leben immer stärker durch diese Feierlichkeiten be­stimmt wurde. Das hatte zur Folge, dass die Beerdigungen im 18. Jahrhundert völlig aus der Öffentlichkeit verdrängt wurden. Daraus erwuchs die Forderung allgemeiner „Totenfeiern“. Im Jahr 1816 hat zunächst Friedrich Wilhelm III. von Preußen, nach­dem Sachsen­Altenburg vorangegangen war, einen „Feiertag zum Gedächtnis der Entschlafenen“ angeordnet (wohl auch vor dem Hintergrund der Erinnerung an die in den Freiheitskriegen getöteten Soldaten). Dieser Gedenktag wurde schon bald auf den letzten Sonntag nach Trinitatis gelegt und bürgerte sich nach und nach in fast allen anderen deutschen Kirchen ein.

Im Sprachgebrauch der evangelischen Gottesdienstordnungen wird dieser letzte Sonntag des Kirchenjahres als Ewigkeits­sonntag bezeichnet. Der Tod bedeutet zwar auch im Glauben der Christinnen und Christen eine schmerzliche Trennung, er gilt für sie aber als Übergang zu einem neuen Leben in der Ewigkeit, wo Christus, der den Tod überwunden hat, sie erwartet.

An diesem Sonntag besuchen Men­schen die Friedhöfe und schmücken die Gräber ihrer Angehörigen. In manchen Gemeinden werden die Verstorbenen des ausgehenden Kirchenjahres namentlich im Gottesdienst genannt und zusammen mit ihren Angehörigen in das Fürbitten­gebet mit aufgenommen.

Das Jahresendfest hatten bereits die Römer gefeiert. Die Bezeich-nung „Silvester“ bezieht sich auf den Gedenktag des Bischofs von Rom, Silvester I. Er starb am 31. Dezember 335. Er war nach Zeiten der Christenverfolgung Zeuge der Konstantinischen Wende, mit der das Christentum in die Rolle der Reichsreligion hineinwuchs. Die Legende verbindet seinen Namen mit der Taufe Kaiser Konstantins. In den Gottesdiensten wird durch Röm 8, 31b–39 („Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein?“) und Lk 12,35–40 (Gleichnis von den Knechten, die auf ihren Herrn warten) ein endzeitliches Ele-ment mitten in der Weihnachts-zeit thematisiert.

Seit 153 v. Chr. fand in Rom in den ersten Januartagen der staatliche Ämterwechsel statt. Weil dies mit ausgelassenen Festgelagen ge-schah, beging man in der Alten Kirche in deutlicher Abgrenzung dazu den Neujahrstag mit Bußgot-tesdiensten und Fastenaufrufen. Im 6. Jahrhundert wurde dieser Tag zum Fest der Beschneidung (Lk 2,21) und Namensgebung Jesu. Luther verstärkte dies, denn für ihn begann das neue Jahr mit Weih-nachten: „. . . des freuen sich der Engel Schar und singen uns solch neues Jahr“ (EG 24). Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde in der protestantischen Kirche der Jah-resanfang beherrschender Inhalt dieses Tages. SUSANNE ERLECKE

Silvester(altjahresabend)

Neujahr

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s einer Gemeinde deutscher Sprache . Mexiko

Der 1. und 2. November gehören auch in Mexiko den Toten. Ihrer wird aber nicht gedacht, mit ihnen wird gefeiert. Am 1. November sind es

„die kleinen Toten“, verstorbene Kinder, und am 2. November die Erwachsenen. Zur Feier gehören das Lieblingsessen der Verstorbenen,

ihre Spielsachen, aber auch Tequila, Musik und süßes Brot. Das Orange der Cempasúchil, der Blume der Ewigkeit, bestimmt das

Bild. Gefeiert wird in den Häusern, auf öffentlichen Plätzen, auf dem Friedhof. – Jedes Jahr, „so bleiben uns die Toten nah“.

TOTENTAGE

PFARRER MARC REUSCH ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde deutscher Sprache in Mexiko

mit einem STAATS­AKT im Hamburger michel wurde der verstorbene altkanzler Helmut schmidt am 23. november 2015 gewürdigt

PFARRER JÜRGEN­PETER LESCH war von oktober 2007 bis zu seiner Pensionierung im februar 2017 mitarbeiter im Projektbüro Reform prozess im Kirchenamt der eKD. Von Januar 2010 bis zum Dienstende war er ge-schäftsführer bei der Revision der Lutherbibel.

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n den Festen der Religionen drücken sich ihre Glaubensgehalte und Traditionen in ver­dichteter Form aus – nicht nur als Ereignis, das rational reflektiert werden kann, son­

dern auch in Gestalt sinnlich erlebbarer Präsenz des Göttlichen. In den immer wiederkehrenden Festen wird Sinn gespeichert; er ist abrufbar, wird im feierlichen Vollzug aktiviert. Dies kann nur dann funktionieren, wenn an das erinnert wird, was zurückliegt und aufs Neue zur Geltung gebracht werden soll. Im Feiern von Festen wird

die Gegenwart als ein Moment erlebt, der aus der Kontinuität der Geschichte herausspringt. Ge­fragt ist Erinnerungskompetenz: als Fähigkeit, einerseits die eigene Lebenswirklichkeit zu er­gründen und abzusichern, andererseits aber auch die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen kritisch und fundiert aufzunehmen.

Die Profilierung solcher Kompetenz ist eine Bildungsaufgabe, in der theologische und kirch­liche Perspektiven verknüpft werden können. Zu arbeiten ist daran, das eigene und das fremde kul­turelle wie religiöse Umfeld eingehender zu verste­hen, produktiver zu deuten. Geschieht dies, kann so etwas wie religiöse Intelligenz entstehen, die es nicht nur ermöglicht, das Wesen der eigenen Reli­gion zu erfassen, sondern im konsequenten Dialog auch dasjenige anderer Religionen, die ihrerseits den Anspruch erheben, gemeinschaftsstiftend zu sein. Theologische Reflexion kann an dieser Stelle

zum Forum für den gesellschaftlichen Selbstver­ständigungsprozess werden. Dabei ist gelingende Kommunikation gebunden an Kenntnisse und Wissen über das jeweils andere, aber auch an die Bereitschaft, auf das Gegenüber produktiv und mit einem Toleranzvorschuss zu reagieren.

Religiöse Feste lassen sich in einer doppelten Weise begehen – entweder so, dass sie in das be­stehende gesellschaftliche Umfeld integriert sind. Eigener Identität wird dann in Wechselwirkung zur Umwelt konstruktiv Ausdruck verliehen. Eine andere Möglichkeit ist die Exklusion. Die Festgemeinschaft grenzt sich in der Feier ab und dokumentiert auf diese Weise in bewusster Dif­ferenz ihren Sonderstatus. Das nicht selten als Überbietungswettbewerb verstandene Gegen­über von Jugendweihe und Konfirmation ist ein facettenreiches Beispiel, genauso aber auch Be­schneidungsriten. Feste, die nicht bloße Routine sind, stiften und stärken Identität: und dies stets mit Außenwirkung, so dass durchaus von einem missionarischen Grundzug gesprochen werden kann. Dieser lebt davon, dass die in der Feier ar­tikulierten Glaubensinhalte attraktiv erscheinen, nicht zuletzt im säkularen Umfeld. Der Ramadan und das ihn beendende Fest des Fastenbrechens dokumentieren etwa in ihrer den Alltagsrhyth­mus unterbrechenden Form und ihrem Verweis auf die heilsame, gottesfürchtige Kraft des Ver­zichts eine eigene Sinnhaftigkeit und Plausibilität.

