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Das ‚Super‘-Transzendentaleund die Spaltung der Metaphysik

Page 3: Das 'Super'-Transzendentale und die Spaltung der Metaphysik: Der Entwurf des Franziskus von Marchia

Studien und Textezur Geistesgeschichte

des Mittelalters

Begründet von

Josef Koch

Weitergeführt von

Paul Wilpert, Albert Zimmermann und

Jan A. Aertsen

Herausgegeben von

Andreas Speer

In Zusammenarbeit mit

Tzotcho Boiadjiev, Kent Emery, Jr.

und Wouter Goris

BAND 96

Page 4: Das 'Super'-Transzendentale und die Spaltung der Metaphysik: Der Entwurf des Franziskus von Marchia

Das ‚Super‘-Transzendentale

und die Spaltung der

Metaphysik

Der Entwurf des Franziskus von Marchia

Von

Sabine Folger-Fonfara

LEIDEN • BOSTON2008

Page 5: Das 'Super'-Transzendentale und die Spaltung der Metaphysik: Der Entwurf des Franziskus von Marchia

This book is printed on acid-free paper.

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data

A. C.I.P. record for this book is available form the Library of Congress.

ISSN 0169-8028ISBN 978 90 04 16384 3

Copyright 2008 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands.Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Hotei Publishing,IDC Publishers, Martinus Nijhoff Publishers and VSP.

All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored ina retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical,photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher.

Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill NVprovided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center,222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, MA 01923, USA.Fees are subject to change.

printed in the netherlands

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Die Thematisierung der Seinsfrage und die grundlegendenKonsequenzen für die Entwicklung der Transzendentalien-und Metaphysikgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2. Die Wende von den Transzendentalien zu‚Super‘-Transzendentalien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

3. Eine Metaphysik oder zwei Metaphysiken?—Eineentscheidende Modifikation innerhalb derEntwicklungsgeschichte der πρ�τη �ιλσ��α . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

4. Anliegen und Vorgehen der nachfolgenden Untersuchung . . . . 24

Kapitel I. „Utrum intentio entis sit prima rei intentio“—Die‚Entthronisierung‘ des Seinsbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1. Die Sonderstellung von ‚res‘ und ‚aliquid‘ mit Blick auf das‚proprium subiectum metaphysicae‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2. Die Einführung der ‚intentiones neutrae‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403. Die grundlegende Unterscheidung von materialer undformaler Erstheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

4. Zur Sonderstellung von ‚res‘ und ‚aliquid‘ als den Begriff des‚Seienden‘ übersteigende Erstbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534.1. Ist der Begriff des ‚Seienden‘ der substraktiv erste

Begriff? (Oder: Welcher Begriff ist ‚prima intentio‘ gemäßder materialen Erstheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

4.2. Ist der Begriff des ‚Seienden‘ der abstraktiv erste Begriff?(Oder: Welcher Begriff ist ‚prima intentio‘ gemäß derformalen Erstheit?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

5. Die Neuordnung der mittelalterlichen Transzendental-begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

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vi inhaltsverzeichnis

6. Die wissenschaftstheoretischen Implikationen des in „Quodl.3“ entwickelten Modells: Dissoziation von ‚primum obiectumintellectus‘ und ‚proprium subiectum metaphysicae‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726.1. Der Begriff des ‚Seienden‘ in seiner Anwendbarkeit auf

die Struktur der Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786.2. ‚Ding‘ und ‚Etwas‘ als erstheitliche Subjekt- und

Prädikatbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Kapitel II. Das erste Modell einer Aufspaltung der Metaphysik:Der Entwurf einer metaphysica generalis und einer metaphysica specialis 89

1. Das ‚Dilemma‘ bei Aristoteles—Metaphysik als erste oderletzte Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

2. Die Notwendigkeit einer Allgemeinen und einer BesonderenMetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

3. „Dieselbe und doch eine andere Wissenschaft“—Dasspezifische Verhältnis von metaphysica communis undmetaphysica particularis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

4. Zwei Metaphysiken: Die Neueinteilung der traditionellenWissenschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

5. Die Spaltung der Metaphysik ‚in se‘ und ‚pro nobis‘ . . . . . . . . . . . . . 1136. Überwindung der Unterscheidung von Allgemeiner undBesonderer Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

7. ‚Spaltung der Metaphysik‘ oder ‚Emanzipierung derTheologie‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Kapitel III. ‚Intentiones neutrae‘—Die Legitimation‚super‘-transzendentaler Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

1. Gegner einer Lehre von den „supertranscendentia“ . . . . . . . . . . . . . . . 1302. Was fällt unter die Kategorien? (Quodl. 5,3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373. Die ‚Reduktion‘ zweier Transzendierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1404. Existiert eine ‚intentio neutra‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1435. Fällt zwischen kontradiktorische Bestimmungen einMittleres? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

6. Der skotische Einfluß auf Franziskus von Marchia—Dieintentio neutra als ‚medium per accidens‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Kapitel IV. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1571. Das Supertranszendentale als ‚subiectum metaphysicae‘? . . . . . . . . . . 1602. „Ens generalissime sumptum, quatenus abstrahit ab ente rei et rationis,

non est constituendum metaphysicae obiectum“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

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inhaltsverzeichnis vii

3. Überlegungen einzelner Denker zur begrifflichenBenennung supertranszendentaler Bestimmungen ohneRekurs auf die Frage nach dem ‚subiectum metaphysicae‘ . . . . . . . . . 166

4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Verzeichnis der Quellen und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1731. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

1.1. Antike und mittelalterliche Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1731.2. Neuzeitliche Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

2. Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

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VORWORT

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2006 von der Phi-losophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation ange-nommen und im Rahmen der Disputation am 3. Mai 2006 verteidigt.Für die Drucklegung sind lediglich geringfügige Änderungen vorge-nommen worden.Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Jan A. Aertsen, der mein

Interesse an der mittelalterlichen Philosophie von Studienbeginn angeprägt und seitdem eindringlich vorangetrieben hat. Ihm gebührtmein besonderer Dank für seine intensive und einfühlsame, Orientie-rung und Sicherheit bietende Begleitung über viele Jahre hinweg. Ichbetrachte es als ein großes Vorrecht, ihn als Lehrer haben zu dür-fen.Weiterhin danke ich Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Speer als Berater

und Mitgutachter sowie in seiner Funktion als Direktor des Thomas-Instituts, als der er mir vor allem während der Endphase der Promo-tion stets großzügige Freiräume ermöglichte und mich freundschaftlichunterstützte und förderte.Ein spezieller Dank gilt Prof. Dr. Wouter Goris (Amsterdam). Zu

wissen, daß jemand zu jeder Zeit mit voller Aufmerksamkeit und Kom-petenz für alle fachlichen Fragen, gerade auch in Momenten des Zwei-felns, zur Verfügung steht, ist keineswegs selbstverständlich—ohne ihnwäre diese Arbeit nicht entstanden.Auch Prof. Dr. Russell L. Friedman (Leuven) hat mich in den ver-

schiedenen Entwicklungsphasen der Promotion in hilfreicher Weise er-mutigt und in meinen Ideen bestärkt. Ich danke ihm für sein motivie-rendes Interesse.Schließlich fühle ich mich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern

des Thomas-Instituts für die stets anregende und zugleich entspan-nende Arbeitsatmosphäre zu Dank verpflichtet, in langjähriger Zu-sammenarbeit insbesondere Petra Abendt, Lydia Wegener und Wolf-ram Klatt, sowie Tobias Schmidt, Julia Wittschier und Suzanne Metse-laar. Dr. Stefan Nottelmann hat mir zudem in vielen langen Gesprä-chen über Klippen hinweggeholfen, grundsätzliche Überlegungen im

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x vorwort

Ansatz kritisch mit durchdacht und zahlreiche Anregungen für die vor-liegende Untersuchung geliefert.Tief verbunden bin ich aufgrund jeglicher Form wohlwollender und

liebevoller Unterstützung meinen Eltern, Elfriede und Johann Folger,und meinem Mann, Dr. Dirk Fonfara. Ihm sei diese Arbeit gewidmet.

Köln, im Juli 2007Sabine Folger-Fonfara

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EINLEITUNG

It seems that Francis of Marchia is a figurewhose time has come.1

Betrachtet man die großen und etablierten Themen der Philosophiege-schichte, so wird schnell offenkundig, daß die maßgeblichen Entwick-lungslinien in den meisten Fällen mittlerweile deutlich nachgezeichnetund in ihren grundlegenden strukturellen und inhaltlichen Zusammen-hängen entsprechend rekonstruiert worden sind. Häufig befinden wiruns bereits im Stadium von sich verselbständigenden, vom ursprünglichzugrundeliegenden Sachproblem zunehmend entfernten Forschungs-diskursen, deren Ziel mehr in der Darlegung ausgewählter (nicht seltenautorimmanenter) Detailfragen liegt als in dem Bestreben, tatsächlichnoch bestehende Lücken innerhalb der (Gesamt-)Darstellung bestimm-ter problemgeschichtlicher Entwicklungen zu füllen. Mit Blick auf diesog. ‚Grundfragen der Philosophie‘ sieht es so aus, als sei anhand derKonzeptionen der im Laufe der Zeit mehr oder weniger übereinstim-mend als autoritativ betrachteten Denker größtenteils geklärt, welcheAntworten als maßgebend anzuerkennen sind und wie sich ihr jewei-liger Werdegang demzufolge strukturell gestaltet haben mag. FehlendeSäulen einzelner thematischer Gebäude schienen über lange Zeit hin-weg (und scheinen zum Teil immer noch) durch die mächtigen Eckpfei-ler so hinreichend abgesichert, daß eine weitergehende Rekonstruktionoftmals außer acht gelassen wurde.Mag man sich somit mit einer größeren Zahl inhaltlicher Leerstellen

und unbeantworteter Fragen, aber auch mit bestimmten Perspektiveninnerhalb verschiedener systematischer Zusammenhänge zwar dauer-haft arrangiert haben, so ist doch unbestritten, daß hinsichtlich eini-ger grundlegender philosophiegeschichtlicher und systematischer Ent-

1 R.L. Friedman/C. Schabel, Introduction, in: Vivarium 44,1 (2006), S. 2.

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wicklungslinien immer noch entscheidende Puzzleteile unaufgedecktgeblieben sind, deren Erschließung jedoch allererst eine adäquate undannähernd vollständige Darstellung ihres Verlaufs ermöglichen kann.Und in der Tat wird im Rahmen philosophischer Forschungsarbeitzunehmend wieder ein besonders deutliches Interesse an der konkretenAusdeutung solcher Leerstellen und an der Einführung neuer Sicht-weisen innerhalb etablierter Problembetrachtungen erkennbar. Ein ent-scheidender Unterschied liegt bei diesen Bemühungen jedoch naturge-mäß darin, ob bei der detaillierten Rekonstruktion einzelner Baupha-sen eines mehrfach umgebauten und erweiterten (Gedanken-)Gebäudesdie jeweiligen Baupläne einsehbar sind oder ob aus dem zuletzt sichtba-ren bzw. aus den deutlich dokumentierten Entwicklungsstadien der ver-meintlich ‚authentische Bau‘ zu großen Teilen spekulativ nachvollzo-gen werden muß. Mehr und mehr lenken daher neben den Konzeptio-nen der sog. großen Denker, die an exponierter Stelle für die signifikantenParadigmenwechsel in der Beantwortung der klassischen Fragestellun-gen verantwortlich gemacht werden, auch deren häufig weit wenigerbekannte Schüler die Aufmerksamkeit philosophischen Forschungsinter-esses auf sich. Denn immer deutlicher zeigt sich, daß gerade diejeni-gen Autoren, die über lange Zeit hinweg lediglich aus dem Status derZugehörigkeit zu ihren Lehrern heraus wahrgenommen wurden, es unserlauben, die oftmals nur auf Mutmaßungen beruhenden Rekonstrukti-onsversuche von Verbindungslinien zwischen den etablierten Positionenmit zum Teil gravierenden Konsequenzen zu berichtigen und einengenaueren Einblick in die tatsächlich zugrundeliegenden Fragestellun-gen und Motive zu gewinnen.Auf diesen Umstand derart explizit hinzuweisen, erweisen insbeson-

dere gegenwärtige mediävistische Arbeiten als kaum noch eigens not-wendig, gerade in diesem Sinne soll jedoch im Rahmen der vorlie-genden Untersuchung ein Beitrag geleistet werden, indem mit Blickauf die strukturelle Entwicklungsgeschichte einer der philosophischenFundamentalfragen—der Frage nach dem eigentümlichen Gegenstandund damit nach dem Wesen der Metaphysik—das konstitutive Motivfür eine entscheidende konzeptionelle Richtungsänderung sichtbar zumachen versucht wird: Die vor allem aus der Schulphilosophie des18. Jahrhunderts bekannte und diesbezüglich gut untersuchte Aufspal-tung der Ersten Philosophie in eine ‚Allgemeine Metaphysik‘ (metaphysicageneralis) und eine ‚Besondere Metaphysik‘ (metaphysica specialis). Trotzeiniger Hinweise fehlt noch immer eine hinreichende Antwort auf dieFrage, wann und in welchem Kontext wir erstmals eine explizite und

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systematische Begründung für dieses Lehrstück finden.2 Im folgendensoll daher anhand einer Analyse bislang weitestgehend unbeachteterTextdokumente eine innerhalb der Forschungen zur Geschichte derMetaphysik noch immer bestehende Darstellungs- und Erklärungslückegeschlossen werden und ein neuer Blick auf grundlegende (jedoch nichtgesicherte, sondern vielmehr aus dem bisher bekannten Material rekonstru-ierte) entwicklungsgeschichtliche Annahmen hinsichtlich des Theoremseiner zweifachen Metaphysik unternommen werden.Der Denker, in dessen Texten wir in dieser Weise für die Metaphysik-

geschichte einschneidende Äußerungen finden und der uns damit einkonkretes Zeugnis für die Neubestimmung einer der relevanten Ent-wicklungsstufen innerhalb der Deutungsgeschichte der Ersten Philosophieliefert, ist Franziskus von Marchia (~1290–1344), der im Spätmittelal-ter und der beginnenden Neuzeit mit zahlreichen Ehrentiteln (unteranderem als doctor succinctus, doctor praefulgidus oder doctor distinctivus) aus-gezeichnete und vielgerühmte italienische Denker aus dem Franziska-nerorden.3 Franziskus, der gemeinhin zur Gruppe der frühen Skotisten

2 Elisabeth Rompe hat bereits vor längerer Zeit einen solchen Versuch unternom-men, dabei jedoch entscheidende Aspekte unbeachtet gelassen; vgl. E. Rompe, DieTrennung von Ontologie und Metaphysik. Der Ablösungsprozeß und seine Motivierung bei Benedic-tus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts, Bonn 1968. Wir werden aufihren Beitrag an späterer Stelle noch ausführlicher eingehen.

3 Franziskus taucht—sowohl in der Forschungsliteratur als auch in den Texten zeit-genössischer Autoren—unter verschiedenen Namen auf, die sich vor allem als Her-kunftsbezeichnungen erklären lassen: so bezieht sich der Zusatz „de Marchia“ auf dieitalienische Region Marken und ist damit gewissermaßen die ‚umfassendste‘ Herkunfts-kennzeichnung; desweiteren werden die Namen „Franciscus de Ascoli/de Esculo“ alsHinweis auf die in den Marken sich befindende Diözese und Kreisstadt Ascoli Picenogenannt, und schließlich finden sich Verweise auf unseren Autor als „Franciscus deAppignano“, dem damit regional am ‚engsten‘ gefaßten Namen des Dorfes bzw. derGemeinde Appignano del Tronto innerhalb der Diözese Ascoli Piceno (weit seltener tauchtder Geschlechtername „Franciscus Rubeus“ auf). Wir werden im folgenden auf diegebräuchlichste und am meisten etablierte Form, „Franciscus de Marchia“, rekurrieren.Die verschiedenen Franziskus zugeschriebenen Ehrentitel sind aufgelistet bei F. Ehrle,Die Ehrentitel der scholastischen Lehrer des Mittelalters, München 1919 (Sitzungsberichte derBayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische und historischeKlasse, 9. Abh.), S. 41, 44, 48 und 54, und weiterhin umfassend erläutert bei N. Schnei-der, Die Kosmologie des Franciscus de Marchia. Texte, Quellen und Untersuchungen zur Naturphi-losophie des 14. Jahrhunderts, Leiden u.a. 1991 (Studien und Texte zur Geistesgeschichtedes Mittelalters 28), S. 33 f. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom franziskanischenOrdenshistoriker L. Wadding für Franziskus angeführten ‚Beinamen‘—vir gravissimus etdoctissimus—belegen zudem deutlich dessen immer noch hohe Wertschätzung im eige-nen Orden (vgl. L. Wadding, Annales Minorum seu Trium Ordinum a S. Francisco Institu-torum VII (1323–1346), Quaracchi 31932, S. 98, n. XIX). Die bislang einzig bekannteund überlieferte Abbildung des Franziskus findet sich in der Franziskanerkirche in

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4 einleitung

gezählt wird und der—um nur einige der wichtigsten Stationen seinesLebens zu erwähnen—mehrere Jahre in Paris studierte, dort die Senten-zen las und kommentierte und später in Avignon lehrte, wo er jedoch ingravierende Streitigkeiten mit Papst Johannes XXII. geriet und dar-aufhin schließlich ins Exil nach München fliehen mußte, ist in derphilosophischen Forschung (wie zahlreichen seiner Zeitgenossen) überlange Zeit hinweg nur sehr vereinzelt Aufmerksamkeit geschenkt wor-den.4 Allzu drängend ist unter denjenigen Autoren, die sich zu Beginndes 14. Jahrhunderts vor der gewaltigen Aufgabe sahen, sich aus demWindschatten ihres übermächtigen Ordenslehrers Johannes Duns Sco-tus (1265/6–1308) zu lösen, vor allem die Konzeption Wilhelms vonOckham (~1285–1349) in den Vordergrund getreten, der von jenemSchicksal der ‚Nichtbeachtung‘ bekanntermaßen verschont blieb undzunehmend Popularität errang.5 Offenbar erweist sich ein Denker, der

Bozen und wird auf das Jahr 1500 datiert (vgl. S. VIII). W. Hopfgartner verdankenwir eine detaillierte Analyse dieses Freskos, auf dem neben Franziskus von Marchia(hier ‚de Esculo‘) 21 weitere (von ursprünglich 36) Franziskanertheologen abgebildet sind;vgl. W. Hopfgartner, Una sintesi dipinta della filosofia francescana, in: D. Priori (Hg.), Attidel III° Convegno Internazionale su Francesco d’Appignano (Appignano del Tronto24.09.2005), Appignano del Tronto (Centro Studi Francesco d’Appignano) 2006, S.183–214.

4 Vgl. hierzu die Bemerkung von C. Schabel, Theology at Paris (1316–1345). PeterAuriol and the problem of divine foreknowledge and future contingents, Aldershot 2000 (AshgateStudies in Medieval Philosophy 1), S. 191: „And yet until 1986 almost nothing substan-tial on Francis of Marchia was published. This is in part because his works were notprinted in the Early Modern era, and in modern times he has often been labeled adogmatic Scotist, something, which may have limited his appeal for scholarship“. Ein-führende Informationen zu Franziskus’ Leben und Werk finden sich bei A. Teetaert,Art. Pignano (François de), in: Dictionnaire de Théologie Catholique Bd. 12, Paris 1935,Sp. 2104–2109, C. Schabel, Francis of Marchia, in: The Stanford Encyclopedia of Philoso-phy (URL = http://plato.stanford.edu/entries/francis-marchia/), wo sich zudem stän-dig aktualisierte Informationen finden, und D. Priori, M. Stipa u. K. Moum, Francescod’Appignano. Doctor Succinctus (ital./engl.), Appignano del Tronto (Centro Studi Francescod’Appignano) 2005 (Quaderni Appignanesi I,1). Die ausführlichste und umfassendsteDarstellung bietet anhand einer ‚biographischen Skizze‘ in der ersten und bislang ein-zigen Monographie zum Denken des Franziskus jedoch immer noch N. Schneider, DieKosmologie des Franciscus de Marchia (vgl. nt. 3), S. 11–26, neuerdings aber auch R.L. Fried-man und C. Schabel in ihrer Introduction, in: Vivarium 44,1 (2006), S. 2 f.

5 R. Lambertini hat sich in mehreren Studien mit einem Vergleich der—in derTat kontrastreichen—Lehrmeinungen des Franziskus von Marchia und Wilhelms vonOckham beschäftigt, der sich nicht zuletzt aufgrund des biographischen Umstandesals besonders interessant erweist, daß beide in engem persönlichen Kontakt standen,als sie im Jahr 1328 nach Streitigkeiten mit Papst Johannes XXII. unter Führung desOrdensgenerals Michael von Cesena aus Avignon zu Kaiser Ludwig dem Bayern nachMünchen flohen und dort einige Jahre gemeinsam an dessen Hof verbrachten. Vgl.

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einleitung 5

mit dem ‚Rasiermesser‘ über bisherige Positionen zu fahren beabsichtigt,für philosophische Forschungsinteressen von vornherein als besondersvielversprechend—und Ockham hat seine Leser in dieser Hinsicht jaauch nicht enttäuscht. Unbeachtet sind im Zuge dieser Konzentrationjedoch Denker wie Franziskus von Marchia geblieben, dem—daranmag am Ende der vorliegenden Studie kein Zweifel mehr bestehen—sicherlich gleichermaßen einschneidende Innovationen zuzuschreibensind. Allerdings tat er dies häufig auf eine auf den ersten Blick durch-aus komplizierter anmutende Weise, was ihn wohl nicht unmittelbarzum Objekt der exegetischen Begierde werden ließ. Statt des Ockham-schen Rasiermessers wählt Franziskus zumeist eher den Weg einer sub-tilen Analyse und modifizierenden Fortführung traditioneller Konzep-tionen, der ihn jedoch (häufig umso überraschender) zu ähnlich neu-artigen Ergebnissen führt. Wir werden dies am Beispiel seines Beitragszur Weiterentwicklung der Metaphysikgeschichte in besonderer Weisenachzuzeichnen versuchen.

1. Die Thematisierung der Seinsfrage und die grundlegenden Konsequenzenfür die Entwicklung der Transzendentalien- und Metaphysikgeschichte

Die vorangegangenen, zugegebenermaßen allgemeinen Vorbemerkun-gen mögen hier als eine erste Erklärung dafür genügen, weshalb Fran-ziskus von Marchia zu den lange Zeit unterschätzten Denkern gehört,denen der Sprung aus dem Schatten ihrer ‚Lehrer‘ doch keine dau-erhafte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ und deren Stellenwert in-nerhalb verschiedener Entwicklungen der Philosophiegeschichte bis voreinigen Jahren somit kaum in den Blickpunkt systematischen For-

hierzu z.B. R. Lambertini, Francesco d’Ascoli e la polemica francescana contro Giovanni XXII:a proposito dei rapporti tra l’„Improbatio“ e l’„Appellatio magna monacensis“. Scritti in onore diGirolamo Arnaldi, in: Nuovi studi storici 54 (2001), S. 277–308, ders., Il mio regno non è diquesto modo. Aspetti della discussione sulla regalità di Cristo dall’Improbacio di Francesco d’Ascoliall’Opus nonaginta dierum di Guglielmo d’Ockham, in: L. Bianchi (Hg.), Filosofia e Teologianel Trecento. Studi in ricordo di Eugenio Randi, Louvain-la-Neuve 1994, S. 129–156,oder ders., Francesco d’Appignano e Guglielmo d’Ockham: alcuni aspetti di un rapporto non facile,in: D. Priori (Hg.), Atti del III° Convegno Internazionale su Francesco d’Appignano,Appignano del Tronto 24.09.2005, Appignano del Tronto (Centro Studi Francescod’Appignano) 2006, S. 89–104. Wir werden diese vergleichenden Studien aufgrundunserer Untersuchung um einen weiteren Aspekt ergänzen können (vgl. Kap. 3.1, S.130–137).

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6 einleitung

schungsinteresses gerückt ist.6 Zu konstatieren ist jedoch, daß innerhalbder letzten fünfzehn Jahre sowohl erste historisch-kritische Texteditio-nen als auch mittlerweile zahlreiche Studien zu seinem Denken vorge-legt worden sind.7 Diese beschäftigen sich neben der Erschließung dernoch immer nicht vollständig edierten Manuskripte vor allem mit Fran-ziskus’ Beiträgen zu Bereichen der Naturphilosophie, der Kosmolo-gie, der politischen Philosophie und der philosophischen Theologie, ingroßer Zahl aber auch mit der Thematisierung konkreterer Problem-stellungen, wobei deutlich zutage tritt, zu welch umfassendem Spek-trum an Fragen seiner Zeit Franziskus von Marchia Stellung bezogenhat.8

6 Nicht zuletzt haben natürlich auch Franziskus’ doktrinäre und kirchenpolitischeStreitigkeiten mit Papst Johannes XXII. dazu geführt, daß seine Schriften wenigerdirekte und auch indirekte Verbreitung fanden. Bibliographische Angaben bzgl. derälteren Forschungsliteratur liefert O. Weijers, Le travail intellectuel à la Faculté des artes deParis: textes et Maîtres (ca. 1200–1500). II. Répertoire des noms commençant par C–F, Turnhout1996, S. 91–94. Allerdings beschäftigen sich nur wenige dieser Studien näher mit Fran-ziskus’ Denken selbst; unter ihnen sind vor allem zu nennen die Arbeit von A. Maier,Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie. Das Problem der intensiven Größe—DieImpetustheorie, Rom 21951, v. a. S. 161–200, sowie die Studie von H. Schwamm, Dasgöttliche Vorherwissen bei Duns Scotus und seinen ersten Anhängern, Innsbruck 1934, insbes. S.240–255.

7 Insgesamt ist hinsichtlich des Forschungsinteresses an der Erschließung der Leh-ren des Franziskus tatsächlich erst im letzten Jahrzehnt ein grundlegender Aufschwung,wenn nicht überhaupt dessen eigentlicher Beginn zu verzeichnen; vgl. erneut C. Scha-bel, Theology at Paris (vgl. nt. 4), S. 191, der zutreffend von der „naissance of Marchiastudies“ spricht. N. Mariani unternahm in den 90er Jahren die historisch-kritischen Edi-tionen von Franziskus’ politischer Streitschrift gegen Johannes XXII. (Francisci de Esculo,OFM. Improbatio contra libellum domini Iohannis qui incipit ‚Quia vir reprobus‘, Grottaferrata1993 [Spicilegium Bonaventurianum 28]), seines „Quodlibet“ (Francisci de Marchia sive deEsculo, OFM. Quodlibet cum quaestionibus selectis ex commentario in librum Sententiarum, Grot-taferrata 1997 [Spicilegium Bonaventurianum 29]), sowie seines „Physik-Kommentars“(Francisci de Marchia sive de Esculo, OFM. Sententia et compilatio super libros Physicorum Aristote-lis, Grottaferrata 1998 [Spicilegium Bonaventurianum 30]).

8 Erwähnt seien hier neben den bereits genannten politisch-historisch orientiertenStudien von Lambertini (vgl. nt. 5) und der Monographie von Schneider (vgl. nt. 3)vor allem die Arbeiten von C. Schabel, Theology at Paris (vgl. nt. 4), Teil 3, Kap. 9:„The Marchist School“ (S. 189–220), ders., La dottrina di Francesco di Marchia sulla predesti-nazione, in: Picenum Seraphicum 20 (2001), S. 9–45, und ders., Il Determinismo di Fran-cesco di Marchia, in: Picenum Seraphicum 18 (1999), S. 57–95, und 19 (2000), S. 15–68, R. L. Friedman, Francesco d’Appignano on the eternity of the world and the actual infinite,in: D. Priori (Hg.), Atti del 1° Convegno Internazionale su Francesco d’Appignano,Appignano del Tronto 26.-27.05.2001, Appignano del Tronto (Centro Studi Francescod’Appignano) 2002, S. 83–101, W. Duba, Francesco di Marchia sulla conoscenza intuitivamediata e immediata (III Sent., q. 13), in: Picenum Seraphicum 22/23 (2003/2004), S.121–157, K.-J. Grün, Vom ‚Unbewegten Beweger‘ zur bewegenden Kraft. Der pantheistische Cha-rakter der Impetustheorie im Mittelalter, Paderborn 1999 (S. 124–137: Die Impetustheorie Fran-

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Ein zentraler Aspekt ist bisher jedoch in nahezu all diesen Studienvollständig unbeachtet geblieben: Franziskus’ grundsätzliche Ausfüh-rungen zum Begriff des ‚Seienden‘, einem der philosophischen Zen-tralbegriffe schlechthin.9 Dies ist insofern erstaunlich, als er der ‚intentioentis‘ ein eigenes Werk von keineswegs zu vernachlässigendem Umfanggewidmet hat, nämlich das—vermutlich in den zwanziger Jahren des14. Jahrhunderts entstandene—„Quodlibet“, in welchem er sich in um-fassender Weise der Erörterung des Seinsbegriffs in seinen verschiede-nen Aspekten und Kontexten widmet.10 Eine Beschäftigung mit den

ciscus de Marchias), und E.L. Wittneben/R. Lambertini, Un teologo francescano alle strette.Osservazioni sul testimone manoscritto del processo a Francesco d’Ascoli, in: Picenum Sera-phicum 18 (1999), S. 97–122. Wichtige aktuelle Veröffentlichungen bilden die Aktender drei internationalen Franziskus von Marchia-Konferenzen in Appignano del Tronto(D. Priori (Hg.), Atti del 1° Convegno Internazionale su Francesco d’Appignano, Appignano delTronto 26–27.05.2001, Appignano del Tronto (Centro Studi Francesco d’Appignano)2002; ders. (Hg.), Atti del 2° Convegno Internazionale su Francesco d’Appignano, Appignanodel Tronto 5–6.09.2003, Appignano del Tronto (Centro Studi Francesco d’Appignano)2004, und ders. (Hg.), Atti del 3° Convegno Internazionale su Francesco d’Appignano, Appignanodel Tronto 24.09.2005, Appignano del Tronto (Centro Studi Francesco d’Appignano)2006) sowie die Edition des Commentarius in IV libros Sententiarum Petri Lombardi. Quaes-tiones praeambulae et prologus, ed. N. Mariani, Grottaferrata 2003 (Spicilegium Bonaven-turianum 31). Der 2006 erschienene, von R.L. Friedman und C. Schabel herausgege-bene Band des Vivarium zu Franziskus von Marchia liefert den aktuellsten Fortschrittzur Aufarbeitung seines Denkens und rückt ihn zugleich extensiv in das Bewußt-sein gegenwärtiger philosophischer Forschung. Hier findet sich auch eine vollständigeBibliographie, auf die an dieser Stelle nachdrücklich verwiesen sei (vgl. R.L. Fried-man/C. Schabel, Introduction—Total Marchia Bibliography, in: Vivarium 44,1 (2006), S.15–20).

9 Einzige Ausnahme bildet eine kurze Untersuchung A. Zimmermanns, in welcherer sich vor dem Hintergrund der skotischen Lehre von der ‚univocatio entis‘ mit der Fragebeschäftigt, ob dem Begriff des ‚Seienden‘ in Franziskus’ Metaphysikkommentar eineanaloge oder univoke Bedeutung zukomme; vgl. A. Zimmermann, Analoge und univokeBedeutung des Terminus ‚ens‘ nach einem anonymen Metaphysikkommentar des 14. Jahrhunderts, in:Deus et homo ad mentem I. Duns Scoti. Acta tertii Congressus Scotistici, Rom 1972(Studia Scholastico-Scotistica 5), S. 724–730.

10 Der Text des „Quodlibet“ findet sich bei N. Mariani (Hg.), Francisci de Marchiasive de Esculo, OFM. Quodlibet cum quaestionibus selectis ex commentario in librum Sententiarum,Grottaferrata 1997 (Spicilegium Bonaventurianum 29). Mariani beruft sich in seinerEinleitung (S. 18) hinsichtlich der Frage der Datierung des „Quodlibet“ auf P. Glorieux,der die Jahre 1323–1328 als (gleichwohl unsicheren) Abfassungszeitraum ansetzt (vgl.P. Glorieux, La littérature quodlibétique II, Paris 1935, S. 88). Die Thematisierung desSeinsbegriffs findet sich v.a. in den Quaestiones 3–7 der Mariani-Edition, in denenverschiedene Aspekte des Begriffs des Seienden im Mittelpunkt der Betrachtung stehen:Q. 3: „Utrum intentio entis sit prima rei intentio“, Q. 4: „Utrum ens includatur quidditativein quolibet“, Q. 5: „Utrum intentio entis sit univoca decem praedicamentis“, Q. 6: „Utrumintentio entis sit univoca Deo et creaturae“, Q. 7: „Utrum intentio entis ex natura rei differatpositive ab intentione unius, veri et boni vel sint omnino idem formaliter“. Die von Mariani

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an jener Stelle geleisteten Darlegungen zur Seinsfrage verspricht somiteinerseits, eine nicht unerhebliche Lücke in der Erhellung seines Den-kens insgesamt zu schließen; zudem ist das „Quodlibet“, das bislang—auch in anderen Zusammenhängen—in noch keiner Studie eingehen-dere Erwähnung gefunden hat, aber gerade auch als diejenige Schriftzu betrachten, in der Franziskus die allgemeinen (ontologischen) Voraus-setzungen für die in seinen anderen Werken dargelegten Lehren entwi-ckelt und ausarbeitet. In keiner der übrigen Schriften finden wir seinezugrundeliegende Seinsauffassung in ähnlich exponierter Weise elabo-riert. Es scheint, als bilde das „Quodlibet“ somit eine Art fundierendenBezugstext oder ‚Glossar‘ für die andernorts entwickelten, thematischspezifischeren Ausführungen. Fragen wir also nach den grundlegendenontologischen Bedingungen und Möglichkeiten, wie sie den konzeptio-nellen Hintergrund für Franziskus’ Metaphysikauffassung bilden (unddies gilt selbstverständlich auch hinsichtlich der Untersuchung ande-rer Themenfelder), so muß unsere erste Anlaufstelle wohl jenes Werkmit seinen gleichsam substantiellen Ausführungen und Grundannah-men darstellen.Weshalb aber bildet gerade der Begriff des ‚Seienden‘ den zentra-

len Dreh- und Angelpunkt für die Konzeption der Metaphysik? WelcheArt von Grundlegungsfunktion, oder anders: welche wirkmächtige Vor-rangstellung kommt der Bestimmung des Seienden hierbei zu? Einigekurze Bemerkungen mit Blick auf den Kontext dieser Fragen mögenim folgenden nicht als neuartig, sondern als in die eigentliche Unter-suchung einleitende, thesenartige Zusammenfassung von bereits selbst-verständlich Gewordenem verstanden werden.

vorgenommene Einbindung der als 1. („Utrum in intellectu nostro sit aliqua notitia actualisgenita“) und 2. („Utrum in mente sit imago trinitatis distincte“) bzw. 8. („Utrum motus caelifiat a virtute intrinseca sive extrinseca“) und 9. („Utrum motus caeli fiat ab illa virtute extrinsecasecundum potentiam finitam vel infinitam“) gezählten Quaestiones muß aufgrund thematischerund stilistischer Inkohärenzen kritisch betrachtet werden. Möglicherweise erweisensich bei eingehenderer Prüfung—die es allerdings noch zu leisten gilt—letztlich nurdie Q. 3–7 (also diejenigen, die sich explizit mit dem Begriff des Seienden befassen)als eigentlicher Gehalt der „Quodlibet“-Schrift. W. Duba liefert hierzu—vor allemunter Berücksichtigung der Manuskripte—erste wichtige Nachweise (vgl. W. Duba,Continental Franciscan Quodlibeta after Scotus, in: C. Schabel (Hg.), Theological Quodlibetain the Middle Ages, Bd. 2: The Fourteenth Century, Leiden 2007). Das „Quodlibet“läßt sich damit de facto als Schrift „de ente“ auffassen. Mariani hat dem „Quodlibet“einen Appendix mit Quaestiones aus dem „Sentenzen-Kommentar“ angefügt (vgl. hierzukritisch C. Schabel, Notes on a recent edition of parts of Francis of Marchia’s ‚In primum librumSententiarum‘, in: Picenum Seraphicum 19 (2000), S. 277–282).

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Bekanntermaßen macht seit Aristoteles—so können wir es zu Beginndes IV. Buches seiner „Metaphysik“ nachlesen—das Seiende als solches,d.h. ‚insofern es seiend ist‘ (τ� �ν �� �ν bzw. ens inquantum ens), undwas ihm als solchem zukommt, den eigentümlichen Gegenstand derMetaphysik als der allgemeinsten und daher ersten und vorzüglichstenaller Wissenschaften aus, während die Einzelwissenschaften jeweils nurbestimmte Bereiche oder Aspekte des Seienden untersuchen.11 Inwie-fern die in den verschiedenen einschlägigen Passagen der „Metaphysik“von Aristoteles selbst letztlich nicht eindeutig vorgenommene Bestim-mung des Gegenstandes dieser Ersten Philosophie nachfolgende Denkerzu weitreichenden Deutungsversuchen und Bemühungen um eine wei-tergehende Präzisierung angeregt hat, wird im Rahmen der vorliegen-den Studie noch ausführlicher zu thematisieren sein. Festzuhalten istaber bereits an dieser Stelle, daß bis hin zu Franziskus von Marchiaim Grunde nur selten ein Zweifel daran bestand, daß es auch tat-sächlich das ‚Seiende an sich‘ ist, dem der Status des proprium subiec-tum metaphysicae zukommt, wenn es um die Metaphysik in ihrer wissen-schaftstheoretischen ‚Grundlegungsfunktion‘ und d.h. zugleich in ihrerfür den Menschen möglichen Option geht (im Gegensatz zur Konzep-tion der Metaphysik in ihrer ‚theologischen‘ Ausprägung, wie sie imVI. Buch der „Metaphysik“ erörtert wird)12.13 In diesem Sinne sind

11 Vgl. Aristoteles, Met. IV, 1, 1003a21–26 (übers. H. Bonitz): „Es gibt eine Wissen-schaft, welche das Seiende als solches untersucht und das demselben an sich Zukom-mende. Diese Wissenschaft ist mit keiner der einzelnen Wissenschaften identisch; dennkeine der übrigen Wissenschaften handelt allgemein von dem Seienden als solchem,sondern sie scheiden sich einen Teil des Seienden aus und untersuchen die für diesensich ergebenden Bestimmungen, wie z.B. die mathematischen Wissenschaften“.

12 Vgl. die stets angeführte Vergleichsstelle aus Met. VI, 1, 1026a15 f., in der dieMetaphysik als ‚theologische Wissenschaft‘ diskutiert wird (übers. H. Bonitz): „(…) dieerste Philosophie aber handelt von dem, was sowohl trennbar wie unbeweglich ist. (…)Unzweifelhaft ist, daß, wenn sich irgendwo ein Göttliches findet, (…) die würdigsteWissenschaft die würdigste Gattung des Seienden zum Gegenstand haben muß“. Vgl.ebenfalls Met. XI, 7, 1064a33 f.

13 Nur verwiesen sei hier auf die im 13. Jahrhundert alternativ entwickelten Modelleeiner Lehre von ‚Gott‘ als Ersterkanntem, wie sie etwa von Bonaventura, Guibert vonTournai oder Berthold von Moosburg konzipiert wurden. Ihnen kommt innerhalb derDiskussion um den eigentümlichen Gegenstand der Metaphysik, wie er sich aus einerBestimmung des primum cognitum ‚pro nobis‘ ergibt, eine Sonderstellung zu. W. Gorishat die einschlägigen Studien zu diesem Theorem vorgelegt; vgl. z.B. W. Goris, DieAnfänge der Auseinandersetzung um das Ersterkannte im 13. Jahrhundert. Guibert von Tournai,Bonaventura und Thomas von Aquin, in: Documenti e Studi sulla Tradizione FilosoficaMedievale 10 (1999), S. 355–369, ders., Die Kritik des Bernhard von Trilia an der Lehre

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es letztlich die seit dem 13. Jahrhundert im Rahmen der sog. Tran-szendentalienlehre herausgebildeten und ausführlich thematisierten ‚erstenVerstandesbegriffe‘—und hierbei allen voran der Begriff des ‚Seien-den‘—, die den Gegenstand der Metaphysik ausmachen, während dieanderen, nachgeordneten Intellektbegriffe auf je eigentümliche Weiseden spezifischeren Gegenständen der (Einzel-)Wissenschaften zuzuord-nen sind.14 Die jeweilige Auffassung und inhaltliche Auslegung der tran-scendentia, vor allem aber des ‚ens‘-Begriffs, erweist sich dabei stets alsprägend für das Verständnis und die Deutung des subiectum metaphysicaeund damit für den Status der Metaphysik als Wissenschaft insgesamt.Wird der traditionelle Seinsbegriff in die eine oder andere Richtungkonzeptionell modifiziert, so verändert sich zugleich auch der ‚(ontologi-sche) Charakter‘ und der Bezugsbereich der Metaphysik. In der Ausdeu-tung des Begriffs des ‚Seienden‘ gehen damit beide Felder—die mittel-alterliche Transzendentalienlehre und die Konzeption der Metaphysik—einegleichermaßen intime Verbindung ein.Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wird dies in exponierter Weise im

Entwurf des Johannes Duns Scotus greifbar, der einen entscheidendenBrenn- und Anhaltspunkt bietet, wenn es um den Versuch einer Erhel-lung der systematischen Entwicklungslinien innerhalb des intrinsischenZusammenhangs der mittel- und spätmittelalterlichen Lehre von dentranszendentalen Erstbegriffen des menschlichen Verstandes und derBestimmung des eigentümlichen Gegenstands der Metaphysik geht.15

Zwar finden wir eine grundsätzlich ähnliche Auffassung bekanntlichbereits im 13. Jahrhundert bei Autoren wie Albertus Magnus oderThomas von Aquin—die skotische Konzeption läßt sich jedoch gleich-sam als ‚Kulminationspunkt‘ dieser vorangehenden Bemühungen wer-

von Gott als Ersterkanntem, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 65(1998), S. 248–319, oder ders., Transzendentale Gewalt, in: M. Pickavé (Hg.), Die Logik desTranszendentalen (Festschrift für J.A. Aertsen zum 65. Geburtstag), Berlin/New York2003 (Miscellanea Mediaevalia 30), S. 619–642.

14 Auf solche Konzeptionen, in denen ein anderer der Transzendentalbegriffe demdes ‚Seienden‘ vorgezogen wird, etwa innerhalb des Entwurfs des Heinrich von Gent,der dem res-Begriff einen gewissen Vorrang einzuräumen scheint, muß im Verlaufdieser Untersuchung noch näher eingegangen werden, da Franziskus von Marchiagerade aus dieser Perspektive den entscheidenden Wendepunkt mit Blick sowohl aufdie Transzendentalien- als auch die Metaphysikentwicklung markiert.

15 Vgl. hierzu S.D. Dumont, Transcendental Being: Scotus and the Scotists, in: Topoi 11(1992), S. 135–148, und ders., Scotus’s Doctrine of Univocity and the Medieval Tradition ofMetaphysics, in: J.A. Aertsen/A. Speer (Hgg.), Was ist Philosophie im Mittelalter? Aktendes X. Internationalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie, Berlin/New York1998 (Miscellanea Mediaevalia 26), S. 192–212.

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ten, indem sie sowohl den Abschluß einer in bestimmter Hinsicht als‚stringent‘ zu bezeichnenden Entwicklung als auch die Grundlage fürden beinahe zeitgleichen Ausbruch diverser Metaphysik-Konzeptionenund damit den Übergang in ein neues Stadium der Entwicklungsge-schichte der Ersten Philosophie markiert.16 Scotus faßt in seinem Ent-wurf die Frage nach dem Ersterkannten des menschlichen Intellektsund der Bestimmung des Gegenstandes der ‚ersten aller Wissenschaf-ten‘ explizit im Modell der Metaphysik als einer ‚Transzendentalwis-senschaft‘ (‚scientia transcendens‘) zusammen.17 Er verdichtet damit auchterminologisch, was als gemeinsames systematisches Fundament allerKonzeptionen der Metaphysik als einer Wissenschaft von den erstenVerstandesbegriffen gilt und sich folgendermaßen grundsätzlich bestim-men läßt: bei dem proprium subiectum metaphysicae handelt es sich um dasprimum obiectum intellectus, d.h. der ‚habitus metaphysicus‘ richtet sich auf die(Avicennas Lehre von den Erstbegriffen aufgreifenden) transcendentia alsden primae intentiones intellectus.18 Die Metaphysik erhält somit eine dezi-

16 Jan Aertsen weist—im Gegensatz zu den Ansätzen L. Honnefelders—vor allemauf die Kontinuität zwischen der albertinischen bzw. thomasischen und der skotischenMetaphysikauffassung als einer Transzendentalwissenschaft hin. Vgl. Jan A. Aertsen, Meta-physics as a Transcendental Science, in: Quaestio 5 (2005), S. 377–389, S. 381: „Scotus’sprogrammatic text does not express a ‚crucial break‘ with tradition. All elements in hisprologue can be traced back to Aquinas’s prologue (…). Scotus’s introduction of thephrase scientia transcendens is not essentially different from Aquinas’s account of thename, since it continues the thirteenth century linking of metaphysics with the doctrineof the transcendentals“.

17 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones subtilissimae super libros metaphysicorum Aristote-lis, prologus, ed. Viv. VII, n. 5, S. 4 f.: „Maxime scibilia primo modo sunt communissima,ut est ens inquantum ens, et quaecumque sequuntur ens inquantum ens; (…) igiturnecesse est esse aliquam scientiam universalem, quae per se consideret illa transcen-dentia, et hanc scientiam vocamus metaphysicam, quae dicitur a meta, quod est trans, etphysis, scientia, quasi transcendens scientia, quia est de transcendentibus“. Vgl. hierzudie Erläuterung von L. Honnefelder, Duns Scotus, München 2005, S. 73: „Damit ist dieentscheidende Charakteristik der Metaphysik für Scotus gefunden: Sie ist die gesuchteErste Philosophie, insofern sie eine „übersteigende Wissenschaft“ (scientia transcendens) ist.Und dies ist sie, weil sie eine Wissenschaft ist, die von den „übersteigenden (Begriffen)“(transcendentia), nämlich dem Begriff des Seienden und den anderen Begriffen handelt,die den transkategorialen Charakter des conceptus entis teilen“. Als grundlegende Erörte-rung des skotischen Metaphysik-Entwurfs sei bereits hier verwiesen auf die Studie vonL. Honnefelder, Scientia transcendens: die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in derMetaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, Hamburg 1990 (vgl. auch ders., La métaphysiquecomme science transcendentale entre le Moyen Âge et les Temps modernes, Paris 2002).

18 Jan Aertsen hat zu Recht Honnefelders Charakterisierung, in den mittelalterli-chen Metaphysik-Konzeptionen des lateinischen Westens liege der „zweite Anfang derMetaphysik“, zu bedenken gegeben und auf die besondere Bedeutung des Einflussesder avicennischen Lehre hingewiesen (vgl. L. Honnefelder, Der zweite Anfang der Metaphy-

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diert epistemologische Fundierung—sie ist erste Wissenschaft, da sievom Ersterkannten des menschlichen Verstandes handelt—, zugleichfindet aber auch die Diskussion um das primum cognitum in der Bestim-mung des subiectum metaphysicae ihren eigenen wissenschaftstheoretischenOrt.19

Im Verlauf der nachfolgenden Erörterungen wird die Frage im Mit-telpunkt stehen, inwiefern das Modell der Metaphysik als einer ‚Tran-szendentalwissenschaft‘ grundsätzlich von der Bestimmung des zentra-len Transzendentalbegriffs, des Begriffs des ‚Seienden‘ abhängig ist.Welche Konsequenzen ergeben sich für eine Bestimmung des Wesensder Metaphysik, wenn sich die jeweils zugrundeliegende Seinsauffas-sung ändert (was auf mehrfache Weise und in unterschiedlicher Hin-sicht der Fall sein kann)? Basiert die Transzendentalienlehre etwa aufder Konzeption einer ‚analogia entis‘, d.h. der (bloßen) Möglichkeit einesAnalogieschlusses des geschöpflichen Seienden auf das Sein Gottes, wieer vermittels der ersten Verstandesbegriffe vorgenommen werden kann,so ergibt sich zwangsläufig eine andersartige Bestimmung der Gestaltder Metaphysik als vor dem (skotischen) Hintergrund der Annahmeeiner ‚univocatio entis‘, d.h. einer Ausweitung des Seinsbegriffs im Sinneeindeutiger Prädikabilität. Läßt sich der Begriff des ‚Seienden‘ alleinmit Bezug auf alles Realseiende denken, so zieht dies eine einge-schränktere Konzeption der Reichweite der Metaphysik nach sich alsbei einem zugrundeliegenden Gehalt, der auch den Bereich des ge-danklichen oder sogar des bloß möglichen Seienden umfaßt. Wirdschließlich das ‚Seiende an sich‘ als wesentlicher Gegenstand der Meta-physik ganz in Frage gestellt, so scheint der Fortgang der Entwick-lung spätestens an diesem Punkt nicht mehr allein als graduell abzu-tun und ein scharfer Blick auf die im Hintergrund stehende Argu-

sik. Voraussetzungen, Ansätze und Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhun-dert, in: J.P. Beckmann u.a. (Hgg.), Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien undParadigmen, Hamburg 1990, S. 165–186): „If there is a ‚second beginning of metaphy-sics‘, there are good reasons for claiming that Arab philosophy rather than the Latinphilosophy of the thirteenth and fourteenth century deserves this place in the genealogyof Western metaphysics. Avicenna’s views on the proper subject of First Philosophy andhis doctrine of the primary notions of the intellect determined the foundations of meta-physical thought in Albert the Great, Thomas Aquinas, Henry of Ghent and John DunsScotus“ (vgl. J.A. Aertsen, Metaphysics as a Transcendental Science, in: Quaestio 5 (2005), S.377–389, hier S. 377).

19 Vgl. zur Bedeutung der Frage nach dem eigentümlichen Gegenstand der Meta-physik im Mittelalter die Hinweise bei A. Zimmermann, Die „Grundfrage“ in der Metaphy-sik des Mittelalters, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), S. 141–156.

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mentation unumgänglich. Der Fokus soll daher im Rahmen der nach-folgenden Untersuchung auf diese fundamentalen Veränderungen des‚metaphysischen Seinsbegriffs‘ gerichtet werden, wie sie sich geradein den unmittelbar auf die skotische Konzeption folgenden Entwürfenzeigen. Bereits der—bislang insgesamt erstaunlich wenig beachteten—ersten Generation der Skotus-Schüler ist das Verdienst zuzuschreiben,solchermaßen grundlegende Modifikationen der Doktrin ihres Leh-rers und ihrer Vorgänger initiiert zu haben, daß sich weitreichendeKonsequenzen sowohl für die jeweilige Entwicklung der Metaphysik undder Transzendentalienlehre, vor allem aber auch für den Zusammen-hang beider Theoreme und damit für die Bestimmung der Metaphysikals einer ‚scientia transcendens‘ selbst ergaben. Wir müssen uns insbeson-dere für diese entwicklungsgeschichtliche Umbruchphase interessierenund die dort wirksam werdenden Motive und Perspektiven deutlich he-rauskristallisieren, da es scheint, als haben bereits in den frühen Jahr-zehnten des 14. Jahrhunderts in ganz konkreter Weise diejenigen Wei-chenstellungen stattgefunden, die die manifesten metaphysischen undtranszendentalphilosophischen Modelle des 16.-18. Jahrhunderts aller-erst konzeptionell ermöglichten.20 Vor allem aufgrund fehlender Text-zeugen wurden viele dieser Pionierleistungen hinsichtlich nachfolgend eta-blierter Themen philosophiegeschichtlich bislang deutlich später ange-setzt.21 Ein Gegenbeispiel liefert in besonderer Weise der Entwurf desFranziskus von Marchia, auf den wir uns fortan konzentrieren werden.Bei ihm begegnen wir im Rahmen der Ausführungen seiner „Quae-stiones super metaphysicam“ einer bemerkenswerten, zunächst nochnicht allzu bedeutsam scheinenden Differenzierung, von der wir aberunseren Ausgangspunkt nehmen wollen, um Franziskus’ Metaphysik-Konzeption von hier aus systematisch zu entfalten.22 Rückblickend wirddeutlich werden, daß sich sein Gesamtentwurf gerade anhand dieses‚Einblicks‘ auf seine wesentliche Position verdichten läßt.

20 Vgl. hierzu die Studie von O. Boulnois, Être et représentation. Une généalogie de lamétaphysique moderne à l’époque de Duns Scot (XIIIe–XIVe siècle), Paris 1999.

21 Vgl. L. Honnefelder, Scotus und der Scotismus. Ein Beitrag zur Bedeutung der Schulbil-dung in der mittelalterlichen Philosophie, in: M.J.F.M. Hoenen u.a. (Hgg.), Philosophy andlearning: universities in the Middle Ages, Leiden/New York/Köln 1995, S. 249–262.

22 Wir beziehen uns hier auf Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, q. 1:„Utrum res secundum quod res sit subiectum metaphysicae vel aliquid aliud“, ed. A.Zimmermann, in: ders., Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand derMetaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, Leuven 21998 (Recherchesde Théologie et Philosophie médiévales, Bibliotheca 1), S. 84–98.

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Was bereits beim Lesen der ersten Abschnitte von Franziskus’ „Me-taphysik-Kommentar“ zögern läßt, sind seine Ausführungen, daß letzt-lich nicht mehr die Gruppe der transcendentia in ihrer Gesamtheit, d.h.der spätestens seit Thomas von Aquin klassisch gewordene Kanonder Begriffe ‚Seiendes‘ (ens), als dem grundlegenden Transzendental-begriff, sowie ‚Eines‘ (unum), ‚Wahres‘ (verum), ‚Gutes‘ (bonum), ‚Ding‘(res) und ‚Etwas‘ (aliquid) als dessen Eigenschaften (passiones entis), unterdas subiectum metaphysicae fällt, sondern daß vielmehr das transzenden-tale ‚aliquid‘ ausdrücklich aus dem Gegenstandsbereich der Metaphy-sik ausgeschlossen wird, während ‚ens‘ und ‚res‘ quasi synonym als pro-prium subiectum benannt werden.23 Mehr noch: bei genauerem Hinse-hen erweist sich scheinbar der Begriff des ‚Dinges‘ als dem Begriff des‚Seienden‘ sogar noch vorgeordnet, gewissermaßen als Gegenstand derMetaphysik par excellence. Wie begründet Franziskus diese, die Auffas-sung der Metaphysik als einer ‚scientia transcendens‘ offenbar modifizie-rende Differenzierung, die sich zunächst wesentlich in einer ‚Zersplitte-rung‘ der Gruppe der transzendentalen Begriffe hinsichtlich ihrer Eig-nung als proprium subiectum metaphysicae zu manifestieren scheint? Wel-che Konsequenzen ergeben sich daraus für den überkommenen onto-logischen Status der Metaphysik als einer Realwissenschaft, und wel-cher Zusammenhang ergibt sich mit dem bereits erwähnten Theoremeiner zweifachen Metaphysik? Und schließlich: Deutet die in Franzis-kus’ „Metaphysik-Kommentar“ sich findende Besonderheit nicht zu-gleich ganz generell auf eine explizite Kritik an den mittelalterlichenTranszendentalien-Entwürfen hin, aus der nun offenkundig eine fundamen-tale Umstrukturierung der bislang gültigen Ordnung dieser ersten Ver-standesbegriffe erwächst?

2. Die Wende von den Transzendentalien zu ‚Super‘-Transzendentalien

Franziskus’ detaillierte Ausführungen zu den ersten und grundlegen-den Verstandesbegriffen, wie sie sich im Rahmen der mittelalterlichenTranszendentalienlehre zum ersten Mal systematisch herausgebildet haben,sind in philosophiehistorischen Untersuchungen bislang ähnlich unbe-rücksichtigt geblieben wie seine Seinsauffassung.24 Eine strukturelle

23 Ibid.24 Vgl. zu den Anfängen der Transzendentalienlehre im 13. Jahrhundert die Stu-

dien von Jan A. Aertsen, Art. ‚Transzendental; Transzendentalphilosophie‘ II.: Die Anfänge bis

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Analyse seiner transzendentalientheoretischen Position, die sich nebenden erwähnten Passagen aus dem „Metaphysik-Kommentar“ vor allemim Rahmen der Erörterungen des „Quodlibet“ ausgearbeitet findet,weist diese jedoch als bedeutsames Lehrstück nicht nur mit Blick aufdie Frage nach der Wesensbestimmung der Metaphysik aus, sondernverspricht auch, ein zentrales Versatzstück für eine adäquate Rekon-struktion der Geschichte der mittelalterlichen Transzendentalbegriffeselbst zu liefern. Denn hier scheint die einschneidende Wende von dermittelalterlichen Transzendentalienlehre hin zur seit dem 16. Jahrhundertmaßgeblich gewordenen Lehre von den sog. ‚Supertranszendentalien‘ zumersten Mal nachweislich rekonstruierbar. Mit der vorliegenden Unter-suchung beabsichtigen wir somit zugleich, erstmals etwas Konkrete-res über den tatsächlichen Ausgangspunkt dieser Doktrin von den ‚super-transzendentalen Begriffen‘ aussagen zu können, zu dem es bislangnoch keine umfassenderen Studien gibt. Auf der Grundlage der (in derTat sehr materialreichen) Forschungsliteratur zur Gesamtentwicklungder Lehre von den ‚supertranscendentia‘, die sich jedoch vor allem aufdie Positionen der Denker des 16. und 17. Jahrhunderts konzentriert,mußte bisher ein Übergang von der Transzendentalien- hin zur Supertrans-zendentalienlehre angenommen werden, der anhand einer Betrachtungder Konzeption des Franziskus von Marchia nunmehr nicht nur weitfrüher anzusetzen ist, sondern auch eine entscheidende und durchausüberraschende inhaltliche Korrektur erfahren dürfte.25

Meister Eckhart, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998, Sp.1360–1365; Art. ‚Transzendentalien‘, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 8, München 1997,Sp. 953–955; Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas, Lei-den/New York/Köln 1996 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters52); ders., What is First and Most Fundamental? The Beginnings of Transcendental Philoso-phy, in: J.A. Aertsen/A. Speer (Hgg.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Akten desX. Intern. Kongresses für mittelalterliche Philosophie der S.I.E.P.M., 25.-30.08.1997in Erfurt), Berlin/New York 1998 (Miscellanea Mediaevalia 26), S. 177–192, und J.J.E.Gracia, The Transcendentals in the Middle Ages, in: Topoi 11 (1992), S. 111–195. Zur Entwick-lung des Terminus ‚transzendental‘ vgl. H. Knittermeyer, Der Terminus transzendental inseiner historischen Entwicklung bis zu Kant, Marburg 1920, sowie J.A. Aertsen, ‚Transcendens—Transcendentalis‘. The Genealogy of a Philosophical Term, in: J. Hamesse/C. Steel (Hgg.),L’élaboration du vocabulaire philosophique au Moyen Âge. Actes du Colloque inter-nationale de Louvain-la-Neuve et Leuven 12–14 septembre 1998 org. par la S.I.E.P.M.,Turnhout 2000 (Rencontres de Philosophie Médiévale 8), S. 241–255, und ders., TheConcept of „Transcendens“ in the Middle Ages: What is Beyond and What is Common, in: G. vanRiel/C. Macé (Hgg.), Platonic Ideas and Concept Formation in Ancient and MedievalThought, Leuven 2004, S. 133–153.

25 Zur Entwicklung der Supertranszendentalienlehre vgl. vor allem die Arbeiten von

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Seit ihrer Entstehung im 13. Jahrhundert wurden die Transzenden-talien als diejenigen Begriffe betrachtet, welche die durch die aristote-lischen Kategorien geleistete Einteilung des Seienden dahingehend ‚tran-szendieren‘, daß sie sich in ihrer Aussagbarkeit nicht auf bestimmte (näm-lich die kategorialen) Seinsweisen beschränken, sondern als ‚commu-nissima‘ (Philipp der Kanzler) im Sinne allgemeinster Erstbegriffe füralles (Real-)Seiende gleichermaßen Gültigkeit besitzen.26 Bei der Mehr-zahl mittelalterlicher Autoren bilden die Begriffe ens, unum, verum undbonum, bisweilen (vor allem seit Thomas von Aquin) auch res und ali-quid, den Kanon der Transzendentalien, dieser sowohl in epistemo-logischer als auch in ontologischer Hinsicht ‚ersten Begriffe‘, wobeijene Gruppe verschiedentlich in ihrer Zusammensetzung und hierar-chischen Gewichtung auch Variationen erfahren hat. Gemeinhin—unddas ist entscheidend als Hintergrund für die konzeptionelle Modifika-tion, wie Franziskus von Marchia sie vornimmt—kommt jedoch, wiebereits erwähnt, dem Begriff des ‚ens‘ die Primatstellung unter den trans-cendentia zu, während alle anderen Begriffe als begleitende Eigenschaf-ten desselben (passiones entis) gelten. Diese sind zwar mit dem ‚Seien-den‘ in der Sache selbst (in re) identisch und damit in gewisser Weisekonvertibel, sie unterscheiden sich jedoch begrifflich voneinander unddrücken einen je anderen Sinngehalt aus, der durch den Begriff des‚Seienden‘ noch nicht explizit mitbezeichnet wird.27

J.P. Doyle, auf die im 3. und 4. Kapitel der vorliegenden Untersuchung noch eingehen-der verwiesen wird: J.P. Doyle, Art. ‚Supertranszendent; Supertranszendenz‘, in: HistorischesWörterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998, Sp. 644–649, ders., Between transcen-dental and transcendental: the missing link?, in: The Review of Metaphysics 50 (1997), S.783–815, ders., ‚Extrinsic Cognoscibility‘: A Seventeenth Century Supertranscendental Notion, in:The Modern Schoolman 68 (1990), S. 57–80, und Supertranscendental Being: On the Vergeof Modern Philosophy, in: S.F. Brown (Hg.), Meeting of the Minds. The Relations bet-ween medieval and classical modern European Philosophy (Acts of the InternationalColloquium held at Boston College, June 14–16, 1996, organized by the S.I.E.P.M.),Turnhout 1998, S. 297–315.

26 Vgl. zu den Anfängen der mittelalterlichen Transzendentalien-Lehre im 13. Jahr-hundert Philippus Cancellarius, Summa de bono, ed. N. Wicki (Corpus philosophorummedii aevi II), Bern 1985, und erläuternd J.A. Aertsen, What is First and Most Fundamen-tal (vgl. nt. 24).

27 Vgl. hierzu exemplarisch die wohl erste systematische Ableitung der einzelnenTranszendentalbegriffe bei Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate I,1, ed.A. Zimmermann, Hamburg 1986, und G. Schulz, Veritas est adaequatio intellectus et rei.Untersuchungen zur Wahrheitslehre des Thomas von Aquin und zur Kritik Kants an einem über-lieferten Wahrheitsbegriff, Leiden u.a. 1993 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte desMittelalters 36).

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Im Laufe der weiteren Entwicklung, einheitlich etwa ab dem 16.Jahrhundert, wurden diese transzendentalen Erstbegriffe schließlich nocheinmal selbst überstiegen, indem ihr Gültigkeitsbereich nicht mehr aus-schließlich auf alles Realseiende (ens reale) beschränkt blieb, sondernauch auf das ‚gedankliche‘ Seiende (ens rationis) hin ausgedehnt wurde.28

Die hierbei herausgebildeten, in ihrem Umfang über die transcendentianoch hinausreichenden und damit als grundlegender und früher anzu-setzenden ‚super-transcendentia‘ manifestierten sich nach und nach in ver-schiedenen begrifflichen Konzeptionen, etwa als ‚Denkbares‘ (cogitabile),‚Erkennbares‘ (intelligibile) oder ‚Erfaßbares‘ (apprehensibile).29

Franziskus von Marchia stellt zu Beginn des 14. Jahrhunderts zu-nächst die bereits erwähnte, innerhalb der mittelalterlichen Transzen-dentalienlehre etablierte Vorrangstellung der intentio entis anhand einerspezifischen Begriffsanalyse grundlegend in Frage und entwickelt indirektem Zusammenhang hiermit zum ersten Mal systematisch dieMöglichkeit einer Ausweitung des Bezugsbereichs der ‚Transzenden-talien des 13. Jahrhunderts‘ in genau der Weise, wie wir sie später aus-drücklich in der Bestimmung der ontologisch umfassenderen ‚supertran-scendentia‘ wiederfinden. Mit Franziskus’ Entwurf scheinen wir somit—weit früher als in der Forschung bisher angenommen—ein Modell vorAugen zu haben, das anhand des Nachweises der Möglichkeit einerÜbersteigung der klassischen, auf das ens reale beschränkten Transzen-dentalbegriffe die entwicklungsgeschichtlich bedeutsame Wende vonden transzendentalen hin zu ‚super‘-transzendentalen Bestimmungen

28 Vgl. J.P. Doyle, Art. ‚Supertranszendent; Supertranszendenz‘ (nt. 25), Sp. 644: „Super-transcendens ist eine im Aristotelismus des 16. Jh.s geprägte ,Überbietungsformel‘ für diehöchste Ebene der ontologischen Abstraktion; ,überboten‘ wird dabei die mit Bezug aufdie kategoriale Einteilung des Seienden seit dem 13. Jh. eingeführte Ebene der Trans-zendentalien, d.h. der allgemeinsten Bestimmungen des Realseienden, durch ,aller-allgemeinste‘ (‚supertranszendentale‘) Bestimmungen, die den realen Dingen und denGedankendingen gemeinsam sind“.

29 Der Ausdruck ‚supertranscendens‘ bzw. ‚supertranscendentia‘ findet sich erstmals beiAutoren des 16. Jahrhunderts, z.B. bei Petrus Fonseca (1528–1597), der „opinabile“,„cogitabile“ und „apprehensibile“ als supertranszendentale Begriffe erwähnt: „(…) Sexporro transcendentia esse dicuntur, ens, unum, verum, bonum, aliquid et res (…).Reliqua iuxta hanc sententiam sunt non transcendentia: in quibus numerantur ea, quaea recentioribus dicuntur supertranscendentia ut opinabile, cogitabile, apprehensibile(…)“, in: P. Fonseca, Institutionum dialecticarum libri octo I,1, c. 28, Ingolstadt 1607, S. 62.Franziskus von Marchia verwendet den Terminus „supertranscendens“ selbst (noch) nicht.Inwiefern dies eine in seinem Entwurf selbst wurzelnde Ursache hat, die keineswegs als‚defizitär‘, sondern vielmehr als wesenhafte Eigenart seiner Konzeption zu werten ist,wird noch ausführlich zu klären und zu begründen sein (vgl. hierzu vor allem Kapitel 4der vorliegenden Untersuchung).

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markiert. Den hermeneutischen Ort dieses Übergangs bildet die Aus-gangsfrage der 3. Quaestio des „Quodlibet“ (Utrum intentio entis sit primarei intentio), in der die bislang gültige (transzendentale) Begriffsordnung—inklusive der Primatstellung des Seinsbegriffs—umstürzend und mitgravierenden Konsequenzen für den ‚ontologischen Status‘ der transcen-dentia insgesamt thematisiert wird.30

Bildeten im 13. Jahrhundert—unter der Maßgabe einer Identifizie-rung des proprium subiectum metaphysicae mit dem primum obiectum intellec-tus—die Transzendentalien den eigentümlichen Gegenstand der Meta-physik, woraufhin die Erste Philosophie wesenhaft als (Real-)Ontologie zubestimmen war, so müssen wir mit Blick auf die Situation des frühen14. Jahrhunderts vor allem fragen, welche Folgen sich aus der ‚super-transzendentalen Neubestimmung‘ des Verstandesersten für die Deutung desMetaphysik-Subjekts und damit für den ontologischen Status dieserersten Wissenschaft ergaben. Wird die Metaphysik folglich nicht auto-matisch zur ‚Supertranszendentalwissenschaft‘? Anders: erfolgt hier der„Schritt der Philosophie zur scientia supertranscendens“?31

3. Eine Metaphysik oder zwei Metaphysiken?—Eine entscheidendeModifikation innerhalb der Entwicklungsgeschichte der πρ�τη �ιλσ��α

Wie bereits angedeutet, ist Franziskus von Marchia hinsichtlich desstrukturellen Verlaufs der Metaphysikgeschichte für einen vergleich-bar konstitutiven Wendepunkt verantwortlich zu machen, wie er mitBlick auf die Entwicklung der Transzendentalienlehre zu konstatierenist. Allerdings—und das ist das Bemerkenswerte—ergibt sich im Zugeseiner ‚Super‘-Transzendentalienlehre nicht zugleich zwangsläufig auchdie Konzeption der Metaphysik als einer (supertranszendentalen) Wis-senschaft, die sich sowohl auf das ens reale als auch auf das ens rationisbezieht. Vielmehr ist die philosophiegeschichtlich erst erheblich späterzum anerkannten Theorem avancierte Aufspaltung der Ersten Philosophiein eine Allgemeine und eine Besondere Metaphysik für seinen Entwurf

30 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 71–104.31 So ließe sich im Anschluß an eine Formulierung L. Honnefelders fragen, der

allererst in der Konzeption des Johannes Duns Scotus den tatsächlichen Übergang derMetaphysik in ihre Bestimmung als Transzendentalwissenschaft gegeben sieht; vgl. L.Honnefelder, Duns Scotus: Der Schritt der Philosophie zur scientia transcendens, in: W. Kluxen(Hg.), Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, Freiburg/München 1975, S.229–244.

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kennzeichnend. Inwiefern aber basiert diese Spaltung auf der bereitserwähnten Auffälligkeit der noch näher zu betrachtenden ‚Zersplitte-rung‘ des transzendentalen subiectum metaphysicae? Und inwiefern findetdie (supertranszendentale) Ausweitung des primum obiectum intellectus über-haupt Eingang in dieses Modell? Zugespitzt formuliert: Wie verträgtsich ein realontologisches Metaphysik-Subjekt—das zudem in bestimm-ter Weise zweifach aufzugliedern ist—mit einem supertranszendentalenprimum obiectum intellectus?Bereits im Rahmen mehrere Jahrzehnte zurückliegender Arbeiten

hat A. Zimmermann die grundlegende Bedeutung von Franziskus’ Me-taphysik-Konzeption für den Fortgang der Metaphysikgeschichte er-kannt, nachdrücklich gewürdigt und damit einen wichtigen Grund-stock für weitere Untersuchungen gelegt.32 In seiner Studie „Ontologieoder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13.und 14. Jahrhundert“ findet sich erstmals eine eingehendere Betrachtungvon Franziskus’ Metaphysik-Entwurf anhand der Edition und einerErörterung ausgewählter Passagen seines Kommentars zur aristoteli-schen „Metaphysik“.33 Danach ist es um dieses Werk jedoch über langeZeit hinweg recht still geworden.34 Dabei scheint aufgrund derselben

32 Vgl. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstandder Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, Leiden/Köln 1965(Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 8), S. 56–71; 292–314, bzw.Leuven 21998 (Recherches de Théologie et Philosophie médiévales, Bibliotheca 1), S.84–100; 348–373 (alle verweisenden Angaben beziehen sich fortan auf diese 2. Aufl.).1972 bestimmte Zimmermann erstmals Franziskus von Marchia als möglichen Verfasserdes untersuchten „Metaphysik-Kommentars“ (vgl. A. Zimmermann, Analoge und univokeBedeutung des Terminus ‚ens‘ nach einem anonymen Metaphysikkommentar des 14. Jahrhunderts, in:Deus et homo ad mentem I. Duns Scoti. Acta tertii Congressus Scotistici, Rom 1972, S.724–730).

33 Zimmermanns Untersuchung enthält als Teiledition des „Metaphysik-Kommen-tars“ die 1. Quaestio aus dem 1. Buch: „Utrum res secundum quod res sit subiectum metaphysicaevel aliquid aliud“, sowie die 16. Quaestio des 6. Buches: „Utrum metaphysica sit de ente incommuni vel sit de ente abstracto et separato secundum rem“ (S. 84–100), die er zudem beideinhaltlich erörtert und kontextuell auswertet (S. 348–373).

34 Neben Zimmermann räumte bisher lediglich E. Rompe diesem „Metaphysik-Kommentar“ (auf der Grundlage von Ms. Paris, Bibl. Maz. 3490, fol. 1ra–57rb) einenzentralen Stellenwert innerhalb ihrer Darstellung der Geschichte einer zweifachenMetaphysik ein; vgl. E. Rompe Die Trennung von Ontologie und Metaphysik (nt. 2). Dietatsächlichen Implikationen und doktrinären Auswirkungen werden hier jedoch nichthinreichend ausgearbeitet. Darüber hinaus sucht man in den einschlägigen Darstel-lungen zur Metaphysik-Entwicklung allerdings vergeblich nach einer Einordnung undAuswertung der Konzeption des Franziskus von Marchia. Die einzige Ausnahme inner-halb der gegenwärtigen Forschung bildet die für ein adäquates Verständnis der Struk-turgeschichte der Metaphysik wichtige Studie von W. Goris, The Scattered Field. History of

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Umstände Erstaunen angebracht wie hinsichtlich der bereits erwähn-ten bisherigen ‚Unangetastetheit‘ seiner Seins- und Transzendentalien-Konzeption. Blickt man auf den Verlauf der ‚Problemgeschichte‘ derMetaphysik, dieser seit ihrer ersten systematischen Ausarbeitung durchAristoteles über die Jahrhunderte hinweg nicht zur Ruhe kommendenWissenschaft, so zeigt sich Franziskus’ Beitrag als ein Modell, in demerstmals explizit ein Entwurf offenkundig wird, der sich im weiterenFortgang der Entwicklung mehr und mehr durchsetzte. Daß es sichdabei nicht, wie im Vorangehenden auf der Grundlage der Neubestim-mung der ersten Verstandesbegriffe durchaus in Betracht gezogen, umdie Konzeption der Metaphysik als einer ‚scientia supertranscendens‘ han-delt, sondern um die ‚Aufspaltung‘ in zwei voneinander getrennte Wis-senschaften (metaphysica generalis und metaphysica specialis), wie sie schließ-lich bei den Denkern der Deutschen Schulphilosophie—exemplarischgenannt sei Christian Wolff—populäre Etablierung fand, darin liegtder entscheidende Vorrang, der Franziskus gegenüber seinen Zeitge-nossen zuzusprechen ist.35 Franziskus scheint in der Tat der erste (undfür lange Zeit auch der einzige) gewesen zu sein, der eine solche Tei-lung der Metaphysik, die sich vorerst als Aufgliederung sowohl in eineontologische als auch in eine theologische Metaphysik charakterisieren läßt,vornahm und explizit ausarbeitete.36

Metaphysics in the Postmetaphysical Era, Louvain 2004, in der Franziskus von Marchia imRahmen einer pointierten Analyse ein exponierter Platz zugewiesen wird.

35 Vgl. zur Vollendung der Trennung von Allgemeiner und Besonderer Metaphysikbei Chr. Wolff E. Rompe, Die Trennung von Ontologie und Metaphysik (nt. 2), S. 339 f.: „Indas allgemeine Bewußtsein ist Christian Wolff als Urheber der Trennung von Ontolo-gie und Metaphysik eingegangen. (…) Wolff setzt jedoch, das sollte festgehalten wer-den, keinen neuen Anfang, sondern bedeutet Abschluß, Zusammenfassung und damitzugleich Sanktionierung einer bestimmten Entwicklungsrichtung“. Vgl. zur Spaltungder Metaphysik durch Franziskus von Marchia ebenfalls die Untersuchung von A. Zim-mermann, Allgemeine Metaphysik und Teilmetaphysik nach einem anonymen Kommentar zur aristo-telischen Ersten Philosophie aus dem 14. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte der Philosophie48 (1966), S. 190–206.

36 Auf die zahlreichen Anknüpfungspunkte innerhalb der weiteren Entwicklung vonAllgemeiner und Besonderer Metaphysik im 17./18. Jh. kann hier—trotz lohnenswerterVergleichsmomente—nicht näher eingegangen werden. Verwiesen sei auf die einschlä-gige Literatur bei E. Vollrath, Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis undeine Metaphysica specialis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 16 (1962), S. 258–284; J.B. Lotz, Ontologie und Metaphysik. Ein Beitrag zu ihrer Wesensstruktur, in: Scholastik18 (1943), S. 1–30, und—wie bereits erwähnt—E. Rompe, Die Trennung von Ontologie undMetaphysik (nt. 2). Einzig Rompe bezieht jedoch Franziskus’ Konzeption in ihre Darstel-lung mit ein, alle anderen Untersuchungen lassen diese gänzlich unerwähnt.

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Was ist nun das Eigentümliche, das über vorangehende Metaphy-sik-Deutungen Hinausgehende dieses Entwurfs? Welche strukturell-sys-tematischen Neuerungen impliziert ein solches Modell? Vierzig Jahrenach Zimmermanns grundlegender Studie scheint es an der Zeit, Fran-ziskus’ Modell sowohl unter Hinzuziehung der anderen für die Ent-wicklung der Metaphysik relevanten Schriften seines Œuvres—denAusführungen im „Quodlibet“ und im „Sentenzen-Kommentar“—alsauch in einem größeren thematischen Kontext in seinen Abhängigkei-ten, Motiven, Möglichkeiten und Wirkungen neu in den Blick zu neh-men.37

Der allgemeine Problemhorizont, der letztlich allen Versuchen eineradäquaten Wesensbestimmung der Metaphysik zugrundeliegt und vordem auch Franziskus von Marchia seine Lösung entwickelte, darf alshinreichend bekannt vorausgesetzt werden und soll daher hier—ähn-lich den anderen inhaltlichen Vorausgriffen und Vorbemerkungen in-nerhalb dieser Einleitung—ebenfalls nur noch einmal kurz in seinenGrundzügen in Erinnerung gerufen werden. So ist in kaum mehr zähl-baren Darstellungen detailliert erörtert worden, inwiefern die verschie-denen Metaphysik-Entwürfe (nicht nur im Mittel- und Spätmittelal-ter) allesamt im Rahmen der Diskussion um eine angemessene Aus-legung der aristotelischen Metaphysik-Konzeption entwickelt wurdenund damit durchgängig geprägt sind von dem bei Aristoteles selbst zufindenden Spannungsverhältnis zweier unterschiedlicher Gegenstands-bestimmungen. Die grundlegende Textstelle in Met. Γ 1, wo der eigen-tümliche Gegenstand der Metaphysik als τ� �ν �� �ν bestimmt wird,38

steht dabei der Aussage zu Beginn von Buch E gegenüber, die—inscheinbarem Widerspruch—das ‚ewige (göttliche) Seiende‘ als Gegenstanddieser Wissenschaft im Sinne einer �ελγικ� �πιστ�μη bezeichnet.39

37 Franziskus’ „Sentenzen-Kommentar“ liegt—ebenso wie seine „Quaestiones inmetaphysicam“—noch nicht vollständig in historisch-kritischer Edition vor. Im Ver-lauf dieser Untersuchung werden wir einerseits Bezug nehmen auf den dem „Quod-libet“ durch N. Mariani angefügten Appendix, der Teile des „Sentenzen-Kommen-tars“ enthält, sowie auf die von Zimmermann edierten Passagen des „Metaphysik-Kommentars“, in: A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über denGegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert (vgl. nt. 22), S. 84–100, und die Edi-tion des Prologs zum „Metaphysik-Kommentar“ durch R. Friedman, erstmals unterBerücksichtigung von Ms. Bologna, Coll. di Spagna 104, in: Documenti e Studi sullaTradizione Filosofica Medievale 16 (2005), S. 504–513.

38 Aristoteles, Met. Γ 1, 1003a20 f.39 Aristoteles, Met. E 1, 1026a19 f. Vgl. zum Problem der unterschiedlichen Gegen-

standsbestimmungen der aristotelischen Ersten Philosophie A. Zimmermann, Ontologie oderMetaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert (vgl.

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Demgemäß lassen sich auch die verschiedenen Lösungsversuche nach-folgender Denker, die um die Wahrung einer einheitlichen Konzeptionder Ersten Philosophie bemüht waren, in unterschiedlicher Weise veror-ten zwischen der Auffassung, die Metaphysik sei in erster Linie als all-gemeine Seinswissenschaft, d.h. gleichsam als ‚Metaphysik des Tran-szendentalen‘ zu begreifen,40 und andererseits der Verteidigung einer‚Metaphysik des Transzendenten‘, einer philosophischen Theologie, dievom göttlichen Seienden handle.41

Franziskus scheint mit seiner Konzeption einer ‚Aufspaltung‘ derMetaphysik einen neuen Weg einzuschlagen. Offensichtlich sieht ersich weder genötigt, wie seine Vorgänger das proprium subiectum meta-physicae zugunsten einer der genannten aristotelischen Bestimmungenentscheiden zu müssen, noch liegt für ihn die Lösung letztlich darin,beide Zuschreibungen innerhalb einer einzigen Wissenschaft gleichsam‚onto-theologisch‘ zu harmonisieren.42 Mit dem Entwurf einer ‚Allgemei-nen‘ und einer ‚Besonderen Metaphysik‘, deren Gegenstandsbereiche jeweilseiner der beiden aristotelischen Bestimmungen entsprechen (die meta-

nt. 22), S. 136–144, L. Honnefelder, Transzendent oder transzendental: Über die Möglichkeitvon Metaphysik, in: Philosophisches Jahrbuch 92 (1985), S. 273–290, G. Patzig, Theologieund Ontologie in der „Metaphysik“ des Aristoteles, in: Kant-Studien 52 (1960/61), S. 185–205,A. Speer, Im Spannungsfeld der Weisheit. Anmerkungen zum Verhältnis von Metaphysik, Religionund Theologie, in: M. Erler/T. Kobusch (Hgg.), Metaphysik und Religion. Zur Signaturdes spätantiken Denkens (Akten des Internationalen Kongresses vom 13.-17.03.2001 inWürzburg), München/Leipzig 2002 (Beiträge zur Altertumskunde Bd. 160), S. 649–672, oder D. Fonfara, Aristoteles‘ Erste Philosophie: universalistische oder paradigmatische Ontolo-gie?, in: K. Engelhard (Hg.), Aufklärungen. Festschrift für K. Düsing zum 60. Geburts-tag, Berlin 2002 (Philosophische Schriften 47), S. 15–37, der auch eine Erörterung derwichtigsten Forschungsliteratur zu dieser Problematik liefert.

40 Die Anhänger einer solchen ontologischen Metaphysik-Interpretation bestimm-ten unter dem starken Einfluß der Lehre Avicennas und im Rahmen einer stren-gen Anwendung der aristotelischen Wissenschaftslehre der „Zweiten Analytiken“ dasSeiende im allgemeinen als eigentümlichen Gegenstand der Metaphysik; vgl. hierzuA. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik (nt. 22), S. 144–152 (Avicennas Lehre vom ‚subiec-tum‘ der Metaphysik), J.A. Aertsen, Die Lehre der Transzendentalien und die Metaphysik. DerKommentar von Thomas von Aquin zum IV. Buch der Metaphysica, in: Freiburger Zeitschrift fürPhilosophie und Theologie 35 (1988), S. 293–316, und L. Honnefelder, Ens inquantumens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des JohannesDuns Scotus, Münster 1979 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters N.F. 16).

41 Vor allem Averroes vertritt—in Fortführung der Interpretationsrichtung der spät-antiken griechischen Kommentatoren—eine theologische Auslegung der Metaphysik;vgl. hierzu die Zusammenfassung bei A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik (nt. 22),S. 152–154 (Die Kritik des Averroes an Avicenna).

42 Vgl. O. Boulnois, Quand commence l’ontothéologie? Aristote, Thomas d’Aquin et Duns Scot,in: Revue Thomiste 95 (1995), S. 85–108.

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physica communis hat das ‚ens commune‘, die metaphysica particularis das abge-trennte, göttliche Seiende, das ‚ens separatum‘, zum Gegenstand), scheinter als Lösung vielmehr ein Modell anzustreben, das beiden Wesensbe-stimmungen einen adäquaten Stellenwert einräumt, indem ihnen einje eigener Ort in distinkten, nebeneinander bestehenden Wissenschaftenzukommt.43 Sowohl die epistemischen Bedingtheiten und Möglichkei-ten des Menschen mit Blick auf die Durchführbarkeit der Metaphy-sik als auch aristotelisch begründete wissenschaftstheoretische Maßga-ben, wie wir sie aus den „Zweiten Analytiken“ her kennen, finden hierBerücksichtigung. Und wenngleich Franziskus’ Entwurf in seiner spe-zifischen Ausprägung ohne nachweisbaren Einfluß auf die Konzeptio-nen zeitgenössischer wie nachfolgender Denker blieb, bildet er dochdie strukturelle Grundlage für alle späteren Darstellungen einer ‚Allge-meinen‘ und ‚Besonderen Metaphysik‘.44 Eine zumindest indirekte Ent-wicklungslinie manifestiert sich etwa in den eklatanten Übereinstim-mungen seiner Konzeption mit der zwei Jahrhunderte später ausgear-beiteten Teilung der Metaphysik durch Benedictus Pererius (1535–1610),von dessen Einfluß auf Denker wie Christian Wolff durchaus auszuge-hen ist.45

43 Vgl. J.A. Aertsen, Metaphysics: Theology or Universal Science?, in: Averroes Latinus.A New Edition, Leuven 2002 (Recherches de Théologie et Philosophie médiévales,Bibliotheca 4), S. VII–IX, S. IX: „(…) two sciences of metaphysics: a particular metaphysics,which primarily deals with the first being, namely the scientia divina, and a universal science,dealing with being as being. (…) a ‚general‘ metaphysics, transcendental in character, and a ‚special‘metaphysics or philosophical theology.“

44 Charles Genequand hat in einer kurzen Studie zur Frage nach dem Gegen-stand der Metaphysik bei Alexander von Aphrodisias gezeigt, daß sich bereits hiereine Art ‚Aufspaltung‘ der Metaphysik findet—diese kann durchaus als ‚strukturelleVorprägung‘ der Konzeption Marchias angesehen werden. Allerdings erfolgt die Tren-nung einer ‚generischen‘, übergeordneten Wissenschaft, die mehrere Teilwissenschaftenumfaßt, unter die auch die Erste Philosophie—im Sinne einer ‚besonderen Metaphysik‘—fällt, bei Alexander allein anhand einer ontologischen, gegenstandsbezogenen Begrün-dung. Vgl. C. Genequand, L’objet de la métaphysique selon Alexandre d’Aphrodisias, in: Mu-seum Helveticum 36 (1979), S. 48–57. Ebenso hat Th. Kobusch darauf hingewiesen,daß auch im 13. Jh. Thomas von York offenbar schon zwischen einer allgemeinenSeinswissenschaft (de ente secundum quod est ens et de his que sunt entis per se) und einerspeziellen Metaphysik unterscheide (de ente speciali et de his, que subsunt enti), die die Weltim allgemeinen und die Lehre von den Teilen der Welt zum Gegenstand habe; vgl.Th. Kobusch, Art. Metaphysik III, 3: Hochscholastik, in: Historisches Wörterbuch der Phi-losophie Bd. 5, Sp. 1216, und hierzu auch M. Grabmann, Die Metaphysik des Thomas vonYork, in: Festgabe zum 60. Geb. C. Baeumker (Beiträge zur Geschichte der Philosophiedes Mittelalters Suppl.-Bd. 1, Münster 1913).

45 Ob der spanische Jesuit Kenntnis von Marchias Konzeption hatte, konnte bis-her noch nicht eindeutig geklärt werden, ist aufgrund der zahlreichen Übereinstim-

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4. Anliegen und Vorgehen der nachfolgenden Untersuchung

Der bislang nur angedeutete Einfluß auf die Entwicklungslinien sowohlim Bereich der Metaphysik- als auch der Transzendentaliengeschichteläßt bereits die Sonderstellung ermessen, die Franziskus von Marchiazweifelsohne zuzuschreiben ist und die ihn in der Nachfolge des Johan-nes Duns Scotus zu einem der wichtigsten Metaphysiker und Tran-szendentalientheoretiker des frühen 14. Jahrhunderts macht. Ein kur-zer Überblick über die vier Kapitel der nachfolgenden Studie soll denGang der Untersuchung skizzieren, wie er sich aus den vorangegan-genen einführenden Bemerkungen ergibt, und noch einmal verdeutli-chen, mit welcher Notwendigkeit sich Franziskus’ Metaphysik-Entwurfaus den (super-)transzendentalen Betrachtungen ‚de ente‘ innerhalb der 3.Quaestio seines „Quodlibet“ allererst adäquat entwickeln läßt.

* * *

(I.) Das zentrale Thema des I. Kapitels muß daher Franziskus’ spezi-fischer Seinsentwurf in „Quodl., q. 3“ bilden. Anhand der hier aufge-worfenen Infragestellung der traditionell anerkannten Primatpositiondes Begriffs des ‚Seienden‘ dürfen wir eine Antwort auf die Frageerwarten, weshalb innerhalb der „Quaestiones in metaphysicam“ nichtmehr die transzendentalen Begriffe in ihrer Gesamtheit den eigentüm-lichen Gegenstand der Metaphysik ausmachen, wenn das transzenden-tale ‚aliquid‘ als subiectum metaphysicae explizit ausgeschlossen, der ‚res‘-Begriff hingegen dem des ‚Seienden‘ in dieser Funktion sogar nochvorgeordnet wird. Inwieweit kann die Metaphysik damit noch längerals scientia transcendens im eigentlichen Sinne gelten? Und welcher onto-logische Status wird den transzendentalen Erstbegriffen hier überhauptzugesprochen? Nur vor dem Hintergrund einer Analyse der ‚Keim-zelle‘, wie sie sich in der 3. Quaestio des „Quodlibet“ findet, lassen sichdie weiteren, die Metaphysik und die Transzendentalienlehre betref-

mungen jedoch durchaus denkbar. Vgl. zur Ausarbeitung der Teilung der Metaphy-sik durch Benedictus Pererius das entsprechende Kapitel bei E. Rompe, Die Trennungvon Ontologie und Metaphysik (vgl. nt. 2), S. 32–94, und S. Lalla, Benedictus Pererius undAristoteles, in: G. Frank/A. Speer (Hgg.), Der Aristotelismus in der frühen Neuzeit—Kontinuität oder Wiederaneignung? 58. Wolfenbütteler Symposion der Herzog AugustBibliothek Wolfenbüttel in Verbindung mit dem Melanchthonhaus Bretten und demThomas-Institut Köln, 21.-23.09.2005 (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 115), S. 43–63.

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einleitung 25

fenden theorematischen Modifikationen in ihrem zugrundeliegendenGehalt und vor allem: in ihrem inneren Zusammenhang angemessen ver-stehen.46

(II.) Im Anschluß hieran wird im II. Kapitel das von Franziskus hervor-gebrachte Modell einer zweifachen Metaphysik genauer in den Blickzu nehmen sein. Wir scheinen uns mit seiner Konzeption an einer derprägnanten Schwellen innerhalb der strukturellen Gesamtentwicklungder Metaphysik zu befinden. Offenbar markiert sein Entwurf einenBruch mit all denjenigen Modellen früherer Denker, die an einer ein-heitlichen Metaphysik-Konzeption dergestalt festhielten, daß sie sichverpflichtet sahen, die zwei unterschiedlichen aristotelischen Bestim-mungen der Ersten Philosophie zugunsten einer der beiden zu entschei-den und damit zugleich dem Konzept der Metaphysik als einer einzi-gen Wissenschaft zu- bzw. unterzuordnen, um das Moment ihrer Kohä-renz wahren zu können. Franziskus löst sich mit seiner Aufgliederungin zwei voneinander unterschiedene Wissenschaften erstmals aus die-ser langen Tradition eines „homogenen Feldes der Metaphysik“ undebnet damit den Weg für eine „Verstreuung“ desselben.47 Wir wer-den uns dabei fragen müssen, ob es ihm tatsächlich gelingt, sich mitseinem Entwurf einer Allgemeinen und einer Besonderen Metaphysik ausdem ‚Dilemma‘ zu befreien, in dem sich die meisten Autoren durchden ‚onto-theologischen Charakter‘ der aristotelischen Metaphysik gefangensahen. Ebenfalls wird aber auch zu klären sein, inwieweit Franziskus—gerade im Rahmen einer solchen ‚Spaltung‘ der Metaphysik—zugleichnicht doch auch die ‚Einheit‘ des aristotelischen Metaphysik-Entwurfszu wahren bemüht ist.48 Wie begründet Franziskus überhaupt die Not-

46 W. Goris hat auf die Notwendigkeit einer Klärung dieses intrinsischen Zusam-menhangs hingewiesen: „Es ist ein Desiderat der Forschung, den Zusammenhang die-ser Dimension des Supertranszendentalen mit dem Metaphysikentwurf des Franzis-kus von Marchia, insbesondere seiner Transzendentalienlehre, zu erklären“ (W. Goris,Transzendentale Gewalt, in: M. Pickavé (Hg.), Die Logik des Transzendentalen. Festschrift fürJ.A. Aertsen zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2003 (Miscellanea Mediaevalia 30), S.619–642, hier S. 628).

47 So beschreibt W. Goris, The Scattered Field. History of Metaphysics in the PostmetaphysicalEra, Louvain 2004, das Spezifikum der Metaphysik-Entwicklung zu Beginn des 14.Jahrhunderts, wofür er gerade auch den Entwurf des Franziskus von Marchia alskonstitutiv wertet (vgl. vor allem S. 28 f.).

48 Beinahe programmatisch läßt sich für Franziskus’ Projekt die—leider allzuoftbemühte—Äußerung von M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frank-furt/M. 21951, S. 17, anführen: „Soweit Aristoteles sich selbst darüber äußert, zeigtsich gerade in der Bestimmung des Wesens der ‚ersten Philosophie‘ eine merkwürdige

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26 einleitung

wendigkeit zweier voneinander unterschiedener Metaphysiken? Und in-wiefern ist seine Metaphysik-Konzeption, in der wir das Theorem einermetaphysica communis und einer metaphysica specialis erstmals ausdrücklichbestimmt finden, als ‚Prototyp‘ der späteren Modelle, etwa desjenigenC. Wolffs, zu werten? Kann Franziskus’ Entwurf tatsächlich als autoch-thoner Ausgangspunkt für die weitere Erfolgsgeschichte dieses Theo-rems klassifiziert werden?

(III.) Das III. Kapitel hat—wiederum in direkter inhaltlicher Anbin-dung an Kapitel I—die eigentliche ‚Legitimation‘ der später sog. Super-transzendentalien durch Franziskus von Marchia zum Gegenstand. Wasim Rahmen der Erörterungen der 3. Quaestio des „Quodlibet“ hinsicht-lich der Argumentationsstruktur noch ganz auf die Frage nach demsubiectum metaphysicae ausgerichtet scheint, wird in Quaestio 5 derselbenSchrift weit autonomer unter dem Gesichtspunkt der generellen Mög-lichkeiten hinsichtlich des Bedeutungsumfangs der Erstbegriffe selbstdiskutiert. Wie argumentiert Franziskus hier für die Legitimation undEinführung von Begriffen ‚vor‘ den (bislang) ersten Begriffen? Welchgrundlegende Kritik übt er an den Transzendentalien-Konzeptionendes 13. Jahrhunderts und inwiefern finden seine Überlegungen Ein-gang in spätere Doktrinen der ‚Supertranszendentalien‘? Und schließ-lich: Inwieweit müssen wir nach einer solchen Analyse die bestehendenForschungsansätze und -spekulationen hinsichtlich der Anfänge einerdie Transzendentalienlehre ablösenden Supertranszendentalienlehre korrigierenbzw. aufgrund der neu in den Blick genommenen Textzeugen allererstschaffen?

(IV.) Eine Art thematischen Ausblick auf den weiteren Gang beiderEntwicklungsstränge nach Franziskus—d.h. sowohl hinsichtlich derWeiterentwicklung der Metaphysik als auch der Transzendentalien-bzw. Supertranszendentalienlehre—bildet schließlich das IV. Kapitel.

Doppelung. Sie ist sowohl ‚Erkenntnis des Seienden als Seienden‘ als auch Erkennt-nis des vorzüglichsten Bezirks des Seienden, aus dem her sich das Seiende im Gan-zen bestimmt. Diese doppelte Charakteristik der πρ�τη �ιλσ��α enthält weder zweigrundverschiedene, voneinander unabhängige Gedankengänge, noch darf die eine zu-gunsten der anderen abgeschwächt bzw. ausgemerzt werden, noch läßt sich gar diescheinbare Zwiespältigkeit vorschnell zu einer Einheit versöhnen. Es gilt vielmehr, dieGründe der scheinbaren Zwiespältigkeit und die Art der Zusammengehörigkeit derbeiden Bestimmungen aus dem leitenden Problem einer ‚ersten Philosophie‘ des Seien-den aufzuhellen“.

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einleitung 27

Hier soll konkludierend der Frage nachgegangen werden, welchen Ein-fluß seine Ideen auf die Konzeptionen späterer Denker hatten. Wieläßt sich der eigenständige Gehalt seiner Lehren nach den geleiste-ten Untersuchungen angemessen ausloten? Dieses letzte Kapitel sollabschließend aber auch Raum bieten, noch offene Fragen zu formulie-ren sowie bestimmte, über das konkrete Anliegen der vorliegenden Ab-handlung hinausreichende Zusammenhänge andeutend aufzuzeigen,die—etwa aufgrund noch zu erschließenden Textmaterials—den Ge-genstand weiterer Studien bilden müssen, für die jedoch im Rahmender nachfolgenden Bemühungen ein entsprechendes Problembewußt-sein geschaffen werden mag, wie es sich in besonderer Weise aus einemtieferen Verständnis der im Entwurf des Franziskus von Marchia wirk-sam werdenden Strukturen ergibt.

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kapitel i

„UTRUM INTENTIO ENTIS SIT PRIMAREI INTENTIO“—DIE ‚ENTTHRONISIERUNG‘

DES SEINSBEGRIFFS

„Und die Frage, welche von altersher sogut wie jetzt und immer aufgeworfen undGegenstand des Zweifels ist, ist die Frage,was das Seiende ist.“

(Aristoteles, Met. VII, 1, 1028b3 f.)

„Es tobt eine regelrechte Gigantenschlacht, sosehr streiten sie sich über das Seiende.“

(Platon, Sophistes 246a)

Von jeher steht der Begriff des ‚Seins‘ bzw. der des ‚Seienden‘ imMittelpunkt philosophischer Betrachtungen und Reflexionen, und die‚Seinsfrage‘, deren Anliegen insbesondere darin besteht, das Wesendes Seienden als solchen, d.h. insofern es seiend ist, zu bestimmen,hat sich über die Jahrhunderte hinweg zu einer der philosophischenGrundfragen schlechthin entwickelt.1 Zu allen Zeiten haben sich Den-ker mehr oder weniger intensiv und explizit—letzten Endes aber dochauch immer in Auseinandersetzung mit den traditionellen Entwürfenseit Parmenides—mit dem Problem einer Wesensbestimmung des ensinquantum ens beschäftigt. Betrachtet man die unterschiedlichen Versu-che konzeptioneller Auslegungen des ‚Seienden an sich‘, wie es allemin einer bestimmten Hinsicht oder Verwirklichung ‚vereinzelten‘ Seien-den zugrundeliegt, in ihrem je spezifischen historischen, geistigen und

1 Sowohl der Verweis auf philosophiegeschichtliche Beispiele als auch ein Rekursauf die mittlerweile beinahe unüberschaubare Forschungsliteratur zu diesem Feld sindan dieser Stelle weder möglich noch nötig, hingewiesen sei hier lediglich auf denumfassenden Art. ‚Sein, Seiendes‘ im Historischen Wörterbuch der Philosophie Bd. 9,Basel 1995, Sp. 170–234, sowie auf denjenigen im Lexikon für Theologie und KircheBd. 9, Freiburg i. Br. 2000, Sp. 404–408, und exemplarisch auf die Untersuchung vonR. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Studien zur Vorgeschichtedes neuzeitlichen Seinsbegriffs im Mittelalter, Berlin/ New York 1986 (Quellen und Studienzur Philosophie 21), wo sich zudem zahlreiche weiterführende Literaturhinweise finden.

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30 kapitel i

individuellen denkerischen Kontext, so zeigt sich, daß diese immer inbesonderer Weise sowohl von den jeweils imaginierten metaphysischenals auch epistemologischen Bedingungen geprägt sind. Die Seinsauffas-sung eines bestimmten Denkers läßt sich somit einerseits stets als Indi-kator für die jeweils zeitgenössische Auffassung von den metaphysischenStrukturen der Wirklichkeit werten. Zugleich erweist sie sich aber auchals konstitutiv für die Bestimmung der epistemischen Möglichkeiten undBegrenztheiten des Menschen bezüglich des Erfassens dieser Seins- undWirklichkeitsstrukturen und damit für die Einschätzung und Zuord-nung der eigentümlichen Gegenstände unseres Wissens und der ein-zelnen Wissenschaften.Wie bereits erwähnt, ist das „Quodlibet“ des Franziskus von Marchia

als dasjenige Werk innerhalb seines Schriftencorpus zu betrachten, inwelchem in exponierter Weise der Begriff des ‚Seienden‘ in seinen ver-schiedenen Aspekten und thematischen Kontexten im Mittelpunkt derÜberlegungen steht. Wir haben es damit in gewisser Weise mit einemTextzeugnis zu tun, anhand dessen wir—nicht zuletzt aufgrund sei-ner Fokussierung und Ausführlichkeit—Genaueres über den Status desSeinsbegriffs erfahren können, wie er zu Beginn des 14. Jahrhundertsin einem deutlich skotisch geprägten Umfeld konzipiert war (anhandeiniger Vergleichsmomente mit anderen zeitgenössischen Modellen las-sen sich tatsächlich verallgemeinernde Schlußfolgerungen ziehen, mitSicherheit sind so aber zumindest die ‚ontologischen Problemfelder‘dieser Periode differenzierter benennbar). Dabei wird zugleich sehrschnell deutlich, daß Franziskus einen überkommenen, bis dahin all-gemein anerkannten Seinsbegriff (wenn von einem solchen überhauptlegitimerweise gesprochen werden kann) grundlegend modifiziert unddarauf aufbauend umstürzende Neuerungen entwickelt.Im Rahmen der 3. Quaestio des „Quodlibet“ widmet sich Franzis-

kus von Marchia eingehend dem zentralen Kennzeichen des klassi-schen Seinsbegriffs überhaupt, seinem ‚Sonderstatus‘ als Erstbegriff:„Utrum intentio entis sit prima rei intentio“.2 Franziskus stellt damit einenUmstand in Frage, der über die Jahrhunderte hinweg ganz offenkun-dig als gesicherte und etablierte Auffassung galt, daß nämlich demBegriff des ‚Seienden‘ die Primatstellung mit Blick auf alle anderenBegriffe zukomme. ‚Seiendes‘ (ens) bezeichnet auf allgemeinste—und

2 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 71–104. Vgl. zur Zählungder „Quodlibet“-Quaestiones innerhalb der Mariani-Edition die kritischen Bemerkungenim Rahmen der vorangegangenen Einleitung (S. 8, nt. 10).

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 31

damit erstheitliche und grundlegende—Weise das Sein der Dinge ansich. In welcher Form sich eine solche Ontologie konzeptionell denkenläßt, dafür finden sich verschiedenste Beispiele und historische Ausprä-gungen.3 Für den Fortgang unserer Untersuchung werden jedoch ins-besondere die beiden folgenden, in der Einleitung bereits in den Blickgenommenen ‚Prioritäts-Aspekte‘ des Seienden maßgeblich sein: (i) dasSeiende ‚als Seiendes‘, wie es von Aristoteles als genuiner Gegenstandder ‚Ersten Wissenschaft‘, der Metaphysik, bestimmt wird; (ii) der Begriffdes ‚Seienden‘, wie ihm innerhalb der mittelalterlichen Transzendentalien-Lehre der Primat vor den anderen (transzendentalen) Begriffen zugespro-chen wird.Franziskus von Marchia hat die Vorrangstellung der intentio entis mit

Blick auf beide Theoreme zunächst in Frage gestellt und schließlichmit seinem Modell grundlegend und mit gravierenden Konsequenzenüberwunden. Mit welchen Argumenten und vor allem: warum attackierter die auf den verschiedenen Gebieten überkommene Primatstellungdes Seienden?

1. Die Sonderstellung von ‚res‘ und ‚aliquid‘mit Blick auf das ‚proprium subiectum metaphysicae‘

Zum Zweck einer besseren Einsicht in den größeren Zusammenhangder Frage, warum Franziskus die Primatstellung des Seinsbegriffs imRahmen der 3. Quaestio des „Quodlibet“ überhaupt einer kritischenBetrachtung unterzieht, wollen wir unsere Aufmerksamkeit zunächstauf eine andere Schrift richten, innerhalb derer sich der Seinsbegriffbereits in einer deutlich nachgeordneten Weise zu positionieren scheint.Es handelt sich dabei um Franziskus’ „Metaphysik-Kommentar“, wosich zu Beginn des 1. Buches—wir haben auch dies bereits erwähnt—einige bemerkenswerte Äußerungen zur grundlegenden Frage nachdem eigentümlichen Gegenstand der Ersten Philosophie finden. Wie hän-gen nun diese beiden Orte, „Quodlibet 3“ und der Anfang des „Meta-physik-Kommentars“, inhaltlich und strukturell zusammen? Nehmen

3 Vgl. hierzu das Kapitel über den ‚Primat des Seins‘ bei R. Schönberger, Die Trans-formation des klassischen Seinsverständnisses. Studien zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Seinsbegriffsim Mittelalter, Berlin/New York 1986 (Quellen und Studien zur Philosophie 21), S. 95–121, und auch die umfassende Darstellung von Th. Kobusch, Sein und Sprache: HistorischeGrundlegungen einer Ontologie der Sprache, Leiden 1987.

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32 kapitel i

wir dazu zunächst den Beginn der „Quaestiones in metaphysicam“näher in den Blick.Bereits in der—prima facie ‚klassisch‘ formulierten—Fragestellung am

Anfang des „Metaphysik-Kommentars“ findet sich eine Besonderheit,wie sie sich für Franziskus’ Konzeption als charakteristisch erweisenwird: „Ob ‚Ding‘, insofern es ‚Ding‘ ist, Gegenstand der Metaphysiksei oder etwas anderes“ (Utrum res secundum quod res sit subiectum meta-physicae vel aliquid aliud).4 Weshalb verwendet Franziskus hier den Aus-druck „res secundum quod res“ statt des aristotelisch geprägten und nach-folgend fest etablierten „ens inquantum ens“? Was hat es damit auf sich,daß nunmehr der Begriff des ‚Dinges‘ und nicht wie üblich der des‚Seienden‘ als mögliches subiectum metaphysicae in das Zentrum der Fra-gestellung gerückt wird? In der Tat kennen wir die in gewisser Weisegleichgestellte Verwendung von ‚ens‘ und ‚res‘ mit Bezug auf den Gegen-stand der Metaphysik bereits aus der skotischen Konzeption innerhalbder 3. Quaestio der „Quaestiones Quodlibetales“. Scotus sucht hier mitRekurs auf Avicenna den Begriff des ‚Seienden‘ und den des ‚Dinges‘—unabhängig von der distinkten Wortverwendung—gleichermaßen syn-onymisierend dahingehend zu präzisieren, daß sie in einem ‚conceptus‘zusammenfallen, der sich „ununterschieden auf all jenes, was außerhalbder Seele existiert“, beziehe (indifferens ad omnia illa, quae sunt extra ani-mam).5 Es scheint Scotus damit in erster Linie darum zu gehen, denCharakter des proprium subiectum der Metaphysik als einer ‚scientia realis‘zu fokussieren, was sowohl der ‚Ding‘- als auch der ‚Seins-Begriff‘ imSinne der avicennischen Erstbegriffe—strictissime gesprochen—in glei-cher Weise konzeptionell zu leisten vermögen.6

4 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 84.5 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones Quodlibetales, q. 3, n. 2, ed. Viv. XXV,

S. 114: „Et isto modo videtur loqui Avicenna 1. Metaph. c. 5, quod ea quae suntcommunia omnibus generibus, sunt res et ens, nec potest illud intelligi de vocabulisin una lingua, quia in unaquaque lingua est unus conceptus indifferens ad omnia illa,quae sunt extra animam“.

6 Vgl. L. Honnefelder, Duns Scotus, München 2005, S. 77: „Scotus will den Sinn von‚Seiendes‘ (ens) bzw. ‚Ding‘ (res) explizieren, der unserer alltäglichen Sprachverwendungzugrunde liegt, nicht einen neuen Sinn einführen. (…) Als scientia realis hat sie [scil. dieMetaphysik] mit dem Begriff ‚Seiendem‘ zu tun, insofern er das bezeichnet, was aktu-ell existiert oder zumindest aktuell existieren kann.“ Bemerkenswert scheint allerdingsdie Überlegung, ob nicht doch auch bei Scotus der res-Begriff—gerade in seiner alltags-sprachlichen Bedeutung—in einer zusätzlich explikativen Weise dem ens-Begriff denSinngehalt einer extramentalen Aktualität oder Sachhaltigkeit hinzufügt, und damiteinen nicht nur synonymen Status mit Blick auf den Seinsbegriff einnimmt. Und diesauch insofern, als Avicenna—auf den Scotus an der zuvor genannten Stelle ja aus-

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 33

Franziskus’ exponierte Verwendung des res-Begriffs in der Ausgangs-frage seines „Metaphysik-Kommentars“ läßt sich in diesem Zusam-menhang somit zunächst in gewissem Sinne als der avicennisch-skoti-schen Tradition folgend werten. Das Spezifikum seiner Konzeptionliegt jedoch—im Gegensatz zum Modell und Anliegen des Duns Sco-tus—nicht allein darin, den Begriff des ‚Dinges‘ secundum usum loquendigleichermaßen wie den überkommenen Begriff des ‚Seienden‘ dazu zuverwenden, das subiectum metaphysicae näherhin in seiner aktualen (extra-mentalen) Existenz zu kennzeichnen. Vielmehr scheint Franziskus diedoch bereits bei Avicenna hervortretende inhaltliche Differenzierung bei-der Begriffe ins Zentrum seiner Überlegungen zu stellen und gegen-über dem skotischen Entwurf gerade eine deutliche Explikation deskonzeptionellen Unterschiedes beider Begriffe zu intendieren. Damit stehtdie Einführung des res (secundum quod res)-Begriffs als dem möglichensubiectum metaphysicae bei Franziskus von Marchia in einem weit kom-plexeren Zusammenhang und ihr kommt eine grundlegendere struk-turelle Bedeutung zu, als dies innerhalb des Entwurfs des JohannesDuns Scotus der Fall ist. Zwar werden auch im Verlauf von Franziskus’„Metaphysik-Kommentar“ beide Begriffe—res und ens—letzten Endesdoch wieder synonym verwendet (schließlich scheint er sogar wiedergänzlich zum herkömmlichen Begriff des ‚Seienden‘ überzugehen),7 ineinem strengen Sinne und an den grundlegend explikativen Textstel-len wird jedoch dem ‚Ding‘-Begriff unmißverständlich und präzise derVorrang zur Bezeichnung des eigentümlichen Gegenstandes der Meta-physik zugesprochen.

drücklich Bezug nimmt—selbst trotz der Darlegung der gleichartigen Extension vonres und ens doch gerade auch deren divergierende Bedeutungsgehalte betont, wie siein der Unterscheidung von Wesenheit (hier ‚certitudo‘ bzw. ‚esse proprium‘) und Existenz(‚esse affirmativum‘) zu liegen scheinen. Vgl. Avicenna latinus, Liber de philosophia prima I,c. 5, ed. Van Riet, S. 34 f.: „Dico ergo quod intentio entis et intentio rei imaginantur inanimabus duae intentiones; ens vero et aliquid sunt nomina multivoca unius intentionis(…). Sed res et quicquid aequipollet ei, significat etiam aliquid aliud in omnibus linguis;unaquaeque enim res habet certitudinem qua est id quod est, sicut triangulus habetcertitudinem qua est triangulus, et albedo habet certitudinem qua est albedo. Et hocest quod fortasse appellamus esse proprium, nec intendimus per illud intentionem esseaffirmativi. (…). Et notum est quod certitudo cuiuscumque rei quae propria est ei, estpraeter esse quod multivocum est cum aliquid“.

7 Vgl. bereits im Fortgang der 1. Quaestio des I. Buches (ed. Zimmermann, S.89ff.) sowie in den weiteren für Franziskus’ Metaphysik-Konzeption entscheidendenQuästionen IV, 1 („Utrum ens secundum quod est ens [!] sit subiectum metaphysicae“)und VI, 16 (ed. Zimmermann, S. 98ff.): „Utrum metaphysica sit de ente [!] in communivel sit de ente abstracto et separato secundum rem“.

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34 kapitel i

Gleich zu Beginn des Kommentars wird die exponierte Stellung des‚res‘-Begriffs in einen größeren konzeptionellen—und im Gegensatz zurskotischen Darstellung eben nicht nur umgangssprachlich geprägten—Kontext gestellt, indem Franziskus anmerkt, daß ‚Ding‘ mit dreierleiverglichen werden könne:

1. mit den mit ‚res‘ konvertiblen, d.h. den transzendentalen Begriffen(ens, unum, verum und bonum),

2. mit den bezüglich ‚res‘ niedrigeren Begriffen, also mit den aristote-lischen Kategorien,

sowie—und nun begegnen wir einem erstaunlichen Befund—

3. mit dem hinsichtlich des Begriffs des ‚Dinges‘ Höheren, nämlichmit ‚Etwas‘ (aliquid), das formaliter allen anderen Transzendental-begriffen gemeinsam sei.8

Was bedeutet dieser dreifache Vergleich? Unsere Aufmerksamkeit ver-dienen insbesondere die erste und die dritte Bemerkung: Weshalb wirdder Begriff des ‚Etwas‘ (aliquid) ganz offensichtlich aus der Gruppe dertranszendentalen Erstbegriffe ausgegliedert und gleichsam über diesegestellt, während der des ‚Dinges‘ (res) zwar weiterhin (in einem kon-vertiblen Sinne) zur Gruppe der transcendentia gezählt wird, innerhalbdieser jedoch eine auffällig exponierte, nämlich den Referenzpunkt bil-dende Stellung einzunehmen scheint?Diese offenkundig neuartige Systematisierung der Transzendental-

begriffe erweist sich als plausibler, wenn wir sie—und so fährt auchFranziskus selbst fort—direkt mit Blick auf die Frage nach dem pro-prium subiectum metaphysicae betrachten. So betont er im folgenden, daßim eigentlichen Sinne keiner der mit ‚res‘ konvertiblen Transzenden-talbegriffe eigentümlicher Gegenstand der prima scientia sei, da es sichbei diesen lediglich um proprietates oder passiones handle. Als subiectumder ersten unter allen anderen Wissenschaften müsse jedoch etwasangenommen werden, dem allererst selbst primae passiones zugeschrie-ben werden können, nicht aber irgendeine dieser passiones selbst.9 Dies

8 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.85: „Respondeo, quod res potest comparari ad tria: Primo ad suum superius vel adaliquid, quod est commune formaliter omnibus transcendentibus. Secundo ad suumaequale convertibile cum eo, scilicet ad ens et unum, verum, bonum, quae sunt conver-tibilia cum eo. Tertio ad suum inferius, scilicet ad substantiam, qualitatem, quantitatemet sic de aliis, quae sunt inferiora re“.

9 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 35

ist keine ganz unbekannte Bestimmung des primum subiectum metaphy-sicae, neu ist allerdings, welchem der Transzendentalbegriffe nun dieseStellung des „cui attribuuntur primae passiones“ zugesprochen wird. Offen-kundig nimmt nämlich nicht mehr der Begriff des ‚Seienden‘ diesePrimatstellung ein, sondern vielmehr scheint der Begriff des ‚Dinges‘nunmehr diese Funktion zu übernehmen (der in vorangehenden Ent-würfen gerade noch selbst den Status hatte, eine ‚passio‘—nämlich desSeienden—zu sein). Scheiden somit die von ‚res‘ unterschiedenenTranszendentalbegriffe (und damit eben bemerkenswerterweise auch‚ens‘ selbst!) offenkundig als spezifischer Gegenstand der Metaphysikaus, da es sich bei ihnen um Eigentümlichkeiten (proprietates) handelt,die allererst vom Begriff des ‚Dinges‘ zu beweisen seien und somitnicht selbst subiectum metaphyicae sein können, so erwächst das Argumentgegen das im Vergleich mit dem res-Begriff ‚höhere‘ aliquid aus dersel-ben Grundlage, aber mit der entgegengesetzten Konsequenz: Nichtsüber dem Begriff des ‚Dinges‘ Positionierte kann primum subiectum meta-physicae sein, da der jeweils spezifische Gegenstand jedweder Wissen-schaft beweisbare eigentümliche Eigenschaften (propriae passiones demon-strabiles) haben muß, die außerhalb seines Sinngehalts existieren (so, wiees bisher für den Begriff des ‚Seienden‘ und die anderen transzendenta-len Begriffe galt, die gerade im Sinne solcher begrifflich hinzufügenderpassiones entis aufzufassen waren). Der Begriff des ‚Etwas‘ aber, da er inder Konzeption des Franziskus sowohl über dem Begriff des ‚Dinges‘als auch über ‚ens‘, ‚unum‘, ‚verum‘ und ‚bonum‘ zu stehen scheint, da erihnen formaliter gemeinsam sei, hat damit selbst gar keine solchen vonihm beweisbaren passiones mehr, sondern gilt gewissermaßen als ‚passiopassionum‘ und ist daher nicht in etwas noch Früheres, d.h. in einfachereBestandteile oder einen einfacheren Sinngehalt aufzulösen.10 Alle unter

86: „Dico, quod nihil convertibile cum ipsa re simpliciter vel distinctum est primumsubiectum metaphysicae. Quod patet: Quia nulla proprietas vel habens modum pro-prietatis est primum subiectum primae scientiae, quia subiectum primae scientiae estillud, cui attribuuntur primae passiones, non autem aliqua istarum passionum“.

10 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.85: „Et secundum hoc dico (…), quod nihil superius ipsa re secundum se est primumsubiectum metaphysicae. Patet primo: Quia subiectum cuiuscumque scientiae habetproprias passiones de ipso demonstrabiles extra suam rationem existentes. Sed aliquid,secundum quod est superius ad unum et ens, verum, bonum, non habet aliquas passio-nes de ipso demonstrabiles, cum ipsum, ut sic sit commune ad subiectum cuiuscumquescientiae, 〈non〉 est resolubile in priora re vel ratione. Sed aliquid secundum se non estresolubile in priora re vel ratione, cum ad ipsum stet ultima resolutio quorumcumque.Quare aliquid non est subiectum metaphysicae“.

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36 kapitel i

den Begriff des ‚aliquid‘ fallenden (Transzendental-)Begriffe liegen damitinnerhalb des Sinngehalts von ‚Etwas‘.Franziskus führt aber auch noch eine andere Begründung an, aus

der heraus der Begriff des ‚Etwas‘ als primum subiectum metaphysicae aus-scheidet: dasselbe kann unter demselben formalen Sinngehalt (sub eademratione formali) nicht (eigentümlicher) Gegenstand verschiedener Wissen-schaften sein. Wäre aliquid nun das proprium subiectum der Metaphysik,wäre es unter demselben Sinngehalt auch primum subiectum der Logik,da „logicus et metaphysicus sint aequalis ambitus quantum ad subiectum“.11 Nungibt es jedoch nichts, was von gleichem Umfang wäre wie das ‚Etwas‘selbst. Und da Metaphysik und Logik zwei voneinander unterschiedeneWissenschaften sind, können sie nicht dasselbe subiectum—‚aliquid‘—haben.12 Dieses Argument muß als ein erster Hinweis darauf verstan-den werden, daß sich in der Konzeption des Franziskus von Marchianicht nur etwas innerhalb der Ordnung der einzelnen Transzendental-begriffe untereinander geändert hat, vielmehr scheint mit der Bestim-mung des aliquid-Begriffs nun erstmals überhaupt eine Position einge-räumt, die sich so im Rahmen vorangegangener Entwürfe nicht findet.

11 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 85 f.:„(…) quia idem sub eadem ratione formali non potest esse subiectum diversarumscientiarum. Sed si aliquid esset subiectum metaphysicae primum, eadem ratione essetsubiectum primum logicae, cum logicus et metaphysicus sint aequalis ambitus quantumad subiectum“. Zum Problem der Abgrenzung des Gegenstandsbereichs von Metaphy-sik und Logik sei hingewiesen auf die Bemerkungen, die Th. Kobusch mit Blick auf dieKonzeption R. Kilwardbys macht: „Wenn die akzidentellen entia in anima auch zumGegenstandsbereich der Metaphysik gehören, scheint das von jeher der Logik eigeneObjekt fremden Händen übergeben zu werden. Auch die Logik hat es nach Kilwardbyin gewisser Hinsicht mit dem Seienden schlechthin zu tun. Allerdings ist es gerade dieseHinsicht, die beide Wissenschaften voneinander unterscheidet. Denn die Metaphysikbetrachtet das Seiende schlechthin in bezug auf die Bestimmtheit der Seiendheit, die inden Dingen ist, und die allgemeinen Proprietäten des Seienden, „insofern das Seiendein seiner Bestimmtheit der Seiendheit betrachtet wird“. Dagegen betrachtet die Logik„dasselbe, insofern es erkennbar (rationabilia) oder von der Vernunft zusammensetzbarund trennbar ist“. Es gibt demnach zwischen Metaphysik und Logik „Gemeinsamkei-ten“. Das der Logik von Haus aus Eigene, das ens rationis, interessiert, sofern es nichtnichts ist, auch die Metaphysik, und umgekehrt können das Seiende und die ihm eige-nen Bestimmungen, die nur hinsichtlich der Seiendheit betrachtet werden, ihrerseitswieder Gegenstand der logischen Wissenschaft sein und damit als entia rationis ver-standen werden.“ (Th. Kobusch, Art. Metaphysik III, 3: Hochscholastik, in: HistorischesWörterbuch der Philosophie Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 1214 f.)

12 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 86:„Nihil autem est aequalis ambitus cum ipso aliquid. Metaphysica autem et logica suntdiversae scientiae. Quare aliquid non potest esse subiectum metaphysicae, quia idemsubiectum eadem ratione esset primum subiectum metaphysicae et logicae“.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 37

Denn wurde der Gegenstandsbereich der Logik „von Haus aus“ (Ko-busch)—in ‚unproblematischer Abgrenzung‘ zur Metaphysik—auf dieBegriffe zweiter Intention eingegrenzt, während sich die Metaphysikmit dem Realseienden, d.h. mit dem Bereich der Begriffe erster Inten-tion (den transcendentia) beschäftigte, so stellt Franziskus nun den ontolo-gischen Status des aliquid-Begriffs, wie er im Kontext der Frage nachdem subiectum metaphysicae diskutiert wird, mit demjenigen des subiec-tum logicae gleich. Der (vormals transzendentale) ‚Etwas‘-Begriff scheintdamit auf eine neue ontologische Stufe gerückt, insofern er sich nun-mehr auch auf den Bereich der zweiten Intentionen, d.h. des gedankli-chen Seienden (und damit des subiectum logicae) zu erstrecken vermag.Franziskus macht damit zugleich einen Schritt über die bisherigen

Resolutionsverfahren zur Ermittlung eines ersten Verstandesbegriffshinaus: nicht mehr der erste (‚einfachste‘) Begriff unter den konverti-blen, transzendentalen Erstbegriffen bildet den Endpunkt der Rückführung,sondern es ist noch ein grundlegenderer bzw. ein ‚höherer‘ und damitfrüherer Begriff anzusetzen, wie er sich hier im (‚passionslosen‘) Begriffdes ‚Etwas‘ manifestiert. Aber was bedeutet es für Franziskus’ Gesamt-entwurf, wenn er an dieser Stelle betont, daß der Begriff des ‚aliquid‘ die„ultima resolutio“ aller anderen Begriffe (genauer: aller anderen passiones)markiere und somit nichts mehr enthalte, was ihm als Eigentümlichkeitzukommen könnte?13 Wie ist überhaupt zu begründen, daß der Begriffdes ‚Etwas‘ in abstrakter Weise über allen anderen, bloß auf das Real-seiende bezogenen (transzendentalen) Begriffen steht?Fassen wir die beiden als ‚neuartig‘ gegenüber den traditionellen

Transzendentalien-Konzeptionen einzustufenden Beobachtungen ausden einleitenden Bemerkungen des „Metaphysik-Kommentars“ zusam-men:

1. Auf der Grundlage des aristotelischen Metaphysik-Entwurfs wird imRahmen der Konzeptionen des 13. Jahrhunderts in vorrangiger Weisedem Begriff des ‚Seienden‘ der Status des proprium subiectum der Meta-physik als einer ‚scientia transcendens‘ zugesprochen, die in umfassen-dem Sinne das Fundamentum aller anderen Wissenschaften bildet. Bei

13 Vgl. hierzu A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegen-stand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, Leuven 1998(Recherches de Théologie et Philosophie médiévales, Bibliotheca 1), S. 355: „Wenn man‚Etwas‘ denkt, so ist selbst bei einer noch so gründlichen Analyse des Denkinhalts nichtsanderes zu finden als eben ‚Etwas‘“.

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38 kapitel i

Franziskus von Marchia scheint es nun, als ‚tauschten‘ der klassische ensinquantum ens-Begriff (im Sinne des ‚Primat-Begriffs‘, von dem sich dieanderen Transzendental-Begriffe gleichsam nachgeordnet als ‚passionesentis‘ aussagen lassen) und der res secundum quod res-Begriff ihre Plätzeund damit ihre ihnen angestammten Positionen, womit sich folgendeKonsequenzen ergeben:

(i) Der Begriff des ‚Seienden‘ wird nunmehr selbst zu den proprietatesbzw. passiones (nämlich hinsichtlich der ‚intentio rei‘) gezählt.

(ii) Der Begriff des ‚Dinges‘ wird allen anderen Begriffen als ‚neuer‘Erstbegriff vorangestellt und scheint somit—was noch weiterhinzu klären sein wird—einzig als subiectum metaphysicae in Frage zukommen. Durch diese Neupositionierung der intentio rei sind diebisherigen ‚passiones entis‘ nunmehr gleichsam als ‚passiones rei‘ auf-zufassen (in denen ens eingeschlossen, res aber—notwendigerwei-se—ausgeschlossen ist). Daraus ergibt sich jedoch zwangsläufig diegrundsätzliche Frage, weshalb der Begriff des ‚Dinges‘ überhauptfrüher sein soll als der des ‚Seienden‘ (wenn sich diese Vorrangstel-lung nicht nur—wie innerhalb der skotischen Konzeption—auseiner umgangssprachlichen Spezifizierung herzuleiten scheint).

2. Neben dem ‚Platzwechsel‘ von res und ens findet hinsichtlich derFrage nach dem proprium subiectum metaphysicae noch eine weitere Ver-schiebung statt, wie sie sich in der ‚Auskopplung‘ des aliquid aus derGruppe der Transzendentalien manifestiert. Der Begriff des ‚Etwas‘scheidet als Gegenstand der Metaphysik aus, da dieses sich als ein‚Transzendentalbegriff ohne Eigenschaften‘ zu positionieren scheint, indemes ‚über‘ allen anderen transzendentalen Begriffen, gleichermaßen als‚Destillat aller passiones (rei)‘ steht:

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 39

In strengem Sinne läßt sich somit auch der bereits erwähnte, an eini-gen Stellen zu findende synonyme Gebrauch von ‚res‘ und ‚ens‘ in Franzis-kus’ „Metaphysik-Kommentar“ nicht rechtfertigen, da doch der Begriffdes ‚Seienden‘—stricte gesprochen—als subiectum metaphysicae dezidiertaus dem eigentlichen Gegenstandsbereich ausgeschlossen wird.14 Derentscheidend modifizierende Schlag gegen die traditionellen Metaphy-sik-Konzeptionen scheint gerade darin zu liegen, daß der von jeherals proprium subiectum herangezogene Begriff des ‚Seienden‘ zugunstendes ‚Ding‘-Begriffs seine ihm angestammte Position nunmehr ‚räumen‘muß. Aber welches argumentative Potential liegt in dieser grundlegen-den strukturellen Verschiebung und welche Konsequenzen ergeben sichaus der ‚Degradierung‘ des Seinsbegriffs? Wie läßt sich dieses Modellkonzeptionell überhaupt rechtfertigen und welcher Sinn kommt der‚Zersplitterung‘ der Gruppe transzendentaler Begriffe letztlich für eineadäquate Bestimmung der Metaphysik zu?All diese Fragen, wie sie sich auf der Basis des Anfangs von Fran-

ziskus’ „Metaphysik-Kommentar“ aus der vorangehend in den Blickgenommenen Sonderstellung von res und aliquid und der damit einher-gehenden Herabsetzung von ens ergeben, führen uns an dieser Stellenun wieder zurück zur 3. Quaestio seines „Quodlibet“. Denn die Darle-gungen innerhalb der „Quaestiones in metaphysicam“ scheinen wedereine hinreichende Erklärung für die Bedeutung der ‚Entthronisierung desSeinsbegriffs‘ an sich zu liefern noch wird näherhin deutlich, wie sichdiese grundlegende Modifikation der Bestimmung des eigentümlichenGegenstands der Metaphysik und damit letzten Endes die Vorrang-stellung von ‚res‘ gegenüber ‚ens‘ überhaupt herleiten und begründenläßt. Welche Konsequenzen ergeben sich schließlich für die Gestaltder Metaphysik als Wissenschaft? Darüber hinaus findet sich inner-halb des „Metaphysik-Kommentars“ keine konzeptionelle Begründungdafür, weshalb nunmehr der Begriff des ‚Etwas‘ den Endpunkt jedwe-der Begriffs-Resolution markiere, indem er jenseits aller anderen Trans-zendentalbegriffe positioniert wird. Es sieht so aus, als impliziere dieMetaphysik-Konzeption des Franziskus von Marchia tatsächlich grund-legendere strukturelle Modifikationen, als dies auf den ersten Blickscheint.

14 Dies gilt auch dann, wenn Franziskus an manchen Stellen die Umfangsgleichheitvon Seins- und Ding-Begriff zu betonen scheint. Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestionesin metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 86: „(…) res autem enti aequipollet et significataliquid commune omnibus significatis“.

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40 kapitel i

2. Die Einführung der ‚intentiones neutrae‘

Die 3. Quaestio des „Quodlibet“ ist derjenige Text, in dem sich Fran-ziskus ausdrücklich der strukturellen Ordnung der ersten Verstandes-begriffe, der transcendentia, und insbesondere der Position des bislangobersten Transzendentalbegriffs widmet. Finden wir hier die Erklärun-gen für die Neuerungen im Rahmen der Gegenstandsfrage der Meta-physik? In der Tat scheint es, als dienten die Erklärungen in „Quodl. 3“gerade dazu, die konzeptionelle Varianz innerhalb der „Quaestiones inmetaphysicam“ näherhin zu erläutern.„Utrum intentio entis sit prima rei intentio“—so lautet die Ausgangsfrage

der 3. Quaestio des „Quodlibet“.15 Franziskus beginnt die Ausarbeitungseiner Lösung auf diese Frage, ob dem Begriff des ‚Seienden‘ tat-sächlich die ihm bislang (und noch bei Scotus im Grunde unmißver-ständlich) zugeschriebene Primatstellung zukomme, zunächst—weitest-gehend unabhängig von den etablierten Konzeptionen—mit einer sys-tematischen und umfassenden ‚Begriffs-Reductio‘. Anhand dieser grund-sätzlichen Herangehensweise scheint es ihm möglich, die von voran-gehenden Denkern auf den Seinsbegriff festgelegte Bestimmung als‚prima intentio‘ noch einmal ursprünglich zu überprüfen und eine eigeneLösung mit Bezug auf einen solchen Erstbegriff, der allen anderenals nicht mehr weiter rückführbar voranzustellen ist, nachweislich zuentwickeln. Worin aber besteht überhaupt das Kriterium erstheitlicherPrädikabilität? Welcher ‚Klasse‘ von Begriffen gehört ein solcher Erst-begriff an? Und weiterhin gefragt: was korrespondiert dem kognitiv Ers-ten auf ontologischer Seite?Franziskus geht zum Zweck einer solchen Rückführung aller Begriffe

auf einen letzten und damit zugleich ersten Begriff zunächst von dergrundsätzlichen Einteilung in formaliter privative bzw. negative und posi-tive Begriffe aus. Die positiven Begriffe (intentiones positivae) lassen sichdabei nochmals differenzierter unterteilen in Begriffe erster Intention(intentiones primae intentionis), d.h. in direkt auf die Dinge bezogene Be-griffe (intentio animalis, intentio colorum etc.), und in Begriffe zweiter Inten-tion (intentiones secundae intentionis), also in selbst auf Begriffe bezogeneBegriffe (intentio generis, intentio speciei etc.).16 Wird im Rahmen der Rück-

15 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 71.16 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 71: „Respondeo quod

intencionum quedam sunt formaliter positiue sicud est intencio hominis, leonis; que-dam sunt formaliter priuatiue siue negatiue sicud est intencio inuisibilis, inmaterialis,

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 41

führung innerhalb dieser Begriffseinteilung nach den grundlegendstenund damit ersten Begriffen gefragt, so erweisen sich zunächst die inten-tiones privativae sive negativae als den positiven Begriffen nachgeordnet,da jede Privation und jede Negation stets eine jeweilige Affirmationvoraussetzen. Ein privativer oder negativer Begriff scheidet somit vonvornherein aus, ‚prima intentio‘ zu sein, da er immer noch auf einenpositiven und damit früheren Begriff rückführbar ist. Von den posi-tiven Begriffen wiederum kann denjenigen zweiter Intention, die jaselbst ‚nur‘ Begriffe von Begriffen sind, nicht die Funktion erstheitlicherPrädikation schlechthin zukommen, da sie stets den grundlegenderenBegriffen erster Intention nachfolgen, die sich in direkter Weise auf dieDinge beziehen.17

Bis hierher scheint sich Franziskus noch weitestgehend der traditio-nellen terminologischen Abstufung der ‚Begriffsklassen‘ zu bedienen.18

incorporalis et infiniti […]; positiue, uero, quedam sunt prime intencionis sicud estintencio animalis, intencio colorum; quedam uero, sunt secunde intencionis sicud estintencio generis, speciei et diffinicionis; prime intencionis, que ideo dicuntur primeintencionis quia intenciones sunt primarum intencionum [scil. sunt intentiones ipsarumrerum!]; set secunde intenciones ideo dicuntur secunde quia sunt intenciones inten-cionum.“ Die Unterscheidung von Begriffen erster und zweiter Intention findet sichbekanntermaßen bereits bei den arabischen Philosophen—in besonderer Weise beiAvicenna—und wurde schon früh von den lateinischen Autoren übernommen. Vgl.hierzu D. Perler, Theorien der Intentionalität im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2002, S. 306–317,sowie zum arabischen Hintergrund die Darstellung von K. Gyekye, The Terms ‚PrimaIntentio‘ and ‚Secunda Intentio‘ in Arabic Logic, in: Speculum 46 (1971), S. 32–38. Zur Rezep-tion mit Blick auf die lateinischen Autoren vgl. vor allem S. Swiezawski, Les intentionspremières et les intentions secondes chez Jean Duns scot, in: Archives d’Histoire Doctrinale etLitteraire du Moyen Age 9 (1934), S. 205–260, C. Knudsen, Intentions and Impositions, in:N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (Hgg.), The Cambridge History of Later Medie-val Philosophy, Cambridge 1982, S. 479–495, und A.D. Conti, Second Intentions in the LateMiddle Ages, in: S. Ebbesen/R.L. Friedman (Hgg.), Medieval Analyses in Language andCognition, Kopenhagen 1999, S. 453–470.

17 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 72: „Intencio priua-tiua siue negatiua non potest esse prima rei intencio, quia supponit ante se intencio-nem affirmatiuam, in eo quod ‚affirmacio est prior negacione‘. Similiter intencio posi-tiua secunde intencionis non potest esse prima simpliciter, quia presupponit primamintencionem.“

18 Zur Abstufung der ‚begrifflichen Vollkommenheitsgrade‘ aus ontologischer Per-spektive vgl. die Ausführungen bei D. Perler, Theorien der Intentionalität im Mittelalter(vgl. nt. 16), S. 306–317, der als einen wesentlichen Grund für die Unterscheidungvon Begriffen erster und zweiter Intention die dadurch gegebene Ausdrucksmöglichkeiteines hierarchischen Verhältnisses zwischen zwei verschiedenen ‚Typen von Denk- undErkenntnisobjekten‘ erwähnt, von denen die zweiten Intentionen offenkundig ‚höher-stufige Denkobjekte‘ bilden, „die auf ersten Intentionen beruhen“ (S. 306). Zu Franzis-kus’ Zeit waren die Auseinandersetzungen um das Verhältnis und den ontologischen

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Die Besonderheit der von ihm vorgenommenen Begriffs-Reduktionliegt nun jedoch darin, daß sie—im Gegensatz zu den gängigen Auf-fassungen—nicht auf der Ebene der positiven Begriffe erster Intentionendet. Vielmehr wird an dieser Stelle eine Neuerung offenkundig, diesich als fundamental für den gesamten Fortgang der Transzendenta-lien- und Metaphysikgeschichte erweist. Diese Neuerung manifestiertsich darin, daß Franziskus neben den Begriffen erster und zweiterIntention eine weitere Gruppe innerhalb der Klasse der intentiones positi-vae einführt: Begriffe nämlich, die „neutrae“ sind, d.h. weder erster nochzweiter Intention, sondern diesen vielmehr gemeinsam zukommend(communes ad utramque). Als Beispiel für eine solche intentio neutra nenntFranziskus—und dies lesen wir nicht ohne Erstaunen—den Begriff des‚Seienden‘ (intentio entis), der formaliter sowohl in Begriffen erster als auchzweiter Intention eingeschlossen sei.19

Diese Feststellung scheint ihm an dieser Stelle als Beleg dafür zu ge-nügen, daß sich die Klasse der positiven Begriffe nicht in der Einteilungin Begriffe erster und zweiter Intention erschöpfe. Es muß eine wei-tere, dieser Distinktion noch vorgeordnete Gruppe positiver Begriffe ge-ben, wofür die intentio entis Franziskus zufolge den offenkundigen Beweisliefere, wird sie doch exemplarisch als Beleg für diese Klasse der ‚in-tentiones neutrae‘ vorgestellt. Bei der traditionellen Einteilung des Seien-den durch positive Begriffe erster und zweiter Intention (und damitzugleich der begrifflichen Einteilung in reales und gedankliches Seiendes!)

Status dieser beiden Arten von Intentionen, an denen vor allem Denker wie HervaeusNatalis, Petrus Aureoli und Wilhelm von Ockham maßgeblich beteiligt waren, vermut-lich bereits in vollem Gange. Für Franziskus erwies sich aber sicher auch die von DunsScotus exponierte vierfache Unterscheidung des intentio-Begriffs als prägend, der dar-unter in einem sehr weit gefaßten Bedeutungsumfang sowohl einen Willensakt als aucheinen formalen Sinngehalt (ratio formalis) in einem Gegenstand, einen Begriff oder dasSich-Ausrichten auf ein Objekt zählte (vgl. Johannes Duns Scotus, In II Sent., Rep. Par.,dist. 13, in: Opera omnia XXIII, S. 44). Vgl. auch hierzu D. Perler, Theorien der Intentio-nalität im Mittelalter, S. 10. Ich werde im folgenden—soweit nicht anders vermerkt—denlateinischen Terminus ‚intentio‘ entweder als ‚Begriff‘ oder als ‚Intention‘ im Sinne von‚Bezugnahme‘ übersetzen, wie es sich hinsichtlich der Unterscheidung von ‚prima inten-tio‘ (Erst-‚Begriff‘) und intentio ‚primae intentionis‘ (als ‚Begriff erster Intention‘) als sinnbil-dend erweist. Auf die besondere Verwendung des ‚intentio‘-Begriffs bei Franziskus vonMarchia bezieht sich zudem der Exkurs auf S. 81ff. der vorliegenden Untersuchung.

19 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 71f.: „Quedam [intentio-nes] uero, sunt neutre: neque prime, neque secunde, set communes ad utramque sicudest forte intencio entis, que includitur formaliter in utraque intencione tam prima quamsecunda. Et ita patet, quod non omnis intencio est prima uel secunda, quia est intencioentis que nec est prima nec secunda.“

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 43

scheint es sich somit nur um eine Einteilung der einzelnen und spezifi-schen Begriffe unter einem für diese je gemeinsamen Begriff zu han-deln, nicht jedoch um eine Einteilung unter einem schlechthin gemein-samen Begriff.20 Eine solche ‚intentio neutra communis‘, einen den Begriffenerster und zweiter Intention (schlechthin) gemeinsamen Begriff, hat Fran-ziskus nunmehr—zunächst ohne jede Legitimierung—als dritte ‚Mög-lichkeit‘ positiver Begriffe eingeführt. Und dabei scheint ganz offen-sichtlich (aber auch ‚klammheimlich‘) der Begriff des ‚Seienden‘, der invorangehenden Konzeptionen stets den Begriffen erster Intention zuge-rechnete Erstbegriff, in die Gruppe der intentiones neutrae übergewechseltzu sein. Franziskus wird uns hierfür noch einige Erklärungen liefernmüssen.Zumindest scheint damit aber zunächst einmal die eingangs in Frage

gestellte Primatstellung des Begriffs des ‚Seienden‘, der von Franzis-kus nun explizit und exemplarisch als ‚intentio neutra‘ angeführt wird,doch in positiver Weise beantwortet. Die intentio entis bildet denjenigenursprünglichen und simpliciter gemeinsamen Begriff, aus dem allerersteine Unterteilung in Begriffe erster und zweiter Intention erwachsenkann. Der Seinsbegriff ist somit den Begriffen erster Intention nochvoranzustellen, da die sog. intentiones neutrae früher und grundlegendersind als die positiven Begriffe zweiter und vor allem erster Intention.21

Franziskus gelangt folglich innerhalb seiner Reductio zum Zweck derErmittlung eines grundlegenden Erstbegriffs zu einem beiden Inten-tionen gemeinsamen—und damit noch vorangehenden—Begriff, der‚intentio neutra communis‘.Die intentio entis ist jedoch nur ‚forte‘ ein solch ‚neutraler Begriff‘ und

nicht die einzige intentio neutra; denn diese der Einteilung in Begriffe ers-ter und zweiter Intention noch voranzustellende Begriffs-Klasse umfaßtmehr als ausschließlich den exemplarisch angeführten Begriff des ‚Sei-enden‘. Das in der Tat äußerst Bemerkenswerte ist an dieser Stelle, daßFranziskus die neu eingeführten intentiones neutrae in seiner Konzeptionmit dem gesamten klassischen Kanon der ‚transcendentia‘, d.h. mit denmittelalterlichen Transzendental-Begriffen ens, unum, verum, bonum, resund aliquid identifiziert, also gerade mit denjenigen Begriffen, die seit

20 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 72: „Et ideo illa diuisioentis per primam et secundam est diuisio intencionum particularium et specialiumsub intencione communi contentarum, non autem est diuisio intencionis in communisimpliciter“.

21 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet q. 3, ed. Mariani, S. 72: „(…) Similiter inten-cio prime intencionis non potest esse prima quia presupponit neutram intencionemcommunem.“

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dem 13. Jahrhundert—in Überwindung des aristotelischen Kategorien-Modells—als die Erstbegriffe schlechthin galten.22 Allerdings wurdendiese transzendentalen Erstbegriffe—im Sinne einer sowohl kognitivenals auch ontologischen Priorität—doch stets als intentiones primae inten-tionis qualifiziert, d.h. sie wurden durchgängig zu den Begriffen ersterIntention gezählt, indem sie sich als allgemeinste Bezeichnungsweisenauf den Bereich alles Realseienden beziehen.23

Erweitert Franziskus die traditionell unterschiedenen Klassen vonBegriffen nun, zu Beginn der 3. Quaestio des „Quodlibet“, anhand sei-ner grundlegenden Reductio um die Gruppe der sog. ‚intentiones neutrae‘,so scheint er zugleich gerade die klassischen Transzendentalbegriffedes 13. Jahrhunderts als diese Begriffe zu identifizieren, die sowohlden Begriffen erster als auch zweiter Intention gemeinsam und des-halb noch voranzustellen seien. Wir scheinen uns damit in konzep-tioneller Hinsicht an einem Punkt zu befinden, an dem die mittelal-terlichen transcendentia ihren ursprünglichen Ort (als auf alles Realsei-ende bezogene Begriffe ‚erster Intention‘ ) verlassen müssen, um in die ‚neueröffnete‘ Klasse übergeordneter ‚Neutralbegriffe‘ hinüber zu wechseln.Welche Begründung liefert Franziskus hierfür und welche Auswirkun-gen hat dies für den ontologischen Status der transcendentia? Auf wel-

22 Während der ‚klassische Kanon‘ der transcendentia ursprünglich nur die Begriffeens, unum, verum und bonum umfaßte, zählt bereits Thomas v. Aquin in seiner für diesystematische Darstellung der mittelalterlichen Transzendentalienlehre grundlegendenSchrift „De veritate“ (q. I, a. 1) auch res und aliquid zu den transcendentia. Vgl. zurSonderstellung und Entwicklung dieser beiden Transzendentalbegriffe insbesondere dieStudie von J.A. Aertsen, ‚Res‘ as transcendental. Its introduction and significance, in: G. Fede-rici Vescovini (Hg.), Le problème des transcendentaux du XIVe au XVIIe siècle, Paris2002, S. 139–156, L. Oeing-Hanhoff, Res comme concept transcendental et sur-transcendental,in: M. Fattori/M. Bianchi (Hgg.), Res. 3° Coll. Int., Rom 1982, S. 285–296, E. Tiefen-see, ‚Ens et aliquid convertuntur‘—oder: Sein ist immer anders. Ein möglicher Brückenschlag zwischender mittelalterlichen Seinsphilosophie und der spätmodernen ‚Philosophie der Differenz‘, in: J. Brach-tendorf (Hg.), Prudentia und Contemplatio. Ethik und Metaphysik im Mittelalter (Fest-schrift für G. Wieland zum 65. Geb.), Paderborn u.a. 2002, S. 170–195, und P.W. Rose-mann, Omne ens est aliquid. Introduction à la lecture du „système“ philosophique de saint Thomasd’Aquin, Louvain/Paris 1996. Daß beide Begriffe bei Franziskus einen ‚Höhepunkt‘ ihrerErfolgsgeschichte erreichen, wird innerhalb unserer Untersuchung aus verschiedenenBlickwinkeln hinreichend deutlich werden.

23 Vgl. J.A. Aertsen, Art. ‚Transzendental; Transzendentalphilosophie‘, in: HistorischesWörterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1359–1365: „Die im 13. Jh. her-ausgebildete Lehre von den „transcendentia“ (…) handelt von Bestimmungen, welchedie aristotelischen Kategorien in dem Sinne übersteigen, daß sie nicht auf eine Katego-rie beschränkt sind, sondern alle durchkreuzen („circumeunt“)“, das Transzendentaleist somit „als die allem Realseienden (…) zukommende allgemeinste Bestimmung zuverstehen“ (Sp. 1359).

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 45

chen Seinsbereich beziehen sie sich als intentiones neutrae? Anders gefragt:welcher ontologische Bereich korrespondiert diesem neu bestimmtenintentionalen Feld der intentiones neutrae?Ohne allzu viel von dem vorwegnehmen zu wollen, was im III. Ka-

pitel der vorliegenden Untersuchung in ausführlicher Weise themati-siert werden wird, wenn es um die Frage nach Franziskus’ eigentlicherLegitimation der ‚Super‘-Transzendentalien geht, sei doch bereits andieser Stelle zumindest schon einmal kurz auf das im Hintergrund ste-hende Potential hingewiesen, welches sich aus der vorangehend geschil-derten Beobachtung ergibt, daß die Transzendentalien plötzlich ihrenintentionalen und ontologischen Status zu ändern scheinen. Denn wenn-gleich die wesentlichen Erklärungen dafür, was die intentiones neutrae ‚ansich‘ seien, innerhalb des „Quodlibet“ erst an späterer Stelle erfolgen(Q. 5, art. 3), so findet sich der erste bedeutsame Hinweis doch bereitsallein durch ihre Erwähnung und erstheitliche Positionierung im Rahmender Begriffs-Reductio innerhalb der 3. Quaestio. Was ist das Bemerkens-werte daran, daß Franziskus die Transzendentalbegriffe nunmehr alsintentiones neutrae klassifiziert? Welche konzeptionelle Weiche innerhalbder strukturgeschichtlichen Entwicklung der mittelalterlichen Trans-zendentalienlehre wird hier—auf scheinbar so unspektakuläre Weise—gestellt?Bereits in der Einleitung haben wir erwähnt, daß einer der grund-

legenden Einschnitte innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Tran-szendentalienlehre durch die ‚Ausdehnung‘ des Gegenstandsbereichsder transcendentia auf den Bereich der zweiten Intentionen, d.h. dergedanklichen, intramentalen Dinge, stattgefunden hat. Aufgrund die-ser Modifikation konnte sich die Lehre von den sog. ‚supertranscendentia‘entwickeln, wie sie im Anschluß an die mittelalterliche Transzenden-talienlehre herausgebildet wurde, sich jedoch erst im 16. Jahrhundertvollständig ausgeprägt und tatsächlich etabliert zeigt. In der philoso-phischen Forschung wird die Supertranszendentalienlehre nicht seltenals ‚missing link‘ diskutiert, wenn es um die Suche nach einer als konti-nuierlich zu betrachtenden Darstellung der Entwicklung von der mit-telalterlichen Transzendentalienlehre bis hin zur kantischen Transzendentalphi-losophie geht.24 Die ‚supertranszendentalen‘ Bestimmungen, für welche

24 Vgl. hierzu vor allem J.P. Doyle, Between transcendental and transcendental: the miss-ing link?, in: The Review of Metaphysics 50 (1997), S. 783–815, sowie die Arbeiten vonN. Hinske, Die historischen Vorlagen der kantischen Transzendentalphilosophie, in: Archiv fürBegriffsgeschichte 12 (1968), S. 86–113, ders., Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der

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die Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts Bezeichnungen wie ‚Denkba-res‘ (cogitabile) oder ‚Erkennbares‘ (intelligibile) ansetzten, werden—wiebereits mehrfach erwähnt—gemeinhin gerade dadurch gekennzeich-net, daß sie die mittelalterlichen transcendentia aufgrund ihres erweitertenBezugsbereichs nochmals übersteigen (‚super‘-transcendens), womit ihnenunivoke Geltung nicht nur für das reale, sondern auch für das gedank-liche Seiende, spezifischer: für die ersten und die zweiten Intentionenzukommt.25 Es ist mit Blick auf die bisherige Einschätzung der Gesamt-entwicklung der Transzendentalien- bzw. Supertranszendentalien-Leh-re schon allein bemerkenswert, daß Franziskus von Marchia bereits zuBeginn des 14. Jahrhunderts ganz bewußt diese Möglichkeit univokfür beide Seinsbereiche geltender Bestimmungen postuliert. Erstaun-lich ist dabei aber vor allem, daß er hierzu keine gänzlich neue Gruppevon Begriffen einführt (wie ‚opinabile‘, ‚cogitabile‘ oder ähnliches), son-dern vielmehr allein die ‚Funktion‘ der späteren supertranscendentia (d.h.die univoke Gültigkeit für das ens reale und das ens rationis) auf dieklassischen transzendentalen Begriffe zu applizieren scheint, womit er

dreißigjährige Kant, Stuttgart/Berlin 1970, und L. Honnefelder, Die „Transzendentalphiloso-phie der Alten“: Zur mittelalterlichen Vorgeschichte von Kants Begriff der Transzendentalphilosophie,in: Proceedings of the Eighth International Kant Congress, Bd. 1.2, Memphis 1995,S. 393–407, und ders., Metaphysics as a Discipline: From the „Transcendental Philosophy ofthe Ancients“ to Kant’s Notion of Transcendental Philosophy, in: R.L. Friedman/L.O. Niel-sen (Hgg.), The Medieval Heritage in Early Modern Metaphysics and Modal Theory,1400–1700, Dordrecht/Boston/London 2003, S. 53–74.

25 Vgl. zur klassisch gewordenen Unterscheidung von Transzendentalien und Super-transzendentalien J.A. Aertsen, Art. ‚Transzendental; Transzendentalphilosophie‘ II.: Die An-fänge bis Meister Eckhart, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998,Sp. 1359: „Dem scholastischen Begriff des Transzendentalen (…) steht der Begriff desKategorialen gegenüber. Das Transzendentale ist insofern das Transkategoriale. Vom15. Jh. an erscheint die transzendentale Bestimmung oft im Gegensatz zum sog. ‚Super-transzendenten‘, d.h. jenen allerallgemeinsten Bestimmungen, die, wie das ‚opinabile‘oder ‚intelligibile‘, den realen Dingen und Gedankendingen gemeinsam sind. Mit Blickauf diesen Gegenbegriff des Supertranszendenten ist das Transzendentale (…) als dieallem Realseienden, auch Gott, zukommende allgemeinste Bestimmung zu verstehen“.Vgl. ebenso J.P. Doyle, Art. „Supertranszendent; Supertranszendenz“, in: Historisches Wörter-buch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998, Sp. 644: „‚Supertranscendens‘ ist eine im Ari-stotelismus des 16. Jahrhunderts geprägte ,Überbietungsformel‘ für die höchste Ebeneder ontologischen Abstraktion; ,überboten‘ wird dabei die mit Bezug auf die katego-riale Einteilung des Seienden seit dem 13. Jahrhundert eingeführte Ebene der Tran-szendentalien, d.h. der allgemeinsten Bestimmungen des Realseienden, durch ,aller-allgemeinste‘ („supertranszendentale“) Bestimmungen, die den realen Dingen und denGedankendingen gemeinsam sind.“ Als grundlegende Literatur zu diesem Thema sindvor allem die vielfältigen Arbeiten von J.P. Doyle und T. Kobusch zu erwähnen (vgl.detailliertere Angaben in Kap. 3, S. 129, nt. 4).

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 47

diese in ihrem ursprünglichen Sinngehalt (als Begriffe erster Intentionmit Bezug auf den Bereich des Realseienden) grundlegend modifiziert.Letztendlich haben wir es hier also—so mag man mit aller Vorsichtformulieren—mit einer spezifischen ‚Transzendentalien-Kritik‘ zu tun,die ihre Bestätigung im Fortgang der strukturgeschichtlichen Entwick-lung, vor allem mit Blick auf die Lehre von den supertranscendentia selbstfand.

* * *

Richten wir unser Augenmerk nach diesen strukturell vorausweisen-den Bemerkungen aber wieder auf die Ausführungen innerhalb der 3.Quaestio des „Quodlibet“: Denn es zeigt sich, daß die ‚Begriffs-Rück-führung‘ im Rahmen der Suche nach der prima intentio rei auch aufder Stufe der nunmehr als intentiones neutrae klassifizierten Transzen-dentalbegriffe noch nicht abgeschlossen ist. Auch innerhalb dieser alsmöglicher Erstbegriffe ermittelten Gruppe ist Franziskus von Marchiazufolge noch eine weitere Differenzierung vorzunehmen, da sich dieGruppe der intentiones neutrae einerseits aus quiditativen, andererseits ausqualitativen Begriffen konstituiert:

„Von den positiven ‚neutralen‘ Begriffen (intentiones neutrae positivae) abersind einige washeitlich (quiditative), wie der Begriff des ‚Dinges‘, der Be-griff des ‚Seienden‘ und der des ‚Etwas‘, die das ‚Was‘ (quid) ausdrücken;einige sind denominativ oder qualitativ, wie der Begriff des ‚Einen‘, des‚Wahren‘ und des ‚Guten‘ schlechthin; sie werden gemäß der Qualität(qualitas) ausgesagt, (indem) sie mehr den Sinngehalt einer Eigenschaft(passio) als den der Washeit (quiditas) ausdrücken“.26

In einem letzten Reduktionsschritt werden auf der Grundlage dieserUnterscheidung schließlich noch einmal die qualitativen oder deno-minativen intentiones neutrae (unum, verum und bonum) den washeitlichen(res, ens und aliquid) nachgeordnet, da diese vielmehr den Sinngehalteiner ‚Eigenschaft‘ (passio) ausdrücken als den der ‚Wesenheit‘: „(…)der denominative oder qualitative gemeinsame ‚Neutral-Begriff‘ (intentioneutra communis denominativa sive qualitativa) kann nicht erster sein, da ereinen quiditativ ersten voraussetzt“.27

26 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 72: „Intencionum autemneutrarum positiuarum quedam sunt quiditatiue sicud est intencio rei, intencio entiset aliquid, que dicunt quid; quedam sunt denominatiue siue qualitatiue sicud intenciounius, ueri et boni simpliciter; secundum qualitatem dicuntur, que magis dicunt racio-nem passionum quam quiditatis.“

27 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3 ed. Mariani, S. 72: „(…) intencio neutra

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48 kapitel i

Bei dem von Franziskus in „Quodl. 3“ gesuchten und anhand derdargestellten Rückführung aufgewiesenen Erstbegriff handelt es sichsomit schlußendlich—und damit sind wir nun tatsächlich am fina-len Punkt der Reductio angelangt—um eine „intentio neutra positiva qui-ditativa“.28 Dies bedeutet zugleich aber auch, daß damit letztlich demBegriff des ‚Seienden‘ innerhalb der von Franziskus vorgenommenenBegriffs-Reduktion zusätzlich die Begriffe des ‚Dinges‘ (res) und des‚Etwas‘ (aliquid) als weitere Erstbegriffe an die Seite gestellt werden;nun allerdings nicht mehr mit dem Sinngehalt, wie er ihnen aufgrundihres Status als mittelalterlicher Transzendentalbegriffe (erster Intention)zukam, sondern vielmehr in ihrer neuen Bestimmung als washeitli-che, gegenüber der Einteilung in erste und zweite Intentionen ‚neu-trale‘ und damit vorgeordnete positive Wesensbegriffe. Aufgrund ihrerBeschaffenheit als quiditative intentiones neutrae scheinen sie gleicherma-ßen wie ‚Seiendes‘ (ens) geeignet, als ‚Erstbegriffe‘ schlechthin zu fun-gieren.Und damit sind wir zugleich wieder bei gerade den drei Begriffen

angelangt, die uns zu Beginn dieses Kapitels mit Blick auf den Anfangder „Quaestiones in metaphysicam“ auf besondere Weise beschäftigthaben: (i) ‚Seiendes‘ (ens) als dem traditionellen, nun aber ‚degradier-ten‘ und somit aufgrund seines Status als ‚passio (rei)‘ aus dem primärenBetrachtungsbereich der Metaphysik ausgeschlossenen Erstbegriff; (ii)‚Ding‘ (res) als dem neuen subiectum metaphysicae—dem neuen metaphy-sischen Erstbegriff—; sowie (iii) ‚Etwas‘ (aliquid) als aus der Gruppeder transcendentia scheinbar ‚hinausfallendem‘, da diese übersteigendemTranszendentalbegriff.Der Anspruch auf eine ‚Sonderstellung‘, wie sie sich aus der Betrach-

tung der Frage nach dem subiectum metaphysicae ergab, scheint bei diesendrei Begriffen also—so müssen wir an dieser Stelle zumindest vorerstannehmen—zunächst in ihrer Bestimmung als ‚quiditative intentionesneutrae‘ zu liegen. Zu klären bleibt nun aber desweiteren das spezifischeVerhältnis dieser drei Begriffe untereinander, wie es sich aus der ‚Ent-thronisierung‘ von ‚ens‘ sowie der unterschiedlich gearteten ‚Inthroni-sierung‘ von ‚res‘ und ‚aliquid‘ ergibt. Finden wir auch hierfür genauereHinweise in Franziskus’ „Quodlibet“?

communis denominatiua siue qualitatiua non potest esse prima, quia presupponitprimam quidditatiuam.“

28 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 72.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 49

Zunächst ergibt sich zusammenfassend folgendes Reduktions-Schema:

Dies bedeutet aber nun nicht, daß Franziskus von Marchia den ‚Status‘bzw. die ‚Position‘ des Erstbegriffs lediglich neu qualifiziert hat, indemer im Zuge einer Erweiterung des Geltungsbereichs der prima intentiorei vom Realseienden auf den Bereich des gedanklichen Seienden ein-fach eine Verlagerung des ‚Orts‘ der Erstbegriffe aus der Gruppe derBegriffe erster Intention hinein in die frühere der ‚intentiones neutrae‘ vor-nahm. Und ebenso dehnt er den ursprünglich gesuchten Erstbegriffnicht einfach auf drei Begriffe—ens, res und aliquid—aus, woraus folgenwürde, daß dem Begriff des ‚Seienden‘ seine einst absolute Vorrang-stellung als Erstbegriff nunmehr zugunsten dreier gleichermaßen ers-ter Begriffe abzusprechen sei. Stehen bereits die Beobachtungen ausden „Quaestiones in metaphysicam“ einer solch ‚egalisierenden‘ Ver-mutung eklatant entgegen, so finden sich auch innerhalb der 3. Quaestiodes „Quodlibet“ selbst im folgenden deutliche Differenzierungen undzugleich bedeutende Hinweise für ein tieferes Verständnis der Dar-legungen des „Metaphysik-Kommentars“. Wenden wir unseren Blickhierzu zunächst auf die wohl weitreichendste Unterscheidung, die Fran-ziskus in systematischer Hinsicht einführt.

3. Die grundlegende Unterscheidung von materialer und formaler Erstheit

Im Anschluß an die vorangehend dargestellte Begriffs-Reduktion, anderen Ende der Aufweis der quiditativen intentiones neutrae als der eigent-

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50 kapitel i

lichen Erstbegriffe stand, nimmt Franziskus eine Differenzierung vor,die nun gerade die Primatstellung selbst, die Gestalt und Konzeptionder ‚Erstheitlichkeit‘ der intentiones neutrae an sich zu präzisieren sucht.Denn was genau ist damit gemeint, wenn man davon spricht, daß einBegriff ein ‚erster‘ im Hinblick auf alle anderen sei? Franziskus unter-scheidet hierzu erstmals zwei ‚Arten‘ von Erstheit (prioritas):

(i) Eine ‚materiale Erstheit‘ (prioritas materialis), in deren Sinne ein Begriffder grundlegendste, der substraktiv erste Begriff ist, indem er sich aufgleichsam materiale Weise (materialiter) hinsichtlich der ihm nachgeord-neten Begriffe verhält, wie es vergleichend etwa im grundlegenden Ver-hältnis der Materie zur Form oder der Substanz zu den Akzidentien derFall ist. Franziskus nennt diese Art von zugrundegelegter Erstheit (prioritassubstrata) demgemäß ‚Erstheit des Ursprungs‘ oder ‚der Entstehung‘ (prio-ritas originis/generationis), da ein solcher Erstbegriff die notwendige Grund-lage für alle hinzukommenden, nicht in einem gleichen Sinne selbständi-gen Begriffe mit Bezug auf das zu Bezeichnende darstellt.29

(ii) Auf der anderen Seite hebt Franziskus eine ‚formale Erstheit‘ (priori-tas formalis) hervor, aufgrund deren ein Erstbegriff im Gegensatz zu allenanderen (späteren Begriffen) als einfacher und höher (simplicius et supe-rius) im Sinne des ‚abstraktesten‘ Begriffs bestimmt wird. Aufgrund dieserSonderstellung, die auch durch den höchsten Grad an begrifflicher Un-bzw. Unterbestimmtheit und Unbegrenztheit gekennzeichnet ist, ist derabstraktive Erstbegriff formaliter früher als alle ihm untergeordneten (katego-rialen und transzendentalen) Begriffe.30

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Unterscheidung zweierErstheiten für die Suche nach der prima intentio rei? Und in welchemVerhältnis stehen diese beiden prioritates zu den drei zuvor als möglicheErstbegriffe aufgewiesenen quiditativen intentiones neutrae ‚res‘, ‚ens‘ und‚aliquid‘?

29 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet q. 3, ed. Mariani, S. 72 f.: „(…) Distinguen-dum est de prioritate, que est duplex: prioritas materialis et formalis. Quedam, prio-ritas materialis, est prioritas substrata, qua aliquid substernitur alteri ad modum quomateria substernitur forme et subiectum subest suis accidentibus, et fundamentum suisproprietatibus ac racionibus fundatis in ipso (…). Et hec prioritas substraccionis diciturprioritas materialis, quia prius in illo ordine se habet materialiter uel quasi materialiterrespectu posterioris, et hec prioritas uocatur, secundum quosdam, prioritas originis uelgeneracionis.“

30 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet q. 3, ed. Mariani, S. 73: „Prioritas ueroformalis, e conuerso, est prioritas abstraccionis, qua aliquid est simplicius et abstrac-cius alio, quomodo superius, in linea predicamentali, est prius suo inferiori, quiaest simplicius et abstraccius eo: et hec est prioritas cuiusdam indeterminacionis siueill〈imit〉acionis ad plura, et dicitur hec prioritas formalis, quia prius, in illo ordine, estformale uel quasi formale respectu posteriorum.“

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 51

Zuallererst ist festzuhalten, daß sich für Franziskus von Marchiadie Suche nach einem Erstbegriff offenkundig als nicht mehr hinrei-chend erweist, da aus der Differenzierung zweier Arten von Priori-tät gleichsam eine ‚Pluralisierung der traditionellen prima intentio‘ der-gestalt erwächst, daß sie nunmehr zwei erste Begriffe notwendig zumachen scheint. Handelt es sich dabei um denselben oder um ver-schiedene Begriffe? Der ‚substraktive‘ und der ‚abstraktive‘ Erstbegrifflassen sich zunächst gleichsam als Extrembegrenzungen aller Begriffevorstellen: Dabei scheint der grundlegendste, im Sinne der materialenPriorität substraktive Erstbegriff derjenige Begriff zu sein, der als ‚unters-ter‘ gewissermaßen materialiter das fundamentum für alle anderen—späterhinzutretenden—Begriffe bildet, wie dies analog bei dem Verhältnisvon Materie und Form bzw. von Substanz und akzidentellen Bestim-mungen der Fall ist. Der ‚oberste‘ Begriff hingegen, der gemäß derformalen Erstheit als höchster und abstraktester Erstbegriff den genau ent-gegengesetzten Extrempunkt zu markieren scheint, ist demgegenüberformaliter in allen anderen niedrigeren Begriffen enthalten. Diese sindgerade deswegen später, weil sie durch eine ausgeprägtere inhaltlicheBestimmtheit gekennzeichnet und damit konkretisierend eingeschränktsind.Aber wie ist diese Forderung einer grundlegendsten (substraktiven)

und einer höchsten (abstraktiven) prima intentio genau zu verstehen? Wieverhält es sich mit diesen beiden nunmehr differenzierten Erstheitengegenüber der Konzeption einer Erstheit, wie sie dem traditionellenErstbegriff (als intentio entis) zugrundelag? Reichen Franziskus’ Erklärun-gen aus, um tatsächlich die Notwendigkeit einer ‚Spaltung‘ des über-lieferten Erstbegriffs in zwei erste Begriffe hinreichend zu legitimieren?Und worin besteht überhaupt das Motiv für eine solche Pluralisierung?In der Klärung dieser Fragen und in einem genaueren Verständnis derbeiden von Franziskus eingeführten Erstheiten liegt gerade die Grund-lage für die Beantwortung der Frage, ob der Begriff des ‚Seienden‘seine traditionell ihm zukommende Priorität in diesen beiden Fällenverteidigen kann. Denn wir sehen uns nunmehr konkret vor das Pro-blem gestellt, gleichsam drei ‚Kandidaten‘ (res, ens und aliquid) ermitteltzu haben, jedoch nur zwei ‚Stellen‘ (nämlich die Positionen der prioritasmaterialis und der prioritas formalis) besetzen zu können. Schließlich müs-sen wir auch zu klären versuchen, wie sich die beiden prioritates zu denBemerkungen innerhalb des „Metaphysik-Kommentars“ verhalten.

* * *

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52 kapitel i

Nach den beiden Vorbemerkungen der 3. Quaestio des „Quodlibet“,d.h. der ‚Ergänzung‘ der bis dahin als ‚Erstbegriff‘ zur Disposition ste-henden intentio entis um die Begriffe ‚res‘ und ‚aliquid‘ (aufgrund ihrerQualifizierung als ‚intentiones neutrae quiditativae‘ im Gegensatz zu den alsqualitativ bestimmten Begriffen unum, verum und bonum) und der Erwei-terung des traditionellen Erstbegriffs auf zwei Erstheiten, die in mate-rialer bzw. in formaler Hinsicht zu unterscheiden sind (und die damitzugleich zwei statt bisher einen Erstbegriff notwendig machen), bezie-hen sich die beiden nun folgenden Artikel von Quodl. 3 ausdrücklichjeweils auf eine dieser beiden Erstheiten.31 So erörtert Franziskus im 1.Artikel die Frage, ob der Begriff des ‚Seienden‘—denn dieser steht janoch immer zentral im Brennpunkt der Fragestellung—im Sinne derprioritas materialis der substraktiv erste Begriff schlechthin sei, so daßer selbst allen anderen Begriffen mittelbar oder unmittelbar zugrun-deliege, ohne daß ihm ein anderer Begriff zugrundegelegt sei. Im 2.Artikel folgt daran anschließend die Thematisierung der alternativ zustellenden Frage, wie es um den Status der intentio entis hinsichtlich derprioritas formalis stehe, in deren Sinne sie der erste, da abstrakteste undeinfachste Begriff wäre.32

Beschäftigen wir uns zunächst mit dem 1. Artikel, in dem es um dieprioritas materialis bzw. um die diesbezügliche Geeignetheit der intentioentis geht. Dieser Artikel umfaßt selbst noch einmal drei Unterfragenmit folgendem Gegenstand: (i) Kann es von derselben Sache zweigleichermaßen schlechthin substraktive Erstbegriffe geben, die wedereinander noch einem dritten untergeordnet sind? (ii) Sind der Begriffdes ‚Dinges‘ und der des ‚Seienden‘ formaliter als ein Begriff aufzufassenoder als distinkte? (iii) Ist die intentio entis der substraktiv erste Begriffschlechthin?33

31 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 73: „Et secundum hoc,illa questio habet 2os articulos principales, secundum duos modos prioritatis predictos.“

32 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, ed. Mariani, S. 73 f.: „Primus articulusest: utrum intencio entis sit simpliciter prima rei intencio substractiue, ita quod ipsasubsternatur omnibus aliis rei intencionibus et nulla alia intencio rei substernatur sibi,set ipsa omnibus aliis substernatur mediate uel inmediate. 2s articulus questionis est:utrum intencio entis sit simpliciter prima rei intencio abstractiue, ita quod nulla alia sitabstracior, set ipsa sit abstracior et simplicior omnibus aliis intencionibus.“

33 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S.76: „Utrumpossint esse due intenciones eiusdem rei eque prime simpliciter substractive quarumneutra substernatur alteri nec ambe in tercia“; ibid., q. 3, a. 1, 2, S. 80: „Utrum intenciorei et entis sit formaliter una intencio vel distincte“; und ibid., q. 3, a. 1, 3, S. 90: „Utrumintencio entis sit simpliciter prima rei intencio substractive“.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 53

4. Zur Sonderstellung von ‚res‘ und ‚aliquid‘ als denBegriff des ‚Seienden‘ übersteigende Erstbegriffe

4.1. Ist der Begriff des ‚Seienden‘ der substraktiv erste Begriff? (Oder: WelcherBegriff ist ‚prima intentio‘ gemäß der materialen Erstheit?)

In „Quodl. 3,1“ geht es nun also zunächst um die Frage, ob der Begriffdes ‚Seienden‘ die ihm traditionell angestammte Vorrangstellung ge-genüber allen anderen Begriffen im Falle der neu eingeführten materia-len Erstheit behaupten kann, d.h. ob die intentio entis substraktiver Erst-begriff schlechthin und somit allen anderen Begriffen mittelbar oderunmittelbar zugrundegelegt sei, so daß ihr kein anderer Begriff mehrvorangehe. Die Grundvoraussetzung für Franziskus’ Lösung bestehtzunächst in dem innerhalb der 1. Unterfrage geführten Nachweis, daßes nicht mehrere gleichermaßen substraktiv erstheitliche Begriffe gebenkönne, sondern tatsächlich nur einen einzigen Erstbegriff im Sinne derprioritas materialis.34 Denn gäbe es von derselben Sache mehrere glei-chermaßen schlechthin erste Begriffe, so folgte daraus, daß auch diezugrundeliegende, bezeichnete Sache nicht per se eine wäre, sondernvielfältig, was jedoch unmöglich ist.35 Zudem wäre, wenn es von dem-selben Ding zwei oder mehr gleichermaßen erste Begriffe gäbe, jedervon diesen auch in gleicher Weise washeitlich, da einem qualitativenSinngehalt nie eine in gleicher Weise erstheitliche Stellung zukommenkann.36 Nähme man also mehrere quiditative Erstbegriffe an, so würde dieszugleich bedeuten, daß es von demselben Ding ebenfalls mehrere glei-

34 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 76: „Quan-tum ad primum, dico quod inpossibile est quod sint plures intentiones simpliciter equeprime substractiue, quarum neutra substernatur alteri, nec ambe in 3a“. Dieser exklu-dierenden Vorbemerkung kommt in der Tat eine grundlegende Bedeutung zu, sprichtsie doch ausdrücklich gegen eine gleichermaßen synonyme Verwendung der Erstbegriffeund für einen dezidiert distinkten Gebrauch (vgl. hierzu die vorangegangenen Bemer-kungen zur Synonymie von ens und res im Kontext der Frage nach dem Gegenstandder Metaphysik auf S. 33).

35 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 77: „Si igitureiusdem rei essent plures intenciones eque prime, sequeretur simpliciter quod illa resnon esset per se una, set simpliciter plures: et hoc est inpossibile, quia quelibet res estper se una; igitur inpossibile est quod eiusdem rei sint plures intenciones simplicitereque prime.“

36 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 77: „Item,si eiusdem rei essent due intenciones simpliciter eque prime, tunc quelibet illarumesset quidditatiua, equaliter sicud alia, quia nulla racio qualitatiua est eque prima sicudquidditatiua“.

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chermaßen erstheitliche, nicht aufeinander rückführbare ‚Definitionen‘gäbe, da jeder gleichermaßen erste washeitliche Sinngehalt auch ingleicher Weise erstheitlich in die Definition eines Dinges eingeht.37 Vorallem aufgrund der Unmöglichkeit dieser Option scheint für Franzis-kus der spezifische Beweis getan, daß es tatsächlich nicht mehrere Erst-begriffe zur Bezeichnung eines Dinges geben könne, weil dieses selbstsonst nicht eines wäre, sich eine erste und adäquate Definition aberimmer auf ein spezifisches Seiendes beziehe.38 Schließlich führt Fran-ziskus als Analogie-Argument noch an, daß es, wie es im Bereich desSeienden unmöglich zwei gleichermaßen ‚erste Seiende‘ geben kann, soauch im Feld der Begriffe nicht zwei gleichermaßen ‚erste Begriffe‘ gebenkönne, da auch hier—sozusagen ‚im Anschluß daran‘—eine feste Ord-nung secundum prius et posterius vorliege.39 Wir suchen also, so das Resultatder Überlegungen des 1. Subartikels, in der Tat nach einem einzigensubstraktiven Erstbegriff.Wenn wir nun an die eingangs in den Blick genommenen Überle-

gungen aus Franziskus’ „Metaphysik-Kommentar“ zurückdenken, woder ‚res‘-Begriff dem Begriff des ‚Seienden‘ einerseits deutlich vorange-stellt schien (Utrum res secundum quod res sit subiectum metaphysicae), beideBegriffe andererseits aber auch synonym verwendet wurden, so bietetsich nun im 2. Subartikel von „Quodl. 3, art. 1“—neben der vorange-hend dargestellten Begründung, daß es überhaupt nur einen substrakti-ven Erstbegriff geben könne—ein weiterer deutlicher Beleg für unsereAnmerkung, daß ein synonymer Gebrauch von res und ens im eigentli-chen Sinne nicht möglich sei. Entscheidend scheint dabei vor allem einArgument, das Franziskus mit Rekurs auf Aristoteles anführt: GemäßAristoteles kommen einer Sache naturgemäß immer mehrere Eigen-tümlichkeiten zu; spricht man etwa von „dieser Weiße“ (haec albedo), so

37 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 77: „Si igiturponuntur eque prime, oportet quod utraque eius sit eque prima quidditatiua; set omnisracio eque prima quidditatiua cadit eque prima in diffinicione rei; si igitur eiusdem reiessent eque prime plures intenciones quidditatiue, sequeretur quod eadem res haberetduas diffiniciones essenciales eque primas, quarum neutra reduceretur ad aliam“.

38 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 77: „(…) quodest inpossibile, quia tunc res non esset una, quia diffinicio prima et adequata est unatantum ab uno esse“.

39 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 77 f.: „Item,sicud in entibus est inpossibile dare duo encia eque prima, quia nec duas naturasest possibile esse in eodem nec duas formas, ita consimiliter est inpossibile dare duasintenciones eque primas in intencionibus, quia intenciones rerum, sicud et quidditatum,habent ordinem 〈secundum〉 prius et posterius, sicud numeri, 8 Metaphysicae.“

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 55

sind dieser in immer allgemeiner werdender Reihe etwa die Attribute‚Weiße‘ (albedo), ‚Farbe‘ (color), ‚Qualität‘ (qualitas) und schließlich auch‚Seiendes‘ (ens) zuzuschreiben. Dabei erweist sich jedoch ein Begriff, dermehrerem gemeinschaftlich zukommt (intentio communis pluribus), als unter-schieden von einem Begriff, der demgegenüber spezifisch bzw. für etwaseigentümlich ist (intentio propria).40 Der Begriff des ‚Dinges‘ (intentio rei), soFranziskus, sei nun aber gerade ein solcher Begriff, der „für mehreregemeinsam“ ist, genauer noch: der Begriff des ‚Dinges‘ sei materialiter‚allen‘ anderen Begriffen gemeinsam, da dieselbe Sache (res!) ‚weiß‘,eine ‚Farbe‘, eine ‚Qualität‘ und eben auch ein ‚Seiendes‘ sei.41 Wärenall diese Begriffe selbst verschiedene ‚Dinge‘ (res), so wäre eines nichtvom anderen aussagbar (und es wäre tautologisch zu sagen „color estens“, „color est color“ usw.).42 Dies bedeutet aber zugleich, daß die inten-tio rei grundlegend allen anderen Begriffen gemeinsam sei, währenddie Begriffe des ‚Seienden‘, der ‚Farbe‘, der ‚Weiße‘ usw. demgegen-über eigentümliche, d.h. spezifische Begriffe darstellen.43 Für Franzis-kus scheint somit festzustehen, daß die intentio rei nicht nur ein von derintentio entis unterschiedener, sondern vor allem ein früherer, da allgemei-nerer und ‚gemeinsamerer‘ Begriff sei:

Der spezifische Gegensatz, der hier zwischen dem Begriff des ‚Seienden‘und dem des ‚Dinges‘ besteht—so konkludiert der 3. Subartikel von

40 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 2, ed. Mariani, S. 84: „Hec albedoest albedo, est color, est qualitas et est ens. Tunc sic: intencio communis pluribus est aliaab intencione propria alteri illorum“.

41 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 2, ed. Mariani, S. 84: „(…) setintencio rei est communis materialiter omnibus istis intencionibus, quia eadem res estalbedo, color, qualitas, ens“.

42 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 2, ed. Mariani, S. 85: „Alias, sidiceretur ‚color est ens‘ esset idem quod dicerem ‚color est color‘, et ita esset nugacio;igitur intencio rei est alia ab intencione entis“.

43 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 2, ed. Mariani, S. 84 f.: „Probatur:quia si esset alia et alia res, tunc unum non predicaretur in quid de alio; igitur intenciorei est communis omnibus intencionibus istis, intencio autem entitatis est propria, quiaalia est intencio entis, alia coloris, alia albedinis“.

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56 kapitel i

„Quodl. 3,1“—, ist dabei nicht als ‚formaliter‘ zu kennzeichnen (etwa so,wie ‚Seiendes‘ ‚Nicht-Seiendem‘ entgegengesetzt wird), sondern viel-mehr als ‚virtualiter‘ (wie bei ‚Mensch‘ und ‚des Lachens fähig‘).44 Andersals ‚Nicht-Seiendes‘ ‚Seiendem‘ in einer Kontradiktion formal entge-gengesetzt ist, positioniert sich der Begriff des ‚Dinges‘ gegenüber demdes ‚Seienden‘ in der Weise, daß er zugrundeliegend die Seiendheitund ebenso alle anderen möglichen Zuschreibungen ‚virtualiter‘ ent-hält. Der Begriff der ‚res‘ ist somit als fundamentum aller in Wirklichkeitexistierenden Begriffe zu begreifen, wobei der Begriff des ‚Seienden‘jedoch immer noch den ersten, da allgemeinsten Begriff und ersten rea-len Sinngehalt in diesem fundamentum bildet.45 Ist damit nicht auch demSeinsbegriff in dieser materialen Hinsicht ein gewisses ‚Prioritätsmoment‘zuzusprechen? Bevor wir auf diese Frage näher eingehen, wollen wirzunächst anhand des 2. Artikels klären, ob der intentio entis zumindest imSinne der prioritas formalis die Primatstellung im vollen Sinne zukommt.

4.2. Ist der Begriff des ‚Seienden‘ der abstraktiv erste Begriff? (Oder: WelcherBegriff ist ‚prima intentio‘ gemäß der formalen Erstheit?)

Wie vorangehend dargestellt, wird dem Begriff des ‚Seienden‘ im Rah-men der drei Unterfragen des 1. Artikels von „Quodl. 3“ der Status derPrimatstellung, zumindest in einer gleichsam ‚materialen‘ Hinsicht, wiees sie auf der Grundlage der zuvor eingeführten Unterscheidung einerprioritas materialis und einer prioritas formalis zu prüfen galt, zugunsten desBegriffs des ‚Dinges‘ abgesprochen und allenfalls in einem abgeleitetenSinne (aufgrund einer ‚prima ratio realis‘) zuerkannt. Im Anschluß daranbleibt nun im 2. Artikel noch die Möglichkeit zu prüfen, ob die intentio

44 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 3, ed. Mariani, S. 91: „Ad primumdicendum quod ‚aliquid‘ opponitur ‚alicui‘ dupliciter: uel formaliter sicud ‚ens‘ opponi-tur sibi [non-enti]; uel uirtualiter sicud ‚homo‘ opponitur ‚risibili‘. Consimiliter ‚aliquid‘opponitur ‚enti‘ dupliciter: uel formaliter sicud ‚ens‘ opponitur ‚non-enti‘, uel opponiturei uirtualiter sicud res substrata enti opponitur ei uirtualiter in quantum continet uir-tualiter entitatem“. Vgl. zur näheren Erläuterung und Unterscheidung von ‚Formalität‘und ‚Virtualität‘ D. Schlüter, Art. ‚Formaliter (Formalität)‘, in: Historisches Wörterbuchder Philosophie Bd. 2, Basel 1972, Sp. 971, und S.K. Knebel, Art. ‚Virtualität‘ I., in:Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 11, Darmstadt 2001, Sp. 1062–1066.

45 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 3, ed. Mariani, S. 89: „Dico igiturquod intencio rei est fundamentum omnium intencionum existencium in re; intencioautem entis est prima intencio et prima racio realis in huiusmodi fundamento; racioautem realis uel formalis respectu rei habentis multas raciones reales est aliud ab ipsare cuius est racio realis uel formalis: et ideo entitas differt ab ipsa re“.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 57

entis zumindest hinsichtlich der prioritas formalis Erstbegriff sei, so daßes keinen abstrakteren und einfacheren Begriff gebe.46 Kann ‚ens‘ seinetraditionell ihm zugewiesene Priorität zumindest in dieser Hinsicht ver-teidigen?Wir müssen uns zur Bestimmung dieser Möglichkeit zunächst die

Frage stellen, welche formalen Bedingungen der Begriff des ‚Seienden‘in einer solchen Bestimmung als höchster und abstraktester Erstbe-griff erfüllen müßte. Denn wenngleich Franziskus in den einleitendenBemerkungen zu „Quodl. 3“ beide prioritates bereits kurz charakterisierthatte, so ist doch bisher noch nicht hinreichend deutlich geworden,wie sich die Beschaffenheit des formalen Erstbegriffs konkret bestimmenließe. Wie also ist das Kriterium dafür näherhin zu fassen, daß sichein Begriff als abstraktiv erster, als schlechthin einfachster und damithöchster Begriff erweist? Als maßgeblich für die Kennzeichnung einesBegriffes als ‚abstraktiv früher‘ gegenüber einem anderen Begriff führtFranziskus zunächst dessen ‚quiditatives Eingeschlossensein‘ an. Ist einpositiver Begriff in einem anderen positiven Begriff washeitlich einge-schlossen (inclusus quiditative), so erweist er sich als ‚umfassender‘ (latior)als irgendein anderer, nicht quiditativ eingeschlossener Begriff.47 Tra-ditionell sind die mittelalterlichen transcendentia diejenigen Begriffe, dieals Erstbegriffe in allen anderen positiven Begriffen quiditativ einge-schlossen sind. Unter ihnen kommt dem Seinsbegriff die Primatstel-lung zu, da sich in ihm das Moment der ‚washeitlichen Inklusivität‘ inerstheitlicher und höchster Weise zu erfüllen scheint. Der argumenta-tive Schwerpunkt der Überlegungen innerhalb des 2. Artikels liegt nunjedoch auf dem Nachweis, daß es einen Begriff gebe, der insofern nochüber den Primat des Seinsbegriffs hinausragt, daß er in ‚allen transzenden-talen Begriffen‘, also auch im Seinsbegriff selbst, quiditativ eingeschlossensei. Aber welcher Begriff sollte dies sein?Erwies sich im 1. Artikel aus dem in Frage kommenden Ternar

quiditativer intentiones neutrae der res-Begriff als dem des ‚Seienden‘ nochvorgeordnet im Sinne der prioritas materialis, so zeigt sich im 2. Artikel—wir ahnten es bereits—, daß ihm auch gemäß der formalen Erstheit

46 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, ed. Mariani, S. 93: „Articu-lus II. Utrum intencio entis sit simpliciter prima rei intencio abstractive ita quod nullaalia sit abstraccior et simplicior omnibus aliis intencionibus“.

47 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, ed. Mariani, S. 94: „Conceptuspositiuus inclusus quidditatiue in conceptu positivo est lacior altero illorum includen-cium.“

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58 kapitel i

nur eine nachgeordnete Position zukommt, nämlich gegenüber demBegriff des ‚aliquid‘ bzw. der ‚aliquitas‘.48 Wie argumentiert Franziskusnun für diese Vorrangstellung, die darin begründet liegen muß, daßder conceptus aliquitatis deswegen umfassender und abstrakter als alleanderen Begriffe sei, weil er in jedwedem positiven Begriff, nachweislichin den bislang als erstheitlich angenommenen transcendentia, washeitlicheingeschlossen ist?49

Zunächst beginnt er die Antwort auf die entsprechende Frage des 2.Artikels, „Utrum conceptus aliquitatis sit latior conceptu entitatis“, mit einerbeinahe umgangssprachlichen Erklärung: der conceptus aliquitatis wirdquiditativ in den transzendentalen Begriffen der ‚Seiendheit‘, ‚Einheit‘,‚Wahrheit‘ und ‚Gutheit‘ eingeschlossen, da diese, so, wie sie sich for-maliter voneinander unterscheiden, doch allesamt ‚etwas‘ (aliquid) undnicht ‚nichts‘ (nihil) seien. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie washeit-lich ‚etwas‘ sind:

„(…) der Begriff der ‚Etwasheit‘ wird washeitlich im Begriff der Seiend-heit, Einheit, Wahrheit und Gutheit eingeschlossen, weil die Seiendheit,wie sie formaliter von der Einheit unterschieden ist, ‚etwas‘ ist, da sienicht ‚nichts‘ ist; auf ähnliche Weise sind Wahrheit und Gutheit forma-liter ‚etwas‘“.50

Der conceptus entitatis hingegen wird Franziskus zufolge formaliter nicht inden übrigen Begriffen eingeschlossen, da Bestimmungen wie „ens bonum,ens unum, etc.“ ansonsten als tautologisch zu qualifizieren wären. Hierbeihandelt es sich jedoch gerade nicht um sinnlose Verdopplungen, sondernvielmehr um sinnstiftende Hinzufügungen. Somit scheint der conceptus aliqui-tatis als geeigneter Kandidat, umfassender (latior) als der conceptus entitatis

48 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 94: „Quantumad primum, dico quod conceptus aliquitatis est lacior formaliter conceptu entitatis“. ImGegensatz zum Erstbegriff im Sinne der materialen Erstheit, der intentio rei, verwendetFranziskus den abstraktiven Erstbegriff, als der sich ‚aliquid ‘ erweist, durchgängig in derabstrakten Form, d.h. hier als „aliquitas“. Wir werden auf diesen Umstand auf S. 83noch einmal gesondert zurückkommen.

49 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 2, ed. Mariani, S. 98: „Utrum sitaliquis conceptus lacior conceptu aliquitatis, dicendum quod non, quia nullus concep-tus lacior est quam conceptus inclusus quidditatiue in quolibet conceptu positiuo; setconceptus aliquitatis includitur quidditatiue in quolibet conceptu positiuo; ergo nullusconceptus lacior eo.“

50 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 94: „(…) conceptusaliquitatis includitur quidditative in conceptu entitatis, unitatis, veritatis et bonitatis,quia entitas, ut distinguitur formaliter ab unitate, est aliquid, cum non sit nihil; similiterveritas et bonitas sunt formaliter aliquid“.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 59

zu sein, indem er allein quiditativ in jedwedem positiven Begriff einge-schlossen ist.51

Den eigentlichen Beweis für diese abstraktive Primatstellung stütztFranziskus jedoch auf einen Grundsatz, der die Bestimmung eineshöchsten, weil abstraktesten Erstbegriffs gerade mit Bezug auf den ihm‚entgegengesetzten Begriff ‘ (oppositum) erklärt: Je allgemeiner und umfassen-der irgendeine Negation in ihrer Entgegensetzung ist, desto allgemei-ner und umfassender ist dieser die zugehörige Affirmation in ihrer Prä-dikation gegenübergestellt.52 Suchen wir also nach dem umfassendstenpositiven Begriff, läßt er sich gleichermaßen über den umfassendsten(negativen) Oppositionsbegriff ermitteln. Nun ist aber naturgemäß die-jenige Negation, die per se ‚allem‘ entgegensteht, umfassender in derEntgegensetzung als das, was nur einem Teil davon gegenübersteht.Franziskus zufolge ist es der Begriff des „Nichts“ (nihil), der per se (undnicht nur per accidens) jedwedem positiven Begriff entgegengesetzt wird;umgekehrt ist damit der direkte Gegensatz von ‚nihil‘, der Begriff des‚aliquid‘, washeitlich in jedem anderen Begriff eingeschlossen und bildetsomit den umfassendsten positiven Begriff:53

„(…) keine Negation ist jedoch umfassender (universalior) als ‚Nichts‘selbst, welches durch sich (per se) ‚Etwas‘ entgegengesetzt wird; demzu-folge ist kein positiver Begriff umfassender bei der Prädikation als derBegriff der ‚Etwasheit‘ (conceptus aliquitatis)“.54

Denn das, was ‚überhaupt nichts‘ zurückläßt, ist umfassender im Ent-gegenstehen als dasjenige, welches doch noch ‚irgendetwas‘ zurückläßt;

51 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 94: „(…)conceptus autem entitatis non includitur formaliter in conceptu unitatis et bonitatis,quia tunc esset nugacio dicere: ens bonum, ens unum; ergo conceptus aliquitatis estlacior conceptu entitatis“.

52 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 2, ed. Mariani, S. 98: „Quantoalica negacio est in remouendo uniuersalior, tanto affirmacio sibi opposita est uniuersa-lior in predicando (…)“. Vgl. hierzu ebenso S. 95: „Item, quanto aliqua negacio per seopposita ‚alicui‘ est lacior in remouendo, tanto negacio 〈scil. affirmatio〉 sibi opposita estlacior in predicando et, e conuerso, quanto alica affirmacio ibi est lacior in predicando,tanto negacio per se opposita ‚alicui‘ est lacior in remouendo“.

53 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 94: „Probacioassunpti: ‚nichil‘ opponitur per se ‚alicui‘ directe nisi racione sui oppositi inclusi; set‚nichil‘ opponitur per se et non per accidens cuilibet conceptui positiui entis, unitatis,ueritatis et bonitatis; ergo oppositum ‚nichili‘, quod est ‚aliquid‘, includitur quiditatiuein quolibet istorum“.

54 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 2, ed. Mariani, S. 98: „(…) setnulla negacio est uniuersalior ipso ‚nihil‘, quod per se opponitur ‚alicui‘; ergo nullusconceptus positiuus est uniuersalior in predicando quam conceptus aliquitatis“.

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„Nichts“ läßt aber per se ‚nichts‘ zurück, auch nicht Seiendes, Eines usw.;„Nicht-Seiendes“ hingegen läßt per se sehr wohl ‚etwas‘ zurück, nämlichalle anderen positiven Begriffe. In dieser Hinsicht erweist sich „Nichts“Franziskus von Marchia als umfassender in der Entgegensetzung als„Nicht-Seiendes“.55

Im Gegensatz zum Begriff des ‚Nichts‘, der direkt allen positivenBegriffen entgegensteht, da jegliches positive Sein verneint wird, stehtetwa der Begriff des ‚Nicht-Seienden‘ per se et directe nur ‚Seiendem‘ ent-gegen. Und wie dem Begriff des ‚Nichts‘ somit ein umfassenderer Sta-tus in der Entgegensetzung zukommt als dem des ‚Nicht-Seienden‘, soist umgekehrt eben auch dem per se-Gegensatz von ‚Nichts‘, dem Begriffdes ‚aliquid‘, ein umfassenderer Status zuzusprechen als ‚ens‘. Daß derGegensatz von aliquid und nihil damit gekennzeichnet ist durch eineweitestmögliche Entgegensetzung, liefert Franziskus zufolge den Beweisdafür, daß der Begriff des ‚Etwas‘ in allen anderen positiven Begrif-fen eingeschlossen wird.56 Er bekräftigt diesen Beweis jedoch auch nocheinmal umgekehrt: da ‚Seiendes‘ (ens) nicht washeitlich im ‚Einen‘(unum), ‚Wahren‘ (verum) und ‚Guten‘ (bonum) eingeschlossen wird, wirdzugleich ‚Nicht-Seiendes‘ (non-ens), das direkte oppositum von ‚Seiendem‘,diesen anderen nicht per se und direkt entgegengesetzt, da das schlecht-hinnige Gegenteil des ‚Einen‘ das ‚Nicht-Eine‘ (non-unum), den direk-ten Gegensatz des ‚Wahren‘ das ‚Nicht-Wahre‘ (non-verum) usw. bildet.Die übrigen Transzendentalbegriffe schließen ‚Seiendes‘ also nicht perse washeitlich ein, da umgekehrt ‚Nicht-Seiendes‘—so der Argumenta-tionsgang—nicht per se et directe jedwedem von diesen entgegengesetztist, sondern vielmehr ‚Nichts‘ (nihil), denn der Begriff des ‚Nichts‘ istes, der jedes positive Sein verneint: „dies bezeichnet nämlich der Name‚Nichts‘ selbst, daß er nicht irgendetwas Positives sei“.57 Also wird—dies

55 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 96: „Confir-matur: quia illud, quod ‚nichil‘ relinquid, est lacius in remouendo quam illud quod‚aliquid‘ relinquit; set ‚nichil‘ per se ‚nichil‘ relinquit, nec ‚ens‘, nec ‚unum‘, etc.; ‚non-ens‘ autem per se ‚aliquid‘ relinquid, quia relinquit ‚unum‘, ‚bonum‘, etc., licet peraccidens ‚omnia‘ tollit; ergo ‚nichil‘ est lacius in remouendo quam ‚non-ens‘“.

56 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 96: „Probacioassunpti: quia illud quod per se remouet ‚omnia‘ est lacius in remouendo quam illudquod per se remouet unum illorum; set ‚nichil‘ per se et directe remouet ‚omnia‘positiua, quia ‚nichil‘ est quod non est ‚aliquid‘ positiuum; ‚non-ens‘ per se et directesolum remouet ‚ens‘, set per accidens et indirecte remouet ‚omnia‘; ergo ‚nichil‘ estlacius in remouendo quam ‚non-ens‘; ergo ‚aliquid‘ est lacius in predicando quam‚ens‘“.

57 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 94 f.: „Confir-

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 61

ist Franziskus’ Resultat—eben nicht ‚Seiendes‘ (ens), sondern vielmehr‚Etwas‘ (aliquid), der per se-Gegensatz von ‚nihil‘, washeitlich in jedwe-dem positiven (transzendentalen) Begriff eingeschlossen.58

Schematisch läßt sich Franziskus’ Argumentationsstruktur zugunstendes ‚aliquid‘-Begriffs als dem substraktiven Erstbegriff folgendermaßenzusammenfassen (Quodl. 3,2):

Franziskus gibt aus einer anderen Perspektive noch eine weitere Erklä-rung für seinen Beweisgang, nämlich anhand des Grundsatzes: „je ver-einzelter (particularior) eine Negation ist, desto umfassender ist die jewei-lige Affirmation ihr im Prädizieren entgegengesetzt, und je vereinzel-ter im Gegensatz dazu eine Affirmation im Prädizieren ist, desto all-gemeiner ist ihre Negation“.59 Dies wird offensichtlich bei den Bei-

matur per simile: quia enim ens non includitur quiditatiue nec in uno, nec in uero, necin bono, ideo non-ens, quod opponitur enti, non opponitur per se et directe nec uno,nec bono; set oppositum unius est non unum, et oppositum per se ueri est non uerum;et ideo, quia illa non includunt quiditatiue ens, quod per se opponitur non-enti,—sienim includerent per se ipsum ens, tunc non-ens enti oppositum opponeretur per secuilibet eorum,—nunc autem ‚nichil‘ opponitur per se et directe ‚cuilibet‘ eorum, quia‚nichil‘ negat esse positiuum; hoc enim significat nomen ipsius ‚nichil‘, quod non sit‚aliquid‘ positiuum“.

58 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 95: „(…)ergo ‚aliquid‘, oppositum ‚nichili‘, includitur quiditatiue in quolibet conceptu positiuo“.Heinrich von Gent hatte dagegen noch sowohl res als auch aliquid als Gegensatz zum‚Nichts‘ hervorgehoben, vgl. Heinrich von Gent, Quodlibet VII, 1–2, ed. Wilson, S.27: „Sciendum quod omnium communissimum, omnia continens in quodam ambituanalogo, est res sive aliquid, sic consideratum ut nihil sit ei oppositum nisi purum nihil,quod nec est nec natum est esse, neque in re extra intellectum, neque etiam in conceptualicuius intellectus“.

59 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 96: „Item,quanto alica negacio est particularior in conueniendo, tanto affirmacio ei opposita estlacior in predicando et, e conuerso, quanto affirmacio est particularior in predicando,tanto negacio est uniuersalior in conueniendo“.

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spielen ‚Mensch‘ und ‚Lebewesen‘ bzw. ‚Nicht-Mensch‘ und ‚Nicht-Lebewesen‘: weil nämlich ‚Mensch‘ ‚inferior‘ (im Sinne von ‚konkreter‘oder ‚vereinzelter‘) ist als ‚Lebewesen‘, wird umgekehrt ‚Nicht-Mensch‘von mehr wahrhaft ausgesagt als ‚Nicht-Lebewesen‘. Und weil ‚Lebe-wesen‘ mehr betrifft als ‚Mensch‘, wird umgekehrt ‚Nicht-Lebewesen‘von weniger ausgesagt als ‚Nicht-Mensch‘. ‚Nichts‘ betrifft jedoch evi-denterweise weniger als ‚Nicht-Seiendes‘ (eben ‚nichts‘), weshalb ‚ali-quid‘, das Gegenteil von ‚Nichts‘, prädikativ auf mehr zutreffen mußals ‚Seiendes‘.60 Und demzufolge ist umgekehrt auch ‚nihil‘, das per se‚aliquid‘ entgegengesetzt ist, umfassender im Entgegenstehen als ‚Nicht-Seiendes‘, das per se (nur) ‚Seiendem‘ entgegengesetzt wird. Je weni-ger Konkretes ein Begriff bedeutet, desto allgemeiner (universalior) unddamit umfassender (latior) ist er, und je mehr Spezifisches er betrifft,desto vereinzelter (particularior):61 Wie ‚animal‘ formaliter weniger konkretund damit allgemeiner ist als ‚homo‘, so ist ‚aliquid‘ formaliter wenigerkonkret als ‚ens‘ und damit allgemeiner als dieses.62

Zusammenfassend hinsichtlich der im 2. Artikel begründeten Ent-scheidung für ‚aliquid‘ als dem abstraktiven Erstbegriff gegenüber derintentio entis und mit einem rückwärtsgewandten Blick auf die im 1. Arti-kel dargelegte Argumentation für ‚res‘ als dem substraktiven Erstbegriff,läßt sich—ohne das Hilfsmittel der Schematisierung überstrapazierenzu wollen—noch einmal diese Gesamtperspektive aufzeigen:

60 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 96: „Patetde ‚homine‘ et de ‚animali‘, et ‚non-homine‘ et ‚non-animali‘; quia enim ‚homo‘ estinferior ‚animali‘, ideo ‚non-homo‘ de pluribus uerificatur quam ‚non-animal‘; et, econuerso, quia ‚animal‘ pluribus conuenit quam ‚homo‘, ideo ‚non-animal‘ conuenitpaucioribus quam ‚non-homo‘; set ‚nichil‘ conuenit paucioribus, quia ‚non-ens‘; ergo‚aliquid‘, oppositum ‚nichili‘, conuenit pluribus quam ‚ens‘“.

61 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 97: „Item,quanto aliqua intencio minus ponit, tanto est uniuersalior et, e conuerso, quanto magisponit, tanto particularior“.

62 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 1, ed. Mariani, S. 97: „Patet de‚animali‘ et ‚homine‘: quia ‚animal‘ minus ponit formaliter quam ‚homo‘, ideo ‚animal‘est uniuersalius ‚homine‘; set ‚aliquid‘ minus ponit quam ‚ens‘ formaliter; ergo ‚aliquid‘est uniuersalius ‚ente‘“.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 63

Enthält der ‚res‘-Begriff alle anderen hinzukommenden Begriffe aufgleichsam materiale Weise virtualiter, so erweist sich ‚aliquid‘ als derformaliter höchste, abstrakteste und in allen anderen Begriffen essentialitereingeschlossene ‚allererste Verstandesbegriff‘:

„So scheint es also, daß man sagen muß, daß der Begriff der ‚Etwasheit‘(conceptus aliquitatis) der umfassendste Begriff (conceptus latissimus) unterallen Begriffen sei, da kein Begriff umfassender oder gleichermaßenumfassend ist, sondern dieser ist schlechthin umfassender und allgemei-ner (universalior) als jeder andere Begriff: und (daher) ist dieser (scil. derconceptus aliquitatis) der erste Gegenstand des Verstandes (primum obiectumintellectus) und nicht ‚Seiendes‘ (ens), ‚Eines‘ (unum) oder ‚Gutes‘ (bonum).“63

Ganz offenkundig zeigen sich—am Ende der beiden Artikel von„Quodl. 3“—als Resultat erneut gerade diejenigen konzeptionellen‚Verschiebungen‘, wie wir sie zu Beginn dieses Kapitels innerhalb derAusführungen von Franziskus’ „Quaestiones in metaphysicam“ in denBlick genommen haben: einerseits die ‚Ersetzung‘ des Begriffs des ‚Sei-enden‘ durch den materialiter früheren ‚res‘-Begriff, wodurch als Kon-sequenz das ‚Seiende‘ selbst zu einer passio (des ‚Dinges‘) wird; undandererseits die Hinzufügung bzw. ‚Auskopplung‘ eines aus den tradi-tionellen passiones gleichsam ‚destillierten‘ obersten, da formaliter frühe-ren Begriffs, ‚aliquid‘, dem selbst keine passiones mehr zukommen, son-dern der in all diesen selbst washeitlich eingeschlossen ist. In „Quodl.3, 2“ wird deutlich, inwiefern dieser abstrakteste Begriff sich im Begriffdes ‚Etwas‘ und nicht in dem des ‚Seienden‘ manifestiert. Franziskusvon Marchia scheint damit zwei, innerhalb der traditionellen Entwürfeim Begriff des ‚Seienden‘ immer ineins fallende Bestimmungen einer„prima intentio“ deutlich voneinander zu unterscheiden: das ‚virtuelleEnthalten‘ aller anderen (späteren) Begriffe einerseits und das ‚qui-ditative Enthaltensein‘ (in allen anderen—damit ebenfalls späteren—Begriffen) andererseits. Gelingen kann ihm dies anhand seiner neuarti-gen Unterscheidung von materialer und formaler Erstheit.

63 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 3, ed. Mariani, S. 99 f.: „Sicergo uidetur dicendum quod conceptus aliquitatis est conceptus latissimus inter omnesconceptus, quia nullus conceptus lacior nec eque latus, set iste est simpliciter lacior etuniuersalior omni alio conceptu: et iste est primum obiectum intellectus, et non ens,neque unum nec bonum“.

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64 kapitel i

Damit wird eine erste Verständnis-Ebene des inneren Zusammenhangszwischen den Darlegungen im „Metaphysik-Kommentar“ und im Rah-men des „Quodlibet“ erkennbar, indem hier die eigentlich argumentativenBegründungen für die Zersplitterung und die Verschiebungen innerhalbder Gruppe der transzendentalen Begriffe—der intentiones neutrae—mitBlick auf die Frage nach dem subiectum metaphysicae geleistet werden.Und daher sind die Ausführungen des „Quodlibet“, wie schon ange-deutet, tatsächlich als Erklärung für diejenigen innerhalb der „Quaes-tiones in metaphysicam“ zu lesen. Sind diese aber allererst durch eineneuartige Konzeption der Metaphysik, deren eigentliches Anliegen wirnoch in den Blick nehmen müssen, motiviert? Oder findet eher das pri-märe Anliegen einer Neuordnung der Transzendentalien (auch) inner-halb der Metaphysikbestimmung seinen Niederschlag? Wir müsseneine Erhellung dieses Bezugs nicht gänzlich selbständig leisten. Franzis-kus selbst liefert in „Quodl. 3“ einige wertvolle Hinweise sowohl auf dieallgemein wissenschaftstheoretischen Implikationen seines neuartigenTranszendentalien-Entwurfs als auch hinsichtlich der direkten Bezug-nahme auf die Frage nach dem eigentümlichen Gegenstand der Wissen-schaft schlechthin, der Metaphysik. Bevor wir uns diesen Bemerkungenzuwenden, muß aber zunächst noch einmal die immer noch nicht hin-reichend geklärte, im Vorangehenden aber bereits mehrmals aufgewor-fene Frage in den Blick genommen werden, ob dem Seinsbegriff trotzseiner ‚Entthronisierung‘ durch ‚res‘ und ‚aliquid‘ nicht doch auch—wie einige Male angedeutet—eine gewisse Vorrangstellung zumindestgegenüber den anderen Begriffen zukomme.

5. Die Neuordnung der mittelalterlichen Transzendentalbegriffe

Aus der doppelten Neubesetzung der Position der prima intentio rei durchdie Begriffe res und aliquid sowie der sich daraus ergebenden nachge-ordneten Stellung des Begriffs des ‚Seienden‘ ergibt sich zugleich eine

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 65

systematische Neuordnung aller—nicht nur der transzendentalen—Be-griffe. Franziskus generiert auf der Grundlage seiner Kritik an der Ord-nung und dem ontologischen Status der mittelalterlichen transcenden-tia ein alternatives Gesamtmodell, das durch wesentliche strukturelleModifikationen gekennzeichnet ist. Anhand einer Betrachtung dieserNeuordnung der (Erst-)Begriffe insgesamt lassen sich einige noch offeneFragen klären. Denn wenngleich aus dem Vorangegangenen deutlichgeworden ist, aufgrund welcher Kriterien sich die Primatstellung desmaterial bzw. formal ersten Begriffs ergibt, und auch, wie sich diese bei-den gegenüber allen anderen Begriffen gleichsam als grundlegends-ter bzw. höchster ‚Extrempunkt‘ positionieren, so läßt sich doch nochgenauer bestimmen, welche ‚Funktion‘ sie hinsichtlich einer hierarchi-schen Ordnung aller anderen Begriffe (und auch des Seinsbegriffs) ein-nehmen.Tatsächlich vermittelt Franziskus gegen Ende von „Quodlibet 3, 2“

(im 4. Subartikel, wo es abschließend noch einmal um die Frage geht,ob der conceptus aliquitatis nun ein einziger sei und univok für alle ihnselbst einschließenden Begriffe gelte) eine gewisse Idee davon, in wel-cher Weise die beiden neu bestimmten Erstbegriffe res und aliquid zuMaßstäben bezüglich einer hierarchischen Ordnung aller übrigen Begriffeavancieren.64 Dabei geht er zunächst von einer Analogie zum Bereichdes ‚Seienden‘ aus:

So, wie es im Bereich des Seienden (in entibus) ein erstes Seiendes (unumprimum ens) gibt, auf das hin alle anderen Seienden im Verhältnis einerZuschreibung (attributio) und Analogie (analogia) aufgrund seines ‚Status‘als ‚Zugrundeliegendem‘ (substantia) stehen, so verhält es sich auch inner-halb des Bereichs der Begriffe (in intentionibus), wo ein erster Begriff (unaprima intentio) anzunehmen ist, bezüglich dessen die übrigen Begriffe ineinem Zuschreibungs- und Analogieverhältnis stehen.65

Während mit Blick auf das Seiende die ‚Seiendheit‘ (entitas) selbst denMaßstab für die bestehende Ordnung und den damit verbundenenVorrang der Substanz vor den Akzidentien ausmacht, bildet im Bereichder Begriffe die ‚Etwasheit‘ (aliquitas) dieses Kriterium und den zugrun-deliegenden Maßstab für eine hierarchische Ordnung der Begriffe.

64 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 101: „Utrumconceptus aliquitatis sit unus et univocus omnibus conceptibus ipsum includentibus“.

65 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 102 f.: „(…) sicud inentibus est dare unum primum ens ad quod omnia alia encia habent attribucionemet anologiam secundum substanciam, ita in intencionibus est dare unam primamintencionem ad quam cetere intenciones habent attribucionem et anologiam (…)“.

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Und in gleicher Weise, wie die Substanz als das ‚primum ens‘ aufzufas-sen ist, da diese in höchstem Maße seiend ist und sich alle anderenSeienden in Hinordnung auf sie positionieren, ist der Begriff des ‚Din-ges‘ die ‚prima intentio‘, da er per se und erstheitlich ‚etwas‘ (‚aliquid‘) ist.Alle anderen Begriffe haben in unterschiedlichem Maße und in einerabgestuften Ordnung am Sinngehalt der Etwasheit (‚aliquitas‘) nur inHinordnung auf die intentio rei selbst teil.66 Jeder der anderen Begriffe istsomit nur in dem Maße ‚etwas‘, in dem er am Sinngehalt (ratio) der ‚res‘selbst partizipiert.67

Mit anderen Worten: der Begriff, „auf den alle Begriffe hin analo-gisiert werden“ (ad quem analogantur), ist der Begriff des Dinges (intentiorei), der Begriff aber, „in dem sie analogisiert werden“ (in quo analogantur),ist der Begriff des Etwasheit (intentio aliquitas), denn alle Begriffe wer-den aufgrund ihrer Teilhabe an der Etwasheit auf die Sache selbst hin„analogisiert“.68 In gleicher Weise, wie alle Seienden bzw. die Akziden-tien ‚seiend‘ sind, weil sie Dispositionen der Substanz sind, die in ‚erst-heitlicher Weise‘ seiend ist, stehen somit auch alle Begriffe gewissermaßenin einer pros hen-Relation zu einem ‚ersten‘ Begriff, dem des ‚Dinges‘.69

Alle anderen Begriffe haben in unterschiedlicher Intensität am Sinnge-halt der ‚Etwasheit‘ (aliquitas) durch ihre Hinordnung auf die intentio reiteil:70

66 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 103: „(…) ita inintencionibus est dare unam primam intencionem ad quam cetere intenciones habentattribucionem et anologiam in aliquitate et hec est intencio rei; nam ipsa per se etprimo est aliquid et omnes intenciones alie participant racione aliquitatis in ordine adipsam“.

67 Vgl. zur Substanz-Frage D. Fonfara, Die Ousia-Lehren des Aristoteles. Untersuchungenzur Kategorienschrift und zur Metaphysik, Berlin/New York 2003 (Quellen und Studien zurPhilosophie 61).

68 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 103: „Consimilliterin intencionibus alicam intencionem ad quam omnes alie anologantur et aliquas res inqua omnes anologantur; intencio autem ad quam anologantur est intencio rei; intencioautem in qua anologatur est intencio aliquitatis; omnes enim intenciones anologanturad rem in aliquitate; ergo, quemadmodum omnia encia anologantur in ente, sic omnesintenciones in aliquitate ad rem“.

69 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 103: „Item, sicudaccidencia sunt encia quia sunt disposiciones substancie, 4 Methaphysice, consimilliter inintencionibus, cetere intenciones sunt aliquid in quantum sunt raciones ipsius rei, queper se et primo est aliquid“.

70 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 103: „(…) ethec est intencio rei; nam ipsa per se et primo est aliquid et omnes intenciones alieparticipant racione aliquitatis in ordine ad ipsam“.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 67

Wie aber steht es nun schlußendlich um den Begriff des ‚Seienden‘?Findet am Ende doch noch eine Rehabilitation des zuvor degradiertenSeinsbegriffs statt? Tatsächlich wird auch ihm in gewissem Sinne einPrimat zugesprochen, wenngleich nicht in einem absoluten Sinne, aberder Begriff des ‚Seienden‘ ist doch insofern auch immer noch eine‚prima intentio‘, als er den ‚ersten realen Sinngehalt‘ (prima ratio realis) derintentio rei darstellt. Der Begriff des ‚Dinges‘ enthält somit grundlegendvirtualiter alle anderen Begriffe—und dabei zuallererst die intentio entis.Das bedeutet, daß dem Begriff des ‚Seienden‘ zumindest noch eine‚relative Primatstellung‘ zuzusprechen ist, indem er an erster Stelle alleranderen Begriffe steht.71 Die intentio entis ist somit der erste Begriff, derzum Begriff des ‚Dinges‘ in ein analoges Verhältnis gesetzt wird: „Primaintentio est intentio entis quia est prima intentio analogata ad rem“.72 Franziskusschließt seine Bemerkungen zur Positionierung des Seinsbegriffs miteinem Verweis auf den „Liber de Causis“:

„Und daher sagt der Autor von „De causis“, daß ‚der erste (Begriff)der geschaffenen Dinge das Sein ist‘, weil das Seiende der schlechthinerste der analog gesetzten Begriffe ist; es ist aber nicht schlechthin erster(Begriff), weshalb dort ein Vergleich der analog gesetzten Begriffe unter-einander in Hinordnung auf den ersten gemacht wird; es wird kein Ver-gleich der Begriffe im Hinblick auf einen analogen Begriff gemacht, weiljener einfach (simpliciter) ist, und daher sagt er auf bezeichnende Weise:‚der geschaffenen Dinge‘“.73

71 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 2, ed. Mariani, S. 89: „Dico igiturquod intencio rei est fundamentum omnium intencionum existencium in re; intentioautem entis est prima intencio et prima racio realis in huiusmodi fundamento (…).“

72 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 103.73 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 4, ed. Mariani, S. 103 f.: „Ideo dicit

Auctor De causis quod ‚prima rerum creatarum est esse‘, quia prima simpliciter inten-cionum anologatarum est ens; non autem simpliciter est prima, unde fit ibi conparaciointencionum anologatarum inter se in ordine ad primam; non fit conparacio inten-

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68 kapitel i

Mit Blick auf die klassische Struktur der transzendentalen Begriffe,wie wir sie im Rahmen der traditionellen Konzeptionen der Den-ker des 13. Jahrhunderts finden, läßt sich nach einer Betrachtung die-ser begrifflichen Neuordnung gemäß Franziskus von Marchia folgen-des Fazit ziehen, wie es zugleich als Kritik an den überkommenenModellen zu werten ist: bildete innerhalb der Gruppe transzendentalerBegriffe bislang die intentio entis denjenigen Begriff, auf den in seiner Pri-matstellung hingeordnet alle anderen transcendentia lediglich als Eigen-schaften, als passiones entis zu werten waren, so manifestiert sich nuneine grundlegende Verschiebung. Die Transzendentalbegriffe sind nichtlänger als passiones ‚entis‘, sondern vielmehr als passiones ‚rei‘ zu betrach-ten.74 Denn nicht mehr der Begriff des ‚Seienden‘, sondern der des‚Dinges‘ bildet nunmehr den gleichsam substantialen Bezugspunkt alleranderen—nachfolgenden—Begriffe. Daß der intentio entis dabei letztlichdoch noch eine exponiertere Stellung aufgrund ihres Status als ersterratio realis des ‚Ding‘-Begriffs zukommt, ändert nichts an der Bedeu-tung der strukturellen Umakzentuierung, wie Franziskus sie in diesemZusammenhang vornimmt.Den Begriffen ‚res‘ und ‚aliquid‘ kommt somit innerhalb der Kon-

zeption des Franziskus von Marchia eine besondere ‚Schlüsselfunk-tion‘ zu, indem gerade aufgrund dieser beiden Begriffe die spezifi-zierende Neupositionierung bzw. ‚Entthronisierung‘ des Seinsbegriffserfolgt. Allerdings sieht es so aus, als sei ihnen innerhalb der Entwick-lung der Transzendentalien- und Supertranszendentalienlehre insgesamt eineSonderrolle zuzuschreiben.75 So gehören res und aliquid in verschiede-nen Abhandlungen des 13. Jahrhunderts zunächst durchaus zum fes-

cionum ad intencionem anologantem quia illa est simpliciter, ideo significanter dicit:‚rerum creatarum‘.“

74 Vgl. hierzu bemerkenswerterweise auch eine in genau diese Richtung zielendeAnmerkung aus dem „Metaphysik-Kommentar“: „Ex quo patet secundum intentionemAvicennae, quod intentio entis concomitatur intentionem rei. Sed intentio posteriorconcomitatur intentionem prioris“ (Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I,1, ed. Zimmermann, S. 86).

75 Vgl. insbesondere hinsichtlich des Begriffs des ‚Dinges‘ die für die Ursprünge derTranszendentalienlehre im 13. Jahrhundert insgesamt als grundlegend zu betrachtendeÄußerung Avicennas in seinem Liber de philosophia prima I,5, ed. Van Riet, S. 31: „Dice-mus igitur quod res et ens et necesse talia sunt quod statim imprimuntur in animaprima impressione, quae non acquiritur ex aliis notioribus se“. Roland von Cremonascheint der erste gewesen zu sein, der für res den Ausdruck ‚nomen transcendens‘ verwen-det; vgl. hierzu D.H. Pouillon, Le premier traité des propriétés transcendentales. La ‚Summa debono‘ du Chancelier Philippe, in: Revue néoscolastique de philosophie 42 (1939), S. 40–77,insbes. S. 44.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 69

ten Bestandteil der traditionellen transcendentia—so etwa bei Thomasvon Aquin, der ihnen in seinen „Quaestiones disputatae de veritate“(q. I, art. 1) einen festen Platz einräumt.76 Der Begriff der ‚Dinges‘(res) drückt hier die Washeit oder Wesenheit eines Seienden aus, derdes ‚Etwas‘ (aliquid) bezeichnet das Seiende, insofern es von ande-rem unterschieden ist (‚aliud quid‘, ‚ein anderes Was‘).77 Während res,vor allem aber aliquid dann—so sehen wir es zumindest bei Fran-ziskus zu Beginn des 14. Jahrhunderts—zur Argumentation für dietranscendentia in ihrem ursprünglichen Sinngehalt übersteigende (‚super‘-transzendentale) Bestimmungen herangezogen werden (und hiermitden ‚begrifflichen Endpunkt‘ der Ausweitung der Transzendentalbe-griffe markieren), wird später vor allem ‚aliquid‘ auch ganz explizitals ‚Supertranszendentale‘ genannt. In einer letzten Phase, d.h. in denDarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts, werden beide Begriffedann jedoch wieder an den klassischen Kanon der Transzendenta-lien ‚zurückgegeben‘, wenn (nach der ‚argumentativen Rechtfertigung‘der ‚supertranscendentia‘) spezifischere inhaltliche Bestimmungen gefun-den sind (opinabile, cogitabile usw.).78

76 Vgl. hierzu auch G. Ventimiglia, Die Transzendentalienlehre des Thomas von Aquin:Denktraditionen, Quellen, Eigenheiten, in: J.A. Aertsen/A. Speer (Hgg.), Was ist Philosophieim Mittelalter? Akten des 10. Internationalen Kongresses für mittelalterl. Philosophieder S.I.E.P.M vom 25.-30. August 1997 in Erfurt, Berlin/New York 1998 (MiscellaneaMediaevalia 26), S. 522–528.

77 Vgl. Thomas von Aquin, De veritate I,1, ed. A. Zimmermann, S. 6: „(…) nonautem invenitur aliquid affirmative dictum absolute quod possit accipi in omni entenisi essentia eius secundum quam esse dicitur, et sic imponitur hoc nomen res, quodin hoc differt ab ente, secundum Avicennam in principio Metaphysicae, quod enssumitur ab actu essendi sed nomen rei exprimit quiditatem vel essentiam entis (…).(…) secundum divisionem unius ab altero et hoc exprimit hoc nomen aliquid: diciturenim aliquid quasi aliud quid, unde sicut ens dicitur unum in quantum est ab aliisdivisum.“

78 Vgl. hierzu den Artikel „Res“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie Bd. 8,Darmstadt 1992, Sp. 898 f.: „So führt die philosophische Geschichte des Wortes ‚res‘offenkundig dahin, daß aus dem ens rationis der allgemeinste Begriff wird, der dasFeld des Denkbaren (cogitabile) absteckt, innerhalb dessen nachträglich der Bereich desens reale einen Ausschnitt bildet, der selbst wiederum in eins fällt mit dem Möglichenals dem Nicht-Widersprüchlichen (potentiale obiectum). Mag auch das lateinische Wort‚res‘ seine philosophische Laufbahn als Übersetzung des griechischen Terminus πρ�γμαangetreten haben, so wird es in der Epoche der Spätscholastik und der Schulmetaphy-sik in der Mehrheit der Fälle als Übertragung des unbestimmten τι verstanden. Deshalbhaben einige Autoren, sich nicht damit begnügend, ‚res‘ unter die Transzendentalienzu zählen oder dieser Bestimmung den ersten Rang unter ihnen einzuräumen, eineneue, noch allgemeinere Kategorie erdacht, nämlich diejenige der supertranszendenta-len Begriffe; veranschaulicht wird dies in mustergültiger Weise durch den Begriff ‹ali-quid›“. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die aufschlußreiche Untersuchung

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70 kapitel i

Schon bei Heinrich von Gent findet sich als Neuheit der Transzen-dentalienlehre die Zentralstellung des Begriffs ‚res‘, aber auch des ‚ali-quid‘.79 Res oder aliquid werden von Heinrich als das Gemeinsamste(„communissimum“) bezeichnet, das nur dem reinen ‚Nichts‘ entgegenge-setzt ist.80 Bei Heinrich teilt sich der res-Begriff einerseits in den Aspektder ‚Realität‘, die geeignet ist, nur im Verstand zu sein (in diesem Sinneabgeleitet von ,reor’), und andererseits in den der ‚extramentalen Rea-lität‘ (abgeleitet von ,ratitudo‘).81 Heinrichs Konzeption wird daher—wenngleich aufgrund einer völlig anderen Argumentation als Franzis-kus sie vornimmt—immer wieder herangezogen, wenn es um die Fragenach Vorläufern der nachmittelalterlichen Unterscheidung zwischentranszendentalen und supertranszendentalen Konzepten geht.82 Erwäh-nenswert ist in dieser Reihe exemplarisch auch Laurentius Valla (1407–1457), der versucht, die traditionellen Transzendentalbegriffe auf ‚res‘ alsden ersten und hauptsächlichen unter diesen zurückzuführen (auch derBegriff des ‚aliquid‘ ließe sich so auseinanderlegen und erklären als ‚aliares‘, der des ‚unum‘ als ‚una res‘ usw.).83 Chrysostomus Javelli (~1470–1538)

von R. Darge, Suarez’ Analyse der Transzendentalien ‚Ding‘ und ‚Etwas‘ im Kontext der scholasti-schen Metaphysiktradition, in: Theologie und Philosophie 75 (2000), S. 339–358.

79 Vgl. hierzu die neue Studie von Martin Pickavé, Heinrich von Gent über Metaphysik alserste Wissenschaft. Studien zu einem Metaphysikentwurf aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts,Leiden/Boston 2007 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 91),insbesondere S. 183–244.

80 Vgl. Heinrich von Gent, Quodlibet VII, 1–2, ed. Wilson, S. 26 f.: „Sciendum quodomnium communissimum, omnia continens in quodam ambitu analogo, est res [!]sive aliquid, sic consideratum ut nihil sit ei oppositum nisi purum nihil, quod nec estnec natum est esse, neque in re extra intellectum, neque etiam in conceptu alicuiusintellectus, quia nihil est natum movere intellectum nisi habens rationem alicuiusrealitatis“.

81 Vgl. Heinrich von Gent, Quodlibet VII, 1–2, ed. Wilson, S. 27: „Res primo modoest ‚res‘ secundum opinionem tantum, et dicitur ‚a reor, reris‘, quod idem est quod‚opinor, opinaris‘ quae tantum res est secundum opinionem, quoad modum quo abintellectu concipitur, scilicet in ratione totius, ut est mons aureus, vel hircocervus habensmedietatem cervi, medietatem hirci. Est tamen res secundum veritatem quoad parteseius quae sunt mons et aurum et huiusmodi; aliter enim non posset totum esse inintellectu et ens secundum opinionem, nisi partes essent aliquid secundum veritatem,quia ab alio non potest moveri intellectus. Quod sic est ens, secundum totum non estres praedicamenti, sed solum secundum suas partes“.

82 Vgl. J. Paulus, Henri de Gand. Essai sur les tendances de sa métaphysique, Paris 1938(Études de philosophie médiévale 25), S. 23–28, und in Auseinandersetzung damitM. Pickavé, Heinrich von Gent über Metaphysik als erste Wissenschaft (nt. 79), sowie J.A. Aert-sen, Transcendental Thought in Henry of Ghent, in: W. Vanhamel (Hg.), Henry of Ghent.Proceedings of the International Colloquium on the Occasion of the 700th Anniversaryof his Death (1293), Leuven 1996 (Ancient and Medieval Philosophy I, 15), S. 1–18.

83 Vgl. die berühmte Stelle bei L. Valla, Disp. Dialect. I, Opera omnia, Turin 1962,

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 71

hingegen behält in seinem „Tractatus de transcendentibus“ schließlichwieder die von Thomas inspirierte Unterscheidung bei: „ens sumitur abesse, res autem ab essentia“, woraus er schließt, daß das ‚Seiende‘ gleicher-maßen „de ente reali et de ente rationis“ ausgesagt werden könne, währendder Begriff des ‚Dinges‘ allein für die entia realia gelte, d.h. für die Dinge„qui habent essentiam vel quiditatem“.84 Hier läßt sich also bereits eine derKonzeption des Franziskus deutlich entgegengesetzte Tendenz erken-nen, indem dem ‚Ding‘-Begriff eine wieder eingeschränktere Gültigkeitzugesprochen wird als dem Seinsbegriff.85

* * *

Nachdem nun—nach diesem kurzen zusätzlichen Exkurs—die struk-turellen Beziehungen der drei ersten Transzendentalbegriffe res, ensund aliquid, wie sie sich bei Franziskus von Marchia als quiditativeintentiones neutrae bestimmen lassen, sowohl untereinander als auch inBezug auf alle nachfolgenden Begriffe hinreichend fokussiert wordensind, wollen wir abschließend—wie bereits angekündigt—wieder zumursprünglichen Ausgangspunkt für unsere Betrachtung der Ordnungunter den Erstbegriffen zurückkehren. Dieser lag gerade in der Fragebegründet, weshalb sich die Bestimmung des Gegenstands der Meta-physik in Franziskus’ „Quaestiones in metaphysicam“ in einer ‚Zersplit-terung‘ der Gruppe der ersten Verstandesbegriffe manifestierte. Ein letz-ter Textbeleg aus der 3. Quaestio des „Quodlibet“ ist es, den wir dazuan dieser Stelle noch einmal in den Blick nehmen müssen, um finali-ter die Betrachtung des spezifischen Zusammenhangs der Erstbegriffe

S. 646: „Ex his sex, quae nunc quasi de regno contendunt non aliter res erit rex quamDarius“.

84 Vgl. Ch. Javelli, Totius Philosophiae Compendium, Lyon 1563, I, S. 460, Sp. 1.85 Petrus Fonseca (1528–1599) subsumiert res und aliquid schließlich sogar wieder

gänzlich unter den Begriff des ‚Seienden‘, womit die ‚Erfolgsgeschichte‘ dieser beidenBegriffe ihren Abschluß zu finden scheint: „(…) doctrina veterum, apud quos idemsunt Ens, Aliquid et Res, neque aliter haec nomina, quam ut synonyma usurpantur(…). Perspicuum est, nullum esse discrimen inter Ens, Aliquid et Rem“ (Petrus Fonseca,Metaph., c. 2, q. 5, sect. 2). Vgl. hierzu R. Darge, Suarez’ Analyse der Transzendentalien ‚Ding‘und ‚Etwas‘ im Kontext der scholastischen Metaphysiktradition, in: Theologie und Philosophie75 (2000), S. 355, und H. Knittermeyer, Der Terminus transszendental in seiner historischenEntwicklung bis zu Kant, Marburg 1920, S. 85: „Die Sechszahl der Transszendentien istindessen nur ein Residuum der Tradition, die Fonseca nicht aufrechterhalten wissenwill, da ihm res wie aliquid, wenn sie im Sinne einer transszendenten Affektion behaup-tet werden sollen, schlechterdings synonym erscheinen. So bleiben nur das Seiendenebst seinen passiones des Einen, Wahren und Guten für Fonseca als transszendenteBegriffe bestehen.“

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72 kapitel i

und des subiectum metaphysicae aus einer ‚extern‘ auf den „Metaphysik-Kommentar“ gerichteten Perspektive zu vervollständigen. Im danachfolgenden II. Kapitel werden wir uns dann den Ausführungen des„Metaphysik-Kommentars“ selbst eingehender zuwenden.

6. Die wissenschaftstheoretischen Implikationen desin „Quodl. 3“ entwickelten Modells: Dissoziation von ‚primumobiectum intellectus‘ und ‚proprium subiectum metaphysicae‘

Wir haben bislang verschiedene Argumentationswege innerhalb der 3.Quaestio des „Quodlibet“ verfolgt, um die zu Beginn der „Quaestio-nes in metaphysicam“ aufgeworfene Frage nach dem eigentümlichenGegenstand der Metaphysik von der Perspektive einer systematischenNeuordnung der ersten Verstandesbegriffe her zu erhellen. Abschlie-ßend gilt es nun noch einmal, ein Gesamtbild des in „Quodl. 3“ Ent-worfenen zu konstituieren, um die strukturelle und inhaltliche Neu-bestimmung der Transzendentalien angemessen als Erklärung für dieNeugestalt der Metaphysik, wie sie sich in Franziskus’ „Metaphysik-Kommentar“ zeigt, fruchtbar machen zu können. Wie also lassen sichbeide Theoreme, so die Grundfrage unserer Untersuchung, schließlichzusammenführen?Franziskus liefert zum Zweck einer solch argumentativen Verbin-

dung, dem ‚missing link‘ zwischen seiner Transzendentalienlehre undseiner Metaphysik-Konzeption (und damit zugleich zwischen seinem„Quodlibet“ und den „Quaestiones in metaphysicam“), zusätzlich zuden bislang betrachteten Ausführungen noch einen perspektivisch alter-nativen, insgesamt aber grundlegenden Bezugspunkt, nämlich das Mo-dell der einfachen Satzstruktur (S ∈ P). Was kann diese hinsichtlichdes Zusammenhangs der Erstbegriffe (dem primum obiectum intellectus)und des proprium subiectum metaphysicae zusätzlich verdeutlichen? WelchesErklärungspotential birgt die gleichsam horizontale Ebene des Satzesals Ergänzung zu der vertikalen Bestimmung eines materialiter niedrigs-ten und formaliter höchsten Begriffs? Und woraus ergibt sich überhauptdie argumentative Bezugnahme auf die Satzstruktur?Thomas von Aquin legt im ersten Artikel der I. Quaestio seiner

„Quaestiones disputatae de veritate“ einen philosophiehistorischenHintergrund offen, der letztlich als systematische Grundlage für jedesBemühen um einen Aufweis erster Verstandesbegriffe und damit alsAusgangspunkt für alle Transzendentalien-Konzeptionen zu betrachtenist:

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 73

„Wie es bei beweisbaren Sätzen ein Zurückführen auf gewisse durch sichdem Verstand bekannte Prinzipien geben muß, so auch bei jeder Erfor-schung dessen, was etwas ist. Sonst verliefe man sich in beiden Berei-chen ins Unbegrenzte, und so verlören Wissenschaft und Erkenntnis derDinge sich völlig“.86

Als Endpunkt einer solchen ‚reductio‘ beweisbarer Sätze (demonstrabilia)auf ein erstes, selbstevidentes Prinzip hat Aristoteles den sog. ‚Satz vomWiderspruch‘ angeführt—all unseren (wahren) Aussage-Sätzen liegtletztlich zugrunde, daß sich von etwas nicht zugleich und in derselbenHinsicht aussagen läßt, daß es sei und nicht sei. Jedes unserer (adäqua-ten) Urteile kann auf dieses principium per se notum zurückgeführt (‚redu-ziert‘) werden.87 Thomas scheint nun dieser (aristotelischen) Forderungeiner �ν�λυσις im Bereich der Satzordnung auch mit Blick auf unser ein-faches Erfassen dessen, ‚was‘ etwas ist, d.h. für den Bereich der begriff-lichen Ordnung, Gültigkeit zuzusprechen. Der Endpunkt der Rückfüh-rung auf ein ‚unhintergehbares Prinzip‘ in einem umfassenden Sinneist offenkundig noch nicht erreicht, wenn man beim Voraussetzungslo-sen aller beweisbaren Sätze angelangt ist, sondern es ist darüber hin-aus weiterhin zu fragen nach dem, woraus solche ‚complexa‘ allererstzusammengesetzt sind, nämlich nach den ersten (einfachen) Begriffen(incomplexa). Und damit sind wir gerade bei dem Punkt angelangt, ausdem sich eine Forderung nach Erstbegriffen des menschlichen Intel-lekts, eine Lehre von Transzendentalien überhaupt argumentativ ent-wickelte. Wir finden diesen Schritt jedoch nicht erst bei Thomas vonAquin (wenngleich er sich hier in besonders signifikanter Weise mani-festiert), sondern bereits bei Avicenna, der in seiner „Metaphysik“—

86 Thomas von Aquin, De veritate, I,1, ed. Zimmermann, S. 4 f.: „Dicendum quodsicut in demonstrabilibus oportet fieri reductionem in aliqua principia per se intellectuinota ita investigando quid est unumquodque, alias utrobique in infinitum iretur, et sicperiret omnino scientia et cognitio rerum“.

87 Vgl. Aristoteles, Analytica Posteriora I, 1–3; II, 19. „Erkenntnis im eigentlichen Sinneist ein Wissen aus Ursachen, ein Wissen mit Gründen. (…) Aristoteles hat in den „Zwei-ten Analytiken“ gezeigt, daß das Ganze der intelligiblen Zusammenhänge, die in Sät-zen zum Ausdruck kommen, auf einer letzten Einsicht beruhen muß, auf etwas, dasdurch sich bekannt ist und nicht länger durch ein anderes“ (W. Goris, TranszendentaleGewalt, in: M. Pickavé (Hg.), Die Logik des Transzendentalen. Festschrift für J.A. Aert-sen zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2003 (Miscellanea Mediaevalia 30), S. 619–642; S. 620). Vgl. zur Kennzeichnung dieses sichersten, voraussetzungslosen Prinzipsauch Aristoteles, Met. IV,3, 1005b11–20, und Thomas von Aquin, In III Metaph., lect.6, ed. Cathala/Spiazzi, n. 603: „Et propter hoc omnes demonstrationes reducunt suaspropositiones in hanc propositionem, sicut in ultimam opinionem omnibus commu-nem: ipsa enim est naturaliter principium et dignitas omnium dignitatum“.

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74 kapitel i

wir haben schon an mehreren Stellen darauf verwiesen88—eine solche„Überschreitung der Perspektive des Aristoteles“89 vornimmt:

Sind wir mit dem Aufweis solcher Erstbegriffe nun also bei dem funda-mentum aller Erkenntnis, dem „anhypotheton des menschlichen Denkens“angelangt?Die Konzeption des Franziskus von Marchia scheint gerade hin-

sichtlich dieser Frage etwas Entscheidendes zu leisten. Hatte Avicenna(und in dessen Nachfolge Thomas von Aquin bzw. alle mittelalterli-chen Autoren, denen es um die Letztbegründung erster Verstandesbe-griffe ging) die Perspektive des Aristoteles überschritten, indem er denAufweis eines voraussetzungslosen Ursprungs aller beweisbaren Sätze(Widerspruchsprinzip) noch einmal auf diesem zugrundeliegende Erst-begriffe zurückführte, aus denen dieses Satzprinzip allererst zusammen-zusetzen sei (res, ens und necesse im Sinne der Transzendentalbegriffe),so nimmt Franziskus von Marchia für gerade diese ‚Überschreitung‘noch eine weitergehende Präzisierung vor. Offenkundig verbirgt sichfür ihn im Aufweis der ersten Verstandesbegriffe, wie er sich innerhalbder Transzendentalien-Konzeptionen des 13. Jahrhunderts findet, einestrukturelle ‚Unterbestimmtheit‘, die es systematisch zu beheben gilt.Worin aber besteht diese Unterbestimmtheit, die Franziskus mit Rück-bezug auf das Modell der einfachen Satzstruktur auf deutliche Weise zuexplizieren sucht?Die transzendentalen Erstbegriffe ens, unum, verum, bonum, res und

aliquid finden sich in „De veritate I, 1“ analog zum Fundamentum

88 Vgl. Avicenna, Met. I, c. 5, (nt. 75).89 W. Goris, Transzendentale Gewalt, in: M. Pickavé (Hg.), Die Logik des Transzenden-

talen. Festschrift für J.A. Aertsen zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2003 (Miscella-nea Mediaevalia 30), S. 619–642, S. 619.

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die ‚entthronisierung‘ des seinsbegriffs 75

aller demonstrabilia als Prinzipien all unseres begrifflichen Erfassens derWesenheiten der Dinge. Sie sind—wenngleich Thomas dies an der ent-sprechenden Stelle nicht explizit formuliert—die inkomplexen Bestand-teile, aus denen sich jede Aussage (allen voran der Satz vom Widerspruch)überhaupt zusammensetzt, und sie bilden damit allererst die eigentli-che Grundlage unseres Denkens und Urteilens. Implizit bleibt dabeijedoch, wie sich diese Erstbegriffe konkret auf Sätze anwenden lassen,d.h. wie sie sich hinsichtlich der beiden Satzstellen positionieren, vondenen die eine dem Bezeichneten, dem der Aussage Zugrundeliegen-den (subiectum) vorbehalten ist [S], und die andere der bezeichnendenZuschreibung oder Eigenschaft, d.h. dem Prädikatbegriff [P]. Zwarscheint das berühmte transzendentalientheoretische Diktum „omne ensest unum, verum, bonum“ eine Konkretisierung in dem Sinne zu sugge-rieren, daß der Begriff des ‚Seienden‘ an Subjektstelle, die anderenTranszendentalbegriffe an Prädikatstelle zu positionieren seien—diese(Satz-)Struktur ist (etwa im thomasischen Sinne) jedoch streng genom-men als ‚inner-prädikativ‘ zu verstehen:

Die transcendentia, bezüglich ihres Primats in kognitiver Hinsicht be-trachtet, sind in ihrer Gesamtheit als Prädikatbegriffe zu qualifizie-ren, die jede (real existierende) Sache in der Wirklichkeit auf allge-meinste Weise bezeichnen. Innerhalb dieser Gruppe der ‚primae inten-tiones‘ kommt dem Begriff des ‚Seienden‘ die Vorrangstellung zu, vonder wir im Rahmen dieses Kapitels unseren Ausgangspunkt genommenhatten: hinsichtlich der bezeichneten Sache sind die anderen Transzen-dentalbegriffe mit dem Begriff des ‚Seienden‘ zwar als umfangsgleichzu bestimmen, sie sind jedoch secundum rationem voneinander unterschie-den und stellen begriffliche Hinzufügungen dar, indem sie als passio-nes entis Sinngehalte ausdrücken, die durch die Bezeichnung ‚Seien-des‘ noch nicht expliziert sind. Somit sind sie auch keine bloß tau-tologischen Begriffe, sondern es macht Sinn zu sagen: „omne ens estunum, verum, bonum etc.“. Die Transzendentalien sind aber nicht nur die‚prima‘ in kognitiver, sondern auch in ‚ontologischer‘ Hinsicht. Lassensie sich (im eigentlichen Sinne) auch nicht an der Subjektstelle des Sat-zes positionieren, so sind sie doch als allgemeinste Seinsbestimmungen

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gewissermaßen in jeder Sache selbst befindlich. Allerdings läßt sich—und dies scheint ein weiteres Argument gegen ihre Verwendung anSubjektstelle—die hierarchische Ordnung der transcendentia nicht auf die‚Sachseite‘ übertragen: ‚in re‘ sind die transzendentalen Begriffe konver-tibel und es findet sich keine Priorität des Begriffs des ‚Seienden‘, denndiese manifestiert sich allererst secundum rationem.90

Wird im Rahmen der Konzeptionen des 13. Jahrhunderts in dieserWeise nach ‚dem Erstbegriff‘ bzw. nach ‚den ersten Verstandesbegriffen‘gefragt, so scheint damit für Franziskus von Marchia das aristotelischeanhypotheton, das Prinzip aller demonstrabilia, doch noch nicht hinreichendfundiert. Denn es erfolgt hier—so könnte sein Vorwurf lauten—keinAufweis einer prima intentio ‚in der Sache selbst‘, für das der AussageZugrundeliegende (subiectum!). Eine Priorität nimmt etwa Thomas vonAquin lediglich für die prädikative Seite an (ens), auf Seiten des jeg-licher Prädikation Zugrundeliegenden wird eine Vertauschbarkeit dertranszendentalen Bestimmungen postuliert (im Sinne von: „omne x estens, unum, verum, bonum etc.“).Um dieser ‚Ungenauigkeit‘ oder ‚Unterbestimmtheit‘ zu entgehen,

die eigentlich in dem ontologischen und epistemologischen Doppelas-pekt der Vorrangstellung der Transzendentalien in ihrer Gesamtheitbegründet zu liegen scheint, versucht Franziskus von Marchia nun,einen Erstbegriff nicht nur für das vom Verstand von allen realia Prä-dizierte aufzuweisen, sondern auch für die reale, prädikativ bestimmteSache selbst, wie sie in einer Aussage an der Stelle des subiectum zumAusdruck kommt [vorangehend ‚x‘].91 Und gerade dieses Bemühenscheint sich anhand der beiden zuvor eingeführten Erstheiten (prioritasmaterialis und formalis) sowie des daraus sich ergebenden ‚zweifachen‘Erstbegriffs zu realisieren. Zunächst zeigt sich eine Neuerung auchfür den prädikativen Erstbegriff: anstelle des ursprünglich transzen-dentalen Erstbegriffs ‚ens‘ generiert Franziskus eine ‚neue‘ prima intentio,indem er (aufgrund verschiedener argumentativer Strategien, wie wirsie bereits nachgezeichnet haben) den Begriff des ‚Etwas‘ (aliquid) alsformaliter noch früher bestimmt, da dieser die transcendentia selbst über-steigt, damit in diesen allen enthalten ist und folglich erstheitlich an

90 Vgl. Thomas von Aquin, De veritate I, 1.91 Deutlich wird dies schon in der—auf den ersten Blick noch nicht unbedingt unge-

wöhnlich anmutenden—Formulierung der Fragestellung von „Quodl. 3“, „Utrum inten-tio entis sit prima intentio rei“, deren expliziter Bezug des Erstbegriffs auf die zugrunde-liegende Sache (res) die oben angedeutete argumentative Stoßrichtung bereits erkennenläßt.

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Prädikatstelle zu positionieren ist. Neben diesem Umstand, der ledig-lich als Modifikation des klassischen (thomasischen) Primatbegriffs zuwerten ist, nimmt Franziskus die entscheidende Neuerung jedoch mitBlick auf das an Subjektstelle Stehende vor, indem er einen Erstbegriffgemäß der prioritas materialis festsetzt, der gleichsam materialiter alle ande-ren Begriffe substraktiv enthält und damit in erstheitlicher Weise aufdie Seite des ‚Sachhaltigen‘ (des subiectum) rückt, nämlich den Begriffdes ‚Dinges‘ (res). Während Thomas von Aquin zwar eine formale Prio-rität postuliert, nämlich diejenige des Begriffs des ‚Seienden‘, nimmt erjedoch lediglich eine ‚materiale Konvertibilität‘ der Transzendentalien ins-gesamt an; Franziskus von Marchia bestimmt demgegenüber präzisie-rend erstmals auch einen materialen Erstbegriff und generiert damit imstrengen Sinne ein zweifaches (begriffliches) Prinzip als fundamentum desaristotelischen, auf Sätze bezogenen anhypotheton.

Deutlich scheint somit die Präzisierung, die Franziskus mit Blick aufdas avicennisch-thomasische Modell der transzendentalen Erstbegriffevornimmt: das Bemühen um eine Fundierung des Prinzips innerhalbder Satzordnung durch den Aufweis seines Ursprungs innerhalb derBegriffsordnung (→ transcendentia) wird nun allererst zu einem wirklichadäquaten Fundierungsverhältnis, indem die Erstbegriffe ausdrücklichauf die Satzstruktur angewandt und rückbezogen werden. Suggerierteder Begriff des ‚Seienden‘ in Thomas’ Modell noch eine gewisse Mög-lichkeit, als Subjektbegriff zur Bezeichnung eines jeden ‚ens reale‘ zu fun-gieren („Omne ens est…“), dies allerdings lediglich als inner-prädikativerSubjektbegriff, so demonstriert Franziskus in „Quodl. 3“ schließlichzweierlei: (i) nicht mehr der Begriff des ‚Seienden‘ ist in erstheitli-

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cher Weise geeignet, jede (real existierende) Sache in der Wirklich-keit zu bezeichnen, sondern muß dem Begriff des ‚Dinges‘ einerseits,dem Begriff des ‚Etwas‘ andererseits weichen; (ii) die intentio entis, wennsie nicht mehr im thomasischen Sinne als Erstbegriff verstanden wird,läßt sich sehr wohl an der Subjektstelle des Satzes positionieren, diese‚Möglichkeit‘ destruiert ihren ursprünglichen Prioritätscharakter jedochvollends (denn sie gilt gleichermaßen für die Prädikat- und Kopula-stelle).

6.1. Der Begriff des ‚Seienden‘ in seiner Anwendbarkeit auf die Struktur derAussage

Anhand des Modells der Satzstruktur wird noch einmal der—nun vorallem wissenschaftstheoretisch bedingte—Grund dafür deutlich, inwie-fern der Seinsbegriff durch eine zu große konzeptionelle Unbestimmt-heit gekennzeichnet ist und sich nicht auf die Position einer Erstheitkonzentrieren läßt (womit ihm ein nachgeordneter Status zuzusprechenist). Gerade mit Blick auf die Struktur einer Aussage kann ‚Seiendes‘auf dreifache Weise positioniert und zugeordnet werden:

(i) ‚Seiendes‘ (ens) vermag den jeweiligen Seinsakt (actus essendi) deszugrundeliegend Ausgesagten zu bezeichnen, womit es mit Blickauf die satzlogische Struktur das ‚secundum adiacens‘ bedeutet (alsodas an zweiter Stelle neben dem subiectum, d.h. im Satz an derPrädikatposition Stehende).92

(ii) Daneben kann ‚Seiendes‘ aufgefaßt werden, wie es den Akt derZusammensetzung (actus compositionis) von Subjekt und Prädikatausdrückt, und so ist es das tertium adiacens, d.h. das an drit-ter Stelle neben Subjekt und Prädikat Stehende. Innerhalb derSatzstruktur ist ens in dieser Hinsicht an der urteilsbegründendenKopula-Stelle zu positionieren.93

92 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 78: „Sciendumquod ens potest accipi tripliciter: uno modo, secundum quod dicit actum essendi, et sicest secundum adiacens (…)“.

93 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 78: „(…) 2°modo, potest accipi ens ut dicit actum conposicionis predicati cum subiecto, et sicest 3m adiacens, de quo loquitur Peryarmeneias; neque si ipsum est animal, ens purum,duplex ens, ‚ipsum quidem nichil est; consignificat autem quandam conposicionem,quam sine extremis non est intelligere‘, et sic ens est iudicium, secundum Philosophumet Commentatorem, 7 Metaphysice (…)“.

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(iii) Schließlich läßt sich ‚Seiendes‘ aber auch gemäß seiner selbstbetrachten (‚secundum se ipsum‘), d.h. schlechthin und absolut, wiees weder den actus essendi noch den actus compositionis ausdrückt,sondern so, wie es die Seiendheit jeglichen Dinges schlechthin,also die zugrundeliegende Sache bezeichnet—Franziskus verweisthier auf Aristoteles’ Bestimmung des „ens secundum quod ens“.94 DerBegriff des ‚Seienden‘ in dieser grundlegenden Weise aufgefaßt istsomit auf die Subjektstelle eines Satzes zu beziehen.

Der Begriff des ‚Seienden‘ erweist sich damit—je nachdem, gemäß wel-cher ‚Bezeichnungs-Funktion‘ innerhalb einer Aussage er verstandenwird—als an allen drei Positionen des Satzes möglich:

Franziskus’ Ausführungen beziehen sich jedoch nicht ausschließlich aufdas Modell des Satzes selbst, sondern verweisen ausdrücklich auf einewissenschaftstheoretische Ebene, indem Wissenschaft (scientia) im Sinneeines wissenschaftlich gewußten (Schluß-)Satzes aufzufassen ist. Demzufolgeentspricht dem an den jeweiligen Positionen des Satzes Stehenden auchjeweils eine besondere Bedeutung innerhalb einer Wissenschaft:95

(i) Wird der Begriff des ‚Seienden‘ auf die erste Weise aufgefaßt,wie es den actus essendi ausdrückt und damit der Prädikatstellezugeordnet ist, so kommt ihm die Funktion einer beweisbarenEigenschaft (passio demonstrabilis) zu, womit es zugleich die notwen-dige Bestimmung des Subjekts bildet, da dieses somit als Träger

94 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 78: „(…) 3°modo, potest accipi ipsum ens secundum se, simpliciter et absolute, non ut dicit actumessendi nec ut dicit actum conposicionis predicati cum subiecto, set ut dicit entitatemcuiuslibet rei, quomodo Philosophus accipit ens 4° Metaphysice, in principio, quod ‚estquedam sciencia que speculatur ens secundum quod ens et que huic insunt secundumse‘“.

95 Dieser Verbindung liegt offenkundig die aristotelische Wissenschaftsauffassungzugrunde, wie sie sich innerhalb der „Zweiten Analytiken“ findet; vgl. etwa AnalyticaPosteriora I, 7, 75a39–b1; I, 10, 76b11–16.

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einer ‚Wesensform‘, und nicht etwa in seiner aktualen Singularitätgekennzeichnet wird.96

(ii) Eben so, wie sich ‚ens‘ auf die zweite Weise, an der Kopula-Stelle des Satzes findet und (wie bereits erwähnt) den Akt derZusammensetzung von S und P ausdrückt, fungiert es als ‚Schluß‘,als Prinzip oder Conclusio im Sinne des ‚Urteilsmoments‘ einerWissenschaft.97

(iii) ‚Seiendes‘, wie es auf dritte Weise bestimmt wurde und damit anerster, also an der Subjektstelle des Satzes positioniert ist, korre-liert schließlich dem eigentümlichen Gegenstand, dem ‚subiectum‘einer Wissenschaft.98

Der Begriff des ‚Seienden‘ kann somit auch auf dreifache Weise hin-sichtlich seiner Funktion innerhalb einer Wissenschaft aufgefaßt wer-den: als passio demonstrabilis, als conclusio oder als subiectum scientiae:

6.2. ‚Ding‘ und ‚Etwas‘ als erstheitliche Subjekt- und Prädikatbegriffe

Während somit der Begriff des ‚Seienden‘ (ens) an allen drei Stellendes Satzes stehen und damit auch allen drei Positionen innerhalb einerWissenschaft zugeordnet werden kann, entsprechen die Begriffe des‚Dinges‘ (res) und des ‚Etwas‘ (aliquid) jeweils ausschließlich einer Posi-tion. Der ursprünglich als Erstbegriff geltende Begriff des ‚Seienden‘ istdemzufolge immer noch rückführbar auf die beiden grundlegenderen

96 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 79: „Si igituraccipiatur primo modo, ut dicit actum essendi, sic ens est passio demonstrabilis (…)“.

97 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 79: „(…) siautem 2° modo, prout dicit actum conposicionis, sic non est passio, set principium eteciam conclusio sciencie“.

98 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 79: „(…) siautem accipiatur 3° modo, sic est subiectum sciencie“.

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(und damit früheren) Begriffe des ‚Dinges‘ und des ‚Etwas‘, die jeweilsausschließlich an der Subjekt- bzw. der Prädikatstelle auftauchen können(indem die intentio rei nämlich per se und zuerst aliquid ist). Grundlegenddafür ist, daß sich die beiden von Franziskus eingeführten Erstheiteneinerseits auf die Subjektstelle beziehen (prioritas materialis) und ande-rerseits auf die Prädikatstelle (prioritas formalis). Der formal erste undabstrakteste Begriff ‚aliquid‘ ist demzufolge die ‚unhintergehbare‘ Mög-lichkeit, das anhypotheton zur Bestimmung der Eigenschaft (passio) einerSache auf der Position des ‚bezeichnenden‘ Prädikats, wohingegen dermaterialiter erste Begriff ‚res‘ an Subjektstelle steht, indem er in erstheit-licher Weise die zugrundeliegende ‚Sache‘ selbst benennt. ‚Ding‘ (res)und ‚Etwas‘ (aliquid) sind damit zugleich diejenigen Begriffe, die sichvor allem durch ihre ‚Exklusivität‘ auszeichnen, lediglich (und damiterstheitlich!) eine Funktion innerhalb einer Wissenschaft zu erfüllen.Alle anderen Begriffe—allen voran der Begriff des ‚Seienden‘—könnendagegen (nachgeordnet, da ‚unterbestimmt‘) an allen ‚Stellen‘ vorkom-men.

Exkurs

Neben diesen satztheoretisch fundierten Bemerkungen zur substrakti-ven und abstraktiven Primatstellung des Begriffs des ‚Dinges‘ bzw. des‚Etwas‘ sei hier noch kurz auf eine Beobachtung hingewiesen, aus deran dieser Stelle zwar nicht die Formulierung einer konkreten ‚Hypo-these‘, doch aber die Betonung einer ‚terminologischen Besonderheit‘erwachsen mag, deren Erwähnung geeignet scheint, einen weiterenBaustein für die Diskussion um die begriffsgeschichtliche Entwicklungdes Begriffs der ‚intentio‘ zu liefern.99 Die Schwierigkeit einer genaue-ren Bestimmung dieses Terminus scheint vor allem in seiner Vielge-staltigkeit und Mehrdeutigkeit zu liegen, da er neben einem vornehm-lich voluntativ-gerichteten sowohl einen epistemologisch-begrifflichenals auch einen realontologischen Sinngehalt zu umfassen vermag.

99 Vgl. hierzu etwa P. Engelhardt, Art. „Intentio“, in: Historisches Wörterbuch derPhilosophie 4 (1976), Sp. 466–474, D. Perler, Theorien der Intentionalität im Mittelalter(Philosophische Abhandlungen 82), Frankfurt a.M. 2002, H. Spiegelberg, Intention undIntentionalität in der Scholastik, bei Brentano und Husserl, in: Studia Philosophica 29 (1969), S.189–216, oder C. Knudsen, Intentions and Impositions, in: N. Kretzmann u.a. (Hg.), TheCambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, S. 479–495.

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Deutlich wird dies vor allem in der Konzeption des Johannes DunsScotus (und nur hierauf sei als Ausgangspunkt für die lebhaften Debat-ten um eine adäquate Definition und Klassifikation von ‚intentiones‘am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts verwiesen).100

Scotus ist es, der dem Begriff ‚intentio‘ letztlich vier unterschiedlicheBedeutungen zuschreibt:101 (i) im Kontext der Ethik und im Bereichder Handlungstheorie bezieht sich ‚intentio‘ auf Willensakte, die sichauf etwas richten bzw. etwas ‚intendieren‘; (ii) in metaphysischer Hin-sicht ist ‚intentio‘ synonym mit ‚ratio‘ (auch ‚essentia‘) gebräuchlich undmeint die definitorisch aufgewiesene Natur eines Dinges; (iii) innerhalbder Sprachphilosophie wird ‚intentio‘ ebenso wie ‚conceptus‘ verwen-det, um den mentalen Gehalt eines gesprochenen Wortes zu bezeich-nen; (iv) im Rahmen der Philosophie des Geistes findet sich ‚intentio‘zum Ausdruck der Gerichtetheit intellektiver Akte.102

Mit Blick auf die 3. Quaestio von Franziskus’ „Quodlibet“ verlangtnun insbesondere die dritte der oben genannten Bestimmungen von‚intentio‘ unsere Aufmerksamkeit: „…tertio modo dicitur conceptus“. Esscheint eine Konvertibilität hinsichtlich der Begriffe ‚intentio‘ und ‚concep-tus‘ vorzuliegen, wenn es um die Bezeichnung desjenigen geht, welches„in anima“ existiert.103 Franziskus von Marchia hebt diese synonymeVerwendung in „Quodl. 3“ auf und nimmt eine augenfällige Spezifi-zierung vor. So grenzt er im Zuge der Differenzierung der anhand derzwei Erstheiten herausgeformten Erstbegriffe des ‚Dinges‘ (res) und des‚Etwas‘ (aliquid), wie wir sie vorangehend in ausführlicher Weise nach-

100 Vgl. zur diesbezüglichen Debatte zwischen Petrus Aureoli und Hervaeus Nata-lis D. Perler, Peter Aureol vs. Hervaeus Natalis on Intentionality. A text edition with introduc-tory remarks, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 61 (1994), S.227–262, und R. Friedman, Peter Auriol on Intentions and Essential Predication, in: S. Ebbe-sen/R.L. Friedman (Hgg.), Medieval Analyses in Language and Cognition, Kopenha-gen 1999, S. 415–430.

101 Vgl. hierzu D. Perler, Peter Aureol vs. Hervaeus Natalis on Intentionality. A text editionwith introductory remarks, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 61(1994), S. 227–262, S. 228.

102 Johannes Duns Scotus, Rep. Par. II, dist. 13, q. 1, ed. L. Wadding, Paris 1894,Bd. 23, S. 44: „…hoc nomen intentio aequivocum uno modo dicitur actus voluntatis;secundo, ratio formalis in re, sicut intentio rei, a qua accipitur genus, differt ab inten-tione, a qua accipitur differentia; tertio modo dicitur conceptus; quarto, ratio tendendiin obiectum…“.

103 Vgl. auch Wilhelm von Ockham, Summa logicae I, 12: „Illud autem existens inanima, quod est signum rei, (…) aliquando vocatur intentio animae, aliquando concep-tus animae (…)“.

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vollzogen haben, auch die beiden lateinischen Termini zur Bezeich-nung des ‚Begriffes‘ voneinander ab: wird die materiale Priorität, dersubstraktive Erstbegriff, kurz: dasjenige an Subjektstelle thematisiert(Art. 1), so findet sich durchgängig die Verwendung von ‚intentio‘ zusam-men mit der konkreten Form des jeweiligen Begriffs (intentio rei, intentioentis usw.). Geht es hingegen um die formale Priorität, den abstrakti-ven Erstbegriff, kurz: das primum obiectum intellectus (Art. 2), so setzt Fran-ziskus ‚conceptus‘ mit der abstrakten Form des jeweiligen Begriffs (conceptusaliquitatis, conceptus entitatis usw.). Es scheint somit, als beabsichtige Fran-ziskus, der Mehrdeutigkeit und Indifferenz des intentio-Begriffs durchdie Gegenüberstellung mit dem conceptus-Begriff zu begegnen, und diesgerade auf der systematischen Grundlage des Modells der Satzstruk-tur und der neu eingeführten Erstheiten. Der Begriff der ‚intentio‘ ließesich in diesem Sinne auf die Sachseite, derjenige des ‚conceptus‘ auf dieprädikative Seite hin fokussieren.Aus den vorangegangenen Darlegungen insgesamt ergibt sich dies-

bezüglich plausibel, daß der res-Begriff lediglich als intentio rei, der ali-quid-Begriff allein als conceptus aliquitatis Anwendung findet. Alle späte-ren, nicht exklusiv auf eine Satzstelle bezogenen Begriffe sind dagegenauf beide Weisen verwendbar (d.h. für den Begriff des ‚Seienden‘ bei-spielsweise findet sich im Rahmen der Diskussion des materialen Erst-begriffs der Ausdruck der ‚intentio entis‘, hinsichtlich seiner Infragestel-lung als formaler Erstbegriff aber ‚conceptus entitatis‘).

Beziehen wir die wissenschaftstheoretischen Implikationen des Satzmo-dells, wie sie sich im Rahmen der 3. Quaestio des „Quodlibet“ deutlichexponiert finden, konkret auf die Frage nach dem subiectum metaphysi-cae, so werden Franziskus’ Erörterungen zu Beginn seines „Metaphysik-Kommentars“ gerade aus den hier erörterten Voraussetzungennoch einmal deutlich sichtbar. Das erstheitlich an der Subjektstelle Posi-tionierte ist zugleich subiectum der ‚ersten Wissenschaft‘ überhaupt, derMetaphysik, während das primär an Prädikatstelle Stehende im Sinne

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der obersten ‚passio‘ das primum obiectum intellectus, d.h. den allererstenGegenstand des menschlichen Intellekts bilden muß. Die innerhalb des„Metaphysik-Kommentars“ nicht näher begründete, extreme Positio-nierung von res und aliquid scheint nun durch den Bezug auf das Modellder Satzstruktur weit deutlicher in ihrer Ausschließlichkeit mit Blick aufdie Subjektfrage der Metaphysik erklärbar.Aber welches Problem vermag Franziskus von Marchia nun mit

seinem Modell, das sich wesenhaft in einer ‚Neubezeichnung‘ und‚Neubestimmung‘ des eigentümlichen Gegenstandes der Metaphysik zumanifestieren scheint, zu lösen? Offenkundig besteht Franziskus’ vor-rangiges Interesse darin, eine ‚Unterbestimmtheit‘ innerhalb der Kon-zeptionen vorangehender Denker zu konkretisieren und erstmals expli-zit zu benennen, die darin besteht, daß mit der Verwendung von ‚ens‘zur Bezeichnung des subiectum metaphysicae immer zugleich das primumobiectum intellectus (im Sinne der Transzendentalien mit der Vorrangstel-lung des Begriffs des ‚Seienden‘) mit eingeschlossen, mehr noch: mitdem Subjekt der Ersten Philosophie identifiziert wurde. Franziskus scheintdiese Identifizierung deutlich als zu spezifizierende Ungenauigkeit auf-zufassen. Durch die Einführung des ‚res‘-Begriffs, der ausschließlich undals einzig ‚erster‘ Begriff als subiectum fungieren kann, und der vollkom-men dissoziiert ist vom conceptus aliquitatis, der sich nur an der Prädi-katstelle findet und dabei auf die Funktion der passio demonstrabilis ver-weist, und mit dem Franziskus schließlich das primum obiectum intellectusin einem letztgültigen Sinne identifiziert,104 wird der primäre Gegen-stand des Verstandes systematisch und funktional vom subiectum meta-physicae getrennt. Den ‚formalen‘ Beweis für die ausdrückliche Tren-nung von subiectum und obiectum mit Blick auf die Metaphysik liefertdabei eben der Bezug auf das Modell der Satzstruktur; denn da ens imGegensatz zu res und aliquid an allen drei Positionen des Satzes auftau-chen kann, umfaßt es jeweils immer noch ‚zweierlei‘ mit, nämlich dasauf die beiden jeweils anderen Satzstellen Bezogene, und ist somit zu‚unspezifisch‘, um—in welcher ‚erstheitlichen‘ Hinsicht auch immer—prima intentio rei zu sein. Vor allem ist das ‚Seiende‘ damit aber auchzu unspezifisch zur Bezeichnung des Metaphysik-Subjekts, da es immernoch das primum obiectum intellectus mitbezeichnet. Weshalb Franziskusvon Marchia aber überhaupt eine solche Trennung des Gegenstan-

104 Vgl. hierzu erneut Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 2, 3, ed. Mariani, S.100: „(…) et iste [conceptus aliquitatis] est primum obiectum intellectus, et non ens, nequeunum nec bonum“.

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des der Metaphysik vom Verstandesersten forciert, wird erst anhandeiner Betrachtung seiner spezifischen Metaphysikkonzeption deutlichwerden, wie sie sich in der Spaltung in Allgemeine und BesondereMetaphysik manifestiert.An dieser Stelle schließt sich nun jedoch zunächst einmal der in

diesem Kapitel eröffnete Problemkreis, der mit der auf den erstenBlick unklaren Zuordnung der einzelnen Transzendentalbegriffe zumsubiectum metaphysicae begann, denn es wird deutlich, daß das grund-legende Modell der Satzstruktur, auf das Franziskus seine Erklärungder beiden Erstbegriffe bezieht, gerade diese wissenschaftstheoretischeEbene näher zu bestimmen sucht. Mit der Ersetzung des traditionellzur Bezeichnung des Metaphysik-Subjekts verwendeten Seinsbegriffsdurch den ‚res‘-Begriff—so ließe sich zusammenfassend bestimmen—kann Franziskus die im bislang ‚undifferenzierten‘ Seinsbegriff implizitimmer mitbezeichnete Dreiheit, subiectum, conclusio oder passio demons-trabilis in einer Wissenschaft zu sein, auf die tatsächliche Funktion,nämlich Subjekt der Metaphysik zu sein, reduzieren und erreicht mitseinem Modell damit den höchstmöglichen Grad an Allgemeingültig-keit.105

Was nun die ‚Aufspaltung‘ des proprium subiectum metaphysicae unddes primum obiectum intellectus, wie sie anhand des Satzmodells augen-scheinlich und in den Ausführungen des „Metaphysik-Kommentars“vor allem anhand der Ausgrenzung des ‚aliquid‘ aus dem Gegenstands-bereich der Metaphysik deutlich wird, für den Status dieser Wissen-schaft, aber auch für unsere Zugriffs-Möglichkeiten auf ihren Gegen-stand bedeutet, soll im folgenden Kapitel näher erläutert werden.Als inhaltlicher und struktureller Gehalt der 3. Quaestio von Franzis-

kus’ „Quodlibet“ ist das Vorangegangene am Ende dieses ersten Kapi-tels zunächst jedoch noch einmal folgendermaßen schematisch zusam-menzufassen:

105 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 3, a. 1, 1, ed. Mariani, S. 78 f.: „Certumest quod ens secundum quod ens subiectum in methaphysica: non dicit actum essendi,quia accidit subiecto alicuius sciencie quod sit in effectu; nec accipit ibi ens ut dicitactum conposicionis quia, ut sic, non est subiectum sciencie, set magis principium uelconclusio“.

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Deutlich wird anhand der Darstellung dieses Schemas, daß weder dieAusführungen innerhalb der „Quaestiones in metaphysicam“ noch die-jenigen der 3. Quaestio des „Quodlibet“ für sich betrachtet ein jeweilsadäquates Verständnis von Franziskus’ spezifischer Transzendentalien-Konzeption oder seines Metaphysik-Entwurfs zu leisten vermögen. Erstdurch den wechselseitig gerichteten Blick und eine ‚Zusammenschau‘beider Quellen wird annähernd erkennbar, inwiefern sich die ‚Zersplit-terung‘ des proprium subiectum metaphysicae, wie sie zu Beginn des „Meta-physik-Kommentars“ deutlich wird, ursprünglich in der Neuordnungder mittelalterlichen Transzendentalbegriffe begründet findet, derenStrukturprinzipien ausführlich in der 3. Quodl.-Quaestio erläuert wer-den. Auf der anderen Seite scheint allererst die auf die Frage nachdem eigentümlichen und primären Gegenstand der Metaphysik aus-gerichtete Perspektive die von Franziskus eingeführte Sonderstellungdes res- und des aliquid-Begriffs gegenüber dem ens-Begriff sowohl inihrem epistemologischen Gehalt als auch in ihrem ‚wissenschaftstheo-

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retischen Anwendungspotential‘ angemessen erfaßbar und bestimmbarzu machen.Als grundlegend verbindendes Element fungiert dabei offensicht-

lich das Modell der Satzstruktur: ihr können einerseits alle innerhalbder Neuordnung der Transzendentalbegriffe maßgeblichen Prinzipien(etwa die materiale und die formale Priorität) und vor allem die neuplatzierten Begriffe (res, ens und aliquid) zugeordnet werden; andererseitsbildet gerade das Satzmodell die Elementarstruktur jeglicher Wissen-schaft—jedes wissenschaftlich gewußten Schlußsatzes im strengen Sin-ne—und insbesondere der Metaphysik, und somit den direkten innerenZusammenhang beider Felder.Allerdings—und dies scheint gerade auch ein wichtiger Befund mit

Blick auf eine solche Gesamtkonzeption—wird neben den offenkundi-gen Übereinstimmungen und kohärenten Verbindungslinien zwischender Lehre von den ersten Begriffen und der Konzeption der Metaphy-sik gerade anhand dieses Schemas zugleich auch ein zunächst schein-bar unerklärlicher ‚Bruch‘ in Franziskus’ Entwurf augenfällig: In der3. Quaestio des „Quodlibet“ werden die Transzendentalbegriffe unum,verum, bonum, in vorrangiger Weise res, ens und aliquid— wie wir imVorangegangenen deutlich nachgezeichnet haben—als sog. ‚intentionesneutrae‘ klassifiziert, da Franziskus ihnen die Funktion zuschreibt, alsErstbegriffe (im Sinne der später ‚supertranszendental‘ genannten Bestim-mungen) sogar die Distinktion von Begriffen erster und zweiter Inten-tion noch zu übersteigen und sich somit gleichermaßen auf reales alsauch auf gedankliches Seiendes zu beziehen. Wenn nun andererseits,wie deutlich geworden ist, in einem strengen Sinne allein dem Begriffdes ‚Dinges‘ (intentio rei) die Position des primum subiectum metaphysicaezukommt, indem dieses erstheitlich an der Subjektstelle des Satzes plat-ziert ist, müßte folglich doch angenommen werden, daß somit auchdie Metaphysik aufgrund ihres eigentümlichen Gegenstandes als Wis-senschaft zu betrachten ist, welche die Dichotomie von Realseiendemund gedanklichem Seienden übersteigt. Blicken wir daraufhin aber indie Ausführungen des „Metaphysik-Kommentars“, so wird sehr schnelldeutlich, daß der res-Begriff im Sinne des Metaphysik-Subjekts hierkonzeptionell grundlegend anders bestimmt wird, nämlich als lediglichden Dingen erster Intention gemeinsam („simpliciter communis ad rem pri-mae intentionis“).106

106 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann,

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Wie läßt sich diese widersprüchliche Bestimmung erklären? Aus wel-chem Grund wird die ‚intentio rei‘ im Kontext der inhaltlichen Neube-stimmung der transzendentalen Begriffe, wie sie sich in „Quodl. 3“ als‚intentiones neutrae‘ manifestieren, wie alle anderen dieser intentiones als‚neutra‘ (gleichsam ‚super‘-transzendental) präsentiert, während sie im Rah-men der Frage nach dem proprium subiectum metaphysicae innerhalb des„Metaphysik-Kommentars“ hinsichtlich ihres intentionalen Geltungs-bereiches auf ihre Kommunität allein bezüglich der ersten Intentionen‚reduziert‘ wird? In welchem Zusammenhang steht diese Beobachtungmit der nun näher zu betrachtenden Unterscheidung von Allgemeinerund Besonderer Metaphysik?

S. 89: „Secundum hoc dico, quod subiectum metaphysicae communis primum est ressecundum quod res (…) est res simpliciter communis ad rem primae intentionis“.

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kapitel ii

DAS ERSTE MODELL EINER AUFSPALTUNG DERMETAPHYSIK: DER ENTWURF EINER METAPHYSICA

GENERALIS UND EINER METAPHYSICA SPECIALIS

Einige Quaestionen erweisen den Verfasser alsrecht originellen Denker.1

Die zentrale Frage, die es innerhalb dieses Kapitels zu klären gilt, istdie nach der wesenhaften Gestalt der Metaphysik, wie sie ihr erst-mals in Franziskus’ „Metaphysik-Kommentar“ zugesprochen wird. Wirgehen dabei zunächst davon aus, die Metaphysik weiterhin im Sinneeiner ‚scientia transcendens‘ zu klassifizieren, was allerdings aufgrund dervorangegangenen Darlegungen bereits in einem gegenüber früherenEntwürfen deutlich spezifizierten Sinne erfolgen muß. So ist bereitsim I. Kapitel mit Blick auf einige Texte aus dem „Quodlibet“ undden „Quaestiones in metaphysicam“ deutlich geworden, inwiefern hierletztlich nicht mehr der Begriff des ens inquantum ens, sondern alleinder Begriff des ‚Dinges‘, die intentio rei, als proprium subiectum metaphysi-cae zu betrachten ist, während der Begriff des ‚aliquid‘ als selbst eigen-schaftsloser Begriff außerhalb des Gegenstandsbereichs der Metaphysikfällt. Doch es finden sich innerhalb der Gesamtkonzeption der ErstenPhilosophie bei Franziskus von Marchia nicht nur diese Modifikationen,wie sie insbesondere die Frage nach dem Metaphysik-Subjekt in seiner‚ontologischen‘, d.h. dem IV. Buch der aristotelischen „Metaphysik“entsprechenden Option betreffen. Neben der mit der ‚Zersplitterung‘bzw. Neustrukturierung der Gruppe der transzendentalen bzw. ‚neutralen‘Erstbegriffe einhergehenden Dissoziation von primum subiectum metaphy-sicae (‚res‘) und primum obiectum intellectus (‚aliquid‘), wie sie am Endedes vorangegangenen Kapitels aufgezeigt worden ist, wird noch einezweite Dissoziation offenkundig. Und diese scheint die Bestimmung derMetaphysik auf einer weiteren und noch grundlegenderen Ebene zu

1 A. Zimmermann, Analoge und univoke Bedeutung des Terminus ‚ens‘ nach einem anonymenMetaphysikkommentar des 14. Jahrhunderts, in: Deus et homo ad mentem I. Duns Scoti. Actatertii Congressus Scotistici, Rom 1972 (Studia Scholastico-Scotistica 5), S. 724.

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90 kapitel ii

betreffen, indem sie sich auf das grundsätzliche Problem der scheinbarwidersprüchlichen Zuschreibungen des subiectum metaphysicae im IV. undVI. Buch der aristotelischen „Metaphysik“ bezieht. Welchen Entwurfpräsentiert Franziskus von Marchia zur Lösung dieses ‚Dilemmas‘?Wir haben bereits im Rahmen der Einleitung der vorliegenden Un-

tersuchung angedeutet, inwiefern sich bei Franziskus zum ersten Malausdrücklich das Modell einer Aufspaltung der Metaphysik in zweivoneinander getrennte ‚Metaphysiken‘, eine metaphysica communis undeine metaphysica particularis, findet, innerhalb derer beide von Aristotelesangeführten Gegenstandsbestimmungen ihren je eigentümlichen Ortzugewiesen bekommen. Franziskus scheint damit die über Jahrhun-derte hinweg sichtbaren Bemühungen um die Konzeption einer (einemeinheitlichen aristotelischen Entwurf entsprechenden) Metaphysik endgül-tig zu durchbrechen und obsolet zu machen. Auf welche argumentativeund konzeptionelle Grundlage stützt er sich dabei?Wir müssen zur Klärung dieser Frage insbesondere zwei Werke kon-

sultieren: einerseits den bereits zuvor in den Blick genommenen Kom-mentar zur aristotelischen „Metaphysik“ und andererseits Franziskus’„Sentenzen-Kommentar“. Neben den bereits erwähnten grundlegen-den Arbeiten von A. Zimmermann, der sich allerdings ausschließlichauf die „Quaestiones in metaphysicam“ bezieht, ist einzig die neuereStudie von W. Goris zur strukturellen Entwicklung der Metaphysikge-schichte zu nennen, in der auch Franziskus’ „Sentenzen-Kommentar“Erwähnung findet.2 Hinsichtlich des inhaltlichen und strukturellen Zu-sammenhangs dieser beiden Werke, der innerhalb der Forschung bis-her—auch in anderen thematischen Kontexten—noch relativ unklargeblieben ist, haben wir im Vorangegangenen—gerade auch mit Blickauf die Funktion des „Quodlibet“—bereits einige wesentliche Beobach-tungen zum Verhältnis der ersten Verstandesbegriffe und des propriumsubiectum metaphysicae festgehalten.3 Im folgenden soll nun der Versuchunternommen werden, auch für das weiter gefaßte Theorem einer All-gemeinen und einer Besonderen Metaphysik bzw. hinsichtlich der offenkun-

2 Vgl. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand derMetaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, Leuven 1998 (Recherches deThéologie et Philosophie médiévales, Bibliotheca 1), und W. Goris, The Scattered Field.History of Metaphysics in the Postmetaphysical Era, Louvain 2004.

3 Solche Versuche, die inhaltlichen Relationsstrukturen dieser drei Werke in ihrenAbhängigkeiten und Motiven zu erhellen, könnten zugleich neue Hinweise für einenähere Bestimmung der (noch unklaren oder zumindest ungesicherten) Chronologieder Schriften liefern.

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 91

digen Dissoziation von ‚ontologischer‘ und ‚theologischer‘ Metaphysikdie grundlegenden Verbindungslinien und argumentativen Zusammen-hänge innerhalb der „Quaestiones in metaphysicam“ und des „Senten-zen-Kommentars“ aufzuzeigen. Zunächst sei der eigentlichen Unter-suchung eine kurze Übersicht derjenigen Quästionen innerhalb die-ser beiden Schriften vorangestellt, die für Franziskus’ Entwurf einerTeilung der Metaphysik vorrangig relevant scheinen und daher in dieÜberlegungen mit einbezogen werden sollen.4

Die „Quaestiones in metaphysicam“, Franziskus’ Kommentar zuden ersten sieben Büchern der „Metaphysik“ des Aristoteles, mußtenin der philosophischen Forschung eine lange Entwicklung wechselvol-ler Zuschreibungen durchlaufen.5 Als Verfasser wurden zunächst Bern-hard von Trilia,6 später Petrus Thomae und Franziskus von Mayro-nis7 angenommen, bevor schließlich Franziskus von Marchia endgül-tig die Autorschaft zuerkannt werden konnte.8 Wenngleich dabei dieBedeutung des inhaltlichen Gehalts dieser Schrift—unabhängig von

4 Für beide Werke existieren vollständige Verzeichnisse der einzelnen Quästionen.Für den „Metaphysik-Kommentar“ vgl. die Auflistung bei A. Zimmermann, Verzeichnisungedruckter Kommentare zur Metaphysik und Physik des Aristoteles aus der Zeit von etwa 1250–1350, Bd. 1, Leiden/Köln 1971 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelal-ters 9), S. 140–145, und bei P. Künzle, Mitteilungen aus Codex Mazarine 3490 zum Schrifttumdes Franziskaners Petrus Thomae, vorab zu seinen „Quaestiones in Metaphysicam“, in: Archivumfranciscanum historicum 59 (1966), S. 17–23; für den „Sentenzen-Kommentar“ findetsich eine umfassende und sehr ausführliche Darstellung bei R. L. Friedman/C. Scha-bel, Francis of Marchia’s Commentary on the Sentences: Question list and state of Research, in:Mediaeval Studies 63 (2001), S. 31–106.

5 Es existieren mehrere Handschriften, die Teile des „Metaphysik-Kommentars“enthalten, so die Mss. Florenz Bibl. Laur. Fesul. 161, ff. 63r-73r, und Bibl. VaticanaVat. lat. 3130, ff. 29r-36v, die nur die beiden ersten Bücher umfassen, und die Mss.Padua Bibl. Antoniana 173, ff. 53b-55c und Vat. lat. 4871, ff. 37a-b, in denen sich ledig-lich einzelne, ausgewählte Quästionen finden. Die Mss. Bologna, Biblioteca del Col-legio di Spagna 104, ff. 48ra-102vb, und Paris, Bibl. Mazarine 3490, 1ra-57rb umfassendie Bücher I–VII des „Metaphysik-Kommentars“ (vgl. A. Molinier, Catalogue des manus-crits de la Bibliothèque Mazarine, Bd. 3, Paris 1890, S. 105). Vgl. zur Entwicklung derErschließung der einzelnen Handschriften ausführlicher C.H. Lohr, New Material con-cerning Franciscus de Marchia, Quaestiones super metaphysicam, in: Antonianum 46 (1971), S.486–488.

6 Vgl. Quétif-Echard, Scriptores Ordinis Praedicatorum, Bd. 1, Paris 1719, S. 433 (col. 1),und später noch P. Glorieux, Un mémoire justificatif de Bernard de Trilia. Sa carrière àl’Université de Paris (1279–1287), in: Revue de sciences philosophiques et théologiques 17(1928), S. 405–426, bes. S. 405, nt. 3, und C.H. Lohr, Medieval Latin Aristotle Commentaries,Authors A–F, in: Traditio 23 (1967), S. 313–413, bes. S. 379.

7 Vgl. P. Künzle, Petrus Thomae oder Franciscus de Maironis?, in: Archivum francisca-num historicum 61 (1968), S. 462–463.

8 C.H. Lohr, New Material concerning Franciscus de Marchia, Quaestiones super metaphysi-

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92 kapitel ii

der Verfasserfrage—stets als fundamental für die Entwicklung der Me-taphysikgeschichte gewertet wurde, wurde doch nur wenig Handlungs-bedarf gesehen, den Text des zur Debatte stehenden Kommentarseiner breiteren Öffentlichkeit editorisch oder kommentierend zugäng-lich zu machen.Vor allem zwei Kerntexte innerhalb dieser „Quaestiones in meta-

physicam“ sind es, in denen Franziskus die klassischen Fragen mitBlick auf eine Wesensbestimmung der Metaphysik behandelt und derenUntersuchung für eine Erschließung seiner spezifischen Konzeptionsomit unumgänglich ist: einerseits die bereits bekannte Q. 1. des I. Bu-ches (Utrum res secundum quod res sit subiectum metaphysicae); daneben bietetaber gerade auch das VI. Buch (Q. 16: Utrum metaphysica sit de ente in com-muni vel sit de ente abstracto et separato secundum rem) eine entscheidendeFortführung des ersten Textes, insofern die dort geleisteten Überle-gungen, wie sie sich auf die für den Menschen mögliche Erkenntnis-ebene, d.h. den Bereich des faktischen Wissens (pro nobis) beziehen, nunauch für den Bereich eines idealen Wissens (in se), d.h. unabhängigvon Begrenztheiten des menschlichen Intellekts, in den Blick genom-men werden.9 Die für Franziskus’ Modell einer ‚Teilung‘ der Metaphy-sik wesentliche, fundamentale Neustrukturierung und Erweiterung dertraditionellen Einteilung und Ordnung der spekulativen Wissenschaf-ten zeigt sich in gerade diesen beiden Texten aus dem „Metaphysik-Kommentar“ (I, 1 und VI, 16) in besonders exponierter Weise ela-boriert. Hier tritt ein Wissenschaftsmodell zutage, wie es sich in die-ser Konsequenz bei keinem anderen Denker zuvor explizit ausgearbei-tet findet. Nicht zuletzt an diesem Punkt wird damit der Schritt, denFranziskus von Marchia über die Konzeption des Johannes Duns Sco-tus hinaus macht, besonders deutlich greifbar. Für die grundlegendenwissenschaftstheoretischen Fragen nach dem ordo scientiarum und dendamit verbundenen Überlegungen, in welcher Weise sich der spezifi-sche Zusammenhang und das besondere Verhältnis von Einheit undTrennung der Allgemeinen und der Besonderen Metaphysik gestalten, lie-fert neben den Ausführungen innerhalb des „Metaphysik-Kommentars“

cam, in: Antonianum 46 (1971), S. 486–488, bietet einen guten Überblick der Entwick-lung bezüglich der Diskussionen um die Verfasserfrage des „Metaphysik-Kommentars“.

9 A. Zimmermann hat beide Texte als Edition vorgelegt; vgl. A. Zimmermann,Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14.Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, Leuven 1998 (Recherches de Théologie et Philoso-phie médiévales, Bibliotheca 1), S. 84–100.

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 93

bereits das Prooemium entscheidende Einsichten.10 R. Friedman hat erst-mals eine Edition dieses bisher unveröffentlichten Vorworts angefertigt,auf die wir im folgenden noch näher eingehen werden.11 Auch in Fran-ziskus’ „Sentenzen-Kommentar“ sind es die dem eigentlichen Kom-mentar vorangestellten Prolog-Quästionen, die erst seit kurzem als Edi-tion vorliegen und die grundlegende wissenschaftstheoretische Erörte-rungen als Hintergund für die Ausarbeitung einer Teilung der Meta-physik enthalten. Es finden sich hier aber auch zahlreiche Fragen,die sich direkt auf das Theorem von Allgemeiner und Besonderer Meta-physik beziehen.12 Eine Durchsicht dieser Texte ergibt jedoch, daß sieinhaltlich größtenteils mit den Ausführungen im I. und VI. Buch der„Quaestiones in metaphysicam“ übereinstimmen, weshalb im folgen-den hauptsächlich eine Quaestio des Prologs zum „Sentenzen-Kommen-tar“ in den Blick rücken soll, die in besonderer Weise über die Ebenedes im „Metaphysik-Kommentar“ Dargelegten hinausführt. Es han-delt sich dabei um die zweite Quaestio (Utrum alia scientia ab ista sit dedeo tanquam de primo subiecto), die—wie sich im folgenden herausstel-len wird—weiterführend vor allem an das VI. Buch des „Metaphysik-Kommentars“ anschließt und in gewissem Sinne als eine Art ‚Kor-rektiv‘ der Darstellung innerhalb der „Quaestiones in metaphysicam“gelesen werden kann.13

10 Vgl. hierzu bereits A. Zimmermann, Allgemeine Metaphysik und Teilmetaphysik nacheinem anonymen Kommentar zur aristotelischen Ersten Philosophie aus dem 14. Jahrhundert, in:Archiv für Geschichte der Philosophie 48 (1966), S. 192–196.

11 Als Textgrundlage dienen Friedman die Mss. Paris, Bibl. Mazarine 3490, 1ra-57vb,und Bologna, Biblioteca del Collegio di Spagna 104, ff. 48ra-102vb. Eine ausführlicheBeschreibung von ms. Bologna findet sich bei F. del Punta u.a. (Hgg.), Aegidii RomaniOpera Omnia I. Catalogo dei Manoscritti (152–238j), Italia (Assisi–Venezia), Florenz 1998,S. 37–40, eine Beschreibung von ms. Bibl. Maz. bei P. Künzle, Mitteilungen aus CodexMazarine 3490 zum Schrifttum des Franziskaners Petrus Thomae, vorab zu seinen „Quaestionesin Metaphysicam“, in: Archivum franciscanum historicum 59 (1966), S. 4–8. FriedmansEdition des Prooemiums ist erschienen in den Documenti e Studi sulla Tradizione FilosoficaMedievale 16 (2005), S. 504–513.

12 Vgl. Francisci de Marchia sive de Esculo, Commentarius in IV libros Sententiarum Petri Lom-bardi. Quaestiones praeambulae et prologus, ed. N. Mariani, Grottaferrata 2003 (SpicilegiumBonaventurianum 31), z.B. q. 10, a. 3B.: „Duplex abstraccio: metaphysica communis etparticularis“ (S. 608 f.); q. 10, a. 4: „Metaphysica particularis est subalternata metaphy-sice communi“ (S. 610ff.).

13 Die Textgrundlage hierfür ist der Edition von N. Mariani im Appendix zu Fran-ziskus’ „Quodlibet“ entnommen (Francisci de Marchia sive de Esculo, OFM. Quodlibet cumquaestionibus selectis ex commentario in librum Sententiarum, ed. N. Mariani, Grottaferrata1997 [Spicilegium Bonaventurianum 29], S. 361–376). Sie findet sich jedoch auch inder neuerdings erschienenen, selbständigen Edition der Prolog-Quästionen (vgl. Fran-cisci de Marchia sive de Esculo, Commentarius in IV libros Sententiarum Petri Lombardi. Quaestiones

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94 kapitel ii

Blicken wir somit zunächst erneut auf Franziskus’ Kommentar zuraristotelischen „Metaphysik“, nicht zuletzt, um in direkter Anbindungan die im vorangegangenen Kapitel gewonnenen Ergebnisse die Be-stimmung der Metaphysik in ihrer ontologischen Ausprägung, genauer:als Wissenschaft von der ‚res secundum quod res‘, nun auf die Gesamtkon-zeption zweier Metaphysiken hin auszuweiten. Zentral steht im Hin-tergrund zudem die Frage, inwiefern sich der als subiectum fungierenderes-Begriff als Begriff erster Intention mit der in „Quodl. 3“ aufgewiese-nen Bestimmung der intentio rei als ‚intentio neutra‘ vereinbaren läßt.

1. Das ‚Dilemma‘ bei Aristoteles—Metaphysikals erste oder letzte Wissenschaft?

Im I. Kapitel der vorliegenden Untersuchung haben wir den Ausgangvon der auf den ersten Blick recht ungewöhnlich anmutenden Fra-ge genommen, mit der Franziskus von Marchia seine „Quaestionesin metaphysicam“ beginnt: „Ob ‚Ding‘, insofern es ‚Ding‘ ist, Gegen-stand der Metaphysik sei oder etwas anderes“.14 Auf den zweiten Blickaber, wie er vor allem aus einer näheren Betrachtung der 3. Quaestiodes „Quodlibet“ resultierte, schien diese Formulierung der Eingangs-frage bereits bei weitem nicht mehr so merkwürdig, da die Vorrangstel-lung des Begriffs des ‚Dinges‘ innerhalb der Gruppe transzendentalerBegriffe, insbesondere die Exklusivität des res-Begriffs mit Bezug auf dasprimum subiectum metaphysicae, aus dieser Perspektive deutlich zutage trat.Folgen wir nun jedoch dem Verlauf der 1. Quaestio des „Metaphysik-

Kommentars“, so wird erneut eine bemerkenswerte Beobachtung of-

praeambulae et prologus, ed. N. Mariani, Grottaferrata 2003 [Spicilegium Bonaventuria-num 31]). Allerdings nimmt Mariani hier eine Quästionen-Zählung vor, die nicht mitderjenigen im „Quodlibet“-Appendix übereinstimmt. C. Schabel und R. Friedman plä-dieren dafür, daß die für uns relevante und von Mariani im „Quodlibet“-Appendixals 2. Quaestio bezifferte Frage vielmehr als 12. Quästion zu zählen sei (vgl. C. Scha-bel/R.L. Friedman, Francis of Marchia’s Commentary on the Sentences: Question list and state ofResearch, in: Mediaeval Studies 63 (2001), S. 31–106, vor allem die Quästionen-Übersichtauf S. 61 und S. 73). Vgl. hierzu auch die wichtigen Überlegungen von R.L. Friedman,Principia and Prologue in Francesco d’Appignano’s Sentences Commentary: The Question „Quaeriturutrum ens simpliciter simplex possit esse subiectum alicuius scientiae“, in: D. Priori (Hg.), Atti del2° Convegno Internazionale su Francesco d’appignano (Appignano del Tronto 5–6 set-tembre 2003), Appignano del Tronto (Centro Studi Francesco d’Appignano) 2004, S.123–149.

14 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 84.

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 95

fenkundig. Es werden sogleich mehrere Argumente gegen die Annahmeangeführt, daß ‚Ding‘ (res) oder auch ‚Seiendes‘ (ens) als solches Gegen-stand der Metaphysik sei (und diese sind durchaus nicht als bloß for-male Argumente, sondern vielmehr als stichhaltige Einwände zu wer-ten, aus denen heraus Franziskus schließlich seine eigene Lösung herlei-tet und entwickelt).15 Als grundlegend erweist sich dabei vor allem derdritte Einwand:

„Je früher und edler der Gegenstand irgendeiner Wissenschaft für unsist, desto früher wird diese Wissenschaft in der Ordnung des Wissenssein, da unser Verstand vom uns Bekannteren zum Unbekannteren vor-anschreitet, gemäß dem ersten Buch der Physik. Seiendes und Ding sindaber früher und uns bekannter als alles ihnen Untergeordnete, gemäßdem, was Avicenna im neunten (fünften!) Kapitel des ersten Buches sei-ner Metaphysik sagt, daß Ding und Seiendes in einem ersten Eindruck inunserer Seele eingeprägt werden, und dem, was der Philosoph im erstenBuch der Physik sagt, daß das Allgemeinere für uns früher und bekann-ter ist. Also ist die Wissenschaft von Ding und Seiendem der Ordnungdes Wissens nach früher als alle Wissenschaften des ihnen Untergeordne-ten. Die Metaphysik ist aber die letzte oder die vorletzte [Wissenschaft],Avicenna im ersten Buch der Metaphysik und dem Philosophen im sechs-ten (vierten) Buch der Ethik zufolge. Also ist der erste Gegenstand derMetaphysik nicht Ding oder Seiendes.“16

Der Einwand geht zunächst von dem allgemeinen Grundsatz aus, daßsich die hierarchische Ordnung der Wissenschaften durch die Ordnungihrer jeweiligen Gegenstände mit Bezug auf den Grad ihrer Erkennbar-keit für uns, d.h. mit Bezug auf das menschliche Erkenntnisvermögen,bestimme. Je früher und vorzüglicher (prius et nobilius) das subiectum einerWissenschaft für unser Erkennen ist, desto früher und grundlegender istauch die diesen Gegenstand thematisierende Wissenschaft in der Ord-nung des Wissens bzw. der Wissenschaften (ordo scientiae/scientiarum), dader menschliche Intellekt immer vom für ihn Bekannteren zum Unbe-

15 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.84 f.

16 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 84 f.:„Item: Quanto subiectum alicuius scientiae est prius et nobilius quoad nos, tanto illascientia erit prior ordine doctrinae, cum intellectus noster procedat a notioribus nobisad ignotiora, I° Physicorum. Sed ens et res sunt priora et notiora nobis omnibus suisinferioribus, secundum Avicennam I° Metaphysicae, cap. 9° (recte: 5°), quod res et ensprima impressione imprimuntur in anima nostra, et secundum Philosophum I° Physi-corum, quod universaliora sunt nobis priora et notiora. Ergo scientia de re et de enteest prior ordine doctrinae omnibus scientiis suorum inferiorum. Metaphysica autem estultima vel paenultima secundum Avicennam I° Metaphysicae et Philosophum VI° (IV°)Ethicorum. Ergo primum obiectum metaphysicae non est res nec ens.“

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kannteren voranschreite. In Übereinstimmung mit der Lehre Avicen-nas und den Äußerungen des Aristoteles sind nun Franziskus zufolgegerade ‚Seiendes‘ bzw. ‚Ding‘ diejenigen (transzendentalen Erst-)Begrif-fe, die in einem ersten Eindruck in unserer Seele eingeprägt werdenund als das Allgemeinste für uns bekannter und somit früher sind alsalle anderen Begriffe. Diejenige Wissenschaft, die ‚Ding‘ oder ‚Seien-des‘ zu ihrem spezifischen Gegenstand hat, muß demzufolge in derOrdnung des Wissens früher sein als alle Wissenschaften, die vom weni-ger Allgemeinen (für unsere Erkenntnis ‚Späteren‘) handeln. Da Avi-cenna und Aristoteles jedoch zugleich lehren, die Metaphysik sei die‚letzte‘ Wissenschaft, so schließt der Einwand, könne das primum subiectumder Metaphysik wohl nicht ‚Ding‘ oder ‚Seiendes‘ sein. Auf der ande-ren Seite bestimme Aristoteles doch selbst in Met. Γ—und diese Stellewird von Franziskus als ‚Einwand‘ zu dem ‚Eingewandten‘ angeführt—,daß es eine Wissenschaft gebe, die das Seiende, insofern es Seiendesist (ens inquantum ens), und was ihm als solchem zukommt, betrachte.Die Metaphysik habe somit also sehr wohl ‚Seiendes‘ oder ‚Ding‘ zumGegenstand.17

Wie läßt sich diese bei Aristoteles selbst zu findende Unstimmigkeitlösen, daß die Begriffe ‚Ding‘ oder ‚Seiendes‘ als solches einerseits nichtGegenstand der Metaphysik sein können, wenn man zugrundeliegendannimmt, daß sie als Erste in der Ordnung der menschlichen Verstan-deserkenntnis zugleich Gegenstand der ersten Wissenschaft im Rah-men des ordo scientiae seien und Aristoteles die Metaphysik darin dochals die letzte Wissenschaft kennzeichnet, er andererseits selbst geradedas ‚ens inquantum ens‘ als subiectum metaphysicae bestimmt? Mag eine sol-che Exposition des Problems einer adäquaten Wesensbestimmung derMetaphysik auch einigermaßen konstruiert oder ‚didaktisch überdeut-lich‘ anmuten, so bilden diese vermeintlich widersprüchlichen Äuße-rungen des Aristoteles für Franziskus doch tatsächlich den Ausgangs-punkt und die Grundlage seines eigenen Lösungsversuchs. Denn umder dargestellten ‚Aporie‘ in der Bestimmung des Metaphysik-Gegen-standes, wie sie sich vor allem aus der Parallelität von Wissenschafts-und Erkenntnisordnung ergibt, entgehen zu können, führt Franziskus

17 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.85: „In oppositum est Philosophus in IV° dicens, quod quaedam est scientia, quaespeculatur ens inquantum ens et quae huic insunt secundum se. Sed quod inest entiratione alicuius inferioris, non ei inest secundum se. Ergo metaphysica habet prosubiecto ens vel rem.“

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 97

sogleich die entscheidende Differenzierung ein, daß die Metaphysik als‚zweifach‘ aufzufassen sei: im Sinne einer ‚Allgemeinen‘ und einer ‚Beson-deren Metaphysik‘.18 Als spezifischen Gegenstand, als primum subiectum dermetaphysica communis bestimmt er das ‚Ding schlechthin‘, insofern esDing ist (res secundum quod res) und allen Dingen erster Intention gemein-sam, als Gegenstand der metaphysica particularis das begrifflich und derSache nach von der Materie ‚abgetrennte Ding‘, d.h. im eigentlichenSinne das ‚Göttliche‘.19

Inwiefern der Umstand zu erklären ist, daß der ‚res‘-Begriff nunan dieser Stelle als proprium subiectum metaphysicae communis ausdrücklich(wieder) als ein Begriff ‚erster Intention‘ angeführt wird, und nicht alsintentio neutra communis, wie aus den Darlegungen von „Quodl. 3“ zuvermuten gewesen wäre, muß noch für einen Augenblick zugunstenweiterer Erläuterungen unberücksichtigt gelassen werden. Im Rahmender abschließenden Betrachtungen wird diese Frage jedoch gelöst undein grundlegender Erklärungsversuch unternommen werden.Fest steht bereits jedoch an dieser Stelle, daß sich für Franziskus mit-

tels der Unterteilung der Metaphysik in zwei voneinander getrennteWissenschaften und aufgrund der unterschiedlichen Gegenstandszu-ordnungen der vermeintliche Widerspruch, wie er innerhalb des drittenEinwandes geltend gemacht worden ist, auflöst. Denn die Metaphysikvermag somit beide (aristotelische) Forderungen zugleich zu erfüllen: die‚Allgemeine Metaphysik‘, die von Franziskus im Sinne der allgemeins-ten Seinswissenschaft bestimmt wird, da sie das ‚Ding‘ bzw. das ‚Sei-ende‘ als solches zum Gegenstand hat, bildet zwar tatsächlich die ersteWissenschaft vor allen anderen, die ‚Besondere Metaphysik‘ jedoch,die vom ‚abgetrennten, göttlichen Seienden‘ handelt, ist als ‚theolo-gische Wissenschaft‘ zugleich die letzte in der Ordnung aller Wissen-schaften, da sie vom für den Menschen Letzterkannten handelt.20 Beide

18 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann,S. 88: „Duplex est metaphysica, quaedam communis, et quaedam propria sive particu-laris“.

19 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann,S. 88: „Secundum hoc dico, quod subiectum metaphysicae communis primum estres secundum quod res (…) est res simpliciter communis ad rem primae intentionis.Subiectum vero metaphysicae particularis est res separata a materia secundum ratio-nem et secundum rem“. Auch hier muß die Verwendung des ‚res‘-Begriffs als Spezifi-zierung des ‚ens‘-Begriffs im bereits ausgeführten Sinne gelesen werden.

20 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.97: „Ad tertium, cum dicitur, quod tunc ista scientia esset prior ordine doctrinae omni-bus aliis scientiis, respondeo, (…) quod loquendo de metaphysica communi, conceditur

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98 kapitel ii

zunächst (vermeintlich) widersprüchlichen aristotelischen Gegenstands-bestimmungen der Metaphysik scheinen damit in Franziskus’ Modelleiner ‚Aufspaltung der Metaphysik‘ gleichermaßen Berücksichtigungzu finden und erweisen sich somit nicht länger als einander entgegen-gesetzt: Die Metaphysik ist wie gefordert die ‚letzte Wissenschaft‘ (alsmetaphysica particularis), ihr kann jedoch zugleich der Begriff des ‚Seien-den‘ bzw. (streng gesprochen) der des ‚Dinges‘ als solches als subiectumzugeschrieben werden, womit sie (als metaphysica communis) zugleich die‚erste aller Wissenschaften‘ bildet.Franziskus präsentiert mit dieser neuartigen Konzeption einer Auf-

spaltung der Metaphysik in zwei voneinander getrennte Wissenschaftenjedoch nicht nur eine eigenständige Lösung des scheinbaren Wider-spruchs, wie er sich in den gegensätzlichen Äußerungen des Aristo-teles finden mag, sondern er verweist zudem darauf, daß bei diesemselbst bereits seine eigene Lösung vorgeprägt und implizit angedeutetsei. Daß Franziskus seine Metaphysik-Konzeption somit im Sinne eineradäquaten und ursprünglichen Aristoteles-Exegese auszulegen beab-sichtigt, wird deutlich, wenn er sich im Anschluß an die Einführungdes neuartigen Theorems der zweifachen Metaphysik zur Bestätigungausdrücklich auf Aristoteles‘ eigene Aussage in Met. Γ, 2 bezieht:21 „Vonjedem der Gattung und Sinneswahrnehmung nach Einen aber gibt eseine Wissenschaft. Alles Seiende, insofern es Seiendes ist, betrachtetder Gattung nach eine Wissenschaft, die Arten aber betrachten die Wis-senschaften der Arten“.22 Für Franziskus ergibt sich aus dieser Äuße-rung ganz selbstverständlich die Schlußfolgerung: „Offensichtlich sagtAristoteles, daß es eine allgemeine und eine besondere Metaphysikgibt“23—eine Interpretation, wie sie wohl kaum ein anderer Denker vorFranziskus in dieser Weise vorgenommen hat. Denn stets wurde dieseStelle aus der aristotelischen „Metaphysik“ so gedeutet, daß hiermitdie Unterscheidung der Metaphysik (im Sinne einer allgemeinen Seins-

quod est prima omnium scientiarum particularium (…). Sed loquendo de metaphysicaparticulari, dico quod illa est ultima in ordine omnium.“

21 Vgl. Aristoteles, Met. Γ, 2, 1003b21–22.22 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 89:

„Patet per Philosophum IV° Metaphysicae, cap. 2°: „Omnia entia, inquantum entia,speculatur una scientia genere, species autem specierum““.

23 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 89:„Ecce plane dicit, quod est metaphysica generalis et specialis“. Vgl. hierzu die Bemer-kungen bei A. Zimmermann, Allgemeine Metaphysik und Teilmetaphysik nach einem anony-men Kommentar zur aristotelischen Ersten Philosophie aus dem 14. Jahrhundert, in: Archiv fürGeschichte der Philosophie 48 (1966), S. 198.

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 99

wissenschaft) von den Einzelwissenschaften, in ihren Betrachtungen ein-zelner Bereiche des Seienden, gemeint sei. Franziskus nimmt jedochgerade diese Stelle als einen Beleg dafür, daß die Teilung der Metaphy-sik und die damit verbundene Annahme zweier Metaphysiken bereitsbei Aristoteles selbst mitgedacht sei, und führt dies im Sinne seinesModells auch explizit aus: Aristoteles nehme eine ‚Allgemeine Meta-physik‘ an, die vom Seienden, insofern es Seiendes ist, handle, wenner sagt: „…deswegen betrachtet die Arten des Seienden, insofern esSeiendes ist, der Gattung nach eine Wissenschaft“, und eine ‚Beson-dere Metaphysik‘, die vom speziellen, nämlich abgetrennten Seiendenhandle, wenn er erklärt: „…die Arten (des Seienden) aber betrachtendie (Wissenschaften) der Arten“.24 Franziskus faßt damit die metaphy-sica particularis, die theologische Wissenschaft, gerade als eine dieser Ein-zelwissenschaften auf, die der metaphysica communis, der allen Einzelwis-senschaften zugrundeliegenden allgemeinen Seinswissenschaft, gegen-überstehen, da auch sie einen ‚Teil‘ (pars) des Seienden, nämlich dasbesondere, das abgetrennte (göttliche) Seiende zum Gegenstand hat.Und doch scheint der ‚Besonderen Metaphysik‘ dabei eine gewisse

Sonderstellung im Rahmen der anderen Einzelwissenschaften zuzu-kommen, die sich zudem bereits in ihrer Namensgebung manifestiert,da zwischen ihr und der ‚Allgemeinen Metaphysik‘—beide sind „Meta-physiken“—eine weitaus größere Einheit besteht, wenngleich ihre Posi-tionierung sowohl als erste als auch als letzte Wissenschaft zugleich eineweitestmögliche Distanz zu markieren scheint. Die besondere Gestaltdieses Verhältnisses der beiden Metaphysiken wird im 4. Paragraphendieses Kapitels noch näher ausgeführt werden. Zunächst seien in kur-zer Zusammenfassung jedoch die grundlegenden Argumente betrach-tet, weshalb es Franziskus zufolge tatsächlich beide Metaphysiken gebenmuß.

24 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 371: „Ex quo patet quod Philosophus ponit duas metaphisicas subordina-tas: unam de ente in quantum ens, et hanc tangit cum dicit: ‚Quapropter et entis inquantum ens quascunque species speculari unius est sciencie genere‘; aliam uero meta-phisicam propriam que est encium specialium sub ente communi contentorum tangitin eo quod dicit: ‚species autem specie〈ru〉m‘.“

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2. Die Notwendigkeit einer Allgemeinen und einer Besonderen Metaphysik

Im Anschluß an die Einführung der Konzeption zweier Metaphysiken,mit der Franziskus von Marchia die scheinbar widersprüchlichen Be-stimmungen der Metaphysik bei Aristoteles selbst aufzulösen versucht,liefert er im weiteren Verlauf der ersten Quaestio des ersten Buches sei-nes „Metaphysik-Kommentars“—gleichsam unterstützend—eine Auf-listung von Gründen, anhand derer er sowohl die Notwendigkeit einer‚Allgemeinen‘ als auch die einer ‚Besonderen Metaphysik‘ zusätzlichaus wissenschaftstheoretischer Perspektive argumentativ zu belegensucht. Beiden Argumentationssträngen liegt dabei vor allem zugrunde,daß es entsprechend zweier unterschiedener „Seinsarten“ (ens communeund ens separatum), d.h. entsprechend zweier verschiedener Gegenstän-de, auch zwei distinkte Wissenschaften geben müsse. Zunächst werdendie Gründe für die notwendige Annahme einer metaphysica particularisgenannt, da es ganz offenkundig neben der ‚Allgemeinen Metaphysik‘,die vom ens commune handelt, gleichfalls eine ‚Besondere Metaphysik‘geben müsse, deren Gegenstand das ens separatum sei.25

Das grundlegende, wenngleich nicht neue Argument hierfür grün-det sich auf das Kriterium einer qualitativen Abstufung der verschie-denen Seinsgattungen. Dabei wird zunächst das Seiende, das ‚demSein nach von der Materie abgetrennt‘ ist (separatum secundum esse/rem),als höherrangig und vorzüglicher (nobilius) bestimmt sowohl gegenüberdem bloß ‚dem Begriff nach abgetrennten Seienden‘ (separatum secundumrationem) als auch gegenüber dem Seienden, das ‚weder in Wirklichkeitnoch dem Begriff nach abgetrennt‘ ist (separatum nec secundum rem necsecundum rationem).26 Da es von beiden qualitativ untergeordneten Artendes Seienden, d.h. sowohl vom weder in Wirklichkeit noch dem Begriffnach abgetrennten Seienden als auch vom nur dem Begriff nach abge-trennten Seienden, eigenständige und distinkte Wissenschaften gebe—nämlich die Physik bzw. die Mathematik—, müsse umso mehr einesolche eigenständige Wissenschaft auch vom in Wirklichkeit, d.h. demSein nach abgetrennten Seienden existieren, nämlich die ‚BesondereMetaphysik‘.27 Bestätigt wird dieses Argument durch die Hervorhebung

25 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.89: „Quod autem praeter metaphysicam communem, quae est de ente communi, sitdare particularem, quae est de ente separato, patet.“

26 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.89.

27 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 101

der eigenständigen Wesenseigenschaften des abgetrennten Seienden,aufgrund derer ihm eine eigenständige Wissenschaft zuzusprechen sei.Denn wie das bewegliche Seiende neben den allgemeinen Eigenschaf-ten des Seienden eigenständige Eigenschaften hat, die aus eigenständigenPrinzipien hervorgehen, so hat auch das dem Sein nach von der Mate-rie abgetrennte Seiende eigentümliche passiones neben den allgemeinenEigenschaften des Seienden, die aus eigentümlichen Prinzipien hervor-gehen. Und wiederum besteht die Argumentation darin, daß es nichtnur vom beweglichen Seienden aufgrund dieser eigentümlichen Eigen-schaften eine eigenständige Einzelwissenschaft neben der allgemeinenSeinswissenschaft geben dürfe, sondern analog dazu auf gleiche Weiseauch vom abgetrennten Seienden: die ‚Besondere Metaphysik‘.28

Im Anschluß an die Gründe für die Notwendigkeit der ‚Besonde-ren Metaphysik‘ liefert Franziskus eine Reihe von Begründungen fürdie gleichfalls notwendige Annahme der ‚Allgemeinen Metaphysik‘, dieallerdings ganz analog zum Vorangegangenen geführt werden.29 Denndasjenige, was eigentümliche Eigenschaften neben den Eigenschaftendes ihm Untergeordneten hat und eigenständige Prinzipien neben denPrinzipien des ihm Untergeordneten, um seine eigentümlichen Eigen-schaften zu erschließen, ist Gegenstand einer selbständigen Wissen-schaft neben den Wissenschaften vom ihm Untergeordneten. ‚Ding‘bzw. ‚Seiendes‘ im allgemeinen aber haben solche einfachen und disjunk-ten Eigenschaften neben den Eigenschaften des ihnen Untergeordnetenund eigenständige Prinzipien, um auf diese zu schließen. Und somitgibt es von ihnen eine selbständige Wissenschaft neben den Wissen-schaften von dem ihnen Untergeordneten.30 Diese eigenständige Wis-

89: „Sed de ente non separato secundum rem nec secundum rationem est propria etdistincta scientia, scilicet physica. Similiter de ente separato secundum rationem estpropria scientia, scilicet mathematica. Ergo multo magis de ente separato secundumesse est propria et distincta scientia. Et ista est metaphysica particularis, cum non sitaliqua praedictorum“.

28 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann,S. 90: „Confirmatur: Quia ens mobile habet proprias passiones, quae oriuntur expropriis principiis praeter communes passiones entis, ita et ens separatum a materiasecundum esse habet proprias passiones praeter communes entis, quae oriuntur expropriis principiis. Sed de ente mobili, quia habet proprias passiones, est propriascientia particularis praeter scientiam entis. Ergo similiter, quia ens separatum habetproprias passiones praeter proprias passiones entis, de eo est scientia propria praeterscientiam communem entis. Et ista est metaphysica particularis“.

29 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, I, 1, ed. Zimmermann, S.90–92.

30 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, I, 1, ed. Zimmermann, S.

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senschaft aber ist Franziskus zufolge die Metaphysik, da Aristoteles amAnfang des vierten Buches der „Metaphysik“ gerade diesen Sinngehaltbetone:

„Nun gibt es eine bestimmte Wissenschaft, die das Seiende, insofern esSeiendes ist, betrachtet und was ihm wesentlich innewohnt. Diese istaber in keiner Weise dieselbe wie die genannten Einzelwissenschaften.Denn von den anderen handelt keine vom allgemeinen Seienden, inso-fern es Seiendes ist, sondern sie trennen irgendeinen Teil davon herausund betrachten diesbezüglich, was ihm zukommt, wie z.B. die Wissen-schaften der Mathematik. Daher müssen auch wir die ersten Ursachendes Seienden, insofern es Seiendes ist, suchen“.31

Zudem kann—so Franziskus—„keine Einzelwissenschaft gegen diejeni-gen argumentieren, die die allgemeinen Prinzipien für alle Wissenschaf-ten negieren“, weshalb es notwendig sei, eine allgemeine Wissenschaftneben den besonderen anzunehmen, die gegen diejenigen disputiere,die diese allgemeinen Prinzipien negieren. Also sei neben der ‚BesonderenMetaphysik‘ notwendig auch eine ‚Allgemeine Metaphysik‘ anzunehmen.32

3. „Dieselbe und doch eine andere Wissenschaft“—Das spezifischeVerhältnis von metaphysica communis und metaphysica particularis

Im Vorangegangenen ist deutlich geworden, daß Franziskus von Mar-chia mittels seiner ‚Aufspaltung der Metaphysik‘ zunächst zwei gänzlichvoneinander zu unterscheidende Wissenschaften vorstellt, deren Statusdie weitestmögliche Entgegensetzung überhaupt zu markieren scheint,

91 f.: „Quia illud quod habet proprias 〈passiones〉 praeter passiones suorum inferiorumet propria principia praeter principia suorum inferiorum ad concludendum suas pro-prias passiones, illud est subiectum propriae scientiae praeter scientias inferiorum. Sedres in communi, ut est communis abstracta, habet proprias passiones tam simplicesquam disiunctas praeter passiones suorum inferiorum et propria principia ad conclu-dendum eas. Ergo de re in communi est propria scientia praeter scientias inferiorum“.

31 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, ed. Zimmermann, S. 91:„Haec est metaphysica. Hanc rationem facit Philosophus in IV° Metaphysicae in princi-pio: ‚Nunc est quaedam scientia, quae speculatur ens inquantum ens, et quae huic reiinsunt. Haec autem nulli in parte dictarum eadem. Aliarum autem nulla intendit deente universali inquantum ens est, verum partem eius aliquam abscindentes, circa hancspeculantur accidentia, veluti scientiarum mathematicae. Unde et nobis entis inquan-tum ens est primae causae sunt accipiendae‘“.

32 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, ed. Zimmermann, S. 91:„Item: Nulla scientia particularis habet disputare contra negantes principia communiaomnibus scientiis. Ergo oportet ponere aliquam scientiam communem praeter scientias

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 103

indem sie sich auf zwei getrennte „Arten von Seiendem“ beziehen unddamit, daß sie einerseits vom Ersterkannten, andererseits vom für denMenschen Letzterkannten handeln, gleichermaßen als erste bzw. als letzteWissenschaft in der Ordnung des Wissens (ordo scientiae) zu positionierensind. Und doch scheint zumindest die Namensgebung—beide Wissen-schaften sind als ‚Metaphysiken‘ angesprochen—ein besonders engesVerhältnis dieser scientiae im Gegensatz zu allen anderen, ‚dazwischen‘liegenden Wissenschaften anzudeuten. Wie aber läßt sich dieses spezi-elle Verhältnis, die besondere Art der Verbindung dieser beiden vonFranziskus eingeführten metaphysischen Wissenschaften genauer vor-stellen? Auf welcher Grundlage gestaltet sich ihr innerer Zusammen-hang? Anders gefragt: impliziert die Aufspaltung der Metaphysik ineine metaphysica communis und eine metaphysica particularis, die mit Blickauf das Verhältnis ihrer Gegenstände zur menschlichen Erkenntnis-ordnung im Sinne einer weitestmöglichen Entgegensetzung als ersteund letzte Wissenschaft innerhalb der Wissenschaftsordnung aufzufas-sen sind, zugleich ein besonderes Moment der Einheit beider Wissen-schaften? Oder erweist sich die grundlegende Diversität ihrer Gegen-stände (die zweite ‚Dissoziation‘, von der wir eingangs sprachen) letzt-lich doch als ein Potential, dem die Konzeption einer synthetisierendenEinheit der Metaphysik zugunsten einer vollständigen Autonomie bei-der Wissenschaften weichen muß?In der Tat scheint Franziskus auch im Rahmen der Trennung bei-

der Wissenschaften ein solches Moment der ‚Einheit‘, das ja gerademit Blick auf die Interpretation der Konzeption des Aristoteles mit-tels der Einbeziehung beider Gegenstandsbestimmungen die ‚Einheitder aristotelischen Metaphysik‘ manifestieren würde, innerhalb seiner„Quaestiones in metaphysicam“ ganz bewußt zu betonen. Zwei Bemer-kungen stehen dabei im Vordergrund, die in besonderem Maße dieZusammengehörigkeit von ‚Allgemeiner‘ und ‚Besonderer Metaphy-sik‘ zu unterstreichen scheinen. Sie beziehen sich auf die grundsätz-lich wesenhafte Übereinstimmung beider Wissenschaften, welche sich inder bereits erwähnten Möglichkeit gleichartiger Benennung widerspie-gelt:

particulares, quae disputet contra negantes ista principia communia. Haec potissime estmetaphysica. Ergo praeter metaphysicam particularem oportet ponere metaphysicamcommunem“. Vgl. Aristoteles, Met. Γ 1.

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(i) So sind beide Wissenschaften zunächst als ‚göttliche Wissenschaft‘(scientia divina) zu bezeichnen, wenn auch in unterschiedlichemMaße; die ‚Besondere Metaphysik‘ kann im eigentlichen Sinnescientia divina genannt werden, da sie vom göttlichen Seienden alsihrem primum subiectum handelt, auf die ‚Allgemeine Metaphysik‘hingegen trifft die Bezeichnung ‚göttliche Wissenschaft‘ nur inso-fern zu, als sie den eigentümlichen Gegenstand der ‚Besonde-ren Metaphysik‘, der göttlichen Wissenschaft im eigentlichen Sinne,zu beweisen vermag. Beide sind somit jedoch hinsichtlich ihresGegenstandes als ‚göttliche Wissenschaften‘ zu betrachten, sie un-terscheiden sich aber in der Art ihrer ‚Zugriffsmöglichkeit‘ auf dasgöttliche Seiende, insofern die metaphysica particularis ursprünglichund direkt vom göttlichen Seienden handelt, der metaphysica com-munis hingegen mit Blick auf das göttliche Seiende nur eine bewei-sende Grundlegungsfunktion zukommt (quia probat ens divinum).33

(ii) Beide Wissenschaften sind zudem als ‚Metaphysik‘ zu bezeichnen,allerdings ebenfalls auf unterschiedliche Weise. Zwar übersteigenbeide die Grenzen der Physik (metas physicae transcendens), indembeide vom abstrakten Seienden handeln, die metaphysica particularistut dies jedoch in positivem Sinne, die metaphysica communis hinge-gen lediglich privativ, da sie nicht das an sich, sondern nur dasdem Begriff nach abgetrennte Seiende betrachtet.34

33 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.89: „Et haec metaphysica particularis vocatur proprie scientia divina, quia ipsa estde ente divino sicut de primo subiecto. Metaphysica autem communis non est scien-tia divina nisi inquantum probat subiectum proprium scientiae divinae. Et sic utraquequoad subiectum est scientia divina. Sed differunt, quia una est divina, quia est de entedivino, alia vero est divina, quia probat ens divinum“. Vgl. parallel dazu im Prolog des„Sentenzen-Kommentars“, q. 2, ed. Mariani, S. 373: „Potest igitur dici quod duplex estmetaphisica, sicud dictum est: communis, scilicet, et particularis, et utraque potest dicisciencia diuina. metaphisica communis est sciencia diuina finaliter, quia probat Deumesse, et ad hoc ordinatur principaliter ut, patet per ipsam, possimus stabilire Deumesse; metaphisica particularis est sciencia diuina quia inuestigat perfeciones diuinas“.Einige interessante Bemerkungen hierzu finden sich auch bei A. Zimmermann, Dieratio Anselmi in einem anonymen Metaphysikkommentar des 14. Jahrhunderts, in: H. Kohlenber-ger (Hg.), Die Wirkungsgeschichte Anselms von Canterbury (Akten der ersten Inter-nationalen Anselm-Tagung Bad Wimpfen, 13.-16.09.1970), Frankfurt a.M. 1975 (Ana-lecta Anselmiana. Untersuchungen über Person und Werl Anselms von CanterburyBd. IV/1), S. 195–201.

34 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.89: „Et utraque [scil. metaphysica particularis/communis] potest vocari metaphysica,licet diversimode, quia utraque transcendit metas physicae, quia utraque est de entibusabstractis, sed una positive, alia privative“.

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Es zeigt sich somit, daß die ‚Einheit‘ beider Metaphysiken sich nichtin einer völlig univoken Benennung widerzuspiegeln vermag, sonderndaß in beiden Fällen ein in bestimmter Weise ‚abgestuftes‘ Verhältnisvorliegt. Wenn Franziskus betont, daß die metaphysica communis nur inso-fern ‚göttliche Wissenschaft‘ zu nennen ist, als sie das proprium subiectumder metaphysica particularis, der göttlichen Wissenschaft im eigentlichenSinne, beweist, so scheint doch ein bestimmtes ‚Zuordnungsverhältnis‘zu bestehen. Franziskus bestimmt diesen spezifischen Zusammenhangvon ‚Allgemeiner‘ und ‚Besonderer Metaphysik‘ als ein Verhältnis derÜber- und Unterordnung (subalternatio). Aufgrund dieser Abhängigkeits-Relation sind beide Wissenschaften sowohl als getrennt und verschie-den voneinander, auf der anderen Seite in gewisser Weise jedoch auchals dieselbe Wissenschaft, als Einheit zu betrachten: „Sie ist eine andereWissenschaft, so, wie die subalternierte Wissenschaft eine andere ist alsdie subalternierende. Sie ist aber dieselbe Wissenschaft, so, wie die subal-ternierte Wissenschaft dieselbe ist wie die subalternierende“.35 Wie aberläßt sich dieses spezifische Subalternationsverhältnis, dieses ‚Zugleich‘von Identität und Differenz, konkreter vorstellen?Das eigentümliche Subalternationsverhältnis von ‚Allgemeiner‘ und

‚Besonderer Metaphysik‘ wird einsichtig, wenn die Gründe für den in-neren Zusammenhang der beiden Metaphysiken aufgezeigt werden.Diese ergeben sich aus zweierlei Hinsicht: 1. aufgrund einer—bereitsangedeuteten—mehr wissenschaftstheoretischen Perspektive, 2. hin-sichtlich eines stärker erkenntnistheoretischen Aspekts. Wenngleich bei-de zwar untrennbar miteinander verknüpft sind, können sie zum Zwe-cke einer systematischen Erschließung zunächst jedoch einmal nach-einander betrachtet werden.Bei der Darstellung der in erster Linie wissenschaftstheoretischen

Grundlage für das spezifische Abhängigkeitsverhältnis der beiden Me-taphysiken stützt sich Franziskus auf die bekannte, von Aristoteles imersten Buch der „Zweiten Analytiken“ formulierte Bedingung, daß kei-ne Einzelwissenschaft ihren eigentümlichen Gegenstand selbst sichernkönne. Da es also weder der Physik noch der Mathematik, aber ebenauch nicht der ‚Besonderen Metaphysik‘ zukommt zu beweisen, daßdas (nicht durch sich selbst bekannte) abgetrennte Seiende existiert,sei es notwendig, eine andere Wissenschaft neben den Einzelwissen-

35 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam VI, 16, ed. Zimmermann, S. 99:„Est autem alia sicut scientia subalternata est alia a subalternante. Est autem eademsicut scientia subalternata est eadem subalternanti“.

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schaften anzunehmen, die diesen Beweis der Existenz des abgetrenn-ten (göttlichen) Seienden leiste.36 Denn weder der Physiker noch derMathematiker stellen eine Betrachtung des unstofflichen Seienden an,da beide das stoffliche Seiende als primum subiectum haben, sie beweisenalso beide nicht, daß das abgetrennte Seiende existiert.37 Der Gottesbe-weis muß somit innerhalb der ‚Allgemeinen Metaphysik‘ geleistet wer-den. Denn keine Wissenschaft beweist eine Schlußfolgerung, die ihrePrinzipien übersteigt, da keine Wissenschaft „außerhalb ihres Bereicheshandle“ (nulla scientia agit ultra suam speciem). Der Beweis der Schlußfol-gerung, daß das abgetrennte Seiende existiert, welche die Prinzipiendes Physikers und des Mathematikers übersteigt, da das abgetrennteSeiende über dem nicht abgetrennten Seienden steht, gehört somitzur metaphysica communis.38 Das bedeutet, daß die ‚Besondere Metaphy-sik‘ ihren eigentümlichen Gegenstand, das secundum rem und secundumrationem von der Materie abgetrennte Seiende, notwendigerweise vonder ‚Allgemeinen Metaphysik‘ übernimmt, die damit der ‚BesonderenMetaphysik‘ ihr eigenes subiectum zuweist, indem sie beweist, daß esunstoffliches Seiendes gibt. In diesem Sinne wird die metaphysica parti-cularis somit der metaphysica communis ‚subalterniert‘ (und damit habenbeide—wie oben bereits erwähnt—das göttliche Seiende zum Gegenstand,jedoch in unterschiedlichem Maße).39

36 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.91: „Nulla scientia particularis potest stabilire suum subiectum primum, I° Posteriorum.Sed probare ens separatum esse non spectat ad physicam nec ad metaphysicam par-ticularem. Et ens separatum esse non est per se notum. Ergo oportet ponere aliamscientiam praeter scientias particulares, quae probet ens separatum esse“. Vgl. hierzuin grundlegender Weise auch Avicenna, Met. I, 2.

37 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.91: „Sed nec physici nec mathematici est consideratio de entibus immaterialibus. Quiautraque pro primo subiecto habet ens materiale, ergo nec physicus nec mathematicushabet probare ens separatum esse“.

38 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S.91 f.: „Nulla scientia probat conclusionem altiorem suis principiis, quia nulla scientiaagit ultra suam speciem. Sed ista conclusio „ens separatum esse“ est altior principiisphysici et mathematici, quia ens separatum est altius ente non separato. Ergo nulliuseorum est probare istam conclusionem“.

39 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 89:„Illa metaphysica particularis accipit suum subiectum a metaphysica communi, et haecmetaphysica probat primum subiectum metaphysicae particularis. Et ideo metaphysicaparticularis subalternatur metaphysicae communi“. Franziskus bezieht sich dabei aufden aristotelischen Grundsatz in den Anal. Poster. I, 10, 76b36, wenn er betont, daßkeine Einzelwissenschaft ihren eigentümlichen Gegenstand beweisen könne; vgl. Quaes-tiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann, S. 91: „Nulla scientia particularis poteststabilire suum subiectum primum, I° Posteriorum. Sed probare ens separatum esse non

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Das Verhältnis von ‚Allgemeiner‘ und ‚Besonderer Metaphysik‘ alssubalternierender und subalternierter Wissenschaft ergibt sich nebendieser mehr wissenschaftstheoretischen Bedingung der ‚Übernahme desSubjekts‘ der ‚Besonderen Metaphysik‘ von der metaphysica communisvor allem aber auch aus einer hiermit zwar eng zusammenhängen-den, in erster Linie aber doch erkenntnistheoretischen Begründung.Die ‚Besondere Metaphysik‘ greift nämlich gerade auch deshalb auf diePrinzipien der ‚Allgemeinen Metaphysik‘ zurück, da der menschlicheIntellekt nicht auf natürliche und unmittelbare Weise zu einer Kennt-nis des abgetrennten Seienden gelangen kann, sondern nur mithilfeder transzendentalen Erstbegriffe (und nicht durch einen dem abge-trennten Seienden eigentümlichen Sinngehalt). Somit ist es ihm nurdurch Rückgriff auf die allgemeinen Prinzipien des Seienden, die ers-ten Verstandesbegriffe, überhaupt möglich, zu Kenntnissen über dassubiectum der ‚Besonderen Metaphysik‘ zu gelangen.40 Die ‚BesondereMetaphysik‘ erweist sich somit auch unter diesem Aspekt als von der‚Allgemeinen Metaphysik‘ ‚abhängig‘ und im Sinne einer subalternatiountergeordnet.41 Auf der anderen Seite ist die ‚Besondere Metaphysik‘

spectat ad physicam nec ad metaphysicam particularem. Et ens separatum esse non estper se notum. Ergo oportet ponere aliam scientiam praeter scientias particulares, quaeprobet ens separatum esse“.

40 Diese für ein angemessenes Verständnis des Subalternationsverhältnisses der bei-den Metaphysiken wichtige Erklärung führt Franziskus erst im VI. Buch näher aus, woes um die Darstellung des Unterschiedes zwischen ‚faktischer‘ und ‚idealer‘ Erkenntnisgeht. Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam VI, 16, ed. Zimmermann,S. 99: „Quia ens separatum non cognoscitur a nobis naturaliter nisi per conceptus tran-scendentes entis, unius, multi, actus et potentiae, simplicis et compositi, finiti et infiniti,non autem per propriam rationem. Ideo scientia, quae est de ente separato, accipitprincipia sua a scientia, quae est de ente.“

41 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam VI, 16, ed. Zimmermann,S. 99: „Propter quod probare ens separatum esse pertinet ad scientiam de ente, quiaens separatum non probatur nisi per conceptus transcendentes, secundum Avicen-nam in I° Metaphysicae“. In ähnlicher Weise formuliert Franziskus das Vorangegan-gene im Prolog zum „Sentenzen-Kommentar“: „Die Allgemeine Metaphysik, die vomdem Begriff nach abgetrennten Seienden handelt, nimmt ihren Gegenstand nicht vonirgendeiner Wissenschaft, sondern allein durch den Sinn auf; die Besondere Metaphy-sik aber, die vom in Wirklichkeit abgetrennten Seienden handelt, nimmt ihren Gegen-stand bewiesen von der Allgemeinen Metaphysik. Und daher wird die Besondere derAllgemeinen Metaphysik von Seiten des Gegenstandes nicht an sich untergeordnet,sondern gerade in Hinordnung auf unseren Verstand, der den in Wirklichkeit abge-trennten Gegenstand nur kraft des dem Begriff nach abgetrennten Gegenstandes auf-nehmen kann“. Vgl. auch Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum,prologus, q. 2, ed. Mariani, S. 371: „(…) similiter duplex metaphisica: una est que est deente separato secundum racionem, et ista non accipit subiectum suum ab alica sciencia,

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innerhalb dieser epistemologischen Abhängigkeit von der ‚AllgemeinenMetaphysik‘ zugleich aber auch deren Ziel, insofern die Kenntnis desSeienden immer auf die Kenntnis des ersten, des göttlichen Seiendenhingeordnet ist.42

Die von Franziskus vorgenommene Aufgliederung der Metaphysikin eine ‚Allgemeine‘ und eine ‚Besondere Metaphysik‘, die sich tat-sächlich als Trennung in eine ontologische und eine theologische Wissen-schaft herausstellt, ist somit aufgrund des spezifischen inneren Zusam-menhangs beider Wissenschaften offensichtlich nicht in der gleichenSchärfe aufzufassen, wie viele andere Autoren sie mit der Aufspal-tung von Ontologie und Theologie oder derjenigen von Ontologieund Metaphysik evozierten.43 Und dennoch kann dieses Moment der‚Einheit der Metaphysik‘, wie Franziskus es in seinem „Metaphysik-Kommentar“ darstellt, andererseits auch nicht als das primäre Wesender Aufgliederung der Metaphysik betrachtet werden, da eine solche‚Einheit‘ doch immer als ‚Subalternatio‘ zu kennzeichnen ist, wie sie sichaus der wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Abhängigkeit deseigentümlichen Gegenstandes der ‚Besonderen‘ von der ‚Allgemeinen Meta-physik‘ ergibt. Anders gesagt: zwar scheinen beide aus der aristoteli-schen „Metaphysik“ bekannten, ‚konkurrierenden‘ Gegenstandsbestim-mungen in der Metaphysik-Konzeption des Franziskus von Marchiagleichermaßen Berücksichtigung zu finden und durch das spezifischeVerhältnis der Subalternation trotz der disziplinären Eigenständigkeitbeider Gegenstände sogar auf besonders innige Weise miteinander ver-knüpft zu sein—aber diese ‚Verbundenheit‘ scheint doch gänzlich (unddamit weit defizitärer, als es zunächst aussah) durch die Begrenztheitenunseres menschlichen Verstandes bedingt. Wir werden dies im Folgen-den noch näher ausführen.

set tantum per sensum; quedam uero metaphisica est de ente separato secundum rem,et ista accipit subiectum suum demonstratum a metaphisica que est de ente 〈separato〉secundum racionem, et ideo ista subalternatur illi ex parte subiecti non secundum se,set in ordine ad intellectum nostrum, qui non potest attingere obiectum separatumsecundum rem nisi uirtute obiecti separati secundum racionem“.

42 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 371: „(…) tamen metaphisica particularis est finis metaphisice communis“.

43 Vgl. etwa die Unterscheidungen in den Darstellungen von G. Patzig, Theologie undOntologie in der „Metaphysik“ des Aristoteles, in: Kant-Studien 52 (1960/61), S. 185–205, E.Rompe, Die Trennung von Ontologie und Metaphysik. Der Ablösungsprozeß und seine Motivierungbei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts, Bonn 1968, oderA. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik

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4. Zwei Metaphysiken: Die Neueinteilung dertraditionellen Wissenschaftsordnung

Aus Franziskus’ Ausarbeitung zweier unterschiedener Metaphysiken imSinne der ‚Allgemeinen‘ und der ‚Besonderen Metaphysik‘ ergeben sichgrundlegende Konsequenzen mit Blick auf die tradierte Ordnung undEinteilung der theoretischen Wissenschaften und damit für die eta-blierte Wissenschaftsordnung überhaupt. Dieser traditionelle ordo scien-tiarum besteht in der Dreiteilung der theoretischen Wissenschaften, wieAristoteles sie im ersten Kapitel des VI. Buches der „Metaphysik“vorstellt, und derzufolge sich die spekulativen Wissenschaften in derEinteilung in Physik, Mathematik und Erste Philosophie (also Metaphy-sik) erschöpfen, je nachdem, wie sich das Verhältnis ihrer Gegenständezu Materie und Bewegung bzw. wie sich deren Selbständigkeit gestal-tet: „Die Naturwissenschaft handelt von selbständigen Dingen, die abernicht unbeweglich sind. Einige mathematische Wissenschaften handelnvon Dingen, die unbeweglich, aber vielleicht nicht selbständig, sondernin der Materie sind. Die Erste Philosophie aber handelt von Dingen,die sowohl selbständig wie unbeweglich sind“.44

Im Grunde blieb diese aristotelische Einteilung der spekulativen Wis-senschaften in ihrer äußeren Form über die Jahrhunderte hinweg unan-getastet. Erst Johannes Duns Scotus stellt in seinem „Metaphysik-Kom-mentar“ explizit die Frage, ob es nicht vielmehr notwendig sei, tatsäch-lich vier theoretische Wissenschaften anzunehmen (die damit in der vonFranziskus von Marchia vorgestellten Weise zu denken wären): näm-lich im Sinne „einer transzendentalen Metaphysik (metaphysica transcen-dens), die gänzlich früher wäre als die göttliche Wissenschaft (scientiadivina)“, und damit würde es „vier spekulative Wissenschaften geben:eine transzendentale und drei besondere“.45 Dies scheint doch geradedie Lösung, die Franziskus in seinem Entwurf vertritt, daß nämlichdie metaphysica transcendens (im Sinne der metaphysica communis) die erstevor Physik und Mathematik, und die scientia divina (als metaphysica par-ticularis) die oberste der Einzelwissenschaften wäre! Weshalb hat sich

im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, Leuven 1998 (Recherches de Théologieet Philosophie médiévales, Bibliotheca 1).

44 Vgl. Aristoteles, Met. E 1, 1026a13–16.45 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones subtillissimae super libros metaphysicorum Aristo-

telis, q. 1, n. 155 (OP III, S. 69): „Igitur metaphysica transcendens erit tota prior scientiadivina, et ita erunt quattuor scientiae speculativae: una transcendens, et tres speciales“.

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diese Erweiterung der spekulativen Wissenschaften um eine vierte nichtschon bei Johannes Duns Scotus durchgesetzt?Scotus unterscheidet bekanntermaßen die Metaphysik im Sinne ei-

ner idealen Wissenschaft ‚in sich‘ und einer faktischen Wissenschaft ‚füruns‘ (in se/pro nobis), um die Möglichkeiten und Grenzen der Meta-physik mit Bezug auf das menschliche Erkenntnisvermögen in ange-messener Weise auszudrücken.46 In der metaphysica in se ist Gott primär,gleichsam a priori Gegenstand dieser Wissenschaft, alles Seiende wirdaus einer Kenntnis Gottes heraus ursächlich erkannt, in der metaphysicapro nobis hingegen ist Gott nur mittelbar, gleichsam a posteriori das subiec-tum, da umgekehrt zur ideal gefaßten Metaphysik hier das ‚Seiende‘ dasprimum subiectum metaphysicae ist, da für uns nur aus dessen Kenntnis her-aus Gott gleichsam von seinen Wirkungen her erkannt werden kann.47

Die Metaphysik ist für Scotus somit in gewisser Weise zugleich Ontolo-gie und Theologie; in einem primären und vollkommenen Sinne (in se)ist sie Theologie, mit Blick auf das für den Menschen mögliche Wissen(pro nobis) kann sie jedoch allein in einem unvollkommeneren Sinne alsOntologie ihre Ausprägung finden, die auf eine Erkenntnis des Gegen-standes der ‚Metaphysik in sich‘—auf die Erkenntnis Gottes—nur hin-geordnet ist. Ohne den verschiedenen Ausführungen des Duns Scotusan dieser Stelle weiter zu folgen, läßt sich somit doch festhalten, daßfür ihn die aristotelische Dreiteilung der theoretischen Wissenschaftenletztlich beibehalten werden muß. Es gibt nur ‚eine‘ Metaphysik, diezwar im eigentlichen Sinne als Theologie aufzufassen ist, indem sie inprimärem Sinne von Gott handelt, die jedoch für den Menschen nurals Ontologie, als Wissenschaft vom Transzendentalen (und damit alsscientia transcendens), möglich ist, in der alles auf natürliche Weise vonGott Erkennbare bewiesen wird. Die vollkommene Erkenntnis des ers-ten Seienden ist somit das Ziel dieser Wissenschaft.48

46 L. Honnefelder hat die entscheidenden Untersuchungen zu dieser Lehre desJohannes Duns Scotus in mehreren Studien vorgelegt; vgl. etwa L. Honnefelder, Scientiain se—scientia in nobis. Zur philosophischen Bedeutung einer wissenschaftstheoretischen Unterscheidung(Miscellanea Mediaevalia 22,1), S. 204–214; ders., Ens inquantum ens. Der Begriff des Seiendenals solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster 1979(Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N.F. 16), undders., Scientia transcendens: die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysikdes Mittelalters und der Neuzeit, Hamburg 1990.

47 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones super libros metaphysicorum Aristotelis, q. 1,n. 134 (OP III, S. 62): „Aut igitur considerantur ibi in quantum attributa, quia exnotitia Dei ibi cognoscuntur; aut quia ex eorum notitia Deus cognoscitur“.

48 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones super libros metaphysicorum Aristotelis, q. 1,

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 111

Franziskus von Marchia unternimmt mit seiner Teilung der Meta-physik—die, wie sich im nachfolgenden Paragraphen zeigen wird, nichtnur auf der Ebene des Wissens ‚pro nobis‘, sondern mit grundlegendenKonsequenzen auch auf derjenigen ‚in se‘ stattfindet—den entscheiden-den Schritt über dieses ‚skotische Zögern‘ hinaus und erweitert damitzugleich den bisherigen Umfang der drei theoretischen Wissenschaf-ten um eine vierte, so daß sich notwendig folgende Ordnung ergibt:der ‚Allgemeinen Metaphysik‘ als grundlegender Seinswissenschaft fol-gen Physik, Mathematik und schließlich zuletzt die ‚Besondere Meta-physik‘. Ausführlicher besprochen wird diese Erweiterung der Wissen-schaftsordnung im Vorwort zu den „Quaestiones in metaphysicam“,dessen Gegenstand gerade die Gliederung und hierarchische Ordnungder Wissenschaften und die damit verbundene Frage nach der Voll-ständigkeit dieser Einteilung bildet. Das Kriterium, das dabei zunächstals für den hier aufgestellten ordo scientiarum benannt wird, basiert aufdem aristotelischen Grundsatz, daß sich die Ordnung und Einteilungder Wissenschaften auf die Gliederung der Dinge gründe.49 Daß dieserGrundsatz zu Beginn der ganzen Schrift angeführt wird, ist in seinerBedeutung nicht zu unterschätzen, haben wir doch bei der Betrachtungder Ausführungen im I. Buch des „Metaphysik-Kommentars“ festge-stellt, daß sich die hierarchische Ordnung der Wissenschaften zunächstscheinbar vorrangig nach der Hinordnung der Gegenstände auf denmenschlichen Verstand richtet. ‚An sich‘ werden die Wissenschaftentatsächlich allein nach ihren Gegenständen eingeteilt, im Bereich desfür uns zugänglichen Wissens ist dies jedoch nicht in uneingeschränkterWeise möglich, sondern immer nur in Abhängigkeit von den Bedingun-gen des menschlichen Intellekts, woraus sich unterschiedliche Konse-quenzen ergeben. Wie sieht nun die genaue Ordnung der Wissenschaf-ten insgesamt aus, wie Franziskus sie im Prooemium des „Metaphysik-Kommentars“ darstellt?An erster, unterster Stelle in der Hierarchie der Wissenschaften setzt

Franziskus zunächst die Grammatik und ihr folgend die Logik an, zwei

n. 161 (OP III, S. 71): „Ideo vitando quattuor esse scientias speculativas, et hancponendo de Deo, omnia naturaliter cognoscibilia de ipso sunt transcendentia. Finishuius est perfecta cognitio entis, quae est cognitio primi. Sed primo occurrens etnotissimum intellectui est ens in communi, et ex ipso probatur primitas et alia, inquibus est consummatio“.

49 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, Prooemium, ed. Friedman, S.504: „Sicut dicit Philosophus, III De anima, ‚secantur scientiae quemadmodum et res‘,secundum ergo sectionem rerum scibilium est sectio scientiarum (…)“.

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112 kapitel ii

Wissenschaften, die in bestimmter Weise als propädeutische Wissen-schaften zu betrachten sind, indem der Grammatik die Rolle zufällt,die für alle anderen Wissenschaften zur Vermittlung notwendigen Zei-chen bereitzustellen, während er der Logik die Funktion beimißt, dasbegriffliche Instrumentarium zu liefern, um alle anderen Wissenschaf-ten überhaupt erst zu ermöglichen, vor allem aber, um den Syllogismusals wesentlichen Bestandteil des Wissens zu erklären.50 Diese beidenpropädeutischen Wissenschaften, Grammatik und Logik, werden somitaufgrund ihrer instrumentellen Funktion mit Bezug auf Sprache undArgumentation allen anderen Wissenschaften vorangestellt. Der Pri-mat im eigentlichen Sinne kommt jedoch erst der Metaphysik in Formder Allgemeinen Metaphysik, der metaphysica communis, zu, die als allge-meine Seinswissenschaft allen anderen besonderen, d.h. allen Einzel-wissenschaften vorangeht, da sie das allem Gemeinsame zum Gegen-stand hat und ihre Prinzipien in die Prinzipien der anderen Wissen-schaften eintreten.51 Die Metaphysik ist damit de facto als erste Wissen-schaft konstituiert.Auf die ‚Allgemeine Metaphysik‘ folgen dann—traditionell—die

Physik, die Mathematik und schließlich die ‚Besondere Metaphysik‘(metaphysica particularis), der als theologischer Wissenschaft der letztePlatz in dieser Ordnung der Wissenschaften zukommt, womit sie allenbesonderen Wissenschaften als letzte und oberste folgt, da die Erkennt-nis des abgetrennten, des göttlichen Seienden ebenfalls zuletzt in derOrdnung des Wissens steht und in ihr die letzte—für den Menschenmögliche—Glückseligkeit bestehe.52 Interessant ist zu erwähnen, daß

50 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, Prooemium, ed. Friedman,S. 506: „Ideo grammatica, quae est de rebus vocaliter designativis, est prior ordinedoctrinae logica et metaphysica. Post grammaticam vero sequitur logica, quia scientiaest habitus conclusionis demonstratae per syllogismum“.

51 A. Zimmermann, Allgemeine Metaphysik und Teilmetaphysik nach einem anonymen Kom-mentar zur aristotelischen Ersten Philosophie aus dem 14. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichteder Philosophie 48 (1966), S. 193 f., bestimmt diese drei Wissenschaften, Grammatik,Logik und (Allgemeine) Metaphysik, im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften (mitder Besonderen Metaphysik) als Gruppe ‚allgemeiner Wissenschaften‘, da sie „alles Sei-ende betrachten“.

52 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, Prooemium, ed. Friedman,S. 512: „(…) metaphysica communis et metaphysica specialis non pertinent ad eandemscientiam, cum illa consequitur omnes scientias particulares, sed metaphysica commu-nis praecedit ordine doctrinae omnes scientias particulares. Ergo non spectant ad ean-dem scientiam, quia scientia, quae est de communibus, est prior ordine scientia, quaeest de propriis, sicut principia sunt priora principiatis. Metaphysica autem communisest de omnibus rebus (…). Metaphysica specialis, quae est de entibus separatis, consi-

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 113

vor die ‚Besondere Metaphysik‘ zunächst noch die Politik eingegliedertwird, die sich mit den vom Menschen hervorgebrachten Dingen befaßt,und die uns lehrt, „das Geistesauge zu heilen“ von allen Trübungen derLeidenschaften, um die sittlichen Tugenden zu stärken, damit wir—Ziel des menschlichen Wissensstrebens—das höchst Erkennbare, Gott,schauen können (per quam homo disponitur ad intelligendum entia simpliciterseparata).53

5. Die Spaltung der Metaphysik ‚in se‘ und ‚pro nobis‘

Mehrmals wurde bereits angedeutet, daß Franziskus von Marchia dieSpaltung der Metaphysik nicht nur auf der Ebene des für uns mögli-chen Wissens, sondern auch auf derjenigen eines ‚idealen Wissens‘ inbesonderer Weise zu durchdenken scheint. Dies geschieht im VI. Buchseines „Metaphysik-Kommentars“, wo Franziskus erneut die Kardinal-frage stellt, ob die Metaphysik nun vom ens in commune oder vom derWirklichkeit nach abgetrennten, göttlichen Seienden handle (Quaeritur,utrum metaphysica sit de ente in communi vel sit de ente abstracto et separatosecundum rem).54 Bereits im I. Buch des Kommentars ist hinreichenddeutlich geworden, wie Franziskus’ Antwort mit Bezug auf diese Fragenach der Gegenstandsbestimmung der Metaphysik auf der Ebene desWissens pro nobis aussieht. Im sechsten Buch, das gerade für die Fragenach der Deutung der Metaphysik als theologischer Wissenschaft denklassischen Ort bildet, nimmt Franziskus nun eine wichtige Spezifi-zierung und Fortführung der vorangegangenen Ausführungen seinerUnterscheidung von ‚Allgemeiner‘ und ‚Besonderer Metaphysik‘ vor.Dazu weist er mit Bezug auf die Frage, ob also die Metaphysik alsWissenschaft vom göttlichen Seienden aufzufassen sei, an dieser Stellezunächst auf die traditionelle zweifache Differenzierung hin, wie das

derans proprietates et proprias passiones entium separatorum. Et ista est finis omniumscientiarum humanarum, ad quam omnes scientiae humanae ordinantur, et in quaconsistit ultima felicitas possibilis haberi per scientias humanas“.

53 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, Prooemium, ed. Friedman, S.513: „(…) politica, quae est de operibus sive actibus humanis (…). Post mathematicamsequitur politica, quia, cum oculus immundus non possit speculari lucem puram nisiprius sanetur, et entia separata simpliciter a materia (sicut entia prima et munda, sicutest Deus et intelligentiae), sequitur quod ad intelligendum entia simpliciter abstracta(…)“.

54 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam VI, 16, ed. Zimmermann,S. 98–100.

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114 kapitel ii

abgetrennte, göttliche Seiende betrachtet werden kann: entweder wiees in sich selbst, seiner Natur nach erkennbar ist, oder wie es vonuns a posteriori— von seinen Wirkungen her—erkennbar ist.55 DieseUnterscheidung hinsichtlich der Erkennbarkeit des göttlichen Seien-den (secundum se und pro nobis) bezeichnet gerade die beiden Ebenen,wie sie aus der skotischen Unterscheidung der Erkenntnisordnungen‚in se‘ und ‚pro nobis‘ bekannt sind. Scotus hatte diese beiden Ebenendes idealen und des faktischen Wissens mit Bezug auf das menschli-che Erkenntnisvermögen streng getrennt. Für ihn war auf der Ebenedes faktischen Wissens, d.h. des für den Menschen möglichen Wis-sens, nur eine ‚ontologische‘ Metaphysik möglich, auf der Ebene desidealen Wissens hingegen von solchen epistemologischen Bedingtheitenuneingeschränkt die Metaphysik im Sinne einer natürlichen Theolo-gie.56

Franziskus von Marchia—dies ist aus den Ausführungen im I. Buchdes „Metaphysik-Kommentars“ deutlich geworden—siedelt beide Wis-senschaften (‚Allgemeine‘ und ‚Besondere Metaphysik‘) in derselbenOrdnung, nämlich im Bereich des faktischen Wissens, an. Für ihn istim Gegensatz zur Auffassung des Duns Scotus eine Wissenschaft, dieGott zum Gegenstand hat, nicht nur im Bereich des idealen, sondernauch im Bereich des Wissens pro nobis möglich. Er macht somit einenentscheidenden Schritt über die skotische Konzeption hinaus. WelchenBedingungen diese metaphysische Theologie pro nobis unterworfen ist,wurde im Vorangegangenen mit Blick auf das Verhältnis der Abhängig-keit von der ‚Allgemeinen Metaphysik‘ bereits ausführlich dargestellt.Franziskus scheint nun jedoch—und das ist das Entscheidende in der16. Quaestio des VI. Buches des „Metaphysik-Kommentars“—auch dieÜbertragung der Teilung der Metaphysik auf die Ebene eines idealenWissens, d.h. für eine Erkenntnis in se, auszuarbeiten.Das Charakteristische des Verhältnisses von ‚Allgemeiner‘ und ‚Be-

sonderer Metaphysik‘ auf der Ebene des Wissens pro nobis, auf derdas göttliche Seiende für uns nur a posteriori erkennbar ist, liegt darin,

55 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, VI, 16, ed. Zimmermann,S. 99: „Respondeo, quod ens separatum potest considerari dupliciter, vel secundumse, ut est cognoscibilis secundum suam naturam, vel ut est cognoscibilis a nobis aposteriori“.

56 Vgl. hierzu L. Honnefelder, Scientia in se—scientia in nobis. Zur philosophischen Bedeu-tung einer wissenschaftstheoretischen Unterscheidung, in: I. Craemer-Ruegenberg/A. Speer(Hgg.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter, Berlin/New York 1994 (Miscel-lanea Mediaevalia 22,1), S. 204–214.

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 115

daß es vom abgetrennten, göttlichen Seienden gewissermaßen einevon der Metaphysik unterschiedene, auf gewisse Weise eine mit ihridentische Wissenschaft gibt: die Wissenschaft vom göttlichen Seien-den ist eine andere als die Metaphysik, wie subalternierte und subal-ternierende Wissenschaft unterschieden sind, und sie ist in der Weiseaber auch dieselbe, wie die subalternierte Wissenschaft dieselbe wiedie subalternierende ist.57 Das Subalternationsverhältnis, mittels des-sen der Zusammenhang der beiden Metaphysiken auf der Ebene desfaktischen Wissens beschrieben wird, gründet sich gerade darin, daßdas göttliche Seiende von uns nicht auf natürliche Weise erkannt wer-den kann, sondern eine Erkenntnis nur anhand der transzendentalenBegriffe möglich ist, nicht aber durch einen eigentümlichen Sinngehalt.Mag das abgetrennte Seiende auch eigentümliche Eigenschaften nebenden Eigenschaften des allgemeinen Seienden besitzen, so bleiben diesefür uns doch gänzlich unbekannt, wenn sie uns nicht durch die Prin-zipien des Seienden erklärt werden. Daher nimmt die Wissenschaft,die vom abgetrennten Seienden handelt, ihre Prinzipien von der allge-meinen Seinswissenschaft, die von diesen transcendentia handelt, und diedamit zugleich den Beweis leistet, daß das göttliche Seiende existiert.Die Wissenschaft vom abgetrennten Seienden, so wiederholt Franzis-kus im VI. Buch noch einmal, wird somit aufgrund der Bedingtheit desmenschlichen Erkenntnisvermögens in bestimmter Weise mit der allge-meinen Seinswissenschaft ‚vermischt‘ (admiscetur).58 Für die Physik unddie Mathematik, die beiden anderen theoretischen Wissenschaften, giltdiese Abhängigkeitsrelation im Sinne der subalternatio deswegen nicht,weil hier die Prinzipien durch sich bekannt sind und nicht von denPrinzipien des Seienden abhängen. Physik und Mathematik sind daherschlechthin von der Metaphysik distinkte Wissenschaften. Die für uns

57 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam VI, 16, ed. Zimmermann,S. 99: „Si autem loquitur de ente secundo modo, ut est cognoscibile a nobis a pos-teriori, sic dico, quod de ente separato est quodam modo scientia alia a metaphysicaet quodam modo eadem. Est autem alia sicut scientia subalternata est alia a subalter-nante. Est autem eadem 〈sicut〉 scientia subalternata est eadem subalternanti“.

58 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam VI, 16, ed. Zimmermann, S. 99:„Quod patet, quia ens separatum non cognoscitur a nobis naturaliter nisi per conceptustranscendentes entis, unius, multi, actus et potentiae, simplicis et compositi, finiti etinfiniti, non autem per propriam rationem. Ideo scientia, quae est de ente separato,accipit principia sua a scientia, quae est de ente. Propter quod probare ens separatumesse pertinet ad scientiam de ente, quia ens separatum non probatur nisi per conceptustranscendentes, secundum Avicennam in I° Metaphysicae. Ergo scientia de ente separatoadmiscetur quodam modo cum scientia de ente“.

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116 kapitel ii

mögliche Wissenschaft vom göttlichen Seienden aber hat keine eigen-ständigen Prinzipien neben den Prinzipien des Seienden.Bemerkenswert ist, daß Franziskus bereits an dieser Stelle, im VI.

Buch des „Metaphysik-Kommentars“, nicht mehr von ‚Allgemeiner‘und ‚Besonderer Metaphysik‘ spricht, sondern nur noch von ‚Meta-physik‘ im Sinne der allgemeinen Seinswissenschaft und von der ‚Wis-senschaft vom abgetrennten Seienden‘ im Sinne der theologischen Wis-senschaft. Welche Bedeutung dieser terminologischen Verschiebung zu-kommt, läßt sich aus dem folgenden erschließen: nicht nur auf derEbene des Wissens pro nobis, sondern auch auf der Ebene eines idea-len Wissens gibt es eine Aufspaltung der Metaphysik in eine allge-meine Seinswissenschaft und in eine göttliche Wissenschaft. Auch wiedas göttliche Seiende in sich selbst, d.h. seiner Natur nach erkennbarist, muß es von ihm Franziskus zufolge eine eigenständige und distinkteWissenschaft ‚neben‘ der allgemeinen Seinswissenschaft geben, genausowie es vom unabtrennbaren Seienden eine eigenständige Wissenschaftneben der allgemeinen Seinswissenschaft gibt.59 Franziskus’ Argumentehierfür sind dieselben wie diejenigen, die er auf der Ebene des fakti-schen Wissens anführt; so, wie das unabtrennbare Seiende eigentüm-liche Eigenschaften hat, die von diesem aus eigenständigen Prinzipiengeschlossen werden können, und es daher von diesem eine gesonderteWissenschaft neben der allgemeinen Seinswissenschaft gibt, so hat auchdas abtrennbare Seiende eigentümliche Eigenschaften, die von ihmaus eigenständigen Prinzipien geschlossen werden können, weshalb esauch von ihm selbst eine besondere Wissenschaft neben der allgemei-nen Seinswissenschaft geben muß. Und diese Wissenschaft ist geeignet,durch eigenständige Prinzipien erlangt zu werden.Franziskus’ Ausführungen im VI. Buch der „Quaestiones in meta-

physicam“ machen mehreres deutlich: Die Unterscheidung einer ‚All-gemeinen‘ und einer ‚Besonderen Metaphysik‘ findet sich sowohl imBereich unserer Erkenntnismöglichkeiten, d.h. auf der Ebene des fakti-schen Wissens, als auch im Bereich einer apriorischen Erkenntnis, d.h.auf der Ebene eines idealen Wissens. Franziskus von Marchia nimmtalso für beide Ebenen, für den Bereich des Wissens pro nobis ebenso wiefür den Bereich eines Wissens in se, die Aufspaltung in eine ‚Allgemeine‘und in eine ‚Besondere Metaphysik‘, allgemeiner gesprochen: in eine

59 Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam, ed. Zimmermann, S. 99: „Pri-mo modo de ente separato est propria scientia et distincta praeter scientiam, quae estde ente, sicut de ente inseparabili est propria scientia praeter scientiam de ente.“

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 117

ontologische und eine theologische Wissenschaft an. Allerdings gestal-tet sich das Verhältnis beider Wissenschaften zueinander und damit dasMaß ihrer ‚Autonomie‘ in unterschiedlicher Weise. Im Bereich des fak-tischen Wissens besteht aufgrund der dargestellten wissenschafts- underkenntnistheoretischen Abhängigkeiten ein spezifisches Subalternati-onsverhältnis, bei dem die ‚Besondere Metaphysik‘ der ‚Allgemeinen‘untergeordnet (subalterniert) ist, was vor allem durch das Unvermögender menschlichen Erkenntniskraft bedingt ist, die göttlichen Wesens-eigenschaften und Prinzipien auf natürliche und selbständige Weise(ohne Zuhilfenahme der transzendentalen Begriffe) zu erfassen. Aufder Ebene eines idealen Wissens fällt diese Begrenztheit natürlicher-weise weg und ermöglicht somit eine vollkommene Eigenständigkeitder beiden Wissenschaften, da die Wissenschaft vom göttlichen Sei-enden hier prädestiniert ist, aufgrund selbständiger Prinzipien erlangtzu werden. Und diese ‚Autonomie‘ der beiden Wissenschaften auf derEbene des Wissens in se spiegelt sich auch signifikant in ihrer Benen-nung wider: die Wissenschaft, wie sie auf der Ebene des idealen Wis-sens vom göttlichen Seienden ‚in sich‘ handelt, wird von Franziskusnun nur noch als ‚scientia divina‘/‚theologia‘, die Wissenschaft vom Seien-den als solchen auf dieser Ebene nur noch als ‚metaphysica‘ bezeichnet.Tatsächlich scheint diese ‚Umbenennung‘ adäquat, da eine Spezifizie-rung, die sich im Rahmen einer terminologischen Abstufung von ‚all-gemeiner‘ und ‚besonderer‘ Wissenschaft bewegt, nur dann sinnvoll ist,wenn auch irgendeine besondere Form von inhaltlicher Abhängigkeitbesteht. Diese vor allem epistemologische Bezogenheit fällt jedoch aufder Ebene des idealen Wissens notwendigerweise weg und macht damitzugleich eine ‚autonome‘ Benennung sinnvoll.Erstaunlich scheint dabei allerdings, daß Franziskus von Marchia im

VI. Buch des „Metaphysik-Kommentars“—wie im Vorangegangenenangedeutet—schließlich auch auf der Ebene des faktischen Wissens vonder Bezeichnung ‚Allgemeine‘ und ‚Besondere Metaphysik‘ abweicht,was doch im Gegensatz, zumindest aber in veränderter Nuancierunggegenüber seinen Ausführungen im I. Buch und seiner Konzeptioninsgesamt zu stehen scheint. Gerade in der Unterscheidung zweierWissenschaften ‚innerhalb‘ der Metaphysik schien die Anpassung vonFranziskus’ Metaphysik-Konzeption an die besonderen Bedingungendes Bereichs menschlichen Wissens ihren angemessenen Ausdruck zufinden. Weshalb soll sich dies nun erübrigen können? Aufschlußrei-ches zu dieser Beobachtung finden wir im Prolog des „Sentenzen-Kommentars“, wo sich Franziskus genau mit diesem Problem der Be-

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118 kapitel ii

nennung der beiden metaphysischen Wissenschaften im Bereich des füruns möglichen Wissens in besonderer Weise auseinandersetzt.

6. Überwindung der Unterscheidungvon Allgemeiner und Besonderer Metaphysik?

Franziskus von Marchia führt im Prolog zu seinem „Sentenzen-Kom-mentar“ selbst ein Bedenken an, welches über die Ausführungen im„Metaphysik-Kommentar“ insofern hinauszugehen scheint, als hier einneues Problembewußtsein anklingt. Man könnte sich schließlich fragen,so Franziskus, ob die Wissenschaft von Gott nicht, „statt eine ‚Beson-dere Metaphysik‘ zu sein, lediglich ein gewisser ‚Teil der Metaphysik‘sei“.60 Ist der Wissenschaft, die vom göttlichen Seienden handelt, tat-sächlich ein ‚eigenständiger Status‘ zuzusprechen? Marchia bejaht dies,da sie als subjektiver Teil der Metaphysik (in dem das Allgemeine alsGanzes bewahrt wird) notwendig auch ‚Metaphysik‘ sei; und da die‚Allgemeine Metaphysik‘ vom Seienden im allgemeinen handelt, ist esalso die ‚Besondere Metaphysik‘, die vom göttlichen Seienden handelt,was ja bereits ausführlich gezeigt wurde. Denn nur, wenn die Wis-senschaft von Gott integraler Teil der Metaphysik wäre—in dem derSinngehalt des Ganzen jedoch nicht bewahrt wird—, wäre sie nichtMetaphysik (aber auch keine andere Wissenschaft, d.h. gar keine Wis-senschaft, was unmöglich ist, da jede wissenschaftliche Kenntnis Wis-senschaft ist).61 Franziskus hält also zunächst noch gänzlich an seinerLehre einer zweifachen Metaphysik fest und bekräftigt gegen den vor-gebrachten Einwand die Eigenständigkeit der göttlichen Wissenschaftals „Besondere Metaphysik“.Weitergehend, so Franziskus, könnte jedoch eingewandt werden, daß

die göttliche Wissenschaft weder ‚Besondere‘ noch ‚Allgemeine Meta-

60 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 373: „Forte dices quod sciencia de Deo non est metaphisica particularis, setest quedam pars metaphisice“.

61 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 373: „Contra. Aut est pars metaphisice subiectiua, aut integralis; si estpars subiectiua eius, igitur est metaphisica, quia in parte subiectiua saluatur totumuniuersale et non est metaphisica communis, quia illa est de ente; igitur est metaphisicaparticularis: quod est propositum; si est pars integralis—et in parte integrali nonsaluatur racio tocius—igitur non est metaphisica et non est alica alia sciencia; igiturnon est sciencia: quod falsum est, quia omnis noticia scientifica est sciencia; igiturrelinquitur primum, quod sit metaphisica particularis“.

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 119

physik‘, und auch kein Teil der Metaphysik—weder integraler nochsubjektiver—sei, sondern vielmehr eine besondere Wissenschaft, diesowohl von der Metaphysik als auch von den anderen besonderen Wis-senschaften als „göttliche Wissenschaft“ (scientia divina) unterschiedenist.62 Auch gegen diesen Einwand wiederholt er zunächst jedoch nocheinmal diejenigen, im Vorangegangenen bereits dargestellten Gründefür die Annahme, die göttliche Wissenschaft gehöre zur Metaphysik,genauer: zur ‚Besonderen Metaphysik‘ im strikten Sinne, zur ‚Allge-meinen Metaphysik‘ hingegen in einer abgeleiteten Weise. Er stützt sichdabei zudem auf die aristotelische Aussage im 2. Kapitel des I. Buchesder „Metaphysik“:63 „Die Erste Philosophie ist die Metaphysik; die gött-liche Wissenschaft gehört aber zur Ersten Philosophie, was aus demzweiten Kapitel der Metaphysik hervorgeht; also ist sie Metaphysik“.64

Zusammenfassend resümiert Franziskus:

„Man kann also sagen, daß die Metaphysik zweifach ist, wie es schongesagt wurde: nämlich allgemein und besonders, und man kann jede vonbeiden ‚göttliche Wissenschaft‘ nennen. Die Allgemeine Metaphysik istzuletzt (finaliter) göttliche Wissenschaft, weil sie das Sein Gottes beweist,und auf dieses wird sie auf vorrangige Weise hingeordnet, so daß—wasdurch sich selbst offenkundig ist—wir das Sein Gottes sichern können.Die Besondere Metaphysik ist göttliche Wissenschaft, weil sie die göttli-chen Vollkommenheiten erforscht“.65

„Quod si illud non placet…“—„Aber wenn dies nun alles nicht zufrie-denstellt…“?

Dann, so Franziskus, könnte als letzte Möglichkeit angenommen wer-den, daß die eigentümliche Wissenschaft von Gott, die aufgrund natür-

62 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 373: „Forte dices quod non est metaphisica particularis, nec communis, necest pars metaphisice integralis, nec subiectiua; set est quedam sciencia specialis distinctaa metaphisica et ab aliis scienciis specialibus et potest appellari sciencia diuina, que estde Deo“.

63 Aristoteles Latinus, Met. A 2, 983a5–11.64 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.

Mariani, S. 373: „Prima philosophia est metaphisica; set sciencia diuina pertinet adprimam philosophiam; patet 2 Metaphisice; igitur est metaphisica.“

65 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 373: „Potest igitur dici quod duplex est metaphisica, sicud dictum est:communis, scilicet, et particularis, et utraque potest dici sciencia diuina. Metaphisicacommunis est sciencia divina finaliter, quia probat Deum esse, et ad hoc ordinaturprincipaliter ut, patet per ipsam, possimus stabilire Deum esse; metaphisica particularisest sciencia diuina quia inuestigat perfectiones diuinas.“

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120 kapitel ii

licher Prinzipien zu haben möglich ist, tatsächlich nicht Metaphysiksei, und auch nicht ein Teil der Metaphysik, sondern eine besondereWissenschaft, die von der Metaphysik und den übrigen Einzelwissen-schaften gänzlich unterschieden ist, die aber in die Metaphysik gestelltwird (collocatur) aufgrund ihres Gegenstandes (subiectum), der in dieserbewiesen wird. Sie ist somit jedoch kein Teil von dieser und kann untereinem eigenen, speziellen Namen ‚göttliche Wissenschaft‘ genannt wer-den.66 Und dies würde dann in der Tat bedeuten, daß die Wissenschaft,die das Göttliche zum Gegenstand hat, nicht mehr als Besondere Meta-physik aufzufassen ist, sondern als von der Metaphysik getrennte scientiadivina oder theologia (und auch nur noch unter dieser Bezeichnung auf-taucht).

„Et forte iste modus est convenientior primo…“—„Und vielleicht istdiese Weise angemessener als die erste…“

Angemessener deshalb, weil die göttliche Wissenschaft, die Theologie,damit eher einen gänzlich eigenständigen Status wie die beiden ande-ren von der allgemeinen Seinswissenschaft unterschiedenen Wissen-schaften zugesprochen bekommt. So, wie die Physik, die vom sinnenfäl-ligen Seienden handelt, eine andere Wissenschaft ist als die Metaphysik,und damit weder ‚Allgemeine‘ noch ‚Besondere Metaphysik‘ ist, undauf ähnliche Weise die Mathematik, die vom dem Begriff nach abge-trennten Seienden handelt, eine andere Wissenschaft ist als die Meta-physik, und ebenfalls weder ‚Allgemeine‘ noch ‚Besondere Metaphysik‘ist, so wäre damit analog auch die Theologie, die vom in Wirklichkeitabgetrennten Seienden handelt, eine andere Wissenschaft als die Meta-physik und weder ‚Allgemeine‘ noch ‚Besondere Metaphysik‘.67 Die

66 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 373 f.: „Quod si illud non placet, potest teneri ultima uia, quod scienciapropria de Deo possibilis haberi ex principiis naturalibus non est metaphysica, nec estpars metaphisice, set est quedam sciencia specialis distincta a metaphisica et ab aliisscienciis specialibus, set collocatur in metaphisica racione sui subiecti, quod demonstra-tur in ea, non tamen quod sit de ea, set quia metaphisica demonstrat subiectum suumesse, ideo collocatur in metaphisica, et potest speciali nomine appellari sciencia diuina.“

67 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 373: „Et forte iste modus est conueniencior primo, et sicud phisica, que estde ente sensibili, est alia a metaphisica, et non est metaphisica communis nec parti-cularis; similiter mathematica, que est de ente separato secundum racionem est alia ametaphisica, 〈nec est metaphisica〉 communis nec particularis; ita sciencia, que est deente separato secundum rem, est alia a metaphisica, nec est metaphisica communis necparticularis“.

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theologische Wissenschaft würde somit zu einer ebenso eigenständigenund von der zugrundeliegenden allgemeinen Seinswissenschaft unab-hängigen Wissenschaft wie die anderen Einzelwissenschaften, womit sieangemessenerweise auch nicht mehr als Besondere Metaphysik, son-dern ihrem selbständigen Status gemäß als „göttliche Wissenschaft“zu bezeichnen wäre. Zugleich kann dann die ontologische Metaphy-sik allein als ‚metaphysica‘ bestehen. In gewisser Weise werden damit dieVerhältnisse der Ebene eines idealen Wissens von Franziskus in einemletzten Schritt (idealerweise) auch auf die Ebene des faktischen Wis-sens übertragen, die er zuvor stets als durch den menschlichen Verstandbedingten Kontext gekennzeichnet hatte.Aber läßt sich tatsächlich auch hier eine vollständige Autonomie

beider Wissenschaften denken? Eine abschließende Bemerkung machtdeutlich, daß Franziskus eine solch strikte Trennung im Bereich desfaktischen Wissens nicht völlig uneingeschränkt gelten lassen kann under die Theologie als diejenige Wissenschaft, die vom in Wirklichkeitabgetrennten Seienden handelt, doch immer noch als von der Meta-physik abhängig und weit mehr zur Metaphysik zählt als Physik oderMathematik, deren Gegenstände nicht in der Metaphysik bewiesenwerden, sondern von den Sinnen her genommen sind. Der Gegenstandder scientia divina aber wird—da er nicht von den Sinnen her genom-men ist—weiterhin gerade in der Metaphysik bewiesen.68 Wie also istvor diesem Hintergrund die Zuspitzung, wie sie sich im „Sentenzen-Kommentar“ findet, abschließend zu werten?

7. ‚Spaltung der Metaphysik‘ oder ‚Emanzipierung der Theologie‘?

In Auseinandersetzung mit der aristotelischen Konzeption der Meta-physik nimmt Franziskus von Marchia im Rahmen seines originärenMetaphysik-Entwurfs, wie er ihn in seinen „Quaestiones in metaphysi-cam“ entwickelt, eine Aufspaltung der Metaphysik sowohl in eine allge-meine Seinswissenschaft (metaphysica communis) als auch in eine theologi-sche Wissenschaft (metaphysica particularis) vor, die beide im Bereich des

68 Vgl. Franciscus de Marchia, Commentarius in librum Sententiarum, prologus, q. 2, ed.Mariani, S. 373 f.: „(…) set pro tanto ista, que est de ente separato secundum rem,magis collocatur in metaphisica quam phisica aut mathematica, quia subiectum phisiceet mathematice non demonstratur in metaphisica set est acceptum a sensu; subiectumautem istius, cum non sit acceptum a sensu, demonstratur in metaphisica, ideo istamagis collocatur in metaphisica quam illa.“

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122 kapitel ii

für den Menschen möglichen Wissens angesiedelt sind. Er synthetisiertdamit gleichermaßen die Modelle vorangehender Denker, die jeweilsnur einer der aristotelischen Wesensbestimmungen Platz einräumten,vor allem übersteigt er somit jedoch auch die Konzeption des Johan-nes Duns Scotus, der die Metaphysik mit Blick auf die epistemischenBedingtheiten des Menschen einzig als scientia transcendens, als ontolo-gische Wissenschaft, für möglich erachtete, die Metaphysik im Sinneder Theologie hingegen nur im Bereich des idealen Wissens gelten ließ.Franziskus—und das ist bemerkenswert—nimmt demgegenüber nichtnur eine Theologie im Bereich des faktischen Wissens an (und damiteine ‚Verdopplung‘ der metaphysischen Theologie), sondern er postu-liert auch für beide Bereiche eine metaphysische Ontologie. Sowohl aufder Ebene eines Wissens in se als auch auf derjenigen des Wissens pronobis finden sich somit beide Wesensbestimmungen der aristotelischenMetaphysik ‚disziplinär verwirklicht‘.Das Verhältnis dieser beiden Wissenschaften zueinander gestaltet

sich jedoch auf den beiden Ebenen in unterschiedlicher Weise: bestehtaufgrund der Begrenzungen des menschlichen Erkenntnisvermögensauf der Ebene des faktischen Wissens ein spezifisches Subalternations-verhältnis, das sich in der ‚Abhängigkeit‘ der ‚Besonderen‘ von der ‚All-gemeinen Metaphysik‘ manifestiert, so erweist sich dieses auf der Ebeneeines idealen Wissens selbstverständlich als nicht notwendig. Hier erschei-nen beide Wissenschaften als unabhängig und vollständig voneinandergetrennt. Dies schlägt sich auch in der Bezeichnung der Wissenschaftennieder; Franziskus nennt sie dort nur noch ‚Metaphysik‘ und ‚Theolo-gie‘ und verwendet nicht mehr die auf der Ebene des Wissens pro nobiseingeführten Begriffe ‚Allgemeine‘ und ‚Besondere Metaphysik‘.Bemerkenswerterweise überträgt Franziskus diese Bezeichnungen,

‚metaphysica‘ und ‚scientia divina‘/‚theologia‘, im Prolog seines „Sentenzen-Kommentars“ (andeutungsweise auch schon im 6. Buch des „Metaphy-sik-Kommentars“) jedoch auch auf die Wissenschaften im Bereich desfaktischen Wissens. Er scheint damit das Theorem einer Aufgliederungder Metaphysik in eine ‚metaphysica communis‘ und eine ‚metaphysica par-ticularis‘ gänzlich durch die Aufspaltung in Metaphysik und Theologieabzulösen. Man wird aufgrund der vorangegangenen Darstellung fest-stellen müssen, daß Franziskus in seiner Metaphysik-Konzeption letz-ten Endes wohl nicht primär die Aufgliederung der Metaphysik in eine‚Allgemeine‘ und eine ‚Besondere Metaphysik‘ beabsichtigt haben mag,wenngleich sowohl Franziskus’ eigene Herangehensweise zu Beginn sei-nes „Metaphysik-Kommentars“ als auch die philosophiegeschichtliche

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 123

Wirkkraft dieses Theorems eine solche Vermutung zunächst durchausnaheliegend erscheinen lassen. Vielmehr erweist sich dieses durch Fran-ziskus von Marchia erstmals entwickelte Modell zweier Metaphysikenjedoch als eine gleichsam ‚abgeleitete‘ Form der eigentlichen Trennungder Theologie von der Metaphysik im Bereich eines idealen Wissens,wie sie sich allererst aufgrund der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten,vor allem aber durch deren Bedingtheiten ergibt. Beide Konzeptionen—die zweier Metaphysiken ebenso wie die einer strikten Trennung vonMetaphysik und Theologie—erscheinen somit als den beiden Kontex-ten, für die sie Gültigkeit besitzen (dem Bereich des Wissens ‚in sich‘und demjenigen ‚für uns‘), in angemessener Weise angepaßt.Die Bemerkungen im Prolog des „Sentenzen-Kommentars“ belegen,

daß sich aus der Perspektive eines idealen Wissens das neu eingeführteTheorem von ‚Allgemeiner‘ und ‚Besonderer Metaphysik‘ tatsächlichweniger als ein ursprünglich intendiertes Moment denn als ein demfaktischen Wissen entsprechendes, damit aber eher ‚defizitäres Pendant‘zu der aus den Möglichkeiten eines idealen Wissens erwachsenen Tren-nung von Metaphysik und Theologie erweist. Wenngleich die von Fran-ziskus explizit ausgesprochene Möglichkeit einer Übertragung der—aufder Ebene des idealen Wissens adäquat erscheinenden—Benennungder beiden Wissenschaften als metaphysica und theologia auf der Ebenedes faktischen Wissens die Bedingungen des menschlichen Verstandeszu übersteigen scheint, so stellt sie doch in gewisser Weise ein ‚Kor-rektiv‘ der Angehensweise im 1. Buch des „Metaphysik-Kommentars“dar, in dem Franziskus durch die Betonung der Verbundenheit von‚Allgemeiner‘ und ‚Besonderer Metaphysik‘ in besonderer Weise dasMoment der Einheit der aristotelischen Metaphysik-Konzeption zumTragen kommen ließ. Aus diesem Blickwinkel, der sich allererst ausder Zusammenschau des „Sentenzen-Kommentars“ mit den Ausfüh-rungen im (früheren?) „Metaphysik-Kommentar“ ergibt, erweist sichsomit, daß Franziskus von Marchia die Theologie—entgegen dem Bild,wie es sich zunächst innerhalb der „Quaestiones in metaphysicam“ fürden Bereich des Wissens pro nobis zeigte—gänzlich aus dem Gegen-standsbereich der Metaphysik ausschließt und als eigenständige Wis-senschaft neben dieser etabliert. Treffend scheint die Bemerkung vonW. Goris, aus der Unterscheidung ‚innerhalb‘ der Metaphysik erwachsesomit letztlich eine Unterscheidung ‚von‘ der Metaphysik.69 Damit wäre

69 Vgl. W. Goris, The Scattered Field. History of Metaphysics in the Postmetaphysical Era,

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124 kapitel ii

aber zugleich auch der eigentliche Kern von Franziskus’ Metaphysik-Konzeption zu korrigieren: nicht die erste Unterscheidung einer ‚All-gemeinen‘ und einer ‚Besonderen Metaphysik‘ scheint hier im Vorder-grund gestanden zu haben, sondern vielmehr die Emanzipierung derTheologie von der Metaphysik, deren adäquate Umsetzung Franziskusvon Marchia auf der Ebene des für uns möglichen Wissens in dem his-torisch bedeutsam gewordenen Theorem einer metaphysica generalis undeiner metaphysica specialis erstmals explizit entwarf.

* * *

Eine Frage ist am Schluß dieses Kapitels allerdings noch nicht hinrei-chend beantwortet worden: Was hat nun die im Rahmen der 3. Quaes-tio des „Quodlibet“ geleistete ‚Erarbeitung‘ des (supertranszendentalen)res-Begriffs (als intentio neutra), wie er sich anhand des Modells der Satz-struktur auf die Stelle des subiectum einer Wissenschaft, insbesondere derMetaphysik, zu positionieren schien, genau mit der soeben erörtertenAufspaltung der Metaphysik zu tun? Diese Frage stellt sich insbeson-dere aufgrund des Umstandes, daß das proprium subiectum der metaphysicageneralis zu Beginn der „Quaestiones in metaphysicam“ gerade nicht alsunivok für das ens reale ‚und‘ das ens rationis, sondern vielmehr als ledig-lich für alle Begriffe erster Intention gültig bestimmt wurde.Ich glaube, daß gerade die in der Ausprägung des Metaphysik-

Subjekts (bzw. der zwei Metaphysik-Subjekte) nicht zum Tragen kom-mende, in „Quodl. 3“ entwickelte ‚Super-Transzendentalität‘ der erstenVerstandesbegriffe die Aufspaltung der Metaphysik konzeptionell aller-erst ermöglicht. Wie am Ende des I. Kapitels der vorliegenden Unter-suchung deutlich geworden ist, basiert Franziskus’ Entwurf grundle-gend auf der neu vorgenommenen Dissoziation von proprium subiectummetaphysicae und primum obiectum intellectus. Der Gegenstand der Meta-physik—der beiden Metaphysiken—ist nicht identisch mit dem ers-ten Gegenstand des menschlichen Intellekts. Und genau diese syste-matische Bedingung findet sich für die zwei Metaphysiken verwirk-licht: Gegenstand der ‚Allgemeinen Metaphysik‘ ist nicht das primumobiectum intellectus, wie es von Franziskus auf neue Weise als ‚super-transzendental‘ gezeigt worden ist, sondern der überlieferte Transzen-dentalbegriff des ‚Dinges‘, der sich allein auf alles Realseiende, auf dieBegriffe erster Intention zu erstrecken vermag; und Gegenstand der

Louvain 2004, S. 29: „The distinction within metaphysics thus grows into a distinctionof metaphysics.“

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das erste modell einer aufspaltung der metaphysik 125

‚Besonderen Metaphysik‘ ist auch nicht das primum obiectum intellectus,sondern Gott. Nur, indem Franziskus von Marchia das primum obiectumintellectus vom eigentümlichen Gegenstand der Metaphysik ablöst undzudem neu—supertranszendental—bestimmt, kann er beide (aristotelische)Gegenstandsbestimmungen konzeptionell legitimieren und gleicherma-ßen in seinem Metaphysik-Entwurf etablieren. Das Schema, das sichzusammenfassend am Ende des ersten Kapitels findet, ließe sich dem-nach folgendermaßen ergänzen:

Wenn sich nun in Franziskus’ Entwurf die ‚supertranszendentale‘ Erweite-rung des primum obiectum intellectus (d.h. der ersten Verstandesbegriffe) alskonstitutiv für die Ermöglichung der zwei Subjekte der Metaphysik (unddamit für die Spaltung der Metaphysik überhaupt) erweist—gerade weiles diese ihrem ontologischen Umfang nach übersteigt und damit vomproprium subiectum metaphysicae dissoziiert ist—, müssen wir im folgendenKapitel diese ‚Super-Transzendentalisierung‘ selbst noch einmal geson-dert in den Blick nehmen. Wie legitimiert Franziskus überhaupt solche,ontologisch auf den Bereich des Gedanklichen erweiterten Erstbegriffedes menschlichen Intellekts?

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kapitel iii

‚INTENTIONES NEUTRAE‘—DIE LEGITIMATION‚SUPER‘-TRANSZENDENTALER BESTIMMUNGEN

Erst durch den Aufstieg zur Hochfläche derTranszendentalien wird die Philosophie jenefürstliche Wissenschaft, die die ganze Weltder bloß kategorialen Bereiche tief unter sichliegen sieht. Sie allein steht im blauen Ätherder wahrhaften Unendlichkeit des Seins.1

Bereits die Betrachtung von „Quodl. 3“, wie wir sie im I. Kapitel dervorliegenden Studie vorgenommen haben, hat gezeigt, daß Franzis-kus von Marchia den mittelalterlichen Transzendentalbegriffen ‚unum‘,‚verum‘ und ‚bonum‘, in besonderer Weise aber vor allem den quidditati-ven transcendentia ‚res‘, ‚ens‘ und ‚aliquid‘, einen neuen ‚ontologischen Sta-tus‘ zuzubilligen scheint. Im Rahmen der übergeordneten Frage nachdem Stellenwert des Seinsbegriffs werden die bis dahin als ‚Erstbe-griffe‘ geltenden Transzendentalien von Franziskus gewissermaßen imSinne der später sog. ‚Supertranszendentalien‘ umgedeutet, indem erihnen einen—gegenüber den Konzeptionen vorangehender Denker—erweiterten Geltungsbereich zuspricht. Nicht mehr allein mit Blick aufalles Realseiende (ens reale), sondern auch auf den Bereich des ens ratio-nis müssen sich die transzendentalen Begriffe erstrecken, um ihremAnspruch als ‚Erstbegriffe‘ tatsächlich gerecht werden zu können. Ter-minologisch fand diese inhaltliche Modifikation und Kritik an der ‚klas-sischen‘ Transzendentalienlehre ihren Niederschlag in der Bestimmungder transcendentia als ‚intentiones neutrae‘. Die Transzendentalbegriffe wer-den in Franziskus’ Konzeption zu intentiones neutrae, da sie weder—wiebisher—als ‚Begriffe erster Intention‘ aufgefaßt werden (bezugnehmendauf den Bereich des Realseienden) noch als ‚Begriffe zweiter Inten-tion‘ (primär auf Gedankliches bzw. Begriffliches rekurrierend); viel-mehr übersteigen sie diese ursprüngliche Distinktion und umfassen beide

1 P. Wust, Ungewissheit und Wagnis IV, München/Kempten 1937, S. 152.

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128 kapitel iii

Bereiche gleichermaßen, womit sie sich zugleich als ‚indifferent‘ oder‚neutral‘ gegenüber der überkommenen Einteilung erweisen.2

Es findet sich somit bereits in der 3. Quaestio des „Quodlibet“ einegewisse inhaltliche Ausdeutung der intentiones neutrae, jener im 13. Jahr-hundert ursprünglich als lediglich die aristotelischen Kategorien über-steigend konzipierten Erstbegriffe ens, res, aliquid, unum, verum und bonum,d.h. der ‚transzendentalen‘ Begriffe, die nun einen neuen und umfas-senderen (nämlich auf das ens rationis hin ausgedehnten) Gegenstands-bereich zugeschrieben bekommen. Im Grunde liefert Franziskus aberim Zusammenhang der 3. Quaestio, in der es ihm ja vor allem umeine Korrektur der traditionellen Auffassung von der Primatstellung desBegriffs des ‚Seienden‘ und um eine damit einhergehende, verändertehierarchische Ordnung innerhalb der gesamten Gruppe der transzen-dentalen (nunmehr ‚neutralen‘) Begriffe zu tun ist, keine nähere Erklä-rung für die ‚supertranszendentale Neubestimmung‘ der transcendentia.Wir müssen uns daher desweiteren fragen, wie die Konzeption jener‚intentiones neutrae‘ in ihrer Univozität für den Bereich des realen und desgedanklichen Seienden strukturell genauer zu denken sei. Denn letztenEndes bleibt innerhalb der Darlegungen von „Quodl. 3“ doch gänz-lich ungeklärt, ob die postulierte Modifikation der Transzendentalienim Sinne der ‚ontologischen Erweiterung‘ um den Gegenstandsbereichdes ens rationis grundsätzlich zu legitimieren sei.3 Inwiefern also scheint

2 Erinnert sei noch einmal an die bereits im 1. Kapitel näher untersuchte Textstelleaus der 3. Quaestio von Franziskus’ „Quodlibet“, ed. Mariani, S. 71 f.: „Quedam [inten-tiones] uero, sunt neutre: neque prime, neque secunde, set communes ad utramquesicud est forte intencio entis, que includitur formaliter in utraque intencione tam primaquam secunda. Et ita patet, quod non omnis intencio est prima uel secunda, quia estintencio entis que nec est prima nec secunda (…). Intencionum autem neutrarum posi-tiuarum quedam sunt quiditatiue sicud est intencio rei, intencio entis et aliquid, quedicunt quid; quedam sunt denominatiue siue qualitatiue sicud intencio unius, ueri etboni simpliciter.“

3 Einzig in Quodl. 3, 1, 2, liefert Franziskus überhaupt eine systematische Bestim-mung der intentio neutra, indem er dieser den Gegenbegriff der intentio determinata gegen-überstellt: „Item, intentio neutra est alia ab intentione determinata; set intentio rei〈non〉 est intentio neutra, quia nec abstracta, nec concreta. Patet, quia cuilibet inten-tioni abstracte conrespondet propria intentio concreta, et, e converso, cuilibet inten-tioni concrete abstracta; set intentioni rei non conrespondet alia intentio abstracta necconcreta; igitur est intentio neutra (…)“ (vgl. Quodl., 3,1,2, ed. Mariani, S. 81). Dieintentio neutra ist von der intentio determinata grundlegend zu unterscheiden, da diese aufeine bestimmte Form festzulegen ist (entweder konkret oder abstrakt), während dieintentio neutra sich in dieser Weise nicht determinieren läßt, sondern dieser Distinktiongegenüber unbestimmt (‚neutral‘) bleibt. Die intentio rei wird als intentio neutra bestimmt,weil sie—so Franziskus in einer nicht ganz unproblematischen Begründung—weder

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 129

hier tatsächlich erstmals eine Lehre von den später „supertranszenden-tal“ genannten Bestimmungen exemplifiziert? Auf welcher argumen-tativen Grundlage kann Franziskus die ‚traditionellen Transzendental-begriffe‘ so selbstverständlich als ‚intentiones neutrae‘ klassifizieren? Mitanderen Worten: Kann es überhaupt einen oder mehrere Begriffe geben,die etwas der ursprünglichen Einteilung in reales und gedankliches Sei-endes noch Vorangehendes bezeichnen und damit in gleicher Weise(univok) Gültigkeit besitzen sowohl für das ens reale als auch für das ensrationis?Innerhalb der 5. Quaestio seines „Quodlibet“ liefert Franziskus selbst

die entscheidenden Ausführungen zur Beantwortung dieser Fragen, wiesie sich aus den Darlegungen der 3. Quaestio ergeben. Sie erweisen sichdamit gleichsam ‚rückwirkend‘ als Schlüsseltext für eine argumentativeBegründung der dort so unvermittelt und ohne weitere Erläuterungeneingeführten intentiones neutrae, der späteren supertranscendentia. Im Folgen-den wollen wir daher die Argumentationsstrategie in „Quodl. 5“—dem‚Legitimations- und Ursprungsort‘ des ‚Super‘-Transzendentalen—ei-ner eingehenden Betrachtung unterziehen.

* * *

Daß die Option solcher univok für das Realseiende und das gedankli-che Seiende gültiger Erstbegriffe tatsächlich einer grundsätzlichen Le-gitimierung bedurfte und nicht etwa eine ‚Scheinfrage‘ darstellt, son-dern vielmehr in einem lebhaften Diskussionszusammenhang stand,belegen die kontroversen Debatten, wie sie bereits zu Franziskus’ Zeit,darüber hinaus aber noch weit bis in das 16. und 17. Jahrhunderthinein geführt wurden.4 Inwiefern Franziskus von Marchia innerhalb

abstrakt noch konkret sei (nec abstracta, nec concreta), d.h. ihr weder ein konkreter nochabstrakter Begriff entspreche (intentioni rei non conrespondet alia intentio abstracta nec concreta).Im Gegensatz dazu steht der Begriff des ‚Seienden‘; die intentio entis ist konkret, derBegriff der ‚Seiendheit‘ (intentio entitatis) bildet das entsprechend abstrakte Pendant: „(…)set intentio entis est intentio altera quia est intentio concreta, intentio autem entitatisest intentio abstracta; igitur intentio rei est alia ab intentione entis, sicud intentio neutraest alia ab intentione altera“ (vgl. Quodl., 3, 1, 2, ed. Mariani, S. 81). ‚Ens‘ gilt damit alsdas Beispiel für eine (spezifischere, damit aber auch nachgeordnete) intentio determinata.

4 Einen umfassenden Überblick und zahlreiches Material bezüglich dieser Debat-ten um die ‚Supertranszendentalien‘ liefern vor allem die bereits erwähnten Arbeitenvon J.P. Doyle, Art. ‚Supertranszendent; Supertranszendenz‘, in: Historisches Wörterbuch derPhilosophie 10, Basel 1998, Sp. 644–649, ders., Between transcendental and transcendental:the missing link?, in: The Review of Metaphysics 50 (1997), S. 783–815; ders., ‚ExtrinsicCognoscibility‘: A Seventeenth Century Supertranscendental Notion, in: The Modern Schoolman68 (1990), S. 57–80; ders., Supertranscendental Being: On the Verge of Modern Philosophy, in:

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130 kapitel iii

dieser doktrinären Streitigkeiten, die in ihrem grundsätzlichen Ringenum den ontologischen Status von Begriffen durchaus die ‚Geburts-stunde‘ supertranszendentaler Begriffe bedingten, mit seinem Modelleindeutig Stellung bezogen hat und erstmals einen maßgeblichen Ent-wurf vorlegte, soll ein kurzer Blick auf einige signifikante Positioneninnerhalb eben dieser Kontroverse belegen. Dazu seien zunächst—kontrastierend zu Franziskus’ Modell—die zentralen Argumente derGegner einer Supertranszendentalienlehre vorgestellt, mit denen sichFranziskus explizit auseinandersetzt. Die Befürworter einer Lehre vonden „supertranscendentia“ werden ihren Platz im Schlußkapitel der vorlie-genden Untersuchung finden, wenn wir den Fortgang dieser Entwick-lung im Anschluß an Franziskus von Marchia in den Blick nehmenwerden, um nach Einflüssen seiner Position zu suchen. Insbesonderevor dem Hintergrund der gegnerischen Modelle läßt sich Franziskus’Entwurf jedoch in seiner Individualität und Originalität, vor allem aberin seiner argumentativen Stoßrichtung adäquat erfassen.

1. Gegner einer Lehre von den „supertranscendentia“

Tatsächlich wurde—ausgehend von den Bemerkungen des JohannesDuns Scotus—gerade der Skotismus von der Frage ‚ontologisch be-wegt‘, ob das ‚ens inquantum ens‘ nun in univokem Sinne das ens reale,

S.F. Brown (Hg.), Meeting of the Minds. The Relations between medieval and classi-cal modern European Philosophy. Acts of the International Colloquium held at BostonCollege, June 14–16 1996, organized by the S.I.E.P.M., Turnhout 1998, S. 297–315, undders., Supertranscendental Nothing: A philosophical Finisterre, in: Medioevo 24 (1998), S. 1–30.Hingewiesen sei aber auch auf die Darstellung von J. A. Aertsen, Die Umformung derMetaphysik. Das mittelalterliche Projekt der Transzendentalien, in: J. Brachtendorf (Hg.), Pru-dentia und Contemplatio. Ethik und Metaphysik im Mittelalter. Festschrift für GeorgWieland zum 65. Geburtstag, Paderborn u.a. 2002, S. 89–106, und ders., The Medie-val Doctrine of the Transcendentals: New Literature, in: Bulletin de philosophie médiévale 41(1999), S. 107, 122, sowie auf die Studie von T. Kobusch, Das Seiende als transzendentaleroder supertranszendentaler Begriff. Deutungen der Univozität des Begriffs bei Scotus und den Scotis-ten, in: L. Honnefelder/R. Wood/M. Dreyer (Hgg.), John Duns Scotus. Metaphysicsand Ethics, Leiden/New York/Köln 1996 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte desMittelalters 53), S. 345–366. Kobusch liefert in systematischer Hinsicht oftmals deut-lich hilfreichere Anregungen und Erklärungen als die in der Tat sehr materialreichenSammlungen Doyles, der mehr am Rande auf die hinter der Entwicklung der Super-transzendentalien stehenden konzeptionellen Beweggründe eingeht. Zu den tatsäch-lichen Anfängen der Supertranszendentalienlehre bleiben allerdings bei beiden nochwesentliche Fragen und Zusammenhänge offen.

