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www.bvpi.de | ISSN 1430-9084 DER PRÜFINGENIEUR Das Magazin der Bundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik November 2017 | 51 Die Prüfingenieure intensivieren ihre künftige berufspolitische Arbeit PRB deckt bislang unerkannte Defizite der Normungsarbeit auf NRW: Die neue LBO gibt dem mehrgeschossigen Holzbau neue Impulse Carbonbeton auf dem Vormarsch: leicht, flexibel und extrem formbar Technisch höchst diffizil: Planung und Prüfung fünf neuer Schleusen Die Instandhaltung der Wasserbauwerke an den Bundeswasserstraßen BIM verlangt reiche Erfahrung mit der Modellbildung von Tragwerken Die Schwächen der Bauproduktenverordnung erheischen ihre Novellierung Neue Haftungsrisiken für Prüfer durch die MBO 2016 und die MVV-TB

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DER PRÜFINGENIEURDas Magazin der Bundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik

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� Die Prüfingenieure intensivieren ihre künftige berufspolitische Arbeit � PRB deckt bislang unerkannte Defizite der Normungsarbeit auf � NRW: Die neue LBO gibt dem mehrgeschossigen Holzbau neue Impulse� Carbonbeton auf dem Vormarsch: leicht, flexibel und extrem formbar� Technisch höchst diffizil: Planung und Prüfung fünf neuer Schleusen � Die Instandhaltung der Wasserbauwerke an den Bundeswasserstraßen� BIM verlangt reiche Erfahrung mit der Modellbildung von Tragwerken� Die Schwächen der Bauproduktenverordnung erheischen ihre Novellierung � Neue Haftungsrisiken für Prüfer durch die MBO 2016 und die MVV-TB

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EDITORIAL

Der Prüfingenieur | November 2017 3

Es ist höchste Zeit zum Handeln

Langsam wird es eng für die bautechnische Sicherheit in unseremLand – und damit auch für uns freiberufliche Bauingenieure und Prüf-ingenieure bzw. Prüfsachverständige. Wenn wir nicht aufpassen, wer-den wir in absehbarer Zukunft zu einer kleinen Gruppe statischer Re-chenkünstler degradiert, die von Kaufleuten, Juristen und Marketing-leuten majorisiert werden. Und dann wird von uns als Angehörige ei-nes freien Berufstands nicht mehr viel übrigbleiben.

Das hat die diesjährige Arbeitstagung der BVPI in Potsdam deutlichgezeigt. Wer beispielsweise den Vortrag über eine mögliche dreistufigeQualitätskette im Betonbau oder die Prognosen des Ministerialdirek-tors a.D. