dbb europathemenziel und die energieziele der union ambitionierter werden. bis 2030 müssen 45...
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dbb europathemen 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
Inhalt
Gespräch mit Sven Giegold MdEP 2
Nach der Wahl 4
15 Thesen zum Ausgang der Europawahlen
dbb in Europa 6
Europapolitische Weichenstellungen/ Digitale
Behördengänge/ Zur Wahl/ Europäischer Rat
verspielt Vertrauen/ Mehrheitsentscheidungen
in der Sozialpolitik/ Vorausschauende Personal-
politik/ Digitalisierung der Sicherheitsbehörden/
dbb lädt zum Netzwerken ein/ Paritätische
Besetzung der Spitzenjobs/ Für die wehrhafte
Demokratie
Ticker 10
Neues von der CESI 16
Einwurf 18
Zur neuen strategischen Agenda der EU
Brennpunkt 19
Populismus im epochalen Wandel
Editorial
Demografie, Globalisierung, Digitalisierung. Jahrelang Kri-sen in und um Europa. China, Russland, Trump und der Iran. Und bei nahe 40 Grad Celsius im Juni erscheint der men-schengemachte Klimawandel auch nicht mehr als abstrak-tes Problem. Wer ist angesichts all dessen schon ohne Sor-ge? Wer hat keine Angst? Politik und Eliten stehen in der Kritik - und damit auch der Staat und seine Ordnung und der europäische Staatenverbund sowieso. Offen über all das sprechen, Unsicherheit einräumen und doch Zuversicht ver-breiten. Das ist keine leichte Aufgabe und doch der richtige Weg. Immerhin tragen der öffentliche Dienst und seine Be-diensteten zum Erhalt der Stabilität bei. Sie sind zur Stelle, wenn der Gesetzgeber Neues ausprobiert, um die Zukunft lebenswert zu gestalten. Die Europäische Union tut nichts anderes. Das Gros der frisch gewählten EU-Abgeordneten und die Brüsseler Beamtinnen und Beamten versuchen je-den Tag Antworten auf die genannten Herausforderungen zu finden. Die Regierungen der Mitgliedstaaten stehen nun vor der Aufgabe, hinsichtlich Personals und Finanzen der Gemeinschaft Antworten zu finden. Kommission und Parla-ment sind dazu bereit, weite Teile der Zivilgesellschaft sind es auch. Mut und Offenheit sind jetzt gefragt.
Ihre Redaktion
Wer hat
keine Angst?
© C
olourb
ox/ Kon
stantin
Tavrov
dbb europathemen
Die letzten zehn
Jahre hat Deutsch-
land leider gebremst
Europathemen: Die Fraktion Die Grünen/Europäische Freie
Allianz verfügt vor allem wegen des sehr starken Wahler-
gebnisses in Deutschland über mehr Sitze im Europäischen
Parlament. Ist der Klimaschutz nur in Deutschland ein Top-
thema?
Giegold: Nein, auch in vielen anderen Ländern haben die
Grünen damit zulegen können. In Frankreich konnten wir
Grünen wie in Deutschland die Zahl der Sitze ungefähr ver-
doppeln. Weitere Zugewinne kommen aus den Niederlan-
den, Belgien und Irland. Als Grüne/EFA-Fraktion sind wir um
50 Prozent gewachsen. Aber den Wählerinnen und Wäh-
lern ging es nicht allein um das Klima. Die europaweit er-
höhte Wahlbeteiligung ist ein Auftrag, Europa zu stärken.
Es ist eine Abwahl der ständigen Blockaden europäischer
Politik durch die Berliner GroKo.
Europathemen: Wie wollen Sie die Menschen in Europa für
ein klimaschonenderes Verhalten gewinnen?
Giegold: Die Anreize heute sind klimafeindlich. Fliegen ist
durch Steuerbefreiung für Kerosin subventioniert obwohl
schädlich, Zugfahren ist besteuert obwohl klimafreundlich.
Auch das Buchen von Flügen ist einfacher als Zugfahren
quer durch Europa. Wir müssen die Anreize klimafreundlich
korrigieren und Nachtzüge als Alternative zu inner-
europäischen Flügen anbieten. CO2 muss endlich einen fai-
ren Preis bekommen mittels einer CO2-Steuer. Deren Ein-
nahmen wollen wir als Energiegeld an alle Bürgerinnen und
Bürger auszahlen. Damit wird ein durchschnittlicher Haus-
halt am Ende des Jahres sogar mehr in der Tasche haben.
Wer wenig fliegt und keinen dicken SUV fährt, hat am Ende
mehr, wer dem Klima schadet, muss dafür bezahlen.
Europathemen: Frankreich und andere EU-Partner halten
unbeirrt am Atomstrom fest, Polen an der Kohle. Wie wol-
len Sie die grünen Politikziele in Europa umsetzen?
Giegold: Der Erfolg der Grünen in Frankreich hat Macron
ankündigen lassen, er wolle grüner werden. Atomenergie
wird immer teurer. Erneuerbare Energie rechnet sich dage-
gen immer mehr, sobald sie Planungssicherheit bekommt.
Im einkommensschwachen Osten Polens, in der Wojewod-
schaft Podlasie, haben die von Warschau vernachlässigten
Bürger mit EU Geld Anlagen für Energie aus Sonne, Wind
und Biogas gebaut. Deren Erfolg wird mehr Aufmerksam-
keit schaffen. Bis Ende des Jahres muss die EU ihre Pläne
abgeben, wie wir die Ziele des Pariser Klimaabkommens
erreichen können. Dafür müssen sich alle Länder bewegen.
Das gilt zuerst auch für Deutschland selbst. Denn die letz-
ten zehn Jahre hat Deutschland selbst leider gebremst und
die vorher durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz gewon-
nene Führungsrolle wieder verloren.
Europathemen: Wie viel Zeit bleibt für den Aufbau einer
nachhaltigen Energieversorgung und für den Umbau der
Industrie zu einer deutlich weniger CO2 emittierenden Wirt-
schaft, um die Erderwärmung zu begrenzen?
Giegold: Um die Klimakrise einzudämmen und die globale
Erhitzung auf deutlich unter zwei, möglichst 1,5 Grad zu
begrenzen, müssen die CO2-Emissionen bis 2030 um min-
destens 55 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden. Wir
wollen eine zu 100 Prozent erneuerbare und energieeffizi-
ente Europäische Union als Treiber für die internationale
Energiewende. Dafür müssen das europäische Klimaschutz-
ziel und die Energieziele der Union ambitionierter werden.
Bis 2030 müssen 45 Prozent von Europas Energie, die wir
beim Strom, der Wärme und der Mobilität verbrauchen,
erneuerbar sein, und bis 2050 müssen es 100 Prozent sein.
Europathemen: Wie wollen Sie die aufgrund der menschen-
gemachten Erderwärmung drängende Zeit und die Zeit, die
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Gespräch
Sven Giegold ist seit 2009 Abgeordneter der Grüne/EFA Fraktion
des Europäischen Parlaments. Bei der Europawahl 2019 war er
wie schon fünf Jahre zuvor männlicher Spitzenkandidat seiner
Partei in Deutschland. Giegold war Mitbegründer von
Attac Deutschland und des Tax Justice Network. © Grüne/EFA, Giegold
dbb europathemen
es für den ökologischen Umbau braucht, in eine Balance
bringen?
Giegold: Die "Wissenschaftler für Zukunft" haben es vor
kurzem noch mal dargelegt: Wir haben die technischen
Möglichkeiten bereits, um unser Klima vor dem Kollaps zu
bewahren. Ich sehe hier auch keinen Widerspruch, denn
technologische Umbrüche geschehen in einem immer
atemberaubenderen Tempo. Die Durchsetzung des Smart-
phones hat das eindrücklich gezeigt. Eine längerfristige Auf-
gabe ist dagegen der soziale Ausgleich, der durch die anste-
henden Umbrüche erforderlich wird. Aktuell kühlt sich die
Konjunktur ab, und Investitionen gegen einen Abschwung
werden notwendig. Damit ist ein doppelter Gewinn mög-
lich für Klima und die Bürgerinnen und Bürger, jetzt in die
ökologisch notwendige Transformation und damit in neue
Jobs zu investieren.
Europathemen: Was kann die EU tun, um die notwendigen
Rahmenbedingungen zu setzen?
Giegold: Für Europa brauchen wir ein intelligentes Strom-
netz, das die erneuerbaren Energien dezentral verknüpft
und überregional verbindet. Das zunehmende Angebot an
volatilem erneuerbarem Strom muss so auch über flexibel
steuerbaren Stromverbrauch clever vernetzt werden. Wir
wollen dabei zunächst den Schwerpunkt auf den dezentra-
len Ausbau setzen. Das ist eine große Chance für den ländli-
chen Raum. Dann braucht es aber auch zentrale europäi-
sche Strukturen mit Netzen und Speichern. Dabei muss
auch die Kopplung verschiedener Sektoren bedacht wer-
den, wenn Mobilität und Wärme mit der fortschreitenden
Stromwende zunehmend elektrifiziert werden. Um mehr
Speicherkapazitäten zu schaffen, setzen wir uns zudem für
ein Markteinführungsprogramm für Energiespeicher ein.
Europathemen: Wie viel Selbstbestimmung, Eigenverant-
wortung trauen Sie den EU-Bürgerinnen und Bürgern beim
Umwelt- und Klimaschutz zu?