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 131

d.h. das geschaffene und das göttliche Sein meint, oder ob es als einnoch Allgemeineres zu denken ist, das auch die Distinktion von ens realeund ens rationis univok zu übersteigen vermag.5 Zugespitzt gefragt: Istder Begriff des ‚Seienden‘ im Hinblick auf die verschiedenen Seinsartendes ens reale und ens rationis univoker oder äquivoker Natur bzw. istdas Seiende somit ein transzendentaler oder ein super-transzendentalerBegriff?Zwei Stellen innerhalb der Texte des Johannes Duns Scotus sind es,

welche die Grundlage für eine solche Spekulation hinsichtlich der Mög-lichkeit eines supertranszendentalen Seinsbegriffs bilden. Diejenigen,die den skotischen Begriff des Seienden im allerweitesten, die Seinsar-ten des ens reale, ens rationis, gegebenenfalls auch des ens morale umfassen-den Sinn verstehen, berufen sich auf die bekannte Stelle in den Quodl.,q. 3, n. 2, wo Scotus anläßlich einer das Problem der Relation betref-fenden Frage die Äquivozität des Ausdrucks ‚res‘ erläutert: In der wei-testen Bedeutung des Wortes (communissime sumptum) ist ‚res‘ all und nurdas, was keinen Widerspruch in sich schließt; in diesem allgemeinstenSinn bezeichnet res sowohl das reale wie das Gedankending. Ein ‚Ding‘aber ist mithin alles, was begriffen werden kann, also das ‚conceptibile‘.6

Im Gegensatz dazu bildet die einzige Quaestio der d. 29 in den ReportataParisiensia I die skotische Referenzstelle für die Gegner eines in diesemSinne univoken Seinsbegriffs: „zwar mag ein univoker Begriff von Gottund Geschöpf abstrahiert werden können, nicht aber vom gedankli-chen und realen Ding (…), denn auf der einen Seite wäre ein solcherreal, auf der anderen Seite aber nur gedanklich“.7

Der Weg der Interpretationsgeschichte des skotischen Seinsbegriffsgabelt sich schon sehr früh.8 Die meisten Skotisten verstehen den Be-

5 Aus der Diskussion um den transzendentalen bzw. supertranszendentalen Cha-rakter des Seinsbegriffs erwächst somit offenkundig auch eine neue Bedeutung von,Univozität‘, die im Rahmen der skotischen Philosophie vorwiegend den besonderenZusammenhang zwischen dem geschaffenen und dem göttlichen Sein bezeichnete, nunaber immer mehr dazu zu dienen scheint, die supertranszendentale Gemeinsamkeit zwi-schen den verschiedenen Seinsarten (ens reale, ens rationis usw.) auszudrücken.

6 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quodl. III, Opera Omnia 25, S. 114: „Non ergo nomenrei, secundum usum loquendi, determinat se ad rem extra animam, et isto intellectucommunissimo, prout res vel ens dicitur quodlibet conceptibile, quod non includitcontradictionem, (…) posset poni ens primum objectum intellectus“.

7 Vgl. Johannes Duns Scotus, Rep. Par. I, 29, 10 (Op. omn. XI/I, S. 171a): „(…) licetposset abstrahi unus conceptus univocus a Deo et creatura, non tamen a re rationis, etre reali (…) quia ex una parte esset realis, et ex alia rationis tantum“.

8 Auch in der modernen Skotusforschung scheint diese kontroverse Interpretationdes skotischen Seinsbegriffs—wenngleich in veränderter Form und unter anderen his-

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132 kapitel iii

griff des ‚Seienden‘ als transzendentalen Begriff im überkommenenSinne, der im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen den verschie-denen Seinsbereichen äquivok zu verstehen ist. Die andere Interpre-tationsrichtung dagegen, derzufolge das ‚Seiende‘ als supertranszenden-taler Begriff aufzufassen ist, der die einzelnen Seinsarten, vor allemdie des ens reale und des ens rationis, in univokem Sinne bezeichnet,bleibt zunächst in der Tat ein ‚Sonderweg‘, der erst später vielfachbeachtet und erwähnt wurde. Die Auffassung, daß es einen gleicherma-ßen ‚super‘-transzendentalen Seinsbegriff gebe, der univoke Gültigkeitsowohl für das reale als auch für das gedankliche Seiende besitze, ist im14. und 15. Jahrhundert keineswegs als communis opinio zu werten. Eineweit größere Fraktion innerhalb der skotistischen Tradition lehnte einesolche Möglichkeit ab. Schon der frühe Skotist Johannes de Bassolis(† 1347) hält einen univoken Begriff des ‚Seienden‘, der gegenüber demBereich des Realen und des Gedanklichen in gleicher Weise indifferentwäre, für nicht denkbar:

„So ist auch nichts univok mit Blick auf das gedankliche Seiende (ensrationis) und das Realseiende (ens reale): denn jenes wäre gemäß seinerselbst (secundum se) ununterschieden (indifferens) hinsichtlich des realen unddes gedanklichen Seienden, was (jedoch) unerkennbar (inintelligibile) ist“.9

Und auch spätere Skotisten haben sich deutlich gegen die Vorstellungeines den entia realia und den entia rationis gemeinsamen sachhaltigenBegriffs ausgesprochen und eine Wissenshaft, die sich mit einem so ver-standenen supertranszendentalen Begriff des ‚Seienden‘ befaßt, für nichtmöglich gehalten; so etwa Petrus Tartaretus (1490 Rektor der PariserUniversität), der einen für das ens reale und das ens rationis gemeinsamenSeinsbegriff innerhalb der skotischen Tradition als äquivok bezeich-nete.10 Ebenso positionierten sich auch Vertreter der Spanischen Scho-

torischen Vorzeichen—als wesentliches Moment noch deutlich erkennbar zu sein, auchhier lassen sich zwei Interpretationsrichtungen klar unterscheiden: Die eine wird vorallem durch die Arbeiten von É. Gilson und T. Barth repräsentiert. Diesen steht gewis-sermaßen die Deutung des ens inquantum ens im Sinne eines supertranszendentalen Begriffesgegenüber, wie sie insbesondere in den Arbeiten von Borak, Kluxen, Honnefelder undCourtine erkennbar wird und auf Heideggers Interpretation des skotischen ens-Begriffesals einer „Gegenständlichkeit überhaupt“ zurückzugehen scheint.

9 Johannes de Bassolis, In Sent I, d. 29, q. 1, Paris 1516/17, fol. 166vb: „(…) sicut necenti rationis et enti reali est aliquid univocum: quia illud secundum se esset indifferensad ens reale et ens rationis quod est inintelligibile“.

10 Quaestio de subiecto Metaphysicae, in Petri Tartareti Parisiensis Scotistae subtilissimiIn Aristotelis Philosophiam […] Commentaria Pars Tertia, Venetiis 1614, 390 C.:

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 133

lastik oder skotistisch beeinflußte Vertreter der protestantischen Meta-physiktradition, wie Christoph Scheibler (1589–1653):

„Daß aber das Seiende von diesen äquivok ausgesagt wird, ist leichtverständlich. Denn das gedankliche und das reale Seiende (ens rationiset reale), das positive und privative Seiende, das ‚per se‘- und ‚per accidens‘-Seiende stimmen nur im Namen des Seienden (in nomine entis) überein,nicht aber in dessen Definition“.11

Claudius Frassen etwa legt mit Bezug auf die skotischen „ReportataParisiensia“, Buch I, d. 29, dar, daß es unmöglich sei, ein dem realenund gedanklichen Sein gemeinsames Seiendes als objektiven univokenBegriff zu denken, da jeder objektive Begriff von seinem Wesen her‚entweder‘ ein ens reale (die erkannte Sache als solche) ‚oder‘ ein ensrationis sei (das als solches immer nur objektive Existenz im Intellektbesitzen kann).12

Insgesamt läßt sich konstatieren, daß die Begründungen der Geg-ner eines supertranszendentalen Seinsbegriffs sich insgesamt vor allemdarauf stützen, daß ein univoker Seinsbegriff aufgrund der schein-bar unüberwindbaren Distinktion der beiden Seinsbereiche von vorn-herein auszuschließen sei. Innerhalb dieses Feldes der Gegner einessupertranszendentalen Seinsbegriffs ist jedoch ein Autor hervorzuhe-ben, der sich zwar nicht ausdrücklich gegen einen solchen Begriff aus-spricht (indem er die Unüberwindbarkeit der Distinktion ens reale—ensrationis nicht explizit thematisiert), der aber Th. Kobusch zufolge den-noch als einer der ersten gegen die Möglichkeit eines supertranszenden-talen Seinsbegriffs argumentierte.13 Es handelt sich dabei um Franzis-

„Sciendum est, quod dum (…) non quaerimus de ente communi enti reali et entirationis, quia tale in via Scoti est aequivocum“.

11 C. Scheibler, Opus Metaphysicum […], in: Opera philosophica, Frankfurt 1665, L.1,C. 1, n. 95 (26b): „Quod autem Ens dicatur de istis aequivoce, facile patet. Nam ensrationis et reale positivum et privativum, per se et per Accidens non conveniunt nisi innomine Entis, non autem in eius Definitione.“

12 Vgl. C. Frassen, Philosophia Academica quam ex selectissimis illustriorum Philosophorumpraesertim vero Aristotelis et Doctoris subtilis Scoti […] Secunda Pars, quae est Metaphysica, Tolosae1686, Quaest. Proem. Concl. III, 15a–b: „Ens generalissime sumptum non dividiturunivoce, sed aequivoce in ens reale et rationis: Haec est doctoris in 1 d. 29 q. unican. 1, ubi docet rationem principii in divinis non dici univoce de principio essentialiteret notionaliter seu personaliter accepto (…). Hoc est, nihil est commune enti simpliciteret enti secundum quid.“

13 Vgl. T. Kobusch, Ens inquantum ens und ens rationis. Ein aristotelisches Problem in derPhilosophie des Duns Scotus und Wilhelms von Ockham, in: J. Marenbon (Hg.), Aristotlein Britain during the Middle Ages, Turnhout 1996 (Proceedings of the Internationalconference at Cambridge 8–11 April 1994 org. by the S.I.E.P.M.), S. 157.

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kus’ Zeit- und späteren Leidensgenossen Wilhelm von Ockham, aufdessen Seinskonzeption wir an dieser Stelle einen kurzen Blick wer-fen wollen. Denn Wilhelm hat im Gegensatz zu den anderen Auto-ren nicht nur eine besonders ausgearbeitete Argumentation vorgelegt,sein Entwurf scheint zudem von derselben Ausgangsfrage auszugehenwie die entgegengesetzt argumentierende Strategie des Franziskus vonMarchia. Gerade dadurch vermögen beide Modelle einen interessantenVergleich zu liefern, indem sie dieselbe Frage verwenden, um darauf-hin zu zwei völlig entgegengesetzten Ergebnissen zu kommen. Wilhelmvon Ockham scheint innerhalb der Diskussion um einen umfassen-den (‚supertranszendentalen‘) Seinsbegriff auch deswegen eine beson-dere Rolle zuzukommen, da er im Gegensatz zu den Entwürfen, die ingrundsätzlicher Weise gegen univok für das Reale und das Gedankli-che gültige Begriffe argumentieren, da sie die Distinktion von ens realeund ens rationis als nicht weiter ‚transzendierbar‘ ansahen, ganz andersvorgeht: Nicht die unüberwindbare Distinktion beider Bereiche machteinen supertranszendentalen Seinsbegriff unmöglich, vielmehr scheintgerade die Aufhebung der traditionellen Trennung beider Seins- undBegriffsbereiche einen univoken, übergeordneten Begriff zu verneinen.Die entscheidende Wende vollzieht Ockham dabei insbesondere hin-sichtlich der Deutung des ontologischen Status des ens rationis.Zunächst vertrat Ockham zur Bestimmung des gedanklichen Seien-

den die sog. „Fictum-Theorie“, die er später zugunsten der sog. „Intel-lectio-Theorie“ revidierte. Gemäß der Fictum-Theorie kommt dem vomIntellekt ‚Gebildeten‘, d.h. dem Gedachten und Vorgestellten schlecht-hin (also sowohl Begriffen, Sätzen und Syllogismen als auch den sog.„Figmenta“) der ontologische Status des „esse intentionale“ oder „esseobiectivum“ zu.14 Das ens rationis bzw. ens in anima, das als fictum somitnur die Seinsweise des intentionalen oder objektiven Seins besitzt, istdabei der Bestimmbarkeit durch die zehn Kategorien entzogen, dalediglich das extramentale, also das reale Sein kategorial bestimmbarund dem Substanz-Akzidenz-Schema unterworfen ist.15 Während somit

14 Vgl. zur Fictum-Theorie Wilhelms von Ockham die entsprechende Darstellung beiTh. Kobusch, Sein und Sprache. Historische Grundlegungen einer Ontologie der Sprache, Leiden1987, S. 155–160 und S. 181ff.

15 Vgl. Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum (Ordinatio) I, d. 2,q. 8 (Op. Theol. II, S. 273, n. 5): „(…) et ens extra animam dividitur in decem praedi-camenta“, und ebd., S. 283, n. 12: „Et quando dicitur ‚quidquid est, est substantia velaccidens‘, illud est verum quod quiquid est extra animam est substantia vel accidens,non tamen quidquid est in anima obiective est substantia vel accidens“.

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 135

das Gedachte und Vorgestellte als solches im Sinne des ens diminu-tum/imperfectius dem ens reale ontologisch unterstellt ist, ist das intramen-tale Sein—insofern es akthafte oder qualitative Wirklichkeit ist—gemäßder Intellectio-Theorie als „wahre Sache“ der Gesamtwirklichkeit anzu-sehen.16 Ockhams Intellectio-Theorie besagt zunächst, daß der ‚Begriff‘als Akt der Erkenntnis und als passio animae aufzufassen sei, indem erden Intellekt im Sinne einer realen Qualität bestimmt und somit dieSeinsweise des subjektiven Seins hat.17 Dem Begriff an sich kommtsomit ein zwar ‚intramentales‘, aber doch ‚reales‘ Sein zu, insoferner als eine reale qualitas dem Intellekt als seinem subiectum inhäriert.18

Ockhams spätere Ablehnung der Fictum-Theorie und seine Favorisie-rung der Intellectio-Theorie ist Kobusch zufolge nicht nur eine auf dieUniversalienfrage beschränkte Entwicklung, sondern betrifft vielmehrdie Deutung des Seinsbereichs der entia rationis überhaupt, indem siedie Reduzierung der Seinsbereiche auf den einen des ens reale bedeu-tet.19 Ockham scheint somit den (jahrhundertelang gültigen) Unter-schied zwischen dem ens reale und dem ens rationis—ausdrücklich gegenAristoteles—aufzuheben, so daß das ens rationis gleichsam zu einem ensreale wird: „et sic ens rationis est ens reale“.20 In dieser ‚neuen Ontologie‘Ockhams scheint es damit nur noch reales Sein zu geben, das damit imSinne einer „wahren Sache“ kategorisierbar ist (im Gegensatz zu seinerFictum-Theorie, die die Geltung der Kategorien explizit auf den Bereichdes ens extra animam festlegte), weswegen auch das ens rationis, verstan-den als intramentaler Akt des Intellekts (nicht mehr als esse intentionale),durch eine ‚Kategorie‘—nämlich als Qualität des Intellekts—erfaßbarsein muß.21

16 Vgl. Wilhelm von Ockham, Quaestiones in Librum Secundum Sent. (Reportatio), q. IX(Op. Theol., V, 168, 14): „(…) quia aut mensura habet esse obiective in anima autextra. Si primo modo, tunc est imperfectior, quia sic est tantum ens rationis quodest imperfectius ente reali“, und Th. Kobusch, Ens inquantum ens und ens rationis. Einaristotelisches Problem in der Philosophie des Duns Scotus und Wilhelms von Ockham, (vgl. nt. 13),S. 172.

17 Vgl. Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum (Ordinatio) I, d. 24,q. 2 (Op. Theol. IV, S. 115, n. 18): „(…) nisi ponatur quod conceptus sit qualitassubiective in anima“.

18 Vgl. OTh II, 271–283. VIII, 175; OP, 347–376.19 Vgl. T. Kobusch, Ens inquantum ens und ens rationis. Ein aristotelisches Problem in der

Philosophie des Duns Scotus und Wilhelms von Ockham, (vgl. nt. 13), S. 170.20 Wilhelm von Ockham, Quodlibeta Septem V, q. 21 (Op. Theol., IX, S. 563, 123).21 Vgl. Wilhelm von Ockham, Quaestiones in Librum Tertium Sent. (Reportatio), q. 2 (Op.

Theol., VI, S. 60, 11): „Si igitur est vera res, est in aliquo predicamento“.

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Als ontologische Konsequenz dieser Theorie wird damit der Unterschiedzwischen dem realen (extramentalen) und dem nur gedachten (intra-mentalen) Sein aufgehoben, da alles, was ist—intramental oder extra-mental—, kategorisierbares, d.h. reales Sein sei. Und vor diesem Hin-tergrund wird auch Ockhams fundamental neue Interpretation des ensrationis-Begriffs in der „Summa Logicae“ verständlich:

„Nicht deswegen wird etwas ens rationis genannt, weil es keine wahre,in der Naturwirklichkeit existierende Sache ist, sondern deswegen, weiles nur im Verstand ist, das der Geist für ein anderes und wegen einesanderen gebraucht. Und so sind alle Sätze und Folgesätze und geistigenBegriffe entia rationis, und dennoch sind sie wahrhaft real Existierendes inder Naturwirklichkeit (…). Und deswegen, weil der Kommentator undder Philosoph das Seiende zuerst in das ens reale und ens rationis oder dasSeiende in der Seele und das Seiende außerhalb der Seele und späterdas ens reale in die zehn Kategorien aufteilen, ist es keine Aufteilung inschlechthin Entgegengesetztes (…). Das ens rationis ist ein ens reale, wennman das ens reale für das nimmt, was eine wahre, in der Naturwirklichkeitexistierende Qualität ist.“22

Wenngleich Ockham somit—so ließe sich zusammenfassend resümie-ren—nicht ausdrücklich gegen einen für das reale und das gedanklicheSeiende gemeinsamen Seinsbegriff argumentiert, spricht er mit seinemEntwurf, wie er sich in der Intellectio-Theorie findet, doch eindeutiggegen eine solche Möglichkeit. Indem er den Bereich der entia ratio-nis demjenigen des ens reale gleichermaßen ‚subsumiert‘, wenn er dieBegriffe als Gedankendinge im Sinne von kategorisierbaren Qualitäten

22 Wilhelm von Ockham, Summa Logicae, I, c. 40 (Op. Phil., I, S. 113, 60): „Verum-tamen sciendum est quod secundum opinionem quae ponit quod intentio, conceptussive passio animae est qualitas mentis, non ideo dicitur aliquid ‚ens rationis‘ quia nonsit vera res existens in rerum natura, sed ideo dicitur ens rationis quia non est nisi inratione, quo mens utitur pro alio vel propter aliud. Et sic omnes propositiones et conse-quentiae et termini mentales sunt entia rationis, et tamen vere sunt realiter existentia inrerum natura, et entia perfectiora et realiora quam qualitates quaecumque corporales.Et ideo quod Commentator et Philosophus dividunt ens primo in ens reale et in ensrationis, sive in ens in anima et in ens extra animam, et postea in ens reale in decempraedicamenta, non est divisio per simpliciter opposita, illo modo quo animal dividiturinanimal rationale et irrationale, sed magis est divisio vocis in significationes, illo modoquo Aristoteles in I Priorum dividit contingens necessarium et ad utrumlibet et possibilecommune. Et ideo sicut unum istorum trium membrorum praedicatur de alio,—haecenim est vera ‚contingens necessarium est possibile‘, similiter ista ‚contingens ad utrum-libet est possibile‘—, ita non obstante illa divisione entis haec est vera ‚ens rationisest ens reale‘, accipiendo ‚ens reale‘ pro illo quod est vera qualitas existens in rerumnatura“. Nach Wilhelm von Ockham ist damit zugleich auch die Metaphysik—gegendie aristotelische Vorgabe—als Disziplin zu begreifen, die das ens rationis thematischbehandelt.

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der Seele versteht, fällt zugleich jede Basis für einen univok überge-ordneten Begriff weg. Wo bei einem supertranszendentalen Seinsbegriffens reale und ens rationis gleichwertig zusammengefaßt werden, bliebe beiOckham nur noch der Bereich des ens reale übrig. Damit erledigt sichdie Frage, ob es einen für zwei Seinsbereiche gleichermaßen gültigenSeinsbegriff gebe.

2. Was fällt unter die Kategorien? (Quodl. 5,3)

Hat Wilhelm von Ockham somit—in der Weise, wie wir es in denvorangegangenen Bemerkungen angedeutet haben—als erster einen‚supertranszendentalen Seinsbegriff‘ abgelehnt (Kobusch), so scheintFranziskus von Marchia als erster einen solchen befürwortet zu haben.Und er tat dies offenkundig ausgehend von derselben Fragestellung,nämlich der Frage, ob die gedanklichen Seienden unter die Einteilungdurch die Kategorien fallen. Allerdings kommt Franziskus dabei—trotzder zunächst gleichen strukturellen Herangehensweise—zu einem völ-lig entgegengesetzten Ergebnis: Wo Ockham den Bereich des ens ratio-nis als kategorial erfaßbar darstellt, indem dieses als Qualität der Seele(und damit selbst als ein ens reale) bestimmt wird, dabei jedoch seinenautarken Status als ‚Gedankending‘ völlig verliert, scheint Franziskusein gegenläufiges Anliegen zu verfolgen. Wie geht er vor?Im Rahmen der übergeordneten Fragestellung der 5. Quaestio des

„Quodlibet“, „ob dem Begriff des Seienden univoke Gültigkeit hin-sichtlich der zehn aristotelischen Kategorien zukomme“ (Utrum intentioentis sit univoca decem praedicamentis),23 nimmt Franziskus im 3. Artikel denAusgang von der allgemeineren Frage, welche Begriffe sich überhauptselbständig (per se) in einer Kategorie finden (Que sint per se in predica-mento).24 Auf den ersten Blick scheint es erstaunlich, daß die Erörterungeiner möglicherweise ‚supertranszendentalen‘ Seinsbestimmung unter

23 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, ed. Mariani, S. 183. Artikel 1 (S. 185–188)beschäftigt sich zunächst mit der Klärung der Termini univok, analog und äquivok(„Quid sit vnivocvm, qvid eqvivocvm et qvid analogvm“ ), Artikel 2 (S. 189–192) dann weiterhinmit den möglichen Graden und Arten von Univokation („Qvot sint gradvs vnivocacionis etqve species vnivocacionis“ ).

24 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 193–205. In Art. 4kommt Franziskus dann zur Ausgangsfrage der 5. Quaestio zurück („Vtrvm intencioentis sit vnivoca decem predicamentis“). Die 6. Quaestio behandelt schließlich die skotischeUnivozitätsfrage („Vtrvm intencio entis sit vnivoca deo et creatvre“).

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einer so ausschließlich auf die kategoriale Einteilung bezogenen Frage-stellung stattfinden soll. Vielmehr schiene—gerade auch mit Blick aufden Fortgang der Entwicklung der Supertranszendentalienlehre—alsAusgangspunkt doch eine Überlegung naheliegender, die sich direkt aufdie Berechtigung einer die klassischen Transzendentalien noch über-steigenden (und damit ‚super‘-transzendentalen) Gruppe von Begriffenbezöge.25 Aus den vorangegangenen Bemerkungen zur Ontologie Wil-helms von Ockham ist jedoch bereits deutlich geworden, daß geradeim Bezug auf die aristotelischen Kategorien der Legitimationsort füreinen univoken Seinsbegriff liegen kann. Die erneute, seit Aristote-les eigentlich als hinreichend geklärt scheinende Frage, was unter dieEinteilung durch die Kategorien falle, wird damit in einen neuen Dis-kussionszusammenhang gestellt und fungiert als Ausgangspunkt für diebislang erst ‚übernächste‘, nämlich ‚super‘-transzendentale Entwicklungs-stufe.26 Wie geht Franziskus—im Gegensatz zu Ockham—vor?Franziskus von Marchia beginnt die Beantwortung dieser Frage, was

sich per se in einer Kategorie finde (Quodl. 5,3), ganz ähnlich derVorgehensweise in „Quodl. 3“ zunächst wiederum mit einer allge-meinen Begriffs-Einteilung in negative bzw. privative und in positiveBegriffe. Von vornherein schließt er aus, daß die negativen bzw. pri-vativen Begriffe ‚durch sich‘ in irgendeiner Kategorie seien, sondernimmer nur in abgeleiteter Weise durch Rückführung auf die entspre-chende Kategorie der jeweils entgegengesetzten Affirmation, d.h. derjeweils entgegengesetzten positiven Begriffe.27 Während die privativenund negativen Begriffe somit gleich zu Beginn ausscheiden, selbständig

25 Eine solch stringente Entwicklung (Kategorien → Transzendentalien → Super-transzendentalien) suggeriert auch die bisherige Forschung (vgl. J.P. Doyle: „Überbotenwird die in Rücksicht auf die kategoriale Einteilung des Seienden seit langem einge-führte Ebene der Transzendentalien (…)“, in: Art. „Supertranszendent; Supertranszendenz“,Historisches Wörterbuch der Philosophie 10, Basel 1998, Sp. 644).

26 Daß die aristotelischen Kategorien für die mittelalterlichen Denker durchauseinen äußerst diskussionswürdigen Gegenstand darstellten, darauf weist G. Pini hin, inseiner Studie The transcendentals of Logic: Thirteenth-Century Discussions on the Subject Matter ofAristotle’s „Categories“, in: M. Pickavé (Hg.), Die Logik des Transzendentalen. Festschriftfür J.A. Aertsen zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2003 (Miscellanea Mediaevalia30), S. 140–159. Allerdings liegen die Fragestellungen hier deutlich anders.

27 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 193: „Quantumad 3um articulum principalem, sciendum que sunt illa que sunt in predicamento perse; sciendum quod intencionum quedam sunt priuatiue, quedam negatiue, quedampositiue; intenciones priuatiue et negatiue non sunt per se in predicamento alico, settantum per reduccionem ad illud genus et ad illam speciem in quo genere uel in quaspecie est sua affirmacio opposita (…).“

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 139

unter die kategoriale Einteilung zu fallen, wird die Gruppe der posi-tiven Begriffe von Franziskus zunächst weiter differenziert anhand dertraditionellen Unterscheidung in Begriffe erster und zweiter Intention.28

Bemerkenswert ist allerdings, daß er an dieser Stelle noch eine schein-bar zusätzliche Unterteilung vornimmt: einige der positiven Begriffeseien gedankliche Seiende (entia rationis), einige Realseiende (entia rea-lia).29 Im weiteren Verlauf der Erörterungen wird deutlich werden, daßhierbei jedoch keine weitere (ontologische) Klasse von Begriffen, son-dern vielmehr eine Gleichsetzung der Begriffe erster Intention mit demBereich der entia realia sowie der Begriffe zweiter Intention mit den entiarationis gemeint ist. Diese Gleichsetzung ist insofern bemerkenswert, alsdie übliche Klassifizierung der Begriffe als gedanklicher Seiender (entiarationis), die dabei sowohl Bezug auf reales, extramentales Seiendes (alsintentiones primae) als auch auf gedankliches, intramentales Seiendes (alsintentiones secundae) nehmen können, nun dahingehend radikalisiert wird,daß die ersten Intentionen nicht mehr nur auf den Bereich der rea-len Dinge ‚Bezug nehmen‘, sondern tatsächlich selbst schlechthin alsentia realia zu betrachten sind. Die unterschiedliche Bezugnahme derBegriffe auf reales bzw. rational Seiendes scheint innerhalb der Kon-zeption des Franziskus von Marchia ihren jeweiligen ontologischen Sta-tus selbst zu bedingen. Im folgenden werden wir näher darauf einge-hen müssen, wie und mit welchen Konsequenzen Franziskus diesenUmstand genauer erklärt und begründet. Das für die Ausführungendes 3. Artikels grundlegende Anliegen formuliert er zunächst jedochnoch etwas vorsichtiger mit Bezug auf diese Doppelgestaltigkeit: Findensich die gedanklichen Seienden, die entia rationis, per se in einer Katego-rie, und gilt dies—spezifischer gefragt (specialiter)—auch für die Begriffezweiter Intention (oder sind sie es nur durch eine Rückführung auf dieBegriffe erster Intention)?30

28 Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 193: „Intencionumautem positiuarum quedam sunt intenciones prime, scilicet homo uel animal; quedamsecunde, sicud species et genus“. Vgl. zur Unterscheidung von Begriffen erster undzweiter Intention die Bemerkungen in Kap. 1, S. 30, nt. 13.

29 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 193: „(…) quedam[scil. intentionum positivarum] sunt encia realia, quedam encia racionis“.

30 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 193: „(…) et ideoest dubium utrum encia racionis sint formaliter per se in predicamento, et specialiterintenciones secunde per se uel sint solum per reduccionem.“ Auch hier bietet sichnoch einmal der Hinweis auf die Studie von G. Pini (vgl. nt. 26) an, in der er näherauf die Diskussionen um die Frage eingeht, ob die Kategorialbegriffe selbst primärSeins- oder Aussageweisen, d.h. ob sie Realseiende oder Begriffe seien. Wenngleich

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Franziskus stellt damit gegenüber der klassischen und etabliertenAuffassung, daß es die entia realia bzw. die Begriffe erster Intentionsind, die unter die Einteilung der aristotelischen Kategorien fallen, dieFrage, ob nicht auch der aus dieser Einteilung bisher ausgeschlosseneBereich des gedanklichen Seienden, das ens rationis, gleichermaßen kate-gorial erfaßbar sei. Genau diese Fragestellung ist es, in welcher derzentrale und über die Konzeptionen vorangehender Denker hinaus-reichende Ausgangspunkt für Franziskus’ Vorhaben einer Legitimationder intentiones neutrae liegt und deren Beantwortung die Grundlage fürdie Annahme dieser supertranszendentalen Bestimmungen bilden wird.Aber welche Konsequenzen lassen sich ermessen, wenn sich erweist,daß die entia rationis tatsächlich ebenso wie die entia realia ‚per se‘ unterdie Kategorien fallen?

3. Die ‚Reduktion‘ zweier Transzendierungen

Im Grunde läßt sich anhand der vorangegangenen Bemerkungen be-reits im Vorfeld der eigentlichen Argumentation allein aus der Frage-stellung von „Quodl. 5,3“ selbst entwickeln, welche Bedeutung ihr hin-sichtlich der Legitimation der supertranscendentia zukommt: Franziskusscheint bei seiner Konzeption ‚supertranszendentaler‘ intentiones neutraenicht den Weg über eine weitere Transzendierung der transzendenta-len Begriffe hin zu noch umfassenderen, „allerallgemeinsten Begriffen“zu wählen, sondern weit grundlegender von einer Neubetrachtung dernächstniedrigeren, der kategorialen Ebene auszugehen, um so zu einerModifikation der Transzendentalien im Sinne ‚super‘-transzendentalerBestimmungen zu gelangen. Hierzu muß sich in der Tat zeigen, daßsich auch die entia rationis ‚per se‘ und gleichermaßen wie die entia rea-lia in der kategorialen Einteilung finden, damit diese zusammen mitdem Realseienden allererst durch die intentiones neutrae univok über-stiegen werden können. Während sich innerhalb der Konzeptionender Denker vor Franziskus von Marchia die klassischen transcendentia

sich auch Denker vor Franziskus der Frage zuwandten, ob nicht auch das gedanklicheSeiende unter die Einteilung der aristotelischen Kategorien falle, so scheint die vonFranziskus gestellte Frage in diesem Zusammenhang jedoch tatsächlich innovativesArgumentationspotential zu bieten. Vgl. auch Wilhelm von Ockham, Quaest. In LibrumSecundum Sent. (Reportatio), q. VII (Op. Theol., V, 142, 9): „(…) sic est tantum ensrationis et non habet esse in genere per se nec per reductionem“.

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 141

(ens, unum, verum, bonum, res und aliquid) ebenso wie die aristotelischenKategorien ausschließlich auf den Bereich des Realseienden beziehen,fragt dieser nun bereits im Bereich der Kategorien nach einer Aus-weitung auf beide Seinsbereiche. Dadurch wird jedoch zugleich eine‚zweite Transzendierung‘, welche über den (ersten) transcensus der Tran-szendentalien über die Kategorien—als Ebene der Ausweitung desGegenstandsbereiches der Begriffe vom Realseienden auch auf dendes Rationalseienden—noch hinausgeht, erst gar nicht notwendig. DieEbene der ‚Super‘-Transzendentalien bedarf Franziskus zufolge kei-ner weiteren Transzendierung, wie sie sich bei späteren Denkern fin-det, sondern wird durch die—noch zu begründende—Eingliederungdes ens rationis in das Kategorienschema gleichermaßen mit der ‚ers-ten Transzendierung‘ (auf der Ebene der Transzendentalien) ineinsgesetzt. Gerade dies scheint das Spezifikum von Franziskus’ Modell zusein.Innerhalb der gesamten weiteren Strukturgeschichte der (Super-)

Transzendentalienlehre nach Franziskus von Marchia lassen sich diesezwei ‚Transzendierungen‘ und Entwicklungsphasen verzeichnen undklar voneinander trennen:

(i) Ein erster transcensus mit Blick auf die Ebene der aristotelischenKategorien, mittels dessen im 13. Jahrhundert erstmals durch Phi-lipp den Kanzler die Entwicklung allgemeinster Seinsbestimmun-gen, der transcendentia, begründet wurde (dies jedoch bei gleichemGegenstandsbereich wie bei den kategorialen Bestimmungen,nämlich allein mit Blick auf das ens reale). Die Kategorien avancier-ten damit zu besonderen Seinsweisen gegenüber den sie überstei-genden, nicht auf die kategoriale Einteilung beschränkten Tran-szendentalien.

(ii) Von dieser ersten ‚Transzendierung‘ ist ein ‚zweiter‘ transcensuszu unterscheiden, der sich in der Erweiterung des Gegenstands-bereichs vom Realseienden auf den des gedanklichen Seiendenmanifestiert und damit verbunden die Entwicklung noch umfas-senderer Seinsbestimmungen (supertranscendentia) generierte. In al-len Darstellungen seit dem 16. Jahrhundert lassen sich somit diesedrei distinkten Phasen verzeichnen:

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Der tatsächliche Ausgangspunkt der Supertranszendentalienlehre—wiewir ihn bei Franziskus von Marchia bereits zu Beginn des 14. Jahr-hunderts vorliegen haben—bietet demgegenüber jedoch ein anderesModell. Was in der Forschungsliteratur gleichermaßen als ‚Leerstelle‘übergangen wird, zeigt sich hier als geradezu gegenläufige Tendenz.Franziskus muß keine ‚zweite Transzendierung‘ annehmen, wenn dasgedankliche Seiende im Gegenstandsbereich der Kategorien bereits miteingeschlossen ist. Der ‚transcensus der Transzendentalien‘ bietet somitschon die allgemeinsten Seinsbestimmungen gegenüber den Katego-rien, von denen die Transzendentalien ihrerseits univok aussagbar sind.Als ‚intentiones neutrae‘ erfüllen sie damit zugleich bereits die Funktionder späteren Supertranszendentalien, indem sie sich in gleicher Weiseauf Realseiendes und gedankliches Seiendes beziehen. Eine gesonderteGruppe ‚supertranszendentaler‘ Bestimmungen erwiese sich für Fran-ziskus als unnötige Verdopplung, da das ihnen später als über die Tran-szendentalien hinausreichend zugeschriebene Univozitätsmoment imRahmen dieses Modells bereits den transcendentia selbst zugesprochenwerden kann. Sie selbst erstrecken sich bereits auf beide Seinsbereiche:

Bevor wir nun den eigentlichen ‚Beweisgang‘ für eine ‚Kategorisie-rung‘ des ens rationis betrachten, läßt sich anhand dieses schematischenAufrisses des ‚Gesamtplans‘ der Supertranszendentalien und aus der

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Fragestellung von „Quodl. 5, 3“ bereits festhalten, daß die erste Ent-wicklung ‚supertranszendentaler‘ Bestimmungen durch Franziskus vonMarchia nicht—wie aufgrund späterer Konzeptionen durchaus zu ver-muten gewesen wäre—in einem Überstieg der Transzendentalien liegt,sondern vielmehr in einer inhaltlich erweiternden Modifikation geradedieser Begriffe selbst. Diese Modifikation findet anhand der Eingliede-rung des Bereichs des ens rationis jedoch bereits auf der Ebene der Kate-gorien ihren Ursprung und nicht erst ‚jenseits‘ der Ebene der Tran-szendentalien.

4. Existiert eine ‚intentio neutra‘?

Wenden wir uns wieder der Ausgangsfrage des 3. Artikels zu, um Fran-ziskus’ Lösung en detail nachzugehen: Wie steht es also um das Verhält-nis der entia rationis zu den Kategorien? Sind sie ebenso wie die entiarealia in diesen eingeschlossen? Zunächst werden mehrere Argumentegegen die Annahme angeführt, die entia rationis bzw. die intentiones secun-dae fielen per se unter die Kategorien. Dies geschehe immer nur durchRückführung auf die positiven Begriffe erster Intention, wie sie sich aufdie realen, extramentalen Dinge beziehen.31 Die beiden entscheidendenArgumente seien im folgenden näher betrachtet.Das erste Argument stützt sich auf die Annahme, daß eine Gattung

bzw. eine Kategorie immer univok in den unter sie fallenden Niede-ren eingeschlossen sei. Kein Begriff könne jedoch gleichermaßen was-heitlich in einem realen und einem rationalen Begriff eingeschlossenwerden, weshalb die entia rationis nicht gleichermaßen per se wie dieentia realia unter eine Kategorie fallen können.32 Es kann somit auchkeinen univoken Gattungsbegriff für beide Begriffsarten geben. Dennwäre ein einzelner Begriff gleichermaßen quidditativ in jedem dieserbeiden eingeschlossen, wäre er selbst entweder ein Realbegriff (intentiorealis), ein gedanklicher Begriff (intentio rationis) oder keines von beidemund insofern eine ‚intentio neutra‘. Nacheinander wird jedoch jede die-

31 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 193: „Et uideturquod non sint in genere alico per se, set tantum per reduccionem intencionum prima-rum realium.“

32 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 194: „Primosic: genus includitur uniuoce in suis inferioribus; set nulla intencio una includiturquidditatiue in intencione reali et 〈in〉 intencione racionis; igitur ille non sunt per sein alico genere.“

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ser drei Möglichkeiten ausgeschlossen: (i) einen solch univoken Begriffkann es nicht geben, weil er keine intentio realis ist, da kein realer Begriffwasheitlich in einem rationalen Begriff eingeschlossen wird (und dieswäre die Bedingung für die Univozität); (ii) es kann sich auch nichtum eine intentio rationis handeln, da aufgrund der Distinktheit beiderSeinsbereiche ebenfalls kein rationaler Begriff quidditativ in einer inten-tio realis eingeschlossen werde; (iii) es handelt sich bei einem solchenBegriff jedoch auch nicht um einen gänzlich anderen Begriff, einengegenüber beiden Begriffsarten ‚neutralen‘ Begriff (intentio neutra), da dieUnterscheidung in reale und gedankliche Begriffe ausschließlich ist undkeine weitere Möglichkeit mehr zuläßt. Es gibt neben realen und ratio-nalen Begriffen keine anderen intentiones, die ihnen gegenüber ‚neutral‘wären.33 Der Beweis hierfür besteht darin, daß sich ein solch ‚neutra-ler‘ Begriff bei näherer Betrachtung doch immer entweder als intentiorationis oder als intentio realis herausstellen würde. Jeder Begriff ist entwe-der durch den Intellekt hervorgebracht (fabricatum per intellectum), womitihm der Status eines gedanklichen Begriffs (intentio rationis) zukommt,da jedes durch einen gedanklichen Akt hervorgebrachte Seiende einens rationis ist. Oder ein Begriff ist nicht durch einen gedanklichen Akthervorgebracht, sondern diesem vorausgesetzt (presuppositum), womit erals realer Begriff (intentio realis) zu betrachten ist, da jedes nicht durcheinen gedanklichen Akt hervorgebrachte Seiende ein ens reale ist. Folg-lich könne es neben diesen auch keinen weiteren Begriff geben, derdamit formaliter sowohl in einem realen wie auch in einem gedankli-chen Begriff eingeschlossen wäre.34 In gleicher Weise gilt dies auch fürdie unterschiedliche Bezugnahme der Begriffe, d.h. für die ersten undzweiten Intentionen: es gibt keinen einzelnen Begriff, der washeitlichin erster und zweiter Intention eingeschlossen würde, so daß sich die

33 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 194: „Quia sialica intencio una includatur quidditatiue in utraque intencione, aut illa est intenciorealis, aut intencio racionis, aut est intencio neutra. Non est intencio realis, quia nullaintencio realis includitur quidditatiue in intencione racionis, genus autem includiturquidditatiue in suis inferioribus; nec est intencio racionis, quia nulla intencio racionisincluditur quidditatiue in intencione reali, nec est intencio neutra, quia nulla intencioest neutra ad alias duas intenciones.“

34 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 194: „Probacio:quia illa intencio neutra aut est fabricata per intellectum, et tunc est intencio racionisquia omne ens constitutum per opus racionis est ens racionis; aut non est constituta peractum racionis set 〈presupposita〉 actui racionis, et tunc est intencio realis, quia omneens non constitutum per actum racionis est ens reale; ergo nulla intencio formaliter unaincluditur in utraque.“

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 145

zweite Intention nicht per se in einer Kategorie findet. Denn ein Begriff,der für beide gemeinsam wäre, wäre entweder erster Intention, zweiterIntention oder gegenüber beiden ‚neutral‘ (intentio neutra), was jedochebenfalls in allen drei Fällen auszuschließen ist, da keine erste Intentionwasheitlich in einer zweiten eingeschlossen wird, wie auch keine zweiteIntention in einer ersten eingeschlossen wird und eine intentio neutraFranziskus zufolge nicht möglich sei. Der Beweis dafür gestaltet sichanalog zum vorangehenden hinsichtlich des ontologischen Status derBegriffe: eine ‚neutrale‘ Intention kann es nicht geben, da sie immerentweder durch einen rationalen Akt konstituiert und demzufolge einezweite Intention sei oder nicht durch einen solchen hervorgebracht unddamit eine erste Intention.35

Ein weiteres Argument gegen die Annahme einer ‚intentio neutra‘stützt sich auf die Begründung, die entia realia und entia rationis fielen des-wegen nicht unter dieselbe Kategorie, weil ihnen verschiedene Seins-weisen, verschiedene modi essendi zukommen. Ein univoker Gattungsbe-griff muß jedoch hinsichtlich der unter ihn fallenden Arten denselbenformalen Sinngehalt und denselben modus essendi aufweisen. Da demens reale und dem ens rationis jedoch ursprünglich verschiedene Seins-weisen (primi modi essendi) zukommen, wie etwa dem Realseienden sub-jektives, dem gedanklichen Seienden hingegen objektives Sein, könnendiese nicht gemeinsam unter dieselbe Gattung fallen.36 Franziskus erwi-dert auf diesen Einwand, daß das maßgebliche Kriterium für die Ein-ordnung in eine eigentümliche Kategorie der jeweils eigentümliche for-

35 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 194: „Item, specia-liter arguam de intencionibus sic: genus includitur quidditatiue in suis inferioribus; setnulla intencio una includitur quidditatiue in prima et secunda; ergo intencio secundanon est per se in genere. Probacio minoris: intencio una, communis utrisque, aut estintencio prima, aut intencio secunda aut neutra: non prima, quia prima non includiturquiditatiue in secunda; nec secunda, quia non includitur in prima; nec neutra, quianulla talis est 〈possibilis〉. Probacio: quia illa neutra aut est constituta per opus racio-nis et tunc est secunda, aut non est constituta set presupposita, et tunc est prima; ergoetc.“ Diese Textstelle bietet somit den expliziten Beleg für die bereits erwähnte Gleich-setzung der Begriffe erster und zweiter Intention mit Real- und Rationalseienden. Dieersten Intentionen ‚sind‘ entia realia, da sie—so Franziskus—dem Verstandesakt voraus-gesetzt sind; ebenso ‚sind‘ die zweiten Intentionen—als vom Verstand Konstituierte—entia rationis.

36 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 195: „Confir-matur: quia genus descendit in suas species secundum eandem racionem formalemet secundum eundem modum essendi, sicud dictum est in secundo articulo; set ensreale et ens racionis non habent eundem modum essendi, quia esse formaliter et esseintencionaliter, esse subiectiue et esse obiectiue sunt diuersi modi essendi et primi modiessendi; ergo illa non sunt in eodem genere“.

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male Sinngehalt sei (ratio formalis), durch den etwas formaliter ist, was esist. Am Beispiel der Kategorie der Relation versucht er zu verdeutli-chen, daß die ratio formalis der realen Relation aber gerade dieselbe seiwie die der gedanklichen Relation, da mit Bezug auf beide der formaleSinngehalt der Relation gleichermaßen das Sein in Hinblick auf einanderes bedeute. Und aus diesem Grund seien daher also auch beideSeinsarten in derselben Kategorie—z.B. derjenigen der ‚Relation‘—zufinden.37 Mögen dem Bereich des ens reale und dem des ens rationis somitzwar durchaus verschiedene modi essendi zukommen, so ist ihnen dochdie gleiche ratio formalis zuzusprechen, da dem absoluten Seienden (ensabsolute) letztlich in beiden ‚Seinsarten‘ derselbe modus essendi zukommt,da es sowohl im realen wie auch im gedanklichen Seienden formaliterexistiert.38 Das ens rationis ist formaliter in gleicher Weise ‚seiend‘ (ens) wiedas ens reale.Franziskus liefert hiermit ein wichtiges Argument für seine Annahme

der intentiones neutrae, indem er die Gleichartigkeit des modus essendi bei-der Seinsbereiche durch den Begriff des ens absolute als Garanten für dieMöglichkeit univok gültiger Begriffe vertritt. Die eigentliche Legitima-tion eines solchen Begriffs, der quidditativ sowohl im ens reale als auchim ens rationis eingeschlossen und demzufolge weder ein realer noch einrationaler Begriff, sondern ein ‚neutraler Begriff‘ sei, findet sich jedochin erster Linie in der Antwort auf das erste angeführte Gegenargument.

37 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 196: „Vnumquod-que est in proprio genere per propriam racionem formalem qua formaliter est illudquod est; set eadem est racio formalis relacionis realis et racio formalis relacionisracionis. Probacio: quia formalis racio 〈relacionis〉 realis est esse ad aliud: hec estformalis racio sua; ita eciam relacio racionis est esse ad aliud formaliter.“ In diesemSinne beziehen sich spätere Skotisten immer wieder auf die einzige Quaestio der 29.Distinctio des 1. Buches der „Reportata Parisiensia“, in der es um das Problem derrelatio relationis geht.

38 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 202: „Aliter possetdici quod, licet ens racionis habeat alium modum essendi quam ens reale, tamenens absolute eundem modum essendi habet in utrisque quia in utroque ens existitformaliter, quia utrumque, tam ens reale quam ens racionis, est ens.“ Vgl. ebenso S.203: „Et quando arguitur quod magis conueniunt encia realia ad inuicem quam cumente racionis, dicendum quod uerum est quantum ad modum essendi realem, nonautem uerum est quantum ad racionem quiditatiuam formalem; unumquodque autemponitur in proprio genere per propriam racionem formalem, non autem per modumessendi.“

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 147

5. Fällt zwischen kontradiktorische Bestimmungen ein Mittleres?

In seiner Erwiderung auf den ersten Einwand, daß es einen solchenBegriff, der washeitlich gleichermaßen im realen wie im gedanklichenSeienden eingeschlossen werde, nicht geben könne, weil dieser immerentweder eine intentio rationis oder eine intentio realis sei und es nebendiesen keine weitere ‚Begriffsklasse‘ mehr gebe, nimmt Franziskus zu-nächst eine grundlegende Differenzierung bezüglich dieser gesuchten‚intentio neutra‘ vor: es läßt sich nämlich auf zweifache Weise von jenerintentio neutra sprechen: (i) entweder gemäß ihrer selbst und in einemabsoluten Sinne, d.h. aufgrund des ihr eigenen Sinngehalts (secundumse et absolute, ratione sui), oder (ii) per accidens, ratione sui inferioris, d.h. aufgleichsam akzidentelle Weise aufgrund des Sinngehalts der ihr unter-geordneten Begriffe, nämlich desjenigen von intentio realis und intentiorationis.39 Stellt man eine Betrachtung der intentio neutra auf diese zweiteWeise (per accidens, ratione sui inferioris) an, so erwiese sich ein solcherBegriff einerseits in der Tat als vom Intellekt hervorgebracht (factumper intellectum), wenn er nämlich aufgrund des Sinngehalts der unterihn fallenden intentio rationis, in welcher er eingeschlossen ist, in denBlick genommen wird; bezugnehmend auf die Ratio der ebenfalls unterihn fallenden intentio realis dagegen, in welcher er gleichermaßen einge-schlossen ist, erweist er sich als ‚nicht vom Intellekt gemacht‘ (non estfactum per intellectum).40 Spricht man von jener intentio neutra jedoch aufdie erste Weise (secundum se et absolute, ratione sui), so fährt Marchia fort,so ist ein solch ‚neutraler‘ Begriff nicht vom Intellekt hervorgebracht(non est factum per intellectum).41 Würde es sich dann—so ließe sich wie-derum einwenden—aber nicht um einen Realbegriff handeln, da dochjeder nicht durch den Intellekt hervorgebrachte Begriff eine intentio rea-

39 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 200 f.: „(…)respondeo quod de illa intencione neutra possumus loqui dupliciter: uel secundum seet absolute, racione sui, uel per accidens, racione sui inferioris, scilicet intencionis realiset intencionis racionis.“

40 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 201: „(…) sisecundo modo, per accidens, racione sui inferioris, sic dico quod est facta per intel-lectum racione intencionis racionis in qua includitur, et non est facta per intellectumracione intencionis realis in qua est inclusa.“

41 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 201: „〈Si〉 autemloquamur de ipsa primo modo, scilicet racione sui, secundum se et absolute, sic dicoquod non est facta per intellectum.“

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lis ist, wie zuvor erläutert worden ist?42 Damit wäre die intentio neutra ansich betrachtet jedoch gerade nicht ‚neutral‘ bzw. univok, sondern hättedenselben ontologischen Status wie der unter sie fallende Realbegriff.Wie also ist es möglich, daß die intentio neutra zwar einerseits ‚non factaper intellectum‘ ist, ohne aber andererseits eine intentio realis zu sein?Franziskus führt zur Klärung dieser Frage eine Antwort an, welchezugleich das Kernargument für die grundlegende Legitimation seinerAnnahme der intentio neutra und damit der ‚Super-Transzendentalien‘bietet.Der Schlüssel zum Verständnis dieser Antwort liegt in der Erklä-

rung, daß ein nicht vom Intellekt geschaffener Begriff deswegen nichtzugleich notwendig eine intentio realis sei, da sich die Aussage, ein Begriffsei „non factum per intellectum“, in zweierlei Hinsicht machen lasse: esbesteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Aussage (i) ein Be-griff „ist nicht gemäß seiner selbst durch den Intellekt hervorgebracht“(non est factum secundum se per intellectum) und (ii) ein Begriff „ist gemäß sei-ner selbst nicht durch den Intellekt hervorgebracht“ (est secundum se nonfactum per intellectum). Zur Verdeutlichung dieser nicht unbedingt auf denersten Blick sogleich evidenten, in jedem Fall zumindest recht subtilanmutenden Differenzierung führt Franziskus ein Beispiel an: Es liegederselbe grundlegende Unterschied vor wie bei den beiden Aussagen(i) „der Mensch ist nicht gemäß seiner selbst ein Esel“ (homo secundumse non est asinus) und (ii) „der Mensch ist gemäß seiner selbst nicht einEsel bzw. ein Nicht-Esel“ (homo secundum se est non-asinus).43 Worin genaubesteht nun jeweils der Unterschied dieser beiden Aussagen?Die entscheidende Differenz läßt sich zunächst formal betrachtet

dahingehend präzisieren, daß bei der jeweils ersten Aussage (‚non estfactum secundum se per intellectum‘ bzw. ‚homo secundum se non est asinus‘) einpositives Wesensprädikat (factum per intellectum bzw. asinus) mit Blick aufdas Subjekt verneint wird: X ¬∈ A. Bei der jeweils zweiten Aussagehingegen (‚est secundum se non factum per intellectum‘ bzw. ‚homo secundumse est non-asinus‘) wird ein negatives Wesensprädikat (non factum per intel-lectum bzw. non-asinus) bejaht: X ∈ ¬A. Aber welcher Schluß läßt sichaus dieser Differenzierung für die Legitimation der univok für das

42 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 201: „Ergo, (tudicis), est intentio realis, quia omnis intencio non facta per intellectum est realis.“

43 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 201: „Respondeoquod non sequitur, quia differt dicere: ‚non est facta secundum se per intellectum‘ et‚est secundum se non facta per intellectum‘, sicud differt dicere: ‚homo secundum senon est asinus‘, et ‚homo secundum se est non-asinus‘ (…).“

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 149

gedankliche wie für das reale Seiende geltenden intentio neutra ziehen?Welche der beiden genannten Bestimmungen kommt der intentio neu-tra und welche der intentio realis zu? (Denn zum Zweck der Unter-scheidung und Abgrenzung dieser beiden Begriffe führt Franziskus seinModell ja allererst ein.) Betrachten wir Franziskus’ Schema, das sichauf eine grundlegende Differenzierung innerhalb des Bereichs vernei-nender Wesensaussagen zu stützen scheint, hierzu etwas genauer.Der Ausgangspunkt für die an dieser Stelle relevanten Ausführungen

findet sich bereits in der 4. Quaestio des „Quodlibet“ im Rahmen derdurch Aristoteles inspirierten Frage, ob zwischen die kontradiktorischenBestimmungen ens und non-ens ein Mittleres falle.44 Es scheint zunächstlediglich die Möglichkeit zweier einander kontradiktorisch entgegenge-setzter Bestimmungen zu geben, zwischen die keine mittlere Bestim-mung mehr fallen kann (A und ¬A). Denn so wurde die aristoteli-sche Definition aus den „Zweiten Analytiken“ gemeinhin übernom-men: „inter contradictoria non est datum medium“.45 In diesem Falle müßtesomit jedoch auch dem zu Beginn von „Quodl. 5,3“ angeführten Ein-wand stattgegeben werden, daß es neben der Klasse der Realbegriffeund der gedanklichen Begriffe keine weitere, keine ‚mittlere‘ Gruppevon Begriffen mehr geben könne. D.h. zwischen eine intentio realis undeine intentio rationis könne keine intentio neutra fallen, die mit Bezug aufdie beiden anderen univok wäre. Denn die entsprechenden Bestim-mungen, die Marchia für die Realbegriffe (non factum per intellectum) unddie Rationalbegriffe (factum per intellectum) anführt, scheinen in der Tat

44 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 4, a. 1, 3, ed. Mariani, insbes. S. 131, undq. 4, a. 2, 2 (S. 138 f.). Die entsprechende Bezugsstelle bei Aristoteles findet sich in denAnal. Post. I, 2, 72a12–13.

45 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 4, a. 2, 2, ed. Mariani, S. 138: „Tu dicis:‚inter contradictoria non est datum medium: ens et non-ens sunt contradictoria‘.“ Eininteressantes Beispiel für die gemeinhinnige Deutung des aristotelischen Diktums undeine auffällige terminologische Parallele findet sich bei dem englischen FranziskanerRichard von Conington. Dieser kommt zu dem Schluß, daß in der Tat zwischenkontradiktorische Bestimmungen kein Mittleres, keine „intentio neutra“ fallen könne.Wenngleich sich Conington hierbei im Kontext der Frage nach der Univozität mitBezug auf Gott und das Geschöpfliche bewegt, so läßt sich seine Konzeption aufgrundder strukturellen und terminologischen Analogien als ein signifikanter Gegenpol zu denAusführungen Marchias greifbar machen. Vgl. Richard Conington, Quodlibet I, q. 2,ed. Brown, S. 306: „(…) per contradictoria vel per formas cum extremis contradictionisconvertibiles non potest abstrahi intentio neutra. Illa enim esset media per abnega-tionem utriusque, et contradictio est oppositio cuius non est medium secundum se, IPosteriorum. Et ista est de diversitate formarum convertibilium cum extremis contradic-tionis, scilicet, quod non includunt medium quod sit neutrum earum. (…) Et nulla unaessentia habet utramque nec neutram“.

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150 kapitel iii

kontradiktorische zu sein (factum und non-factum). Marchia nimmt jedochwiederum eine entscheidende Differenzierung vor: für kontradiktori-sche ‚Begriffe‘ (ens und non-ens etc.) gilt dieser Ausschluß eines mittlerenBegriffs tatsächlich, da es sich um einfache Bestimmungen, um incom-plexa handelt.46 Für complexa dagegen, für kontradiktorische ‚Aussagen‘,insbesondere für wesenhafte Aussagen, gilt dies jedoch nicht. Zwischensolchen kann sich sehr wohl ein medium finden.47

Der Grund hierfür wird schnell ersichtlich, wenn die beiden in„Quodl. 5,3“ angeführten kontradiktorischen Aussagen hinsichtlichihres Wahrheitsgehalts in den Blick genommen werden:

X ∈ A Homo (sec. se) est asinus Intentio neutra (sec. se) est factaper intellectum

X ∈ ¬ A Homo (sec. se) est non-asinus Intentio neutra (sec. se) estnon-facta-per-intellectum

Beide Aussagen sind falsch, da es sich um durch das Prädikat ausge-drückte Wesensbestimmungen des Subjekts (secundum se) handelt. So,wie der Mensch secundum se weder ein Esel noch ein Nicht-Esel ist(denn eine adäquate Wesensbestimmung kann niemals negativ sein)48—sondern z.B. ein vernunftbegabtes Lebewesen—, so ist die intentio neu-tra ihrem Wesen nach (secundum se) weder ein vom Intellekt Hervorge-brachtes (denn insofern wäre sie eine intentio rationis) noch ein ‚Nicht-vom-Intellekt-Hervorgebrachtes‘ (und damit eine intentio realis). Keineder beiden Aussagen vermag somit, eine adäquate Wesensbestimmungihres entsprechenden subiectum zu liefern:

46 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 4, a. 2,2, ed. Mariani, S. 139: „(…) illasunt contradictoria: ‚homo‘ et ‚non-homo‘, sicud ‚ens‘ et ‚non-ens‘; unde dico quodcontradictoria sunt in duplici differentia: quedam inconplexa, ut ‚homo‘ et ‚non-homo‘;quedam conplexa, sicud ‚est homo‘, ‚non est homo‘. Dico quod inter contradictoriainconplexa, simpliciter et absolute accepta, non est medium (…)“.

47 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 4, a. 1,3, ed. Mariani, S. 131: „(…) dicoquod in illa contradictoria conplexa, licet non sit dare medium simpliciter, est tamendare medium cum reduplicacione; ens autem et non-ens sunt contradictoria inconplexaet non conplexa; ergo etc.“.

48 Bei einem negativen Wesensprädikat wäre die Reihe wesenhafter Bestimmun-gen—was immöglich sein kann—unendlich: „(lapis) nec quiditative est ‚non-homo‘,quia eadem ratione esset quiditative ‚non-leo‘, ‚non-bos‘: sic esset quiditative infinita“(Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 4, a. 2, 2, ed. Mariani, S. 139).

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 151

Homo (sec. se) est asinus f Intentio neutra (sec. se) est facta perintellectum (= ens rationis)

f

Homo (sec. se) est non-asinus f Intentio neutra (sec. se) est non-facta-per-intellectum (= ens reale)

f

Franziskus zufolge bleibt daher tatsächlich noch eine dritte Möglich-keit, ein ‚Mittleres‘ zwischen den zunächst scheinbar kontradiktori-schen Bestimmungen, bei dem der Unterschied formaliter darin besteht,daß das Wesensprädikat nun nicht affirmativ ausgesagt wird, sonderneine negative Kopula angesetzt wird (X ¬∈ A):

X ¬∈ A Homo (sec. se) non est asinus Intentio neutra (sec. se) non estfacta per intellectum

Im Unterschied zu den vorangegangenen Bestimmungen ist diese Aus-sage wahr, denn ebenso, wie der Mensch, der secundum se weder einEsel noch ein Nicht-Esel ist (X ist weder A noch ¬A, sondern damit ¬∈ A[49]), so ist in gleicher Weise die intentio neutra ihrem Wesen nachbetrachtet weder facta per intellectum noch non-facta-per-intellectum.50 Diezunächst nur schwierig zu erfassende Abgrenzung zum Realbegriff auf-grund der unterschiedlichen Bestimmungen „non est factum secundum seper intellectum“ und „est secundum se non factum per intellectum“ wird nun klarersichtlich:

X ∈ A Homo sec. se est asinus f Intentio neutra sec. se estfacta per intellectum (= intentiorationis)

f

X ¬∈ A Homo sec. se non estasinus

w Intentio neutra sec. se non estfacta per intellectum

w

X ∈ ¬A Homo sec. se estnon-asinus

f Intentio neutra sec. se estnon-facta-per-intellectum(= intentio realis)

f

49 Für die Option ¬ ∈ ¬A würde ebenfalls gelten, daß diese Aussage wahr ist, da jabeide kontradiktorischen Bestimmungen zu verneinen sind, Marchia wird sich jedochfür die andere Formulierung (¬∈ A) entschieden haben, um die Sache nicht nochunnötig weiter zu verkomplizieren. Maßgebend ist die Setzung der negativen Kopula,um zu einer mittleren Bestimmung zu gelangen.

50 Vgl. Franciscus de Marchia, Quodlibet, q. 5, a. 3, ed. Mariani, S. 201: „Consimiliterdico quod illa intencio neutra ‚secundum se non est facta per intellectum‘, non tamenest ‚secundum se non facta per intellectum‘. Nunc autem, licet secundum se intencionon sit facta per intellectum sicud intencio realis, non tamen oportet quod intencio, quesecundum se non est facta per intellectum, sit intencio realis, quia intencio communisad utramque non est secundum se facta per intellectum et tamen non est realis.“

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Zwischen die zunächst alternativlos scheinenden kontradiktorischen Be-stimmungen fällt im Rahmen ihrer Verwendung als wesenhafter (se-cundum se-)Aussagen sehr wohl eine ‚mittlere‘ Bestimmung, da sie sichgegenüber den beiden anderen als die einzig wahre Zuschreibung her-ausstellt:

Es bleibt hierbei jedoch bei einer rein negativen Bestimmung (¬∈), diepositive Zuschreibung eines Wesensprädikats (∈) erfolgt nicht, sondernes wird lediglich eine (falsche) Wesensaussage verneint. Das Problemscheint somit in der positiven Zuschreibung der intentio neutra zu lie-gen. Wenn sie secundum se weder facta per intellectum ist (wie die intentiorationis) noch non-facta per intellectum (wie die intentio realis), so muß ihreine andere Wesensbestimmung zukommen (die diesen Bestimmungenübergeordnet bzw. für diese univok gültig ist). Die von Marchia anhanddes vorangehend dargestellten Beweisgangs legitimierte intentio neutrascheint auf eine—an dieser Stelle jedoch nicht näher spezifizierte—Weise die existierende Dichotomie von Real- und Rationalbegriff zuübersteigen, indem sie hinzukommend eine ‚dritte Art‘ von Begriffenbildet, welche allerdings durch die Einteilung in ‚vom Verstand hervor-gebrachte Begriffe‘ und ‚nicht vom Verstand hervorgebrachte Begriffe‘nicht angemessen erfaßt werden kann.Mit Blick auf das Gegenmodell des Wilhelm von Ockham, wie wir

es eingangs in den Blick genommen haben, ließe sich zusammenfas-send folgende gegensätzliche Tendenz benennen: wird der Bereich desens rationis bei Wilhelm von Ockham dem des ens reale ‚subordiniert‘bzw. mit diesem gänzlich ‚identifiziert‘, liegt das Bemühen des Franzis-kus gerade darin, die Distinktion beider Seinsbereiche aufrechtzuerhal-ten und damit den Bereich des gedanklichen Seienden gegenüber demdes Realseienden zu stärken. Für Ockham stellt sich daher auch dieFrage nach einem übergeordneten, für die ursprüngliche Seinsdistink-tion ‚neutralen‘ Begriff nun nicht mehr, während Franziskus die beiden‚ebenbürtigen‘ Glieder in die darüberstehende intentio neutra eingehenläßt:

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 153

6. Der skotische Einfluß auf Franziskus von Marchia—Dieintentio neutra als ‚medium per accidens‘

Franziskus von Marchia hat mit dem im Vorangegangenen dargestell-ten Entwurf erstmalig den Raum für die weitere Entwicklung der Su-pertranszendentalien eröffnet. In Auseinandersetzung mit dem aristo-telischen Diktum, zwischen kontradiktorische Bestimmungen falle keinmittlerer Begriff, gelingt es ihm, anhand einer Ausweitung dieser An-nahme auf den Bereich der quidditativen Aussagen sehr wohl denRaum für zwischen zwei kontradiktorische Aussagen plazierte Bestim-mungen—und damit den Raum für eine ‚dritte‘ Klasse von Begrif-fen, die über die traditionelle Einteilung in Begriffe erster und zwei-ter Intention hinausgeht—freizulegen. Bei keinem Denker vorher fin-den wir eine Konzeption mit dieser Konsequenz. Und doch scheint erin bestimmter Hinsicht auf eine Überlegung zurückzugreifen, wie siesich bei Johannes Duns Scotus in dessen „Metaphysik-Kommentar“,Buch IV, q. 4, findet. Im Rahmen der Fragestellung dieser Quaestio,„Ob es zwischen Gegensätzen ein Mittleres gibt“ (Utrum inter contra-dictoria sit medium), der wir bereits bei Franziskus in der 4. Quaestio des„Quodlibet“ begegnet sind, kommt Scotus in Auseinandersetzung mitder ebenfalls bereits thematisierten aristotelischen Aussage „Contradic-tio est oppositio, cuius non est medium secundum se“51 zu einem Ergebnis, daseine Ausnahme innerhalb der traditionellen Interpretationen darstellt.52

Die aristotelische Definition sei mehrdeutig (multiplex), so Scotus, da fol-gende Differenzierung mit Bezug auf das Moment der Negation als

51 Aristoteles, Anal. Post. I, 2, 72a12–13.52 Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones super libros metaphysicorum Aristotelis IV, 4, ed.

St. Bonaventure 1997, S. 377ff.