Allen religiösen Festen gemeinsam ist ihr trans­zendenter Charakter. Sie geschehen in der Zeit, weisen allerdings auch stets über diese hinaus ins Jenseitige. Zukünftiges dämmert auf und ermög­licht einen Vorgriff auf die Ewigkeit. Das Vergäng­liche und Brüchige der Gegenwart wird erkenn­bar, aber auch die Notwendigkeit von Strukturen, die religionsübergreifend soziale Ordnung gewähr­leis ten und gerade damit die Möglichkeit zu einem friedlichen, verfassungsrechtlich garantierten Neben­ und Miteinander eröffnen. Die jedoch kaum zu leugnende abgründige Seite von Feiern hat Friedrich Nietzsche 1879 der Menschheit ins Stammbuch geschrieben: „Nicht das ist das Kunst­stück, ein Fest zu veranstalten, sondern solche zu finden, welche sich an ihm freuen.“

D ie religiöse Wetterlage hat sich grundlegend geändert. Waren vor 50 Jahren weit über 90 Prozent der

Deutschen Mitglied einer christlichen Kir­che, sind das heute nur noch etwas mehr als 50 Prozent der Bevölkerung. Konfes­sionslose oder Anhänger sonstiger Welt­anschauungen finden immer mehr gesell­schaftliche Zustimmung. Manche dieser alternativ­religiösen Gruppierungen be­rufen sich auf ein reli­giöses europäisches Erbe. Die Begriffe sind um­stritten – man bezeichnet diese Bewegungen auch als völkische Religiosität, germani sches Heidentum oder Neopaganismus (Neuheidentum). Von ihren Anhängern werden der christliche Glaube und seine kultur­bildenden Einflüsse als eine aufgezwun­gene und wesensfremde Religionsform kritisiert. Die völkisch­religiöse Bewe­gung proklamiert die Rückbesinnung auf das eigene Deutschtum und auf einen naturmystischen germanischen Götter­glauben. Oft ist damit die Überzeugung verbunden, die germanische Rasse sei an­deren überlegen – bei manchen Gruppen bestehen Verbindungen bis in das poli­tisch rechtsextreme Spektrum hinein.

Einen ersten Höhepunkt erlebte die völ­kische Bewegung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Heute gibt es eine Viel­zahl kleiner neuheidnischer Gruppen, Bünde und Vereinigungen, die sich scharf voneinander abgrenzen und wegen ihrer geringen Mitgliederzahl in der Öffent­lichkeit kaum bekannt sind. Der 2001 ge­gründete Verein „Eldaring“ gilt mit knapp 300 Mitgliedern als größte neuheidnische

Gruppe. Eine Besonder­heit: Um Mitglied im El­daring zu werden, ist es nicht notwendig, aus an­deren religiösen Gemein­schaften wie etwa der Kirche auszutreten. Viele Gruppen nutzen heute intensiv das Internet und soziale Medien. Deshalb

reicht der Einfluss neuheidnischen Gedan­kenguts weit über die in Bünden und Verei­nigungen organisierten Mitglieder hinaus.

Der „Eldaring“ hat  – ähnlich wie an­dere germanische Gruppen – ein eigenes Ritualbuch zusammengestellt. Im Vor­wort wird betont, dass es sich dabei nicht um eine feste Liturgie handle, sondern um eine Hilfestellung für Anfänger, wie man Rituale feiern kann.

Die psychologische Funktion von Ritualen besteht darin, Sicherheit und

Ordnung in einer gefahrvollen und be­drohlich wirkenden Umwelt zu stiften. Viele Menschen erleben ihre Umwelt als überfordernd und beängstigend unüber­sichtlich. Eine symbolische Zeichenhand­lung wie etwa ein Feuer, zaubert durch Wärme und Licht Vertrauen und Ge­meinschaft an einem kalten Herbstabend herbei. Ein beliebter Anknüpfungspunkt für Menschen, denen kirchliche Feste in­haltsleer und unverständlich erscheinen, ist der Kreislauf der Natur. In einer säku­larisierten Gesellschaft wird Weihnachten oft schon zum politisch korrekten „Win­terfest“ umbenannt. Trendige Geschenke kann man beim „holy shit“­Shopping an den Adventssamstagen in einigen Groß­städten erwerben. Die Erzählung von der Menschwerdung Gottes gerät dadurch in Vergessenheit.

Der Wicca­Jahreskreis ist eine moderne Verbindung der vier keltischen Hochfeste mit der Verehrung der Sonnen wenden und Tagundnachtgleichen, die von Neuheiden als frühgeschichtlichen oder germanischen Ursprungs vermu tet werden, was mit Aus­nahme der Wintersonnen wende (Jul) aber historisch nicht belegbar ist.

In der neugermanischen Szene existiert eine Vielzahl kultischer und sakramenta­ler Handlungen. Allerdings basieren sie nicht auf alten Traditionen, sondern sind von den Gründern der Gruppe neu ge­schaffen worden. Neben den Festen des Jahreskreises werden auch regelmäßig „Weihehandlungen“ begangen. Im Elda­ring wird ein Ritual Blót (Pfer) bezeichnet und umfasst eine eröffnende Anrufung, einen zeremoniellen Akt, einen rituellen Umtrunk sowie den Abschluss.

Die Glaubenspraxis der neuheidnischen Gruppen wird von naturmagisch­rituellen Handlungen geprägt. Im Mittelpunkt steht eine erfahrungsbezogene Naturreligiosität, die den Einzelnen in einen kosmischen Gesamtzusammenhang einbetten möchte. Durch einige magische Praktiken werden dem Anwender göttliche Vollmachten in Aussicht gestellt. Damit wird allerdings die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf aufgehoben.

DeR BLiCK HinüBeR

Das Wesen anderer Religionen erfassen VON ALF CHRISTOPHERSEN

ALLTAG

PD DR. ALF CHRISTOPHERSEN ist studienleiter an der evangelischen akademie sachsen-anhalt in der Lutherstadt Wittenberg und Privatdozent für systematische theologie an der evangelisch- theologischen fakultät der LmU münchen.

DIE KULTISCHEN HANDLUNGEN SIND VON DEN

GRÜNDERN DER GRUPPE NEU

GESCHAFFEN WORDEN

PROF. DR. MICHAEL UTSCH ist Wissen-schaftlicher Referent der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin und Honorar professor für Religions-psychologie an der evangelischen Hoch-schule tabor in marburg.

muslime versammeln sich in der Qadr-nacht in einer moschee zum FASTENBRECHEN. es ist die nacht im monat Ramadan, in der der Koran gemäß muslimischem glauben erstmals offenbart wurde

NATURVERBUND

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Neuheidnische Feste und Rituale VON MICHAEL UTSCH

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fahren und ist Mittelpunkt und weithin sicht­bares Wahrzeichen eines Ortes. Katharina, Maria, Martin oder Nikolaus . . . jeder dieser Namen stif­tet eine Identität, die die Kirchengemeinde und die Bevölkerung der Region mit dem Bild eines besonderen Menschen und dessen Charakter­zügen verbindet. „Bei Deinem Namen genannt“ zeigt die Geschichte und Bedeutung der Namen Katharina, Maria, Martin und Nikolaus. Exem­plarisch werden Zuschreibungen und damit ver­bunden Tugenden und Wertevorstellungen deut­lich. Beispielhaft werden bibli sche und berühmte Namensträger der Antike und der Zeitgeschichte bis zur Gegenwart sowie die namenstragende Kirche vorgestellt. Bilder, Gedichte, Lieder und Geschichte werden in Plakaten und Informa­tionsgrafiken, Heften und Faltblättern für die Teilnehmenden präsentiert und vor Ort mit Ge­schichten der Region erweitert und fortgeschrie­ben. Eine Klangsäule ist die faktisch­emotionale Präsenz der Marien in Form von Tonaufnahmen aus verschiedenen Gegenden Deutschlands und Europas aus dem Mund verschiedenster Namen­strägerinnen als Klangcollage, in Liedern und durch Attribute. In Bild und Klang verbindet sich faktisches Wissen mit Emotionalität und Empha­tie, aus Wissen wird Erfahrung, aus Interesse wird Bindung. Schülerinnen und Schüler, Jugendliche und Erwachsene nehmen die Tradition von Or­ten über Namen wahr und vervielfältigen sie im Rückgriff auf sich selbst. „Bei Deinem Namen genannt“ wird in exemplarischen Katharinen­, Marien­, Martins­ und Nikolaikirchen gezeigt. Vier Ausstellungen finden parallel in vier Kirchen eines Bundeslandes statt. Gleichzeitig in vier Bundesländern gehen diese insgesamt 16 Sta­tionen quartalsweise im Dominoprinzip durch ganz Deutschland. Das Projekt ist damit an ins­gesamt 64 Orten präsent und findet im gesamten Jahr 2018 statt.