Giegold: Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und Regio-
nen, aber auch regionale Unternehmen und das Handwerk
sind entscheidende Akteure der Energiewende. Für eine
erfolgreiche und bürgernahe europäische Energie- und
Klimapolitik ist ihr Engagement unerlässlich. Die vielen, die
bereitstehen, brauchen keine Gängelung, sie brauchen Pla-
nungssicherheit. Wir wollen verhindern, dass die Chancen
allein von Großunternehmen und wenigen finanzstarken
Investoren genutzt werden – und den Menschen in den
Dörfern und Städten dann ohne Beteiligung Großprojekte
vor die Nase gesetzt werden. Eine Bürger*innen-Energie-
wende bricht monopolistische und oligopolistische wirt-
schaftliche Machtstrukturen auf. Bestehende Energie-
Kooperativen, Genossenschaften sowie Kommunen und
Regionen zeigen, dass nachhaltige Energieerzeugung in
Bürgerhand erfolgreich und profitabel ist.
Europathemen: Was kann der öffentliche Dienst für das
Erreichen der Klimaschutzziele tun?
Giegold: Auch wenn Investitionen für den Klimaschutz in
erster Linie von Unternehmen und privaten Haushalten
kommen müssen, kommt dem öffentlichen Dienst beim
Klimaschutz eine wichtige Rolle zu. Der Staat muss die rich-
tigen Rahmenbedingungen setzen, dass sich individuelles
ökologisches Verhalten auch rechnet. Eine besondere Auf-
gabe hat der Staat als Beschaffer: mit der richtigen Verwen-
dung von Steuergeldern kann er dafür sorgen, dass sich
nachhaltige Produkte auf dem Markt dauerhaft durchset-
zen. Auch bei der Bereitstellung von nachhaltiger Infra-
struktur kann der öffentliche Dienst mit den richtigen In-
vestitionen einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Bereiche
wie die öffentliche Infrastruktur, Gesundheit und Bildung,
die nicht dem Wettbewerb ausgesetzt sind, sollten öffent-
lich organisiert werden. Dort, wo sie nichts bringen, braucht
es auch keine öffentlich-private Partnerschaften. Erfolgrei-
che private Anbieter, die heute öffentliche Funktionen erfül-
len, sollten dies aber auch weiter tun können.
Europathemen: Haben Sie Angst vor Entzauberung der Grü-
nen, wenn sie wieder Regierungsverantwortung in
Deutschland tragen?
Giegold: Ich habe Angst um unser Klima und viele Vögel,
Insekten und andere Tiere, die noch aussterben müssen, bis
wir einen Richtungswechsel bei der Agrar- und Energiepoli-
tik hinbekommen. Uns Grünen geht es in erster Linie ums
Handeln. Darüber hinaus ist es ja gar nicht so, dass politi-
sches Handeln grundsätzlich unpopulär macht. In Hessen
und Baden-Württemberg sind wir Grünen in der Regie-
rungsverantwortung sogar beliebter geworden.
Europathemen: Wie beurteilen Sie die Zusammensetzung
des neuen Parlaments? Wie gefährlich sind die Populisten?
Giegold: Das neue Europäische Parlament ist bunter als
zuvor. Das ist eine große Chance für politische Veränder-
ungen. Die alte große Koalition aus Christdemokraten und
Sozialdemokraten hat keine Mehrheit mehr. Es braucht die
Liberalen und uns Grüne, um zu einer tragfähigen Mehrheit
zu kommen. Mit unserem gestärkten Gewicht wollen wir
uns dabei einsetzen für den Klimaschutz, ein sozialeres Eu-
ropa und starke Bürgerrechte. Ob die ebenfalls gewachse-
nen Populisten an Einfluss gewinnen werden, hängt weni-
ger an den Populisten selbst, sondern daran, wie sehr die
pro-europäischen Fraktionen ihnen hinterherlaufen. Wir
Grünen werden das jedenfalls nicht tun.
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Gespräch
dbb europathemen
15 Thesen
zum Ausgang der
Europawahlen von Otto Schmuck
Vom 23. bis 26. Mai 2019 fanden in den 28 EU-
Staaten zum neunten Mal Europawahlen statt.
427 Millionen Bürgerinnen und Bürger waren
teilnahmeberechtigt. Das neu gewählte Europäi-
sche Parlament wird am 2. Juli 2019 zu seiner
konstituierenden Sitzung zusammentreten.
1. Die Wahlbeteiligung war 2019 deutlich höher als fünf
Jahre zuvor: EU-weit lag sie bei 50,63 Prozent (2014: 43,1
Prozent). In Deutschland beteiligten sich 61,4 Prozent ge-
genüber 47,9 Prozent 2014.
2. Die höhere Wahlbeteiligung ist unter anderem auf die
stärkere Mobilisierung der Parteien zurückzuführen, die
konstruktiv an der weiteren Entwicklung arbeiten wollen.
Ihr Ziel war es, den Einfluss der Europagegner zu begren-
zen.
3. In Deutschland verloren die früher dominierenden Par-
teien CDU/CSU (28,9 Prozent) und SPD (15,8 Prozent) deut-
lich an Stimmen. Gewinner waren die Grünen (20,55 Pro-
zent), die AfD (11 Prozent) sowie zahlreiche Kleinparteien
(Die Partei, Freie Wähler, Tierschutz, ÖDP, Familien, Piraten,
VOLT), die insgesamt neun Abgeordnetensitze haben.
4. In Frankreich erhielt das von Marine Le Pen dominierte
Rassemblement National (früher Front National) 23,3 Pro-
zent, die Liste „La République en marche“ des Präsidenten
Emmanuel Macron 22,4 Prozent, die Grünen kamen auf
13,4 Prozent. Die früher stärksten Parteien Parti socialiste
(6,3 Prozent) und Les Républicains (8,5 Prozent) spielen
kaum noch eine Rolle.
5. Die Wahlbeteiligung in Polen wurde von 22,7 auf 45,7
Prozent verdoppelt. Hier wurde die regierende europakriti-
sche Partei PIS (Recht und Gerechtigkeit) mit 45,4 Prozent
stärkste Kraft, gefolgt von dem Wahlbündnis „Europäische
Koalition (unter anderen die Bürgerplattform) mit 38,5
Prozent.
6. In Ungarn war die regierende europakritische Partei FI-
DESZ mit 52,6 Prozent der deutliche Gewinner der Wahl.
7. Besonders umstritten war die Durchführung der Wahl
im Vereinigten Königreich wegen des beschlossenen und
bis Ende Oktober verschobenen Brexit. Nur wenige Wo-
chen vor dem Wahltermin fiel die Entscheidung zur Teil-
nahme. Es nahmen 36,9 Prozent der Berechtigten teil.
Wahlgewinner wurde die Brexit-Partei von Nigel Farage
mit 31,5 Prozent. Als zweitstärkste Kraft erwiesen sich die
proeuropäischen Liberaldemokraten mit 19,6 Prozent. La-
bour landete auf dem dritten Platz (13,7 Prozent), die Grü-
nen bei 11,8 Prozent. Die regierenden Konservativen erhiel-
ten nur 8,8 Prozent.
8. Die Entscheidungsfindung im neuen Parlament wird
deutlich erschwert werden. Das Europäische Parlament ist
mit acht Fraktionen deutlich stärker fragmentiert als bis-
her. Die beiden großen Fraktionen haben mit insgesamt
335 der 751 Abgeordneten keine Mehrheit. Dadurch wer-
den neue Koalitionsbildungen zu Sachthemen mit den Fak-
tionen der erstarkten Grünen und der Liberalen (New Euro-
pe, früher ALDE) notwendig.
9. Die Europagegner haben zugenommen, aber nicht in
dem befürchteten Ausmaß. Sie sind in vier Fraktionen mit
sehr unterschiedlicher Ausrichtung organisiert und verfü-
gen zusammen über 220 Stimmen, das heißt über knapp
30 Prozent der Sitze.
10. Kontrovers diskutiert wird derzeit das Festhalten am
Prinzip der Spitzenkandidaten. Dies macht nach Auffas-
sung vieler Beteiligter erst dann Sinn, wenn transnationale
Listen die Chance geben, diese Personen in allen EU-
Staaten auch zu wählen. Befürchtet wird, dass dieses Prin-
zip bei einem Abrücken in der derzeitigen Situation bei
künftigen Europawahlen keine Rolle mehr spielen wird, da
es den Wählern dann nicht mehr vermittelbar ist.
11. Offensichtlich ist es bisher keinem der Spitzenkandida-
ten gelungen, eine Mehrheit im Parlament sowie im Euro-
päischen Rat zu organisieren. Derzeit ist völlig offen, ob
Manfred Weber, Frans Timmermans oder Margrethe
Vestager das Amt des Kommissionspräsidenten überneh-
men kann. Gehandelt werden auch die Namen von Brexit-
Chefverhandler Michel Barnier und IWF-Direktorin Christi-
ne Lagarde.
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Nach der Wahl
dbb europathemen
12. Die Besetzung des Postens des Kommissionspräsident-
en wird im Paket verhandelt mit den Ämtern Parlaments-
präsident, Präsident des Europäischen Rats, Hoher Beauf-
tragter für die Außenpolitik und Kommissionsvizepräsident,
Direktor der EZB. Dabei muss ein Ausgleich gefunden wer-
den zwischen regionaler Ausgewogenheit, Zugehörigkeit
zu Parteienfamilien und Verhältnis Mann/Frau.
13. Ein Machtkampf zwischen EP und Europäischem Rat
zeichnet sich ab. Der Europäische Rat hat ein Vorschlags-
recht für den Kommissionspräsidenten/ die Kommissions-
präsidentin, das Parlament wählt dann auf der Grundlage
des Vorschlags, es kann seine Zustimmung verweigern,
dann muss der Europäische Rat erneut vorschlagen.