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des einen Elements der Kontradiktion vorzunehmen ist: die Negationkann einerseits die ‚Ansichheit‘ verneinen (negare perseitas),53 andererseitskann es sich aber auch um die ‚Ansichheit einer Negation‘, eine perseitasnegationis,54 handeln. In diesem Fall wird die ‚Ansichheit‘—wenngleiches sich dabei um eine negative Bestimmung handelt—jedoch insgesamtbejaht, und es kann dann in der Tat—übereinstimmend mit der aristo-telischen Bestimmung—kein Mittleres secundum se geben. Ist zusätzlicheine der positiv ausgesagten, kontradiktorischen ‚Ansichheiten‘ wahr,kann zudem auf keine Weise ein Mittleres dazwischen fallen. Ist diesaber nicht der Fall, gibt es zwar kein medium secundum se, wohl aber einmedium per accidens.55

Franziskus’ Modell läßt sich auf dieses ‚terminologische Grundge-rüst‘, wie wir es bei Duns Scotus finden, zurückführen: die ursprüng-liche (aristotelische) Annahme, zwischen A und ¬A falle keine mitt-lere Bestimmung, ist in der Form der Wesensaussagen parallel zu set-zen mit der skotischen Terminologie einer perseitas negationis (X ∈ ¬A),die damit einer positiven ‚Ansichheit‘, einer ‚perseitas affirmationis‘ (X ∈A) gegenübersteht. Zwischen diesen kann es in der Tat keine Bestim-mung secundum se geben, wohl aber die Möglichkeit, daß beide For-men der ‚Ansichheit‘ (A und ¬A), ja die ‚Ansichheit‘ überhaupt ver-neint wird (negare perseitas), indem eine negative Kopula gesetzt wird:X ¬∈ A. Hieraus ergibt sich keine Wesensaussage (weder eine positivenoch eine negative), sondern lediglich eine akzidentelle, da verneinendeBestimmung, skotisch gesprochen: ein ‚medium per accidens‘.

Franziskus von Marchia: Johannes Duns Scotus:

X ∈ A Intentio neutra sec. se est factaper intellectum

(perseitas affirmationis) f

X ¬∈ A Intentio neutra sec. se non estfacta per intellectum

negare perseitatem = mediumper accidens

w

X ∈ ¬A Intentio neutra sec. se estnon-facta-per-intellectum

perseitas negationis f

53 Formaliter gesprochen: X ¬∈ Y.54 X ∈ ¬Y.55 Johannes Duns Scotus, Quaestiones super libros metaphysicorum Aristotelis IV, 4, ed.

St. Bonaventure, S. 378: „Dicendum ad hoc quod definitio est multiplex, eo quodnegatio possit negare perseitatem. Vel est ibi perseitas negationis; tunc est intellectusquod perseitas affirmatur; tunc „est oppositio, cuius secundum se non est medium“.Ex hoc sequitur: „cuius nullo modo est medium“. Ubi enim unum oppositum inest perse, reliquum nullo modo inesse potest; est autem medium per accidens inter contrariaimmediata.“.

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die legitimation ‚super‘-transzendentaler bestimmungen 155

Der Argumentationsgang, anhand dessen Franziskus von Marchiadie intentio neutra hervorbringt, weist dieser somit den Status eines ‚me-dium per accidens‘ zu. Die Möglichkeit einer sich daraus ergebenden‚secundum se‘-Bestimmung wird—außer der bereits in „Quodl. 3“ geäu-ßerten Zuschreibung bzw. ‚terminologischen Füllung‘ durch die klassi-schen Transzendentalbegriffe als intentiones neutrae— nicht weiter geklärt.Die Legitimation einer die traditionelle Bestimmung der transcenden-tia übersteigenden Gruppe von Begriffen (intentiones neutrae) muß somitletztlich als eine Art ‚differentielle Größe‘, als ein ‚neu entdeckter, in-haltlich indifferenter Raum‘ betrachtet werden.

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kapitel iv

SCHLUSSBETRACHTUNG

„Die Interpretations- und Wirkungsgeschichtedes aristotelischen Begriffs des Seienden alsSeienden ist noch nicht geschrieben. Sie müßtedieses schwierige Verhältnis zu den beidenBegriffen (scil. des ens reale und des ensrationis) stets mitberücksichtigen“.1

Üblicherweise bildet das Schlusswort einer solchen Arbeit den locusclassicus für eine nunmehr ‚entspannte‘, da vom konkreten Rechtferti-gungszwang einzelner Argumentationsschritte befreite und somit nurnoch konkludierende ‚Lese‘ der zuvor mühsam geernteten Früchte.Nun haben wir bereits an mehreren Stellen innerhalb der vorangegan-genen Kapitel immer wieder ein jeweiliges Fazit gezogen—sowohl hin-sichtlich der einzelnen Resultate von Franziskus’ Beiträgen zur Trans-zendentalien- und Metaphysikentwicklung als auch bezüglich einerNeubetrachtung des inneren Zusammenhangs beider Theoreme. Alldies ergab sich ‚ursprünglich‘ aus der grundlegenden Umbewertungund Modifikation des klassischen Seinsbegriffs, wie wir sie im Rahmender 3. Quaestio von Franziskus’ „Quodlibet“ ausgearbeitet finden. MitBlick auf diese ‚ontologische Keimzelle‘, welche zugleich die Nahtstellefür den Zusammenhang von Franziskus’ (Super-)Transzendentalien-Ent-wurf und seiner Metaphysik-Konzeption bildet, verdient vor allem eineBeobachtung abschließend aber noch einmal unsere Aufmerksamkeit:Spricht nicht gerade die strikte Trennung des subiectum metaphysicae vomprimum obiectum intellectus—so das Ergebnis der Beobachtungen des I.Kapitels—trotz des bereits aufgezeigten inneren Begründungszusam-

1 T. Kobusch, Ens inquantum ens und ens rationis. Ein aristotelisches Problem in der Philoso-phie des Duns Scotus und Wilhelms von Ockham, in: J. Marenbon (Hg.), Aristotle in Britainduring the Middle Ages, Turnhout 1996 (Proceedings of the International conferenceat Cambridge 8–11 April 1994 org. by the S.I.E.P.M.), S. 159. Die Konzeption des Fran-ziskus von Marchia, wie wir sie im Vorangegangenen in den Blick genommen haben,scheint einen deutlichen und maßgeblichen Beitrag zu gerade dieser von Kobusch pos-tulierten Seinsgeschichte zu liefern.

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158 kapitel iv

menhangs letzten Endes doch für ein Auseinanderfallen von Transzen-dentalienlehre und Metaphysikkonzeption?Ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Lehre von den ‚supertranscen-

dentia‘ und ihres Verhältnisses zur Bestimmung des spezifischen Gegen-stands der Metaphysik innerhalb der Konzeptionen der Denker nachFranziskus von Marchia soll andeuten, daß es sich in der Tat lohnt,gerade diesen Brennpunkt bzw. die Scharnierstelle von Transzendenta-lienlehre und Metaphysik-Bestimmung noch einmal näher zu fokussie-ren. Offenkundig scheinen sich die unterschiedlichen Traditions-stränge, wie sie in verschiedener Weise in das 15., 16. und 17. Jahr-hundert hineinwirken und dort allererst zu ihrer vollständigen Aus-prägung gelangen, gerade in diesem systematischen Punkt strukturge-schichtlich zu ‚sondieren‘ und keine einheitliche Fortentwicklung zukonstituieren. Wir wollen daher abschließend—und nicht zuletzt, umFranziskus’ eigene Position noch einmal angemessen in den Gesamt-zusammenhang einordnen zu können—die unterschiedlich gelagertenFragestellungen aufzeigen, wie sie den verschiedenen weiteren Ent-wicklungslinien der (Super-)Transzendentalienlehre und der Metaphy-sikgeschichte zugrundeliegen. Welche der Entwürfe lassen sich in ihrermethodischen Herangehensweise und in ihrem systematischen Anlie-gen auf die Konzeption des Franziskus beziehen? Wo ist ein gegen-läufiger Ansatz erkennbar? Anders gefragt: Wie läßt sich der Zusam-menhang der Transzendentalien- bzw. ‚Super‘-Transzendentalienlehreund der Konzeption der Metaphysik in ihrer Entwicklung von der mit-telalterlichen, insbesondere der skotischen Bestimmung als einer ‚scien-tia transcendens‘ hin zu einer gleichsam als ‚scientia supertranscendens‘ zubetrachtenden, ‚tinologischen‘ Wissenschaft näherhin nachzeichnen?2 Fas-sen wir dazu zunächst noch einmal die vier wesentlichen Argumentati-onsschritte zur Legitimation der über die ‚transzendentalen transcenden-tia‘ hinausgehenden ‚supertranszendentalen transcendentia‘ bei Franziskuszusammen.Als Ergebnis der Lektüre des „Quodlibet“ ist folgendes deutlich

geworden:

(i) Zum Zweck einer Neubewertung der bis dahin etablierten Vor-rangstellung des Begriffs des ‚Seienden‘ innerhalb der klassischen

2 Vgl. hierzu die Studien von O. Boulnois, Être et représentation. Une généalogie dela métaphysique moderne à l’époque de Duns Scot (XIIIe–XIVe siècle), Paris 1999, und J.-F. Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, Paris 1990.

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schlussbetrachtung 159

Gruppe der Transzendentalbegriffe unum, verum, bonum, res undaliquid erachtet Franziskus von Marchia aufgrund der konzeptio-nellen Einführung zweier Erstheiten (prioritas materialis und priori-tas formalis) anstelle eines Erstbegriffs nunmehr zwei Erstbegriffe fürnotwendig: eine in substraktivem und eine in abstraktivem Sinne‚erste‘ prima intentio;

(ii) In diesem Zusammenhang werden aufgrund unterschiedlicher Be-weisgänge die Begriffe des ‚Dinges‘ (res) und des ‚Etwas‘ (aliquid)als ‚neue‘ Erstbegriffe gegenüber dem Begriff des ‚Seienden‘ (ens)ermittelt: ‚res‘ ist Erstbegriff in einer gleichsam materialen Hin-sicht, indem der Begriff des ‚Dinges‘ zugrundeliegend alle anderenBegriffe virtualiter enthält, die somit allesamt später sind als dieserselbst; ‚aliquid‘ ist Erstbegriff in einem formalen Sinne, indem derBegriff des ‚Etwas‘ auf abstrakteste Weise essentialiter in allen ande-ren (realiter) voraufgehenden intentiones enthalten ist. Der conceptusaliquitatis ist damit insofern ebenfalls ‚Erstbegriff‘, als er den nichtweiter rückführbaren Endpunkt der abstraktiven Begriffs-Resolutiobildet. Der ‚entthronte‘ Seinsbegriff hingegen nimmt eine in spe-zifischer Weise nachgeordnete Stellung gegenüber res und aliquidein;

(iii) Die mittelalterlichen Transzendentalbegriffe werden von Franzis-kus inhaltlich dergestalt modifiziert, daß ihnen ein erweiterterGeltungsbereich zugeschrieben wird: nicht mehr ausschließlich fürdas ens reale, sondern auch für das ens rationis müssen sie Gültig-keit besitzen, damit sie ihrem Anspruch als ‚Erstbegriffe‘ tatsäch-lich gerecht werden können. Franziskus scheint somit den tradi-tionellen transcendentia gerade die Rolle beizumessen, die den spä-teren supertranscendentia zuzuschreiben ist. Insbesondere der Begriffdes ‚aliquid‘ nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da dieses nochüber allen anderen Transzendentalbegriffen positioniert wird unddamit zum primum obiectum intellectus im eigentlichen Sinne avan-ciert.3 Der Begriff des ‚Etwas‘ ist damit ausdrücklich aus demGegenstandsbereich der Metaphysik ausgeschlossen. Der Begriffdes ‚Dinges‘ hingegen scheint gerade diejenige Stellung einzuneh-men, die bislang der (transzendentalen) intentio entis zugesprochenwurde, er wird zum proprium subiectum metaphysicae in einem ‚realbe-

3 Vgl. die entscheidende Textstelle aus Franziskus’ „Quodlibet“, q. 3, ed. Mariani,S. 100: „(…) et iste (scil. conceptus aliquitatis) est primum obiectum intellectus, et non ens,neque unum, nec bonum“.

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160 kapitel iv

grifflichen‘ Sinne, während die intentio entis an eine nachgeordneteStelle weichen muß.

(iv) Wenngleich wir mit Blick auf die Konzeption des Franziskus vonMarchia von den ‚Anfängen einer Lehre super-transzendentalerBestimmungen‘ sprechen, so bleibt doch festzuhalten, daß er denTerminus ‚supertranscendens‘ an keiner Stelle seines Werkes selbstverwendet. Und dies geschieht aus gutem Grunde. Wir müssenbei Franziskus von ‚intentiones neutrae‘ sprechen, da er, wie bereitserörtert, keinen zweiten, ‚super-transzendentalen‘ transcensus (näm-lich über die transcendentia hinaus) annimmt, sondern diesen—ingerade dem Sinne, wie ihn die späteren Autoren entwickelten—bereits in den (ersten und damit für ihn einzigen) transcensus derTranszendentalien über die aristotelischen Kategorien eingliedert.

Und wenngleich zu diesem Zweck von Franziskus nachgewiesen wird,daß auch das ens rationis unter die Einteilung durch die aristotelischenKategorien falle (Quodl. 5,3), so machen die Bemerkungen zum subiec-tum metaphysicae im „Metaphysik-Kommentar“ doch eines ganz deut-lich: Die intentiones neutrae, die später sog. ‚supertranscendentia‘, werden alseigentümlicher Gegenstand der Metaphysik ausdrücklich ausgeschlos-sen, womit zugleich der Bereich des ens rationis bzw. der Begriffe zweiterIntention außen vor bleibt.

Warum aber hat Franziskus—stellen wir diese Frage noch einmalausdrücklich—die Metaphysik nicht im Sinne einer ‚Supertranszen-dentalwissenschaft‘ konzipiert? Denn wenn er das gedankliche Seiende(ens rationis) schon als unter die kategoriale Einteilung subsumierbarbetrachtet, so müßte dieses damit doch auch in den Gegenstandsbe-reich der Metaphysik fallen!

1. Das Supertranszendentale als ‚subiectum metaphysicae‘?

Aristoteles hat in seinem Metaphysik-Entwurf—bei aller Unbestimmt-heit—das �ν �� �ν als Gegenstand der Metaphysik zumindest insofernunmißverständlich spezifiziert, als er dabei neben dem Akzidentellenvor allem auch das ‚veritative‘ Seiende (τ� �ν !ς �λη�"ς) ausdrücklichvon dieser Funktion ausschloß.4 In diesem Sinne läßt sich das aristote-

4 Vgl. Aristoteles, Met. E 4, 1027b34–1028a3, und K 8, 1065a 22ff. Aristoteles be-stimmt das ‚veritative Sein‘ hier als das in einem Satz durch „Verbindung und Tren-nung“ erkannte intramentale Sein. Th. Kobusch sieht in den Bemerkungen der aristote-

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schlussbetrachtung 161

lische Metaphysikverständnis auf das ‚Realseiende‘ konzentrieren, wäh-rend alles gedankliche Seiende deutlich exkludiert wird. Stand für Fran-ziskus von Marchia somit außer Frage, dem eindeutigen Diktum desAristoteles, das subiectum metaphysicae beschränke sich auf das ens reale,zu widersprechen?5 Oder lag es allein an dem von ihm selbst ange-führten Grund, daß das eigentümliche subiectum der Metaphysik, würdedafür der Begriff des (den ersten und zweiten Intentionen gemein-samen) ‚aliquid‘ herangezogen, dann identisch wäre mit dem propriumsubiectum der Logik?6 Scheinbar finden wir bei Franziskus einen mitdem aristotelischen Modell zu vereinbarenden Entwurf: so arbeitet erden (aristotelischen) Bereich des veritativen, d.h. des gedanklichen Seienden ineinem umfassenden Sinne hinsichtlich des Ersterkannten des mensch-lichen Intellekts weiter aus, behält diesen aber—in Übereinstimmungmit der aristotelischen Vorlage—weiterhin aus dem Bereich der Meta-physik ausgeschlossen. In einigen anderen zeitgenössischen Modellen,die jedoch als weitaus seltener zu werten sind, so etwa bei Wilhelmvon Ockham oder Nicolaus Bonetus (~1280–1343), wird bereits eine‚Überwindung‘ dieser ‚realontologischen Einschränkung‘ des Gegenstands-bereichs der Metaphysik sichtbar.7 Bedeutet die Verfechtung der Auf-

lischen Metaphysik „die Geburtsstunde der Lehre vom ‚Gedankending‘ oder des ‚Seinsin der Seele‘ oder des ‚gedachten Seins‘ oder wie immer der spätere Name dafür lau-ten mag“; vgl. Th. Kobusch, Ens inquantum ens und ens rationis. Ein aristotelisches Problemin der Philosophie des Duns Scotus und Wilhelms von Ockham, in: J. Marenbon (Hg.), Aristotlein Britain during the Middle Ages, Turnhout 1996 (Proceedings of the Internationalconference at Cambridge 8–11 April 1994 org. by the S.I.E.P.M.), S. 157–175. Aristotelesscheint somit aufgrund der Unterscheidung ‚ens inquantum ens‘—‚veritatives Sein‘ dieGrundlage für die spätere Gegenüberstellung und deren Übersteigung von ens reale undens rationis zu liefern.

5 Noch Francisco Suárez (1548–1617) erklärt in seinen Disputationes Metaphysicae, d. 1,s. 1, n. 26 (Opera omnia XXV, ed. C. Berton, Paris 1856, S. 11), das subiectum metaphysicaeganz explizit als „Seiendes, insofern es reales Seiendes ist“.

6 Vgl. Franciscus de Marchia, Quaestiones in metaphysicam I, 1, ed. Zimmermann,S. 85f.: „(…) idem sub eadem ratione formali non potest esse subiectum diversarumscientiarum. Sed si aliquid esset subiectum metaphysicae primum, eadem ratione essetsubiectum primum logicae, cum logicus et metaphysicus sint aequalis ambitus quantumad subiectum“.

7 Bei Wilhelm von Ockham geschieht dies im Zuge seiner Intellectio-Theorie durchdie Subsumierung des ens rationis unter das Realseiende, wie wir vorangehend näherausgeführt haben (vgl. Kap. III der vorliegenden Untersuchung). Th. Kobusch betont,„daß nach Wilhelm von Ockham—gegen die aristotelische Vorgabe—die Metaphysikgerade auch als jene Disziplin zu begreifen ist, die das ens rationis thematisch behan-delt“. (Vgl. T. Kobusch, Ens inquantum ens und ens rationis. Ein aristotelisches Problem in derPhilosophie des Duns Scotus und Wilhelms von Ockham, in: J. Marenbon (Hg.), Aristotle inBritain during the Middle Ages, Turnhout 1996 (Proceedings of the International con-

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fassung, adäquates Objekt der Metaphysik sei ein Seinsbegriff in einemallumfassenden, univoken und höchst abstrakten Sinn, der schließlichnicht nur alles Reale (im Sinne des Möglichen), sondern auch dieGedankendinge, nicht nur alles Positive, sondern auch die Privatio-nen in sich einschließt, kurz: das Postulat eines supertranszendentalenMetaphysik-Gegenstandes, zu dieser Zeit eher noch einen Sonderfall,so entwickelt sie sich im 17. Jahrhundert zu einem immer stärkerenGegenpol. Auf einige signifikante Beispiele für diesen Entwicklungs-strang, d.h. für die ausdrückliche Identifikation des subiectum metaphy-sicae mit dem (supertranszendentalen) primum obiectum intellectus, sei kurzhingewiesen:8

Um 1600 vertritt Clemens Timpler (1563/4–1624) ausdrücklich dieAnsicht, Gegenstand der Metaphysik sei „alles Denkbare“ (omne intel-ligibile).9 Und auch bei Johannes Clauberg (1622–1665), der in seiner„Ontosophia“ eine allgemeine Ontologie ausarbeitet, deren Subjektdas ens inquantum ens ist, findet sich ein ähnlicher Ansatz, indem er fest-stellt, daß ‚Denkbarkeit‘ die weiteste Bedeutung des Seienden sei undeben dieses der Gegenstand der Metaphysik.10 ‚Seiendes‘ (ens) umfassealle Klassen des Seienden und sei somit dem esse obiectivum sowie dem ensreale gemeinsam. Leibniz spricht in seiner „Introductio ad Encyclopae-diam arcanam“ von einer „scientia generalis“, die sich mit dem „Denk-baren überhaupt, insofern es ein solches ist“ („de cogitabili in univer-

ference at Cambridge 8–11 April 1994 org. by the S.I.E.P.M.), S. 157. Kobusch ist esauch, der bemerkt: „Nikolaus Bonetus ist vielleicht der erste, der die Lehre vom super-transzendentalen Charakter des Seinsbegriffs vertritt“, in: Th. Kobusch, Das Seiende alstranszendentaler oder supertranszendentaler Begriff. Deutungen der Univozität des Begriffs bei Scotusund den Scotisten, in: L. Honnefelder/R. Wood/M. Dreyer (Hgg.), John Duns Scotus.Metaphysics and Ethics, Leiden/New York/Köln 1996 (Studien und Texte zur Geis-tesgeschichte des Mittelalters 53), S. 361. Vgl. Nicolaus Bonetus, Metaphysica, Nat. Phil.,Praedic., Theol. Nat., I, c. 6 (Venetiis 1505), fol. 8vb: „Ens autem inquantum ens est qui-ditas uni〈vo〉ca enti reali et enti rationis: et per ens rationis non intelligo ens in anima,sed esse quod habet cognitum in cognoscente vel aliquid derelictum et sequela talisesse: hoc probatur quia primum principium ita verificatur sub disiunctione de enterationis sicut de ente reali: ergo subiectum primi principii: quod est ens inquantum ensuniformiter reperitur in ente reali et rationis: quia non reperitur propria passio sine suosubiecto“.

8 Ich beziehe mich dabei auf das von J.P. Doyle gelieferte Material, der aller-dings weniger eine systematische, als vielmehr chronologische Darstellung liefert (vgl.J.P. Doyle, Between transcendental and transcendental: the missing link?, in: The Review ofMetaphysics 50 (1997), S. 783–815).

9 Vgl. Clemens Timpler, Met. systema method. I, c.1, probl. 5 (Hannover 1608), S. 7.10 Vgl. Johannes Clauberg, Metaphysica de ente; Ontosophia I, 3; II, 7.

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sum quatenus tale est“) befasse.11 Innerhalb dieser scientia generalis befindesich „forte etiam“ die Ontologie als „scientia de aliquo et nihilo, ente et nonente, re et modo rei, substantia et accidente“.12 Der nach und nach häufige-ren Verwendung von „supertranscendens“ korrespondiert die im 17. Jahr-hundert verbreitete—der Argumentation des Franziskus von Marchiaentgegengesetzte—Ansicht, daß sowohl die Metaphysik als auch dieLogik von ‚entia realia‘ und ‚entia rationis‘ handle. Sebastian Izquierdo S.J.(1601–1681) bestimmt den Gegenstand der Metaphysik schließlich als„Seiendes in einem umfassenden Sinne, das mögliches als auch unmög-liches Seiendes einschließe“,13 und Antonio Bernaldo de Quiros S.J.(1613–1668) versucht zu zeigen, daß die Logik von dem Unterschiedzwischen ens reale und ens rationis gänzlich absehe, wobei er in diesemZusammenhang auf amabile, cognoscibile und intelligibile als supertranszen-dentale Begriffe verweist.14

Längst nicht alle Denker haben jedoch diesen Weg einer gleich-sam ‚supertranszendentalen Metaphysik‘ eingeschlagen. Weit verbrei-teter war die Auffassung, daß es keinen supertranszendentalen, univokfür das ens reale und das ens rationis gültigen Seinsbegriff geben könne,womit sich auch die Frage nach der möglichen Eignung eines solchenBegriffs für das subiectum metaphysicae erübrigte. Allerdings läßt sich dabeinoch ein ‚Zwischenweg‘ konstatieren (und diesem wäre wohl auch Fran-ziskus von Marchia zuzuordnen), gemäß dessen zwar ein supertran-szendentaler Seinsbegriff affirmiert, dieser als Gegenstand der ErstenPhilosophie jedoch ausdrücklich abgelehnt wird.

2. „Ens generalissime sumptum, quatenus abstrahit ab ente rei etrationis, non est constituendum metaphysicae obiectum“ 15

Eine interessante systematische Beobachtung können wir diesbezüg-lich bei Sebastian Dupasquier, einem südfranzösischen Konventualen,machen, der im Jahr 1692 seine „Summa Philosophiae Scholasticae et

11 Vgl. G. W. Leibniz, Introd. ad encycl. arc. (ca. 1679). Opusc. et fragm. inéd., ed.L. Couturat (Paris 1903, ND 1961), 511.

12 Ibid., 512.13 Vgl. Sebastian Izquierdo, Prefatio ad lectorem, in: Pharus scientiarum I (Lyon 1659).14 Vgl. Antonio Bernaldo de Quiros, Opus philosophicum seu selectae disp. philos., compl.

Tract. Octo, tr. II: De log., d. 10, s. 8 (Lyon 1666) 65; vgl. tr. I: De institut. Logicae seu desummulis, d. 2, s. 4, ibid. 14.

15 Carolus F. d’Abra de Raconis, Summa totius philosophiae (Coloniae 1629), 8b.

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Scotisticae“ veröffentlichte. Er präsentiert uns bei der Diskussion einesumfassenden (supertranszendentalen) Seinsbegriffs eine deutliche Tren-nung der Frage einerseits, ob ein solcher Seinsbegriff mögliches obiec-tum des Intellekts sein könne, und zum anderen, ob ein solcher Begriffzugleich auch subiectum der Ersten Philosophie sei. Zunächst führt eran, daß es keine für das reale und das gedankliche Seiende gemein-same und einheitliche Seinsbestimmung geben könne, die sowohl demIntellekt als auch einer Wissenschaft „entgegengestellt“ werden könnte(„nulla una ratio entis objici potest intellectui et scientiae, quae sit communis univoceenti reali et rationis“).16 Erstaunlicherweise fügt er jedoch wenig später an,daß es dagegen denkbar sei, daß aber sehr wohl die Metaphysik als die„höchste Wissenschaft“ alles Seiende (d.h. Seinsarten wie das ens reale, dasens rationis oder das ens morale) zum Gegenstand habe. Allerdings sei indirekter Weise und im eigentlichen Sinne nur das ens reale Gegenstandder Metaphysik, während alle anderen Seinsarten—insbesondere dasens rationis—nur nebenbei und indirekt thematisiert werden.17

Im wesentlichen ist dies auch das Hauptargument des SkotistenCarolus Franciscus d’Abra de Raconis (1580–1646) gegen einen vonder Metaphysik zu behandelnden Seinsbegriff im allerweitesten Sinne,da ens reale und ens rationis keine gemeinsame Bestimmtheit haben undsomit nicht auf derselben „Stufe“ stehen, denn das ens rationis habelediglich ein esse tantum obiective in intellectu, das nicht unter dem Objektder Metaphysik mitverstanden werden könne:18

„Wenn sie (scil. die Metaphysik) zugleich vom gedanklichen Seiendenhandeln würde, müßte dort irgendein beiden, nämlich dem realen undgedanklichen Seienden gemeinsamer Sinngehalt (ratio) oder (Seins-)‚Grad‘ (gradus) angenommen werden (…), die Metaphysik kann aber

16 Sebastian Dupasquier, Summa Philosophiae Scholasticae et Scotisticae (Patavii1733), disp. I, q. II, S. 6.

17 Ibid., S. 12: „Unde Metaphysica per se primo et directe agit de ente reali ut sic,indirecte vero, et per accidens de ente rationis. (…) aut sub unam totalem uniri, cuiusobiectum esset omne ens reale in tota sua latitudine, aut etiam omne ens tam realequam rationis et morale et talis dici posset metaphysica“.

18 Vgl. Carolus Franciscus d’Abra de Raconis, Summa totius philosophiae (Coloniae1629), 3a: „[…] si simul ageret de ente rationis, statuere ibi deberet rationem aliquamsive gradum utrique communem scilicet enti reali et enti rationis, […] et Metaphysicatalem gradum communem enti reali et enti rationis omnino reperire non potest, cumsolum nomen commune habeant, ens reale et ens rationis […]“; 8b: „Dari conveni-entiam univocam inter ens reale et rationis dici non potest […]“; 3b: „Entia rationisnon sunt de obiecto Metaphysicae, seu (quod in idem recidit) ens generalissime sump-tum, quatenus abstrahit ab ente rei et rationis, non est constituendum metaphysicaeobiectum“.

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einen solchen, dem realen und gedanklichen Seienden gemeinsamen‚Grad‘ nicht haben, da das ens reale und das ens rationis nur einen gemein-samen Namen haben (…). Es kann nicht gesagt werden, daß es eine uni-voke Übereinstimmung zwischen dem Realseienden und dem gedankli-chen Seienden gebe (…). Die gedanklichen Seienden sind nicht Gegen-stand der Metaphysik oder—was auf dasselbe hinausläuft—: das Sei-ende ‚am allgemeinsten aufgefaßt‘, wie es vom Sein der Sache unddes Gedanklichen abstrahiert, ist kein ‚konstituierender Bestandteil‘ derMetaphysik.“

Der Beweis liegt für Carolus darin, daß der Gegenstand einer Wis-senschaft irgendeinen gemeinsamen Sinngehalt haben müsse, wenn esdavon eine einheitliche Wissenschaft geben solle. Keine Wissenschaftkönne aber einen gemeinsamen Sinngehalt mit Blick auf das ens realeund das ens rationis bezeichnen. Das ‚Seiende‘, wie es von diesen beidenSeinsbereichen abstrahiert ist, kann somit nicht Gegenstand der Meta-physik sein.19 Daher kann—wie auch Ambrosius Saxius hervorhebt—niemals das Seiende im supertranszendentalen Sinne, sondern immernur der transzendentale, d.h. Gott, den Geschöpfen und den katego-rialen Aussagen gemeinsame Begriff des ‚Seienden‘ Gegenstand derMetaphysik sein:

„Hier wird nämlich nicht vom Seienden in einem ‚transzendentalstenSinne‘ (ens transcendentissime sumptum) gehandelt, das dem Realseiendenund dem Gedanklichen gemeinsam ist, sondern vom Seienden ‚tran-szendental aufgefaßt‘ (ens transcendenter sumptum), das sowohl Gott und denGeschöpfen als auch den zehn Kategorien gemeinsam ist“.20

Noch konkreter begründen im 17. Jahrhundert die beiden SkotistenBartholomaeus Mastrius (1602–1673) und Bonaventura Bellutus (1600–1676), daß das „Seiende“ in seiner „allgemeinsten Abstraktion“ genom-men, d.h. als das dem realen und gedanklichen Sein Gemeinsame,überhaupt niemals Gegenstand irgendeiner Wissenschaft sein könne.Denn ein Begriff von einer solchen Abstraktheit repräsentiere einer-seits gar keine sachliche Einheit, sondern bezeichne nur ein nominell

19 Vgl. Carolus Franciscus d’Abra de Raconis, Summa totius philosophiae (Coloniae1629), 8b: „Probatur: Obiectum scientiae debet habere aliquam rationem unam etcommunem, cum ab eius unitate scientiae unitas desumatur. Sed nulla potest assignariratio unius communis enti rei et rationis (…). Ergo ens ab ente rei et rationis abstractumnon potest statui pro obiecto metaphysicae“.

20 Ambrosius Saxius, Catastrasis Philosophica ac Theologia (Bonn 1640), disp. 10, q. 6,a. 2, n. 193: „Non enim est hic sermo de ente transcendentissime sumpto, quod estcommune enti reali ac rationis sed de ente transcendenter sumpto, quod est communeDeo et creaturis ac decem Praedicamentis“.

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Gemeinsames, zum anderen kämen die ersten transzendentalen Be-stimmungen des Seienden (unum, verum und bonum) den entia rationis nichtzu.

3. Überlegungen einzelner Denker zur begrifflichen Benennungsupertranszendentaler Bestimmungen ohne Rekurs aufdie Frage nach dem ‚subiectum metaphysicae‘

Anders als die Beispiele der vorangehend in den Blick genommenenKonzeptionen darlegen, hat der weitaus größte Teil innerhalb der sko-tistischen Tradition das ens inquantum ens nicht nur bezüglich der Fragenach dem Gegenstand der Metaphysik als transzendentalen Begriff imstrengen Sinne aufgefaßt, d.h. insofern der Seinsbegriff im Hinblickauf die Unterscheidung der verschiedenen Seinsbereiche (ens reale, ensrationis, ens morale usw.) äquivok zu verwenden ist. Ganz unabhängigvon dieser Frage wurde ein supertranszendentaler Seinsbegriff darüber-hinaus per se abgelehnt. In die Verlegenheit einer Auseinandersetzungmit der Frage, ob das subiectum der Metaphysik nun umfassender seials das ens reale, kamen diese Denker somit erst gar nicht. Eine sol-che Position erweist sich für die Entwicklungsgeschichte der Metaphy-sik als von erheblicher Bedeutung, insofern die meisten Denker die-sen Weg beschritten haben.21 Es gab jedoch durchaus auch Denker,die einen supertranszendentalen Seinsbegriff affirmierten, ohne diesenauf die Frage nach dem Gegenstand der Metaphysik hin zu überprü-fen. Als letztes seien daher einige Beispiele für diese ‚vierte Gruppe‘von Autoren genannt: so spricht etwa Dominico Soto (1494–1560) inseinen „Summulae summularum“ von „imaginabilis“ als einem super-transzendentalen Begriff und in der von ihm angeführten, weit veräs-telten „Arbor terminorum“ findet sich sogar ein ausgewiesener Platz fürdas „supertranscendens“.22 Ohne „supertranscendens“ genannt zu werden,umfaßt es sowohl Seiendes (einschließlich der „entia rationis“) als auchNichtseiendes oder Nichts („nihil“).23 Der Jesuit Petrus Fonseca (1528–1599) präsentiert einen so weiten Begriff von „etwas“ (aliquid), daß er

21 Einige signifikante Beispiele für die Ablehnung eines univoken Seinsbegriffs—unter anderem die Konzeption Wilhelms von Ockham—haben wir bereits im Rahmendes dritten Kapitels näher in den Blick genommen (vgl. S. 107–110).

22 Vgl. Dominico Soto, Summulae summularum, l. 1, c. 6, n. 4 (Salamanca, 2. Aufl.1554, ND 1980), 10r.

23 Vgl. Clemens Timpler, Metaphysicae Systema methodicum, Hanau 1606.

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alles umfaßt, woran man denken oder wovon man sprechen kann,24 alsspezifisch supertranszendentale Begriffe erwähnt er „opinabile“, „cogita-bile“ und „apprehensibile“.25 In der Auffassung von Thomas C. Carletonsind „intelligibilis“ und „imaginabilis“ als supertranszendentale Begriffeweit genug, auch die entia rationis zu umfassen, worunter er letztlichunmögliche Gegenstände versteht (z.B. einen anderen Gott (alius Deus),eine Chimäre oder einen Bockhirsch).26 Solche Gegenstände, die derGeist aus möglichen Bestandteilen zusammensetzt, wären extramen-tal unrealisierbar. Obwohl sie nicht im Begriff des „ens reale“ enthal-ten sind, haben sie bei Carleton doch ein objektives Sein und sindfolglich erkennbar; darin sind sie den entia realia verwandt. Erkennbarsind die unmöglichen Gegenstände jedoch nicht durch ihre eigenenkognitiven Repräsentanten („per proprias species“), ihr eigenes Realseinsowie ihre Eignung zur Terminierung von Erkenntnisakten. Vielmehrist ihre Erkennbarkeit eine extrinsische: durch kognitive Repräsentan-ten von ihnen verschiedener Dinge und vermöge extrinsischer Deno-mination von einem Intellekt her. Eine solche extrinsische Erkennbar-keit findet sich—zumindest auf einen möglichen Intellekt bezogen—gleichermaßen bei den entia realia und den entia rationis und ist dahersupertranszendent. Gefolgt wird Carleton dabei von Ricardus Lyn-ceus, der diese Auflistung um imaginabile und volibile ergänzt.27 SilvesterMauro S.J. (1619–1687) verwendet „supertranscendens“ gleichbedeutendmit intelligibile und cognoscibile, die sowohl Unmögliches als auch sogar„ipsum nihil“ einschließen. Unmögliche Begriffe sind Mauro zufolgenotwendig, um das erste Prinzip des Nicht-Widerspruchs zu erfassen.28

Der Jesuit André Sémery (1630–1717) nennt als Beispiele für supertran-szendentale Begriffe explizit intelligibile, cognoscibile und cogitabile.29 Johan-nes B. de Ulloa S.J. (1639–1723) erklärt um die Wende zum 18. Jahr-hundert, „ens“ sei zwar die höchste Gattung, „cognoscibile“ stehe jedochnoch höher („supremum omnium“).30 Der spanische Jesuit Ignacio Peynado

24 Petrus Fonseca, In Met. Arist. libr. 2, V, c. 1, q. 2 (1615, ND 964), 12c.25 Petrus Fonseca, Institutionum dialecticarum libri octo, 1.1, c. 28, Ingolstadt 1607, 62.26 Vgl. Thomas Carleton, Philos. universa, Logica, d. 16, s. 5, n. 2 (Antwerpen 1649),

78; d. 13, s. 1, n. 6, S. 65.27 Vgl. Ricardus Lynceus, Dialectica, L. 3 tr. 3, c. 2, n. 20, in: Universa philos.

scholast., Lyon 1654, 1, S. 87.28 Vgl. Silvester Mauro, Summulae, in: Quaest. philos., c. 10, ed. M. Liberatore (Paris

1876) 1, S. 16.29 Vgl. André Sémery, Logica, d. 1, c. 1, a. 2, in: Triennium philosophicum 1, 7, Rom

1682.30 Johannes B. de Ulloa, Logica major, disp. 3, c. 1, n. 3 (Rom 1712), S. 242.

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(1633–1696) äußert noch vor ihm, den entia realia und den entia rationiskomme extrinsische Erkennbarkeit in univoker Weise zu: „(…) ens realeet rationis univoce conveniunt sub hoc conceptu aptum extrinsece cognosci, seu cognos-cibile extrinsece“.31 Kurze Zeit später merkt Luis de Lossada S.J. (1681–1748), der den Begriff „supertranscendens“ mehrfach verwendet,32 bereitsan, daß die Lehre von der extrinsischen Erkennbarkeit weit verbreitetsei.33 Die Bezeichnungen supertranszendentaler Bestimmungen schei-nen sich somit innerhalb der Entwürfe der Denker des 16.-18. Jahrhun-derts vor allem auf die Bezeichnungen intelligibile, cogitabile, cognoscibileund imaginabile zu konzentrieren.

* * *

Folgende vier ‚Autoren-Gruppen‘ haben wir vorangehend sondierendin den Blick genommen:

1. Gegner eines supertranszendentalen Seinsbegriffs (ohne explizitenRekurs auf die Frage nach dem subiectum metaphysicae)

2. Befürworter eines supertranszendentalen Seinsbegriffs, der zudemauch als subiectum metaphysicae affirmiert wurde

3. Befürworter eines supertranszendentalen Seinsbegriffs, der jedochals subiectum metaphysicae ausdrücklich abgelehnt wurde

4. Befürworter eines supertransz. Seinsbegriffs (ohne expliziten Rekursauf die Frage nach dem subiectum metaphysicae)

Bei Franziskus von Marchia, als zur dritten Gruppe gehörend, fin-den wir—wie gesagt—allein die klassischen transzendentalen Begriffemit ihrer inhaltlichen Modifikation zur Bezeichnung der ‚Vorläuferder Supertranszendentalien‘. Daß die späteren supertranszendentalenTermini jedoch bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts (gespeist ausdem Bereich sprachlogischer Untersuchungen) zur Verfügung standen,beweist eine interessante philosophiegeschichtliche Parallele zur Kon-zeption des Franziskus. Sie findet sich bei einem Denker, auf den JanA. Aertsen in einer neueren Studie zur Entwicklungsgeschichte desTerminus „transcendens“ hingewiesen hat.34 Als bedeutende Quelle ver-

31 Ignacio Peynado, Disput. in univers. Aristotelis Logicam, tr. 5, disp. 2, sec. 3, n. 47(Alcalá 1721), S. 410.

32 Luis de Lossada, Institutiones dialecticae, vulgo Summulae, disp. 4, c. 4, sec. 3, n. 12(Salamanca 1721), S. 62; und sec. 6, n. 35, S. 67.

33 Ders., Metaphysica, disp. 4, c. 4, n. 47, in: Cursus philosophici (1720ff., Barcelona1883), 10, 277; und disp. 1, c. 4, n. 64, 10, 51.

34 Vgl. Jan A. Aertsen, The Concept of „Transcendens“ in the Middle Ages: What is Beyond

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weist Aertsen auf den Dominikaner Armandus de Bellovisu und seineum 1326 verfaßte „Declaratio difficilium terminorum“. Dieses Werk,das den Studenten der Theologischen Fakultät als Nachschlagewerkund Hilfsmittel zum Zweck eines adäquaten Verständnisses besondersschwieriger philosophischer Begriffe dienen sollte, gewährt uns heutevor allem einen Einblick in den zeitgenössischen Sprachgebrauch unddas allgemein gängige Verständnis verschiedener grundlegender philo-sophischer Termini. Im 2. Kapitel des I. Teils der „Declaratio“ wirdzunächst die traditionelle These reformuliert, daß alle Begriffe aufden Begriff des Seienden (conceptus entis) hin zurückgeführt bzw. auf-gelöst werden können, da dieser das erste Erkennbare, das ‚primumintelligibile‘, sei. (Das Innovationspotential der Konzeption des Fran-ziskus von Marchia läßt diese Bestätigung der etablierten Auffassungvon der Priorität des ‚Seinsbegriffs‘ noch deutlicher zutage treten.) Eineweitere Differenzierung aber scheint doch bemerkenswerter: Ebenso,wie die transzendentalen Begriffe innerhalb der Begriffe erster Inten-tion alle zehn aristotelischen Gattungen durchkreuzen und damit inunivoker Weise übersteigen, so sind innerhalb der Klasse der zweitenIntentionen Begriffe wie ‚praedicabile‘—gerade einer der später klassischgewordenen supertranszendentalen Termini—allen transcendentia und denzehn Kategorien gemeinsam.35 Daneben nennt Armandus auch nochBegriffe, die sowohl den zweiten Intentionen wie auch den „ersten tran-scendentia“, also den „ersten (nämlich transzendentalen) Begriffen“ ers-ter Intention gemeinsam sind, wie z.B. der Begriff des ‚universale‘. DasBemerkenswerte liegt dabei jedoch in der Tatsache, daß diese Begriffezu den zweiten Intentionen gezählt werden. Wie Aertsen deutlich anmerkt,sind Armandus’ Ausführungen nicht als Kritik an der Transzenden-talienlehre gemeint, sondern durch denominative, extrinsische Prädi-kation grundgelegt.36 Bemerkenswert bleibt jedoch, daß die terminolo-

and What is Common, in: G. van Riel/C. Macé (Hg.), Platonic Ideas and ConceptFormation in Ancient and Medieval Thought, Leuven 2004, S. 133–153.

35 Vgl. Armandus de Bellovisu, Declaratio II, c. 264: „Quod sicut inter nomina pri-marum intentionum sunt quaedam, ut prius patuit, quae transcendunt et circumeuntomne genus (…), ita et in secundis intentionibus. Quaedam sunt communes omnibustranscendentibus et omnibus decem rerum generibus, sicut hoc quod dico ‚praedica-bile‘ et multa alia“.

36 Vgl. Armandus de Bellovisu, Declaratio II, c. 264: „Illud autem quod praedicationedenominative praedicatur de omnibus secundis intentionibus et de primis transcenden-tibus, potest etiam dici transcendens, quia hoc quod dico ens, est universale, hoc quoddico genus, est universale, et sic de aliis. Et nec iste modus transcendentis est ita com-munis et proprius sicut secundus“.

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gischen Anfänge einer Lehre von den supertranscendentia vermutlich indieser Weise verlaufen sind:

4. Zusammenfassung

Innerhalb der Forschungen zur Transzendentalienlehre und zur Tran-szendentalphilosophie wird immer wieder die Lehre von den supertran-scendentia als Ausgangspunkt für die Transzendentalphilosophie Kantsdiskutiert, indem diese möglicherweise „den Begriff von einem Gegen-stande überhaupt“ fundieren.37 Ohne an dieser Stelle auf diese Dis-kussion näher eingehen zu wollen, zeigt sich anhand der vorangehenddargestellten Beispiele aber doch zumindest eines sehr deutlich: in kei-nem Falle läßt sich die Geschichte der Supertranszendentalien als einekohärent und kontinuierlich verlaufende Entwicklung begreifen, viel-mehr zeigt sich deutlich die Tendenz einer ‚Zersplitterung‘ des Verhält-nisses von subiectum metaphysicae und primum obiectum intellectus. Und diesscheint nicht zuletzt gerade in der uneinheitlichen Bezugnahme dereinzelnen Autoren auf die Frage nach dem proprium subiectum metaphysicaebegründet zu liegen. Wir können nun keine endgültige Antwort auf dieFrage formulieren, weshalb sich eine solche Disparität der unterschied-lichen Fragestellungen ausgeprägt hat. Und selbst mit Blick allein aufdie Konzeption des Franziskus von Marchia bleibt schwierig zu bestim-men, aus welchem Grund er nun tatsächlich in so eindeutiger Weise amRealcharakter der Metaphysik festgehalten hat. Ein wichtiges Fazit läßtsich aber aus dieser offenkundigen Tatsache doch ziehen:

37 J.P. Doyle spricht sogar von einer „Vorwegnahme“ (vgl. Art. „Supertranszendent“,Sp. 648). Vgl. die entsprechende Passage bei Kant selbst: „Der höchste Begriff, vondem man eine Transzendentalphilosophie anzufangen pflegt, ist gemeiniglich die Ein-teilung in das Mögliche und das Unmögliche. Da aber alle Einteilung einen eingeteil-ten Begriff voraussetzt, so muß noch ein höherer angegeben werden, und dieser istder Begriff von einem Gegenstande überhaupt“ (vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft(A 290); ebenso Metaphysik der Sitten, Einl. III, AA VI, 218).

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Aufgrund der auf den Bereich des Realseienden begrenzten Meta-physik-Konzeption und der damit verbundenen ‚dualistischen Struk-tur‘ des res-Begriffs (der nämlich einerseits auf einer rein intentiona-len Ebene als intentio neutra konzipiert ist, auf der metaphysisch-wissen-schaftstheoretischen Ebene dagegen—traditionell—als intentio primae in-tentionis) wird aus dieser Perspektive deutlich, daß strikt gesprochenlediglich der Begriff des ‚aliquid‘ als intentio neutra in einem absolutenSinne gilt. Alle anderen transzendentalen Begriffe (einschließlich ensund res) lassen sich im Bereich der Metaphysik auf die Ebene derBegriffe erster Intention ‚zurückführen‘, allein der conceptus aliquitatisbleibt univok für den Bereich der ersten und zweiten Intentionen bzw.für den des ens reale und des ens rationis (damit wird auch deutlich,warum dieser durchgängig in der abstrakten Form verwendet wird,indem er sich nicht ‚konkretisieren‘ läßt).38 Anders ausgedrückt: mitBlick auf die Gesamtentwicklung der Supertranszendentalien scheintFranziskus von Marchia den entscheidenden Legitimationsgrundsteingelegt zu haben, indem er in Quodl. 5, 3 die Transzendentalbegriffe alsintentiones neutrae strukturell rechtfertigt. Die Anwendung bzw. Übertra-gung dieser ausgeweiteten Erstbegriffe auf die Frage nach dem primumsubiectum metaphysicae zeigt letzten Endes, daß es der Begriff des ‚Etwas‘ist, der als das konzeptionelle und auch begriffliche ‚Konzentrat‘ Ein-gang in die späteren Supertranszendentalien-Lehren findet.Wenn wir somit tatsächlich von dem möglichen Beginn der ‚Super-

transzendentalienlehre‘ bei Franziskus von Marchia sprechen, müssenwir diese beiden entscheidenden Strukturmomente seiner Konzeptionals kennzeichnendes Fazit festhalten:

1. Franziskus leistet mit seinem Entwurf erstmals und in ausführlichargumentativer Weise die Legitimation univoker Seinsbestimmungen,ebenso, wie sie bei späteren Autoren als supertranszendentale Seinsbestim-mungen etabliert wurden. Er nimmt dafür jedoch—und das ist bemer-kenswert—nur eine Überstiegsbewegung vor, indem (wie wir gesehenhaben) allein die Kategorien transzendiert werden. Dennoch scheint es

38 Problematisch scheint letzten Endes, daß Franziskus seine intentiones neutrae geradeals ‚neutral‘ gegenüber der Einteilung in Begriffe erster und zweiter Intention konzi-piert, er aber mit seiner Differenzierung eines material und eines formal ersten Begrif-fes gerade wieder in diese Distinktion zurückzufallen droht. Liegt der Unterschied zwi-schen dem substraktiv ersten Begriff und dem abstraktiven Erstbegriff nicht geradedarin, daß sich res (ähnlich den ersten Intentionen) auf die (realen) Dinge selbst beziehtund aliquid (ähnlich den zweiten Intentionen) auf die reinen Verstandesbegriffe?

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angebracht, wie im Titel der vorgelegten Untersuchung, bei Franziskusvon ‚super‘-transzendentalen Bestimmungen zu sprechen, da die tran-scendentia, wie sie von den Autoren des 13. Jahrhunderts bestimmt wur-den, in der Tat doch in gewissem Sinne auf das ens rationis hin überstie-gen werden. Das bedeutet zusammenfassend: historisch-systematischbetrachtet finden wir bei Franziskus von Marchia ‚zwei‘ Transzendie-rungen (eine erste über die Kategorien und eine zweite über die Tran-szendentalien), methodisch-systematisch dagegen setzt er dafür jedochnur ‚einen‘ transcensus an (den der als intentiones neutrae neu bestimmtenTranszendentalbegriffe über die Kategorien).

2. Innerhalb dieser ‚einen‘ Transzendierungsbewegung allerdings findetgewissermaßen doch noch ein zweiter Überstieg statt, indem nämlichder Begriff des ‚aliquid‘ die anderen intentiones neutrae noch einmal selbstübersteigt. Erst hier manifestiert sich somit die im eigentlichen Sinnedes Wortes ‚supertranszendentale Bestimmung‘ als dem primum obiectumintellectus.

Müßte die Eingangsfrage der vorliegenden Untersuchung, welchesSchicksal den Begriff des ‚Seienden‘ im Entwurf des Franziskus vonMarchia ereilt, in der knappestmöglichen Aussage formuliert werden,so wäre es wohl diese: Der über die Jahrhunderte hinweg als Erstbe-griff etablierte Seinsbegriff verliert seine Priorität an den Begriff des‚Dinges‘, wenn es um die Position des primum subiectum metaphysicae geht,und an den Begriff des ‚Etwas‘, wenn nach dem primum obiectum intellec-tus gefragt wird. Zu zeigen, welche folgenschweren Konsequenzen sichaus dieser Neubewertung sowohl für die Geschichte der Metaphysik alsauch für die Entwicklung der Transzendentalienlehre und Transzen-dentalphilosophie ergeben haben, war Anliegen der vorangegangenenBemühungen. Sie mögen Ausgangspunkt für eine eingehende und wei-terführende Betrachtung vor allem der Konzeptionen von Zeitgenossendes Franziskus von Marchia sein.

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VERZEICHNIS DER QUELLEN UND DER LITERATUR

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Mariani, Grottaferrata 1997 (Spicilegium Bonaventurianum XXIX).Commentarius in librum Sententiarum, prologus, ed. Mariani, in: Quodlibet cum

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Sententia et compilatio super libros Physicorum Aristotelis, ed. N. Mariani, Grotta-ferrata 1998 (Spicilegium Bonaventurianum XXX).

Commentarius in IV libros Sententiarum Petri Lombardi. Quaestiones praeambulae etprologus, ed. N. Mariani, Grottaferrata 2003 (Spicilegium Bonaventuria-num XXXI).

Teileditionen:

Quaestiones in metaphysicam I, q. 1: „Utrum res secundum quod res sit subiectummetaphysicae vel aliquid aliud“, ed. A. Zimmermann, in: Ders., Ontologieoder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13.und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen, Leuven 21998, Recherches deThéologie et Philosophie médiévales, Bibliotheca 1, S. 84–98.

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NAMENREGISTER

Aertsen, J.A., 11, 12, 14–16, 22, 23,44, 46, 70, 130, 168, 169

Albertus Magnus, 10, 12Alexander von Aphrodisias, 23Ambrosius Saxius, 165André Sémery, 167Antonio Bernaldo de Quiros, 163Aristoteles, 9, 20, 21, 25, 29, 31,

54, 73, 74, 77, 90, 94–96, 98–100, 102, 103, 105, 109, 119, 160,161

Armandus de Bellovisu, 169, 170Averroes, 22Avicenna, 11, 12, 22, 32, 33, 41, 68,

69, 73, 74, 95, 96, 106, 107, 115

Barth, T., 132Bartholomaeus Mastrius, 165Benedictus Pererius, 23, 24Bernhard von Trilia, 91Berthold von Moosburg, 9Bonaventura, 9Bonaventura Bellutus, 165Bonitz, H., 9Boulnois, O., 13, 22, 158

Carleton, T.C., 167Carolus Franca d’Abra de Raconis,

163, 164Chrysostomus Javelli, 70, 71Clauberg, J., 162Conti, A.D., 41Courtine, J.-F., 132, 158

Darge, R., 70, 71de Lossada, L., 168del Punta, F., 93Dominico Soto, 166Doyle, J.P., 16, 17, 45, 46, 129, 138,

162, 170

Duba, W., 6, 8Dumont, S.D., 10

Ehrle, F., 3Engelhardt, P., 81

Fonfara, D., 22, 66Franciscus de Marchia, passimFranciscus de Mayronis, 91Frassen, C., 133Friedman, R.L., 1, 4, 6, 7, 21, 82, 91,

93, 94

Genequand, Ch., 23Gilson, E., 132Glorieux, P., 7, 91Goris, W., 9, 19, 25, 73, 74, 90, 123Grabmann, M., 23Gracia, J.J.E., 15Grün, K.-J., 6Guibert von Tournai, 9Gyekye, K., 41

Heidegger, M., 25Hervaeus Natalis, 42, 82Hinske, N., 45Hopfgartner, W., 4Heinrich von Gent, 10, 12, 70Honnefelder, L., 11, 13, 18, 22, 32,

46, 110, 114, 132

Ignacio Peynado, 167, 168

Jánoska, G.Johannes B. de Ulloa, 167Johannes de Bassolis, 132Johannes Duns Scotus, 4, 10–13, 18,

24, 32, 33, 40, 42, 82, 92, 109, 110,114, 122, 130, 131, 153, 154

Johannes XII. (Papst), 4, 6

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184 namenregister

Kant, I., 170Knebel, S.K., 56Knittermeyer, H., 15, 71Knudsen, C., 41, 81Kobusch, T., 23, 31, 36, 37, 46, 130,

133–135, 157, 160–162Künzle, P., 91, 93

Lalla, S., 24Laurentius Valla, 70Leibniz, G.W., 162, 163Lohr, C.H., 91Lotz, J.B., 20Lambertini, R., 4–7

Maier, A., 6Mariani, N., 6–8, 21, 93, 94Michael von Cesena, 4Molinier, A., 91Moum, K., 4

Nicolaus Bonetus, 161, 162

Oeing-Hanhoff, L., 44

Parmenides, 29Patzig, G., 22, 108Paulus, J., 70Perler, D., 41, 42, 81, 82Petrus Aureoli, 42, 82Petrus Fonseca, 17, 71, 166, 167Petrus Tartaretus, 132Petrus Thomae, 91Philipp der Kanzler, 16Pickavé, M., 70Pini, G., 138, 139Platon, 29Pouillon, H., 68Priori, D., 4, 7

Ricardus Lynceus, 167Richard Conington, 149

Robert Kilwardby, 36Roland von Cremona, 68Rompe, E., 3, 19, 20, 24, 108Rosemann, P.W., 44

Schabel, C., 1, 4, 6–8, 91, 94Scheibler, Ch., 133Schlüter, D., 56Schneider, N., 3, 4, 6Schönberger, R., 29, 31Schulz, G., 16Schwamm, H., 6Sebastian Dupasquier, 163, 164Sebastian Izquierdo, 163Silvester Mauro, 167Speer, A., 22Spiegelberg, H., 81Stipa, M., 4Suárez, F., 161Swiezawski, S., 41

Teetaert, A., 4Thomas von York, 23Tiefensee, E., 44Timpler, C., 162, 166Thomas von Aquin, 10–12, 14, 16,

44, 69, 71–77

Ventimiglia, G., 69Vollrath, E., 20

Wadding, L., 3Weijers, O., 6Wilhelm von Ockham, 4, 5, 42, 82,

134–138, 140, 152, 153, 161, 166Wittneben, E., 7Wolff, Ch., 20, 23, 26Wust, P., 127

Zimmermann, A., 7, 12, 19–22, 37,89–93, 98, 104, 108, 112

Page 196: Das 'Super'-Transzendentale und die Spaltung der Metaphysik: Der Entwurf des Franziskus von Marchia

SACHREGISTER

Akzidenz, 50, 51, 65, 67, 134, 160,163

amabile, 163apprehensibile, 17, 167asinus, 148, 150–152

Begriff (conceptus), 82, 83Begriff (intentio), 81–83, 144, 159, 165

Begriffe erster Intention (intentio-nes primae intentionis), 37, 40–44,46–49, 87, 88, 97, 124, 125,127, 139, 140, 143–145, 153, 161,169, 171

Begriffe zweiter Intention (inten-tiones secundae intentionis), 37,40–46, 48, 49, 87, 125, 127,139, 144, 145, 153, 161, 169–171

Erstbegriff (prima intentio), 30, 31,38, 40, 41, 43, 44, 47–54, 56,57, 63–67, 71–78, 80, 84–87,127–129, 159, 172abstraktiv, 50–52, 56–59, 62,

63, 65, 72, 81, 83, 159substraktiv, 50–54, 61–63, 65,

72, 81, 83, 159Begriff des Seienden (intentio entis),

s. Seiendes (ens)intentio negativa/privativa, 41, 49,

138intentio neutra, 40, 42–45, 47–50,

52, 57, 64, 71, 87–89, 94, 97,124, 127–129, 140, 142–155,160, 170–172intentio neutra quidditativa, 47–50,

52, 57, 71intentio neutra qualitativa, 47, 49,

52intentio positiva, 40–43, 49, 57–61,

138, 139

intentio rationis, 143, 144, 147, 149–152

intentio realis, 143, 144, 147–152

cogitabile, 17, 46, 69, 142, 162, 167,168

cognoscibile, 167, 168

Ding (res), 10, 14, 16, 17, 24, 31–35,38, 39, 43, 44, 47–57, 62–71, 74–78, 80–82, 84–89, 92, 94–98, 124,125, 127, 128, 131, 141, 142, 159,163, 171, 172

Eines (unum), 14, 16, 17, 34, 35, 38,43, 44, 47, 49, 52, 58, 60, 61, 63,64, 70, 71, 74–77, 87, 127, 128, 141,142, 159, 166

Ersterkanntes (primum cognitum), 9, 11,12, 18, 85, 103, 161, 169primum obiectum intellectus, 18, 19,

72, 83–86, 89, 124, 125, 157,159, 162, 170, 172

Erstheit (prioritas)formale (prioritas formalis), 49–52,

56, 57, 63, 64, 76, 81, 83, 86,87, 159

materiale (prioritas materialis), 49–53, 56, 57, 63, 64, 76, 77, 81,83, 86, 87, 159

Etwas (aliquid), 14, 16, 17, 24, 31, 34–38, 43, 44, 47–49, 51–53, 58–71,74–78, 80–82, 84–87, 89, 127, 128,141, 142, 159, 161, 163, 166, 170–172

Etwasheit (aliquitas), 58, 59, 63, 65–67, 83, 84, 86, 159, 171

Fictum-Theorie (Wilhelm v. Ock-ham), 134, 135, 153

Page 197: Das 'Super'-Transzendentale und die Spaltung der Metaphysik: Der Entwurf des Franziskus von Marchia

186 sachregister

Form, 50, 51

Gott/Göttliches Seiendes, 21–23,46, 93, 97, 99, 104, 106, 108, 110,113–120, 125, 131, 165

Gutes (bonum), 14, 16, 17, 34, 35, 38,43, 44, 47, 49, 50, 52, 58, 60, 61,63, 64, 71, 74–77, 87, 127, 128, 141,142, 159, 166

imaginabile, 166–168intelligibile, 17, 46, 162, 163, 167, 168,

170Intellectio-Theorie (Wilhelm v. Ock-

ham), 135, 136, 153, 161

Kategorien (aristotelische), 16, 34,44, 46, 50, 127, 128, 134–143, 145,146, 153, 160, 169, 171, 172

Logik, 36, 37, 161, 163primum subiectum logicae, 36, 37, 161

Materie, 50, 51Mensch (homo), 148, 150–152Metaphysik (Erste Philosophie), 2, 3,

8–12, 15, 21, 25, 37, 39, 64, 72,85–87, 89, 90, 92, 102, 115, 117–120, 123, 124, 158, 163, 171als erste und letzte Wissenschaft,

94–99, 103, 112als göttliche Wissenschaft (scientia

divina), 104, 109, 117, 119–122als Ontologie, 9, 10, 14, 18, 20–22,

25, 89, 91, 94, 97–99, 108, 110,114, 116, 117, 121, 122

als Realwissenschaft, 14, 18, 19,32, 170

als ‚Supertranszendentalwissen-schaft’ (‚scientia supertranscen-dens’), 18–20, 158, 160, 162,163

als Theologie, 9, 20–22, 25, 91,99, 108, 110, 113, 114, 116, 117,121, 122, 123

als Transzendentalwissenschaft(scientia transcendens), 11–14, 18,

19, 22, 24, 37, 89, 109, 110, 122,158

aristotelische Metaphysik, 9, 19–22, 25, 89–91, 94, 98–100, 102,103, 109, 122, 160, 161

Aufspaltung/zweifache Metaphy-sik, 2, 3, 14, 18–20, 22–26, 85,89, 90, 92, 93, 94, 97–100, 102,103, 105, 109, 111, 113, 116–118,121, 123–125

Allgemeine Metaphysik (metaphy-sica generalis/communis), 2, 18,20, 22, 23, 25, 26, 85, 89, 90,92, 93, 97–109, 111–114, 116–125

Besondere Metaphysik (metaphy-sica specialis/particularis), 2, 18,20, 22, 23, 25, 26, 85, 88–90,92, 93, 97–109, 111–114, 116–125

Eigentümlicher Gegenstand(proprium subiectum metaphysicae),2, 9–12, 14, 18, 19, 21–24, 26,31–39, 48, 54, 64, 71, 72, 83–90, 92–98, 105–108, 110, 120,124, 125, 157–166, 168, 170–172

Entwicklungsgeschichte, 3, 5, 10–13, 18–21, 24–26, 90, 92, 157,158, 166, 172

metaphysica in se, 110, 111, 113–117,121–123

metaphysica pro nobis, 110, 111, 113–118, 121–124

Nicht-Seiendes (non-ens), 56, 60–62,149, 150, 163, 166

Nichts (nihil), 58–62, 70, 163, 166,167

opinabile, 167oppositum, 59–61

passio demonstrabilis, 79, 80, 84–86passiones entis, 14, 16, 34, 35, 37, 38,

63, 68, 71, 75, 101passiones rei, 38, 48, 63, 68praedicabile, 169, 170

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sachregister 187

Rasiermesser, 5ratio formalis, 42, 146ratio realis, 56, 67, 68Relation, 131, 146

gedankliche, 146reale, 146

Satz (-struktur), 72–79, 83–85, 87,124, 134, 148, 150, 151, 154Satz vom Widerspruch, 73–75, 77Prädikatstelle (P), 75–81, 83, 84,

86, 148, 150–152Subjektstelle (S), 75–81, 83–87,

124, 148, 150Schüler/Lehrer, 2, 5, 13Seiendes (ens), 5, 7–14, 16–18, 20, 24,

29–35, 37–40, 42–44, 47–58, 60–68, 71, 74–81, 83–87, 95–99, 100,103, 108, 113, 115, 118, 127–129,131, 132, 137, 140, 142, 149, 150,157–160, 162–165, 167–169, 171,172analogia entis, 12ens absolute, 146ens morale, 131, 164, 166ens separatum, 100, 101, 104, 106–

108, 113–115, 120Gedankliches Seiendes (ens ratio-

nis), 12, 17, 18, 36, 37, 42, 46,49, 69, 71, 87, 124, 125, 127–129, 131–137, 139–147, 149,151–153, 157, 159–168, 171, 172

insofern es seiend ist (ens inquan-tum ens), 9, 12, 21, 23, 26, 29,31, 32, 38, 79, 80, 86, 89, 92,96, 99, 102, 130, 157, 162, 166

Mögliches Seiendes, 12Realseiendes (ens reale), 12, 16–

18, 37, 42, 44, 46, 47, 49, 71,77, 87, 124, 125, 127, 129–137,139–147, 149, 151–153, 157, 159,161–168, 171

univocatio entis, 12Veritatives Seiendes, 160, 161

Subalternation, 105–108, 115, 117,122

Substanz, 50, 51, 65–67, 134, 163Supertranszendental(ien)/Super-

transzendentalität (super-transcen-dens), 14, 15, 17–19, 24–26, 45–47, 68–70, 87, 88, 124, 125, 127,129–134, 137, 138, 140–143, 153,158–160, 162–172

Theologie, 121–124Transzendental(ien)/erste Verstan-

desbegriffe (transcendentia), 10–18,20, 24–26, 31, 34–40, 43–48, 50,57, 58, 61, 64, 65, 68–77, 84–90,94, 96, 107, 115, 124, 127–129, 131,132, 138, 140–143, 155, 158–160,165, 166, 168–172Entwicklungsgeschichte, 5, 10,

15–18, 24, 26, 157, 158, 168–170, 172

universale, 169Univozität (univocatio)/univoker

Begriff, 46, 128–133, 137, 138,140, 142–144, 146, 148, 149, 162,163, 165, 168, 169, 171

volibile, 167

Wahres (verum), 14, 16, 17, 34, 35, 38,43, 44, 47, 49, 5258, 60, 61, 64,71, 74–77, 87, 127, 128, 141, 142,159, 166

Wissenschaft (scientia), 79–81, 83, 85,87, 92, 93, 95, 96, 98–102, 106,109–112, 115, 116, 120, 121, 164,165Gegenstand einer Wissenschaft

(subiectum scientiae), 80, 83, 95,96, 165

ordo scientiae/scientiarum, 92, 95, 96,103, 109–112

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STUDIEN UND TEXTEZUR GEISTESGESCHICHTE

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