Soweit die Projektidee – vieles ist hier noch zu klären: die ökumenische Zusammenarbeit, die Verknüpfung mit anderen europäischen Part­nern, die Bewilligung von Förderanträgen. Vor allem aber wird es darum gehen, die eigenen Kir­chengemeinden und evangelisch Engagierten vor Ort zu beteiligen. Aber es wäre doch eine schöne Gelegenheit, zu zeigen, dass es auch nach 2017 mit dem protestantischen Projekt weitergeht.

Mit dem 31. Oktober 2017 ist nicht alles zu Ende gegangen. Zwar wird es auf Sicht kein vergleichbares Großjubiläum geben, aber dafür

eröffnen sich nun ganz neue Gelegenheiten, das Erbe der evangelischen Tradition ins öffentliche Be­wusstsein zu bringen. Besonders vielversprechend ist das „Europäische Kulturerbejahr“, das 2018 begangen werden soll (www.sharingheritage.de). Ursprünglich eine Initiative des deutschen Denk­malschutzes, haben sich inzwischen die europä­ischen Institutionen der Idee angenommen, ein ganzes Jahr lang das kulturelle Erbe vor Ort und in seinen europäischen Beziehungen zu erkun­den, zu bedenken und zu diskutieren. Neben vielen anderen staatlichen Einrichtungen und zivil gesellschaftlichen Akteuren will sich auch die evangelische Kirche an diesem  – gerade jetzt so wichtigen  – Projekt beteiligen und zwar so, dass auf spielerische Weise das steinerne wie auch das geistliche Erbe lebendig gemacht wird.

MARIA IST HÄUFIG NAME

UNSERER KIRCHEN­

GEBÄUDE UND IN LEBENDIGER GESTALT EINE

FREUNDIN VON NEBENAN

Das Projekt des Kulturbüros des Rates der eKD zum europäischen Kulturerbejahr 2018 ist eine schöne gelegenheit zu zeigen, dass es auch nach 2017 mit dem protestantischen Projekt weitergeht VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN UND KLAUS­MARTIN BRESGOTT

PD DR. JOHANN HINRICH CLAUSSEN ist Beauftragter vom Rat der eKD für Kultur und Leiter des Kulturbüros der eKD in Berlin. er lehrt als Privatdozent am fachbereich evangelische theo logie der Universität in Hamburg.

KLAUS­MARTIN BRESGOTT m. a. ist im Kulturbüro des Rates der eKD in Berlin für Projektleitung und Projektmanagement zuständig.

„BEI DEINEM NAMEN GENANNT“ KatHaRina, maRia, maRtin, niKoLaUs

Besucher betrachten bei der „Luminale

2016“ das Licht- Kunstwerk „Licht-

Beugung“ in der KATHARINENKIRCHE

in Frankfurt am Main

Das Kirchenjahr – eine schöne erfindung VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN

WiR BRaUCHen einen gemeinsamen RHYtHmUs DeR Zeiten

 Wir Menschen sind Zeit­Wesen. Wir le­ben in der Zeit, sind aus Zeit gemacht. Aber wir haben sie nicht in der Hand.

Je fester wir zupacken, umso geschmeidiger und hinterlistiger gleitet sie uns zwischen den Fingern hindurch. Weil wir sie nicht festhalten können, ver­suchen wir, sie zumindest zu messen und einzutei­len. Besonders wir Deutschen sind schrecklich gut darin. Viele hilfreiche Erfindungen sind uns dabei zur Hand: extrem smarte Uhren, Big­Data­Arm­bänder, Digitalkalender, Mobiltelefone, die uns in die allerhöchsten Clouds entführen. Doch haftet all diesen digital hochgerüsteten Zeit­Maschinen et­was Vergebliches an. Am Ende fließt die Zeit näm­lich doch davon wie eh und je und reißt uns mit.

Was die Zeit angeht, sind wir aber nie nur Opfer, sondern stets auch unsere eigenen Kerker­meister. Wir könnten uns deshalb die Freiheit nehmen, unsere Zeit­Handschellen dann und wann abzulegen: die Armbanduhr auf den Schreibtisch legen, das Mobil­telefon leise stellen, den Computer herunterfahren. Dann könnten wir nachdenken, ob es nicht auch so etwas wie erfüllte Zeit gibt: Momente, in denen uns etwas leuchtend klar wird, Augenblicke, in denen alles da zu sein scheint – nicht nur für einen selbst, sondern weit darüber hinaus für die Gemeinschaft um einen herum. Da­für braucht man Gelegenheiten. Das Christentum hat dafür eine schöne Erfindung hervorgebracht: das Kir­chenjahr – ein Rhythmus aus hohen und nied­rigen Festen, bitteren und glücklichen Tagen, in denen wir eine Ahnung davon gewinnen können, dass unsere Zeit in guten Händen ist.

Dieses Kirchenjahr ist ein wertvolles Erbstück unserer Tradition, ein kultureller Reichtum der ganz besonderen Art. Zugleich aber hat es sich in seiner Geschichte vielfältig verwandelt und tut dies weiterhin. Das ist ein Zeichen seiner Lebendigkeit, aber auch seiner Notwendigkeit. Wir brauchen ei­nen gemeinsamen Rhythmus der Zeiten – gerade in unserer hochbeschleunigten, ruhelosen Gegenwart.

Der evangelische Beitrag soll unter dem Titel ste­hen: „Bei Deinem Namen genannt. Katharina, Maria, Martin, Nikolaus“. Unser kulturelles Erbe findet sich ebenso zahlreich in heimatlicher Ver­ortung wie in persönlicher Identität. Maria etwa ist ein häufiger Name unse rer Kirchengebäude und in lebendiger Gestalt eine Schwester oder Freundin von nebenan – in Deutschland und eu­ropaweit. Das Verständnis für Heimat entsteht durch die eigene Geschichte, die Familie und das Lebensumfeld. Namen sind dabei ein wichtiges Bindeglied. Das Sichtbarmachen der Gründe für die Namensgebung eines Kirchengebäudes in der Vergangenheit reflektiert auf unsere eigene Bin­dung zu diesem Namen hier und heute. Es entsteht ein aktiver und emotionaler Bezug zu unserer Umgebung. Wir nehmen wahr, dass wir Men­schen selbst kulturelles Erbe sind und vertreten.

Eine Kirche und ihr Name vermitteln eine doppelte Tradition. Als Gebäude steht sie für den Kunst und Stein gewordenen Glauben der Vor­

MOMENTE, IN DENEN

UNS ETWAS LEUCHTEND KLAR WIRD,

AUGENBLICKE, IN DENEN

ALLES DA ZU SEIN

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Dieses Buch bringt die Erfahrungen aus dem Reformationssommer zusammen – vom Europäischen Stationenweg und der „Weltausstellung Reformation“ in Wittenberg – und ergänzt sie durch einen persönlichen Blick von Margot Käßmann.

Gerhard Wegner (Hrsg.)Von Arbeit bis Zivilgesellschaft

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