14. Die erste Aufgabe der neuen Kommission wird es sein,
ein Arbeitsprogramm vorzulegen und im Parlament zur
Abstimmung zustellen. Dabei wird es neben Sachthemen
auch um den Finanzrahmen 2021-2027 gehen.
15. Die Europapolitik bleibt spannend.
Fraktionsbildung im Europäischen Parlament
Fraktion Sitze Differenz Vertretene Parteien (Auswahl)
EVP 182 -35 CDU/CSU (29)
S&D 153 -34 SPD (16)
RE (Renew Europe +ALDE) 108 +40 FDP (5), FW (2), République en Marche (21+2)
Grüne/EFA 75 +23 Grüne (21), Partei (1), Volt (1), ÖDP (1)
ID (Identität und Demokratie) 73 +36 AfD (11), RN (F/Le Pen - 22+1) Lega (28+1); FPÖ (3)
EKR (Konservative + Reformisten) 62 -12 PIS (28), Tories (4), Familienpartei (1)
EFDD (Europe of Freedom and
direct democracy) 43 +2 MI5 (14), Brexit (18)
GUE/NGL(United Left/Nordic Green) 41 -11 Linke (5)
Fraktionslose / Sonstige 14 - 9
Quelle: Dr. Otto Schmuck nach Angaben des Europäischen Parlaments, Stand: 27.06.2019
>>> Mehr zu den Europawahlen 2019
Seite 5 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
Nach der Wahl
Dr. Otto Schmuck leitete bis zu seiner Pensionierung im Jahr
2018 über viele Jahre die Europaabteilung der rheinland-
pfälzischen Landesvertretung in Berlin. Heute ist Schmuck in
der Erwachsenenbildung für das Europahaus Marienberg
sowie als Lehrbeauftragter an der Universität Speyer tätig. Er
ist Vizepräsident der Union Europäischer Föderalisten (UEF),
ist Mitglied des Vorstands der Europäischen Bewegung
Deutschland (EBD) und des Präsidiums der überparteilichen
Europa-Union Deutschland. © EUD, Gerolf Mosemann
dbb europathemen
Der dbb Bundeshauptvorstand, das höchste Ge-
werkschaftsorgan zwischen den Gewerkschafts-
tagen verabschiedete Anfang Juni mehrere euro-
papolitische Entschließungen.
Nationale Haushaltspolitik, Europa und öffentliche Dienste
„(…) Der dbb sieht in vielen EU-Staaten, vor allem auch in
Deutschland selbst, dringenden Investitionsbedarf unter
anderem in den Bereichen Bildung, innere und äußere Si-
cherheit, Klimaschutz, Mobilität und Transport sowie Ge-
sundheit und Pflege. Der dbb fordert, dass dieser Investiti-
onsstau aufgelöst wird.
Der dbb erwartet, dass die langfristigen Kosten einer un-
terfinanzierten öffentlichen Infrastruktur in die haushalts-
politischen Projektionen einbezogen werden. Wo der regu-
latorische Rahmen, gleich auf welcher Ebene, einem effek-
tiven Mitteleinsatz für leistungsstarke öffentliche Dienste
im Wege steht, spricht der dbb sich für Gesetzesvereinfa-
chung aus. (…)“
>>> Mehr
Europäisches Semester: Für eine bessere sozialpartner-
schaftliche Beteiligung auf nationaler Ebene
„(…) Zusätzlich möge der dbb das Bundesministerium des
Innern auf politischer wie auch auf Arbeitsebene für einen
fortgesetzten gemeinsamen Dialog zum Europäischen Se-
mester gewinnen, in dem ausschließlich die Belange des
öffentlichen Dienstes betrachtet werden, also Auswirkun-
gen von Länderberichten und Empfehlungen auf densel-
ben. (…)“
>>> Mehr
Erwartungen an das neu gewählte Europäische Parlament
„(…) Der dbb fordert das Parlament auf, bei allen relevan-
ten Rechtsakten, insbesondere in Bezug auf den Binnen-
markt und seine Freiheiten, aber auch bei seiner Zustim-
mung zu Handelsverträgen stets auf die Besonderheiten
des öffentlichen Dienstes zu achten. (…)“
>>> Mehr
Tagung des dbb Bundeshauptvorstands am 27. Mai © Angelika Knäble
Beschlussfassung in der EU-Steuerpolitik
„(…) Der dbb unterstützt das Vorhaben der Europäischen
Kommission, in der Beschlussfassung im Rat der Europäi-
schen Union in Steuerfragen von der Einstimmigkeit auf
die qualifizierte Mehrheit überzugehen.
Der dbb betont, dass dabei im Sinne der Subsidiarität keine
neuen Zuständigkeiten in Steuerfragen auf EU-Ebene be-
gründet werden dürfen. (…)“
>>> Mehr
Öffentlicher Dienst und öffentlich Bedienstete und die
freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland
und Europa
„(…) Der dbb unterstützt die Forderung nach einem euro-
päischen Demokratiesemester, das analog zum Europäi-
schen Semester der wirtschaftspolitischen Koordinierung
die demokratischen Standards in den EU-Mitgliedstaaten
überwacht. (…)
(…) Der dbb fordert den Einsatz aller demokratischen Par-
teien für gut funktionierende öffentliche Dienste und
Dienstleistungen, damit die Bürgerinnen und Bürger sich
nicht frustriert vom Staat abwenden. (…)“
>>> Mehr
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dbb in Europa
Europapolitische Weichenstellungen
dbb europathemen
Deutschland bei digitalen Behördengängen
fast Schlusslicht
Laut dem jüngsten Bericht der EU-Kommission zum digita-
len Fortschritt in den EU-Staaten rangiert Deutschland bei
digitalen Behördengängen mittlerweile nur noch auf Platz
26 von 28. Für dbb Chef Ulrich Silberbach in jeder Hinsicht
ein desolater Befund. „Keine messbaren Fortschritte beim
E-Government, beim Breitbandausbau auf Platz elf abge-
rutscht – erneut hat man uns von höchster Stelle beschei-
nigt, dass wir in Sachen Digitalisierung nur Mittelmaß in
Europa sind", kommentierte Silberbach die Ergebnisse
des Digital Economy and Society Index (DESI) der Europäi-
schen Kommission.“
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Nach der Wahl ist vor der Wahl
Gemeinsam mit anderen Verbänden zeichnete der dbb
nach der Europawahl einen von der Europäischen Bewe-
gung Deutschland initiierten Aufruf. Darin heißt es unter
anderem, das Europäische Parlament sei das einzige direkt
gewählte EU-Organ. Für die Nominierung der neuen Kom-
missionsspitze müsse eine Parlamentsmehrheit der Kom-
pass für die Staats- und Regierungschefs sein. Die stellver-
tretende dbb Bundesvorsitzende Kirsten Lühmann, SPD-
Bundestagsabgeordnete und Mitglied im EBD-Vorstand,
erklärte zudem, die neue EU-Kommission müsse paritä-
tisch mit Männern und Frauen besetzt werden.
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Spitzenkandidaten vor dem Aus
Der Europäische Rat verspielt Vertrauen
„Wenn die EU vom Prinzip der Spitzenkandidaten abkehrt,
geht ein wichtiger Bestandteil zu mehr Bürgernähe verlo-
ren“, mahnt Dietmar Knecht, der Vorsitzende der der dbb
Grundsatzkommission für Europa. So viele EU-Bürgerinnen
und Bürger wie lange nicht mehr seien zur Europawahl
gegangen, erklärte Knecht, der auch Chef des dbb Landes-
bundes Mecklenburg-Vorpommern ist. „Sie haben erwar-
tet, mit ihrer Stimme Einfluss auf das Amt des Kommissi-
onspräsidenten zu nehmen“, so Knecht weiter. „Ihnen
droht nun eine herbe Enttäuschung.“
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Seite 7 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
dbb in Europa
© Jan Brenner, 2019
© Jan Brenner, 2019
© Jan Brenner, 2019
dbb europathemen
Mehrheitsentscheidungen in der Sozialpolitik
Die EU-Kommission hat sich für den Übergang zu Mehr-
heitsentscheidungen in der Sozialpolitik ausgesprochen.
Friedhelm Schäfer, Zweiter Vorsitzender des dbb, hält die-
ses Vorgehen für verfrüht. Die Sozialpolitik gehört nicht
nur zum Kernbereich der nationalen Souveränität“, beton-
te Schäfer am 21. Juni 2019 in Berlin, „sie stiftet darüber
hinaus Identität für die Mitgliedstaaten.“ Erst wenn die
Lebensverhältnisse im Binnenmarkt sehr viel gleichwerti-
ger seien, könne ein solcher Schritt erfolgen, so der Fach-
vorstand Beamtenpolitik weiter. „Für Mehrheitsentschei-
dungen in allen Bereichen der Sozialpolitik ist es schlicht
und ergreifend zu früh.“
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Vorausschauende Personalpolitik unabdingbar
Der Bundesvorsitzende der komba Gewerkschaft, Andreas
Hemsing, sieht in der Digitalisierung und im Fachkräfte-
mangel die größten Herausforderungen für die öffentli-
chen Dienste in den EU-Mitgliedstaaten, besonders für die
kommunalen Verwaltungen. Hemsing sprach sich am 4.
Juni 2019 vor den Berufsräten für Verwaltung der unab-
hängigen Gewerkschaften in Europa (CESI) für flexiblere
und europaweit anerkannte Ausbildungsabschlüsse aus.
„Gerade in den Grenzräumen tun wir gut daran, diesen
besonderen Arbeitsmarkt europäisch zu öffnen", so der
komba Chef.
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Digitalisierung der Sicherheitsbehörden
„Wir müssen die Informationsarchitektur der Polizei drin-
gend modernisieren und von Vornherein europäisch anle-
gen“, sagt Rainer Wendt. Der Bundesvorsitzende der Deut-
schen Polizeigewerkschaft (DPolG) drängt auf Fortschritte
bei der digitalen Vernetzung der Sicherheitsbehörden von
Bund und Ländern. „Die Politik muss die Saarbrücker Agen-
da und das Programm „Polizei 2020“ zügig umsetzen und
darf dabei die grenzübergreifende Zusammenarbeit mit
den europäischen Nachbarn und Partnern nicht aus dem
Auge verlieren. Deutsche Insellösungen wären der falsche
Weg“, zeigt Wendt sich überzeugt.
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Seite 8 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
dbb in Europa
© Marco Urban, 2019
© Jan Brenner, 2019
© Jan Brenner, 2019
dbb europathemen
dbb lädt zum Netzwerken in Brüssel ein
Am 4. Juni 2019 fand der erste Brüsseler dbb Treff statt. 30
deutsche Beschäftigte von Bund und Ländern nahmen an
dem Netzwerktreffen teil, zu dem der Vizepräsident des
Europäischen Parlaments Rainer Wieland eingeladen hat-
te. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sprachen mit
Wieland über die Folgen der Europawahlen und tauschten
sich in lockerer Runde über Themen aus, die sie als Be-
schäftigte des öffentlichen Diensts auf Posten bei der Euro-
päischen Union (EU), in den EU-Vertretungen der Bundes-
länder oder in nationalen Behörden beschäftigen. Weitere
Treffen sind für den Herbst geplant. In der Zwischenzeit
soll es weitere Angebote für den Austausch geben.
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Paritätische Besetzung der Spitzenjobs
„Eine paritätische Besetzung der europäischen Spitzenjobs
sowie der Europäischen Kommission können wir als dbb
bundesfrauenvertretung nur unterstützen“, sagte die Vor-
sitzende der bundesfrauenvertretung, Helene Wildfeuer,
am 5. Juni in Berlin. „Wir fordern Parität in den Parlamen-
ten und Paritätsgesetze, deshalb ist die europäische Ebene
nur die logische Erweiterung. In einem offenen Brief for-
dern die weiblichen Vorstandsmitglieder der Europäischen
Bewegung Deutschland (EBD) Bundeskanzlerin Angela
Merkel auf, sich dafür einzusetzen, dass 50 Prozent der EU-
Spitzenjobs mit Frauen besetzt werden.
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Für die wehrhafte Demokratie
dbb Chef Ulrich Silberbach und Bayerns Finanzminister
Albert Füracker warnen vor dem Erstarken der politischen
Ränder in Europa. „Die demokratischen Parteien müssen
wieder näher an die Menschen rücken, sonst verlieren sie
die politische Mitte der Gesellschaft", sagte der dbb Bun-
desvorsitzende Silberbach am 27. Mai in Starnberg. Der
Bayerische Finanzminister Füracker unterstrich in diesem
Zusammenhang: „Die Toleranz der Demokraten darf nicht
dazu führen, dass die Intoleranten am Ende über die Tole-
ranten regieren." Die hohe Wahlbeteiligung bei der Euro-
pawahl zeige jedoch, dass die Demokratie in der Breite der
Bevölkerung fest verankert sei.
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Seite 9 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
dbb in Europa
© Jan Brenner, 2019
v.l.n.r. Volker Geyer, dbb Vize und Fachvorstand Tarifpolitik,
Rolf Habermann, Chef des Bayerischen Beamtenbundes BBB,
Albert Füracker, Ulrich Silberbach sowie Friedhelm Schäfer,
Zweiter dbb Vorsitzender und Fachvorstand Beamtenpolitik
© Angelika Knäble
Im Vordergrund: Rainer Wieland
© Christian Moos, 2019
dbb europathemen
Europäisches Semester 2019
Am 5. Juni kam das Europäische Semester 2018/2019 zum
Abschluss. Die länderspezifischen Empfehlungen 2019
fordern die Mitgliedstaaten auf, „die in den vergangenen
Jahren durch wirkungsvolle Reformen, passgenaue Investi-
tionsstrategien und eine verantwortungsvolle Haushalts-
politik erzielten Fortschritte auszubauen und diesen Weg
zu einer erfolgreichen Modernisierung der europäischen
Wirtschaft weiter zu beschreiten“. Sie spiegeln die Prioritä-
ten wider, die vor dem Hintergrund nachlassenden Wirt-
schaftswachstums im Jahreswachstumsbericht 2019 und
in der im November abgegebenen Empfehlung zur Wirt-
schaftspolitik des Euro-Währungsgebiets für 2019 darge-
legt wurden. Die Empfehlungen stützen sich auf eine ein-
gehende Analyse der im Februar veröffentlichten Länder-
berichte und die Bewertung der im April vorgelegten natio-
nalen Programme. Deutschland wird mit Blick auf ökono-
mische Ungleichgewichte weiterhin für seine hohen Über-
schüsse kritisiert. Italien kann sich wegen seines hohen
Schuldenstandes auf ein Defizitverfahren einstellen. An
Ungarn und Rumänien wurde eine Verwarnung gerichtet.
>>> Mehr
Empfehlungen für Deutschland
Die länderspezifischen Empfehlungen für Deutschland
sprechen sich für mehr Investitionen vor allem auf regiona-
ler und kommunaler Ebene aus. Investitionsbedarf sieht
die EU für Bildung, Forschung und Innovation, Digitalisie-
rung und Breitbandnetze mit sehr hoher Kapazität, nach-
haltigen Verkehr sowie für Energienetze und bezahlbaren
Wohnraum. Der Faktor Arbeit soll steuerlich entlastet und
die Besteuerung auf Quellen verlagert werden, die ein in-
klusives und nachhaltiges Wachstum fördern. Für regle-
mentierte Berufe empfiehlt der Rat mehr Wettbewerb.
Fehlanreize, die einer Aufstockung der Arbeitszeit entge-
genwirken, darunter auch die hohe Steuer- und Abgaben-
belastung, gelte es zu verringern. Darüber hinaus soll
Deutschland Maßnahmen einleiten, um die langfristige
Tragfähigkeit des Rentensystems zu sichern und dabei ein
angemessenes Rentenniveau aufrechterhalten. Deutliche
Kritik gibt es an der Leistungsfähigkeit des deutschen Bil-
dungssystems. Die EU bemängelt den Lehrermangel und
fehlende Chancengleichheit.
>>> Mehr
Seite 10 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
Ticker
EU-Vizepräsident Valdis Dombrowskis (2. v.l.):
„Wir fordern alle Mitgliedstaaten auf, sich mit neuer Energie für eine bessere
Widerstandsfähigkeit unserer Volkswirtschaften und ein sowohl nachhaltiges als auch
inklusives Wachstum einzusetzen“. © European Union, 2019—Jennifer Jacquemart
dbb europathemen
Juncker zieht Bilanz und gibt Empfehlungen
Kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament, zum
Ende seiner Amtszeit als Kommissionspräsident, zog Jean-
Claude Juncker Anfang Mai anlässlich des Gipfeltreffens
von Sibiu Bilanz. Trotz „unvorhergesehener Ereignisse“ und
weiterhin großer Herausforderungen gebe es greifbare
Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger. Bis zum Som-
mer 2018 habe die Kommission alle zu Amtsbeginn ange-
kündigten Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Insge-
samt legte die Juncker-Kommission 471 neue Legislativvor-
schläge vor und führte mehr als 44 Vorschläge weiter, die
von früheren Kommissionen eingebracht worden waren.
348 dieser Vorschläge wurden im Laufe der Amtszeit der
Juncker-Kommission vom Europäischen Parlament und
vom Rat angenommen oder gebilligt. Die Bilanz der Kom-
mission lädt zu einer kritischen Lektüre ein. 20 Informati-
onsblätter der Kommission geben einen Überblick über die
Umsetzung ihrer politischen Prioritäten. Junckers schei-
dende Kommission richtet den Blick nicht nur zurück.
Pünktlich zum Gipfel von Sibiu am 9. Mai veröffentlichte
sie auch strategische Empfehlungen für die Zeit bis 2025.
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Kapitalmarktunion: Für private Altersvorsorge
entsteht ein europaweiter Markt
Der Rat hat am 14. Juni zwei zentrale Reformen im Rah-
men der Kapitalmarktunion angenommen. Zum einen
handelt es sich dabei das „paneuropäische Rentenpro-
dukt“ (PEPP). Mit der PEPP-Verordnung wird ein neuer Typ
eines freiwilligen privaten Altersvorsorgeprodukts geschaf-
fen. Es ist europaweit einheitlich gestaltet und kann von
unterschiedlichsten Stellen angeboten werden, etwa von
Versicherungsunternehmen, Banken, Einrichtungen der
betrieblichen Altersversorgung, Investmentfirmen und
Vermögensverwaltern. Die Anbieter können einen "EU-
Produktpass" nutzen, um die PEPP in verschiedenen Mit-
gliedstaaten zu vertreiben. Die EU-Kommission versichert,
mit den Pensionsprodukten werde eine neue, europaweite
Sparmöglichkeit geschaffen, die die gesetzliche, betriebli-
che und nationale Altersvorsorge ergänze. Die PEPP wird
zwischen den Mitgliedstaaten übertragbar sein. Zudem
einigte sich der Rat darauf, den grenzüberschreitenden
Vertrieb von Investmentfonds zu erleichtern, indem beste-
hende regulatorische Hindernisse beseitigt und die Ver-
triebskosten gesenkt werden.
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Neues EU-Sozialrecht kann in Kraft treten
Auf ihrem Ratstreffen vom 13./14. Juni nahmen die Arbeits
- und Sozialminister der EU-Mitgliedstaaten (EPSCO-Rat)
eine Reihe von Rechtsakten und Schlussfolgerungen an.
Darunter die mit ihrer Veröffentlichung im EU-Amtsblatt
unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltende Verordnung
über eine neue Europäische Arbeitsbehörde und die nach
einer Übergangsfrist in nationales Recht umzusetzenden
Richtlinien „über transparente und verlässliche Arbeitsbe-
dingungen“ sowie zur „Vereinbarkeit von Beruf und Privat-
leben für Eltern und pflegende Angehörige“. Auf dem Rats-
treffen nahmen die Minister auch Schlussfolgerungen zum
Gender Pay Gap an. Darin wird die Gleichheit von Frau und
Mann als fundamentalen, in den Verträgen verankerten
Grundsatz der EU betont. Die Mitgliedstaaten werden auf-
gerufen, ihre Maßnahmen zu dessen Verwirklichung zu
überprüfen und erforderlichenfalls zu verbessern. Die Mi-
nister berieten auch über den Wandel der Arbeitswelt,
neue Formen der Arbeit wie etwa in der digitalen Platt-
formwirtschaft. Sie zogen Schlussfolgerungen zu gemein-
samen Standards in Bezug auf den Gesundheits- und den
Arbeitsschutz, die Digitalisierung, besonders den Einsatz
künstlicher Intelligenz.
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Digitalisierung in Europa
Anfang Juni veröffentlichte die EU-Kommission die Ergeb-
nisse des diesjährigen Index für die digitale Wirtschaft und
Gesellschaft (DESI). Mit diesem Index werden die allgemei-
ne Leistung Europas im Bereich der Digitalisierung gemes-
sen und die Fortschritte der EU-Mitgliedstaaten bei der
digitalen Wettbewerbsfähigkeit beobachtet. Im Bereich
der digitalen öffentlichen Dienste war im Zeitraum 2014-
Seite 11 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
Ticker
Noch bis 31. Oktober an der Spitze der
Europäischen Kommission: Jean-Claude Juncker © European Union, 2019, Etienne Ansotte
dbb europathemen
2019 dort eine Angleichung zwischen den Mitgliedstaaten
festzustellen. 64 Prozent der Internetnutzer, die bei der
öffentlichen Verwaltung Formulare einreichen, verwenden
hierfür inzwischen Online-Kanäle. Bei der Nutzung der di-
gitalen öffentlichen Dienste einschließlich elektronischer
Gesundheitsdienste lagen Finnland und Estland an der
Spitze. Die Länder, die sich im Einklang mit der EU-
Strategie für einen digitalen Binnenmarkt ehrgeizige Ziele
gesetzt und diese mit entsprechenden Investitionen kom-
biniert haben, konnten in relativ kurzer Zeit ihre Leistungs-
fähigkeit verbessern. Die größten EU-Volkswirtschaften
gehören nicht zur Spitzengruppe.
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Die für digitale Wirtschaft und Gesellschaft zuständige
EU-Kommissarin Mariya Gabriel erklärte: „Der diesjährige
Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft zeigt, dass der
digitale Wandel beschleunigt werden muss, damit die EU
weltweit wettbewerbsfähig bleibt.“ © European Union, 2019, Adam Berry
Impulse für digitale Innovation
Der Rat hat am 6. Juni neue Vorschriften für offene Daten
und die Weiterverwendung von Daten des öffentlichen
Sektors angenommen. Dieser Schritt soll die europäische
Datenwirtschaft fördern, zur Entwicklung einer datenge-
stützten Gesellschaft beitragen und das Wachstum und
die Schaffung von Arbeitsplätzen in allen Wirtschaftsberei-
chen anregen. Mit der neuen Richtlinie wird der Geltungs-
bereich der Vorschriften für die Weiterverwendung von
Informationen des öffentlichen Sektors erweitert, sodass er
nicht nur öffentliche Stellen, sondern auch öffentliche Un-
ternehmen aus den Bereichen Verkehr und Versorgung
erfasst. Am 7. Juni teilte die EU-Kommission zudem mit,
dass acht Standorte für Hochleistungsrechenzentren in der
gesamten EU für den Betrieb der ersten europäischen Su-
percomputer ausgewählt worden sind. Diese Standorte
befinden sich in Bulgarien, Finnland, Italien, Luxemburg,
Portugal, Slowenien, Spanien und der Tschechischen Re-
publik.
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Vollendung der Bankenunion: Weniger faule
Kredite im Euroraum
Der am 12. Juni von der EU-Kommission vorgelegte vierte
Fortschrittsbericht über den Abbau notleidender Kredite
dokumentiert einen Rückgang notleidender Kredite in der
Wirtschafts- und Währungsunion. Die Zahl dieser „faulen“
Kredite habe sich seit 2014 mehr als halbiert, sie nehme
weiter ab und nähere sich dem Vorkrisenstand von
2007/2008. Ihr Anteil lag 2018 noch bei 3,3 Prozent aller
vergebenen Darlehen. Die Minderung der Risiken durch
notleidende Kredite ist eine zentrale Voraussetzung für die
Vollendung der Bankenunion, vor allem für eine gemeinsa-
me europäische Einlagensicherung (EDIS). In einer weite-
ren Mitteilung zur Vertiefung der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion fordert die Kommission die EU-Staats- und
Regierungschefs auf, die Änderungen am Vertrag zur Ein-
richtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zum
Abschluss zu bringen und sich mit Nachdruck für die Voll-
endung der Bankenunion einzusetzen.
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Polnische Regierung verletzt richterliche Unab-
hängigkeit
Zu diesem klaren Ergebnis kommt der Europäische Ge-
richtshof (EuGH) mit seinem Urteil in einem Vertragsver-
letzungsverfahren der EU-Kommission gegen Polen. Ein
polnisches Gesetz vom 3. April 2018 senkte das Ruhe-
standsalter für Richter auf 65 Jahre ab. Gleichzeitig räumte
das Gesetz dem Justizminister das Recht ein, diese Alters-
grenze in Einzelfällen aufzuheben. Der Gerichtshof ent-
schied, dass die neuen polnischen Ruhestandsregelungen
für Richter nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
„Demzufolge stellt der Gerichtshof fest, dass die Anwen-
dung der Herabsetzung des Ruhestandsalters auf amtie-
rende Richter des Obersten Gerichts nicht durch ein legiti-
mes Ziel gerechtfertigt ist und den Grundsatz der Unab-
setzbarkeit der Richter beeinträchtigt, der untrennbar mit
ihrer Unabhängigkeit verknüpft ist.“ Die EU-Kommission
hatte in einem so genannten Rechtsstaatsverfahren Klage
gegen den Mitgliedstaat erhoben.
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Seite 12 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
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dbb europathemen
EuGH-Urteil zu Dienstalterszulagen
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied am 20. Juni
in einem spanischen Vorabentscheidungsersuchen des
Verwaltungsgerichts Pamplona, dass befristet angestellte
Lehrerinnen und Lehrer einen Anspruch auf Dienstalterszu-
lagen haben wie „beamtete“ Lehrer. Ein befristet angestell-
ter spanischer Lehrer hatte gegen die Schulverwaltung von
Navarra geklagt. Ihm stehe die Besoldungsstufenzulage zu,
die verbeamtete Lehrer mit dem gleichen Dienstalter er-
halten. Der EuGH hat den Kläger nun in seiner Rechtsau-
fassung bestätigt. Der EuGH stützt sich dabei auf die Rah-
menvereinbarung der europäischen Sozialpartner über
befristete Arbeitsverträge Diese verbietet es, befristet be-
schäftigte Arbeitnehmer in Bezug auf ihre Beschäftigungs-
bedingungen gegenüber Dauerbeschäftigten in einer ver-
gleichbaren Situation allein aufgrund der Befristung ihrer
Beschäftigung schlechter zu behandeln, es sei denn, die
unterschiedliche Behandlung ist aus sachlichen Gründen
gerechtfertigt. Der EuGH urteilte nun, diese Rahmenver-
einbarung stehe einer nationalen Regelung entgegen, die
verbeamteten Lehrern, nicht aber Lehrern, die als Vertrags-
bedienstete in der öffentlichen Verwaltung befristet be-
schäftigt sind, eine Vergütungszulage gewährt, sofern die-
se Zulage sich einzig auf das Dienstalter beziehe.
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Aus für die deutsche Pkw-Maut
Mit seiner Entscheidung vom 18. Juni sorgte der Europäi-
sche Gerichtshof (EuGH) für Überraschung in Berlin und
München. Die deutsche Vignette für Bundesfernstraßen,
deren Einführung auf Wunsch der CSU beschlossen wurde,
ist europarechtswidrig. Das ist, wie Bundesverkehrsminis-
ter Andreas Scheuer (CSU) in Berlin sagte, nicht nur das
rechtliche, sondern auch das politische Aus dieses Projekts.
Die Schlussanträge des Generalanwalts und eine Einschät-
zung der Kommission hatten allerdings ein anderes Urteil
erwarten lassen. Die EuGH-Richter entschieden, dass die
Infrastrukturabgabe eine mittelbare Diskriminierung aus
Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt und gegen die
Grundsätze des freien Warenverkehrs und des freien
Dienstleistungsverkehrs verstößt. Die Steuerentlastung bei
der Kraftfahrzeugsteuer, die den Haltern von in Deutsch-
land zugelassenen Fahrzeugen zugutekommen sollte, dis-
kriminiere Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaa-
ten zugelassenen Fahrzeugen. Geklagt hatte Österreich.
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Subvention für umweltfreundlichere Diesel ge-
nehmigt
Die Bundesrepublik Deutschland will Fördermittel in Höhe
von insgesamt 431 Millionen Euro für die Nachrüstung
kommunaler und gewerblicher Dieselfahrzeuge bereitstel-
len. In dieser Höhe war dieses Vorhaben genehmigungs-
pflichtig durch die EU-Kommission, die zu prüfen hat, ob
größere Subventionen mit den europäischen Beihilfevor-
schriften vereinbar sind oder ob sie zu Wettbewerbsverzer-
rungen im Binnenmarkt führen und deshalb zu verbieten
sind. Die Kommission geht davon aus, dass diese Maßnah-
me zum Erreichen gemeinsamer europäischer Umweltziele
beiträgt und den Wettbewerb „nicht übermäßig“ ver-
fälscht. Das deutsche Sofortprogramm „Saubere Luft 2017-
2020“ soll zu einer möglichst raschen Senkung der Stick-
oxidemissionen beitragen. Die Mittel stehen den 60 Kom-
munen für Nachrüstungen ihrer Dieselfahrzeuge zur Ver-
fügung, die die höchsten Stickstoffwerte in der Luft auf-
weisen.
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EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager,
hier mit ihrem deutschen Kollegen Günther Oettinger,
erklärte am 19. Juni: „Die drei Regelungen bieten für die
Fahrzeugbetreiber in den am stärksten belasteten deutschen
Städten gute Anreize, in umweltfreundlichere Fahrzeuge
zu investieren. Dies ist ein anschauliches Beispiel dafür,
wie die Mitgliedstaaten neue Maßnahmen zur Verringerung
der Luftverschmutzung einführen können, die mit unseren
Vorschriften und unserem gemeinsamen europäischen Ziel
der saubereren Luft für alle im Einklang stehen.“ © European Union, 2019, Etienne Ansotte
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Perspektiven der EU-Erweiterung
Der Rat der Europäischen Union bekräftigte am 18. Juni
sein „Bekenntnis zur Erweiterung“ insbesondere der West-
balkan-Staaten. Diese stelle „eine strategische Investition
in Frieden, Demokratie, Wohlstand, Sicherheit und Stabili-
tät in Europa“ dar. Die Kandidatenländer müssen jedoch
„Eigenverantwortung“ übernehmen und die für ihren Bei-
tritt erforderlichen Reformen aber konsequent umsetzen,
fordert der Rat. Auch die Türkei sei nach wie vor ein
„Bewerberland“. Große Defizite sieht der Rat weiterhin
Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten, bei
den demokratischen Institutionen der öffentlichen Verwal-
tung. Der öffentliche Dienst müsse „entpolitisiert“ und
professionalisiert werden. Dabei geht es insbesondere um
eine unabhängige Justiz, ein funktionierendes Berufsbe-
amtentum und eine effektive Korruptionsbekämpfung.
Terrorismus, Radikalisierung und organisierte Kriminalität
stellen stellten weiterhin eine Bedrohung für die Sicherheit
der EU und der gesamten Region dar. Die EU will ihre Un-
terstützungsleistungen verstärken, gleichzeitig aber Fi-
nanzhilfen mehr als bisher von konkreten Fortschritten in
der Beitrittsfähigkeit abhängig machen.
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Ausbeutung von Wanderarbeitnehmern
Die Europäische Grundrechteagentur (FRA) veröffentlichte
am 25. Juni einen Forschungsbericht über illegale Beschäf-
tigungspraktiken in der Europäischen Union. In vielen EU-
Staaten arbeiteten illegal Beschäftigte, teilweise unter
„Bedingungen wie im Konzentrationslager“. Die Menschen
würden wie Sklaven gehalten, heißt es in dem Bericht. Die
Regierungen müssten dringend mehr tun, um diese Form
der Ausbeutung von Wanderarbeitnehmern wirksam zu
bekämpfen, fordert die Grundrechteagentur. Betroffen ist
die Landwirtschaft, das Baugewerbe, Hausarbeit, das Hotel
- und Gaststättengewerbe, die Fertigung und der Verkehr.
Die Wochenarbeitszeit der Ausgebeuteten betrage bis zu
92 Stunden, bei teilweise 5 Euro Tageslohn. Gewalt, physi-
sche wie psychische und sexuelle Übergriffe kommen hin-
zu. Wer sich wehrt oder seinen Lohn einfordert, wird mit
Deportation bedroht. Die Ausbeutung trage zu den Liefer-
ketten für die alltäglichen Güter und Dienstleistungen bei,
„die wir für selbstverständlich halten – von unseren Le-
bensmitteln bis zu unserer Kleidung“, so die FRA.
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Kommission macht bei Klimazielen Druck
Die EU ist die erste Wirtschaftsmacht weltweit, die sich im
Rahmen des Pariser Klimaschutzabkommens bis 2030
rechtsverbindliche Klimaziele gesetzt hat. Klimaneutrali-
tät“ ist das Ziel. Am 18. Juni veröffentlichte die Kommission
ihre Bewertung der nationalen Pläne zu dessen Umset-
zung. Zwar attestiert Brüssel den Mitgliedstaaten erhebli-
che Bemühungen“. Insgesamt fehle es aber an gezielten
politischen Maßnahmen, auch mit Blick auf die Verwirkli-
chung einer Energieunion. Die Mitgliedstaaten hatten zum
ersten Mal Entwürfe für integrierte nationale Energie- und
Klimapläne (NECPs) vorgelegt. „In den Bereichen erneuer-
bare Energien und Energieeffizienz sind die Beiträge aus
den nationalen Plänen derzeit jedoch nicht ausreichend,
und zum Erreichen der Gesamtziele der EU für Klima und
Energie muss daher gemeinsam noch ambitionierter vor-
gegangen werden“, fasst die Kommission ihre Bewertung
zusammen und fordert die Mitgliedstaaten auf, ihre Pläne
bis Jahresende zu überarbeiten.
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Miguel Arias Cañete, Kommissar für Klimapolitik und
Energie, erklärte: „Nach der Bewertung der Entwürfe der nationa-
len Pläne der Mitgliedstaaten bin ich zuversichtlich gestimmt,
da erhebliche Anstrengungen unternommen wurden. Die end-
gültigen Pläne müssen jedoch noch ambitionierter ausfallen,
um die EU auf die Bekämpfung des Klimawandels und die
Modernisierung unserer Wirtschaft auszurichten.“ © European Union, 2019
Seite 14 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
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dbb europathemen
Abwehr hybrider Bedrohungen
Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten haben laut
EU-Kommission bei der Bekämpfung hybrider Bedrohun-
gen solide Fortschritte erzielt. Das geht aus dem neusten
Bericht hervor, den die Kommission und der Europäische
Auswärtige Dienst am 29. Mai angenommen haben. Darin
werden die Fortschritte in der Umsetzung des Aktionsplans
zur Bekämpfung der Desinformation ebenso dargestellt
wie die jüngsten Maßnahmen für Cybersicherheit und Cy-
berabwehr. Auch chemische, biologische, radiologische
und nukleare Risiken – Stichwort „schmutzige Bombe“ –
werden analysiert. Einen Schwerpunkt bildet auch der
Schutz kritischer Infrastrukturen: Die Kommission hat in
Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die Entwicklung
von Anfälligkeitsindikatoren für den Schutz kritischer Infra-
strukturen vor hybriden Bedrohungen abgeschlossen. Eng
damit verbunden sind auch Bemühungen um die Diversifi-
zierung der Energiequellen. In der vergangenen europäi-
schen Wahlperiode wurden zahlreiche Rechtsakte verab-
schiedet, neue Initiativen auf den Weg gebracht. Die Ver-
ordnung über die Überprüfung ausländischer Direktinves-
titionen in der EU ist ein aktuelles Beispiel. Sanktionsrege-
lungen im Chemie- und im Cyberbereich sind ein weiteres.
Die Zusammenarbeit Die Zusammenarbeit zwischen EU-
Organen und Agenturen sowie mitgliedstaatlichen Behör-
den, aber auch mit Partnerländern wurde intensiviert.
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Einwanderung: Verbindungsbeamte in Dritt-
staaten
Verbindungsbeamte für Einwanderungsfragen werden
von den Mitgliedstaaten und der EU in Drittländer ent-
sandt, um dort Kontakte mit den Behörden zu Einwande-
rungsfragen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Die EU
verstärkt nun die Zusammenarbeit und Koordinierung zwi-
schen den Verbindungsbeamten, die von den Mitgliedstaa-
ten oder der EU in Drittländer entsandt werden, um sich
dort mit Einwanderungsfragen zu befassen. Zu diesem
Zweck hat der Rat am 14. Juni eine Verordnung verabschie-
det, die das Funktionieren des europäischen Netzes von
Verbindungsbeamten für Einwanderungsfragen verbes-
sern soll. Die Verordnung sieht für eine bessere Koordinie-
rung die Einrichtung eines Lenkungsausschusses auf EU-
Ebene vor, wobei die Zuständigkeit der entsendenden Be-
hörden gewahrt bleibt. Verbindungsbeamte sollen unter
anderem stärker bei der Bekämpfung von Schleuserkrimi-
nalität mitwirken und die Mitgliedstaaten bei der Rückfüh-
rung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen unter-
stützen. Entsprechende Haushaltsmittel der EU werden
bereitgestellt.
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Strafrecht: Verfahrensgarantien für Kinder
Am 11. Juni trat die Richtlinie über besondere Verfahrens-
garantien für Kinder in Kraft. Sie ist die letzte in einer Reihe
von sechs EU-Richtlinien, die bestimmte Verfahrensrechte
in der gesamten EU gewährleisten. Ab sofort gilt EU-weit,
dass Kinder von einem Anwalt unterstützt und getrennt
von Erwachsenen inhaftiert werden, wenn sie in eine Straf-
anstalt geschickt werden. Auch ihre Privatsphäre ist zu
achten. Vernehmungen müssen per Video aufgezeichnet
werden. Neben diesen neuen Rechten für Kinder gilt seit
dem 5. Mai auch die Richtlinie über Prozesskostenhilfe. Das
Paket von EU-Vorschriften soll sicherstellen, dass die
grundlegende Rechte der EU-Bürgerinnen und Bürger auf
faire und gleiche Behandlung in Strafverfahren geachtet
und in allen Mitgliedstaaten in ähnlicher Weise ange-
wandt werden. Mitgliedstaaten, die die Vorschriften noch
nicht umgesetzt haben, müssen dies so schnell wie mög-
lich tun.
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Radikalisierung in Haftanstalten
Der Rat der Innenminister hat am 6. Juni Schlussfolgerun-
gen zur Prävention und Bekämpfung der Radikalisierung in
Haftanstalten und zum Umgang mit terroristischen und
gewaltbereiten extremistischen Straftätern nach der Haft-
entlassung angenommen. Dabei betonte er die Bedeutung
und Dringlichkeit wirksamer Maßnahmen in diesem Be-
reich angesichts des Risikos, das von der wachsenden Zahl
von terroristischen Straftätern oder von Straftätern, die
sich während ihrer Haftzeit radikalisiert haben, ausgeht,
sowie des Umstands, dass eine Reihe von ihnen in den
nächsten beiden Jahren aus der Haft entlassen wird. Der
Rat ersuchte die Mitgliedstaaten, mehr dafür zu tun, Son-
dermaßnahmen für den Umgang mit terroristischen und
gewaltbereiten extremistischen Straftätern sowie mit
Straftätern, bei denen die Einschätzung getroffen wurde,
dass das Risiko einer Radikalisierung während ihrer Haft-
zeit besteht, zu entwickeln.
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Seite 15 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
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dbb europathemen
Generalsekretär Heeger begrüßt Wahlergebnis
CESI-Generalsekretär Klaus Heeger bewertet das Ergebnis
der Europawahlen grundsätzlich positiv. So begrüßte er
nicht nur die im Vergleich zu 2014 deutlich gestiegene
Wahlbeteiligung, sondern auch das Ausbleiben eines Tri-
umphs der europafeindlichen Populisten. „Einige wenige
Länder wie Italien, Frankreich und Großbritannien werden
große europafeindliche Delegationen entsenden. Aller-
dings werden diese insgesamt nicht signifikant wachsen.“
Zudem deute sich an, dass eine effektive Zusammenarbeit
dieser Parteien an nationalen Egoismen scheitern wird.
„Geschlossenheit herrscht immer in der Anti-Mentalität,
das Finden gemeinsamer Lösungsansätze gestaltet sich
schwieriger“, so Klaus Heeger.
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Manifest zur Zukunft des Lehrberufs in Europa
Im Juni veröffentlichte die CESI Europa-Akademie ein Ma-
nifest zur Zukunft des Lehrberufs in Europa. Das Manifest
bildet den Abschluss des Projekts „Der Lehrberuf im Zeitho-
rizont bis 2025“, das durch ein Mitgliedersymposium in
Lissabon im November 2018 begleitet wurde, an dem auch
eine große Lehrerdelegation des dbb teilnahm. Das Mani-
fest zeigt auf der Grundlage von Fallbeispielen aus CESI-
Mitgliedsgewerkschaften Wege auf für eine höhere Wert-
schätzung des Lehrberufs und einen gestärkten Arbeits-
schutz sowie für verbesserte Arbeitsbedingungen der Leh-
rerinnen und Lehrer. Es thematisiert zudem neue Fortbil-
dungsformate und neue IT-basierte Lehrkonzepte.
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Vertiefte Zusammenarbeit mit der UFE
CESI-Präsident Romain Wolff und Florian Köbler, Präsident
der Union des Finanzpersonals in Europa (UFE), unterzeich-
neten am 23. Mai ein neues Kooperationsabkommen in
Brüssel. Dieses sieht vor, dass CESI und UFE ihre Positionen
zu europäischen Steuerfragen künftig zusammen beraten
und wo immer möglich auch gemeinsam gegenüber den
EU-Institutionen vertreten. Wolff begrüßte die Fortsetzung
der Zusammenarbeit: „Die UFE und die CESI sind eigen-
ständige Organisationen, weisen in ihren Positionen im
Bereich der Steuerverwaltungen aber viele Gemeinsamkei-
ten auf. Da macht es Sinn, dass man zusammenarbeitet
und gemeinsam eine stärkere Stimme hat.“
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Seite 16 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
Neues von der CESI
© CESI, 2019
© CESI, 2019
© CESI, 2019
dbb europathemen
Erfolgreiche Interessenvertretung
Am 13. Juni verabschiedeten die EU-Gesetzgeber neue so-
zialpolitische Richtlinien und eine EU-Verordnung für eine
neue Europäische Arbeitsbehörde. „Seit fast drei Jahren
haben wir in zahlreichen Gesprächen mit Europaabgeord-
neten, Kommissionsbeamten und Diplomaten immer wie-
der konsequent für unsere Positionen geworben“, so CESI-
Generalsekretär Klaus Heeger. „So haben wir beispielswei-
se darauf hingewirkt, dass Ausnahmen für öffentlich Be-
dienstete von der neuen Richtlinie zu transparenten und
vorhersehbaren Arbeitsbedingungen auf ein Minimum
beschränkt wurden, das nationale öffentliche Dienstrecht
gleichzeitig aber nicht negativ tangiert wird.“
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Rekommunalisierungen im Fokus
Auf der ersten gemeinsamen Sitzung des Jahres der CESI-
Berufsräte Zentralverwaltungen & Finanzen und Lokal- &
Regionalverwaltungen am 4. Juni in Brüssel standen Re-
Kommunalisierung und faire Besteuerung auch von digita-
len Multinationals im Fokus der Debatte mit europäischen
Entscheidungsträgern. Auf der Sitzung, an der auch der
komba-Bundesvorsitzender Andreas Hemsing teilnahm,
übermittelten die Berufsräte dazu klare Positionen an Ver-
treter der Europäischen Kommission: Ja zu Rekommunali-
sierungen, solange diese die öffentliche Hand nicht schwä-
chen und Ja zu starken öffentlichen Diensten. Die Berufsrä-
te sprachen sich für Regeln für eine faire Besteuerung digi-
taler Firmen auf europäischer Ebene aus, durchgesetzt von
entsprechend ausgestatteten nationalen Steuerverwaltun-
gen.
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Wandel im Briefsektor
Am 7. Juni tagte der CESI-Berufsrat Post & Telekom in der
Küstenstadt Bar in Montenegro. Über 30 Gewerkschafte-
rinnen und Gewerkschafter aus elf Ländern kamen zusam-
men, um unter anderem über die Auswirkungen der Priva-
tisierung des Post- und Telekomsektors zu beraten. Perso-
nalabbau und ständige Organisationsveränderungen prä-
gen auch das Bild in den süd-osteuropäischen Ländern des
Balkans. Der dbb war durch den stellvertretenden Vorsit-
zenden des Berufsrats Horst Sayffaerth und Karlheinz Ver-
net Kosik von der DPVKOM vertreten.
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Blick auf den Parlamentssitz in Brüssel © Europäisches Parlament, 2019
Seite 17 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
Neues von der CESI
© Hendrik Meerkamp
© Horst Sayffaerth
dbb europathemen
Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 20.
Juni offenbaren die derzeitige Spaltung der Europäischen
Union und die daraus resultierende politische Lähmung.
Die erste Skizze der neuen strategischen Agenda, die den
zukünftigen Weg weisen soll, kann die Uneinigkeit der
Staats– und Regierungschefs in wesentlichen Fragen kaum
verdecken. Immerhin soll sie die Weichen für die kommen-
den fünf Jahre stellen. Die neue EU-Kommission soll
schließlich nicht im luftleeren Raum agieren. Im Oktober
wollen die Staats- und Regierungschefs weiter über die
neue strategische Agenda beraten.
Die materielle Grundlage für den nächsten institutionellen
Zyklus, der mit der Europawahl eingeleitet wurde, ist au-
ßerdem der neue mehrjährige Finanzrahmen. Das erklärte
Ziel, noch unter finnischer Ratspräsident bis Jahresende zu
einem Abschluss zu kommen, erscheint vielen Beobachtern
als höchst unwahrscheinlich. Mehr Streit steht ins Haus.
Die neue strategische Agenda steht natürlich in enger Ver-
bindung mit dem Finanzrahmen. Sie dient der EU als Ori-
entierung in einer immer unübersichtlicheren Welt. Sie
beschreibt für die Zeit bis 2024 vier „Hauptprioritäten“.
Zumindest verbal holen die Europäer weit aus. Von globa-
ler „Führungsrolle“ wird gesprochen. Bis an die
„Weltspitze“ ist es aber ein weiter Weg. Europa muss sei-
nen Ort finden, von einem „Platz an der Sonne“ sollte es
nicht träumen. Ein Blick auf die reale Lage bewahrt vor sol-
cher Hybris. Denn im gegenwärtigen Institutionengefüge
ist der Fortschritt eine Schnecke. Die Vetospieler im euro-
päischen Rats-Konzert bestimmen das Tempo, nicht der in
den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats beschwore-
ne Wandel der Welt. So bleiben in zentralen Zukunftsfra-
gen nur Beschwörungsformeln und, klar erkennbar in der
Flüchtlingspolitik, ein Spaltpilz.
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Seite 18 14. Jahrgang | Nr. 5/2019
Einwurf
Ratspräsident Donald Tusk berät sich am Rande des EU-Gipfels vom 20. Juni mit Bundeskanzlerin Angela
Merkel, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro
Sanchez © Consilium, 2019
Entschieden zögerlich Gedanken zur neuen strategischen Agenda der Europäischen Union
von Christian Moos
dbb europathemen
Populismus im
epochalen Wandel Oberflächenphänomene und
Tiefenstrukturen
von Jürgen R. Grote
Der Erfolg populistischer Parteien ist spätestens
seit den letzten Wahlen zum Europäischen Parla-
ment unbestreitbar. Unbestreitbar ist ebenfalls
die langsame Erosion traditioneller Volkspartei-
en und die damit zusammenhängende Frag-
mentierung von Parteiensystemen in vielen EU
Mitgliedsstaaten. Beides kann sowohl als Aus-
druck, aber auch als Auslöser des populistischen
Erfolgs gelesen werden. Dies ist ausführlich in
den Medien debattiert worden und zwar meist
unter der Fragestellung, ob es sich hierbei um
ein eher zeitlich begrenztes Phänomen oder um
eine irreversible und wachsende Zahl von Län-
dern umfassende Entwicklung handele.
Ein grundsätzliches Manko vieler Debatten ist, dass die
wenigstens Beiträge eine klare Trennung vornehmen zwi-
schen den Befindlichkeiten derjenigen, die entsprechende
Parteien zu wählen bereit sind und denjenigen politischen
Unternehmern, die ausgehend von diesen Befindlichkeiten
diese in eine Richtung lenken, die von einer Lösung der ur-
sprünglich zugrundeliegenden Probleme weit entfernt ist.
Populistische Rhetorik ist eine Seite – die zugrundeliegen-
den Faktoren für ihren Erfolg sind etwas ganz anderes.
Dies ist das Problem des aktuellen medienpolitischen Dis-
kurses: dass der Verweis auf abstruse politische Program-
matik und auf abenteuerliche Führungsfiguren meist an
der Oberfläche eines Phänomens verbleibt, das weit tiefer-
gehende Wurzeln hat. Wenn Wählern und Anhängern un-
terstellt wird, sie würden die entsprechende parteipoliti-
sche Programmatik zu hundert Prozent teilen, dann ist es
einfach, ihnen Dummheit, Unaufgeklärtheit, oder autoritä-
re Charakterzüge zu unterstellen.
Diese eher oberflächlichen Erklärungsversuche betrachten
den Erfolg populistischer Rhetorik als unreflektierten Re-
flex auf die Entscheidung Merkels im September 2015,
suchen ihn in vorgeblichen Persönlichkeitsdefiziten und
kollektiven seelischen Störungen oder etwa in ungünstigen
Sozialisationsbedingungen. Populismus hat dann möglich-
erweise gar keinen spezifischen Inhalt, sondern stellt ledig-
lich eine Form von Identitätspolitik dar. Populistische Par-
teien und deren Anhänger wären dann gleichermaßen von
Pathologien befallen, die als unausgegorener Effekt einer
kulturellen Entfremdung und als genereller Abwehrreflex
gegen die Herausforderungen der Gegenwart schlichtweg
inakzeptabel sind.
Solche an Oberflächenphänomenen verharrende Erklärun-
gen sind insofern erstaunlich als mittlerweile eine Unzahl
wissenschaftlicher Analysen vorliegt, die den Tiefenstruk-
turen des Phänomens auf die Spuren zu kommen versu-
chen.
Epochaler Wandel, beziehungsweise Epochen-
bruch
Praktisch alle wissenschaftlich ernst zu nehmenden Erklä-
rungen setzen bei einer Art Epochenbruch an, der sich in
Folge der durch Globalisierungs- und Kommodifizierungs-
prozesse (Privatisierung; „Zur-Ware-Werden zuvor gemein-
schaftlich genutzter Ressourcen) ausgelösten Effekte be-
reits Ende des letzten Jahrtausends angekündigt hat und
gegenwärtig seinem Höhepunkt zusteuert. Im Kontext
dieses Bruchs ist es zu einer Neuausrichtung westlicher
Gesellschaften von einer im nationalen Rahmen veranker-
ten Industriemoderne hin zu einer neuen Ordnung gekom-
men, die als globale Moderne bezeichnet werden kann.
Hinzu kommt die zunehmend dominanter werdende Rolle
einer Form von Neoliberalismus, die einen Großteil sozialer
und politischer Bereiche wirtschaftlichen Imperativen un-
terwirft. Formen kapitalistischer Herrschaft haben sich
überall ausgebreitet – eine Tatsache, die deutliche Spuren
in den Tiefenstrukturen unserer politischen und gesell-
schaftliche Systeme hinterlassen hat.
Die Krise guten Regierens
Ausgegangen wird in der relevanten Literatur vom Prozess
eines gleichzeitig verlaufenden Wandels nahezu aller ge-
sellschaftlichen Bereiche. Deutlich gemacht werden kann
dieser Wandel mit Rückgriff auf ein Modell der drei we-
sentlichen gesellschaftlichen Ordnungsformen von Staat,
Markt und Gemeinschaft. Im Gegensatz zu traditionellen
Vorstellungen, denen zufolge Gesellschaften funktional in
verschiedene Dimensionen differenziert sind, die je eigene
Handlungslogiken ausprägen und relativ unabhängig von-
einander existieren, gehen neuere Vorstellungen von der
Existenz partieller Überschneidungen aus. Die dabei ent-
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dbb europathemen
stehenden Schnittmengen entscheiden darüber, welche
der drei Dimensionen, beziehungsweise der diesen Dimen-
sionen zugeordneten Akteure im Einzelfall dominiert und
damit die Regeln vorgibt. Dort wo sich Staat, Markt und
Gemeinschaft mehr oder weniger gleichgewichtig überla-
gern, wird von der Existenz „guten Regierens“ (good gover-
nance arrangements) ausgegangen. Die den verschiedenen
Dimensionen zugrundeliegenden Logiken unterstützen
sich gegenseitig und tragen damit sowohl zur Stabilisie-
rung ihrer je eigenen Strukturen und Regeln wie auch de-
nen des Gesamtsystems bei.
So (ökonomisch) produktiv, (politisch) demokratiefördernd
und (gesellschaftlich) partizipatorisch derartige Arrange-
ments auch sein mögen, so negativ und destabilisierend
erscheinen ihre Effekte im Fall unilateraler, beziehungswei-
se nicht abgestimmter Einmischung – oder Usurpation –
seitens eines „Partners“ in die Belange des anderen. Die
gegenwärtige Populismusdebatte geht im Grunde genom-
men davon aus, dass es im Laufe der letzten Jahrzehnte zu
einer solchen Usurpation gekommen ist und zwar primär
seitens des Marktes und des zugrundeliegenden neolibera-
len Mantras beziehungsweise der dieses Mantra propagie-
renden Akteure, das heißt großer multinationaler Konzer-
ne und Banken.
Die entsprechenden Effekte auf Politik und Gemeinschaft,
beziehungsweise Zivilgesellschaft, lassen sich ungefähr
folgendermaßen charakterisieren. In der Politik beobach-
ten wir als Folge der Einführung neuer Managementtech-
niken („New Public Management“) Prozesse der Deregulie-
rung und partiellen Deinstitutionalisierung vor allem derje-
nigen Institutionen, die bisher markteinhegend gewirkt
haben. Zunehmend inklusiver werdende Praktiken der
Elitenrekrutierung (Michael Hartmann) sowie die
Schrumpfung der Volksparteien und die Implosion des Par-
teiensystems beziehungsweise des politischen Zentrums
tragen ihrerseits zu einem umfassenden politischen Men-
talitätswandel bei.
In gesellschaftlichen Zusammenhängen beobachten wir
einen partiellen Zerfall und eine Fragmentierung nicht nur
von frei gewählten Gemeinschaften („communities of
choice“) wie etwa Gewerkschaften, Unternehmerverbände,
soziale Bewegungen, sondern auch von Schicksalsgemein-
schaften („communities of fate“) wie Familien, Nachbar-
schaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die Explo-
sion von Ungleichheit und die Erosion gesellschaftlichen
Zusammenhalts kann dabei in Extremfällen durchaus pa-
thologische Formen individueller und kollektiver Anomie
(Regellosigkeit) annehmen. Wenn auch in unterschiedli-
chem Maße ist von den genannten Prozessen praktisch die
gesamte Gesellschaft betroffen und nicht nur die Wähler
rechtspopulistischer Parteien. Dabei haben sich letztere in
der Tat darauf spezialisiert, existierende Unzufriedenheit
und Unsicherheiten auf raffinierte, das heißt polythemati-
sche Art und Weise (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, institutio-
nelle Krise) auf ihre Mühlen zu lenken und dabei im we-
sentlichen drei Ziele zu formulieren: Re-Nationalisierung,
Re-Vergemeinschaftung und Re-Souveränisierung.
(…)
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Der Soziologe Dr. Jürgen R. Grote war unter anderem als
Marie Curie Chair of Excellence an der Karlsuniversität in
Prag tätig und ist seit zwei Jahren als Senior Researcher am
Berliner Dialogue of Civilizations Research Institute be-
schäftigt, wo er vor allem die Bereiche Governance und
Institutions bearbeitet © DOC Research Institute, 2019
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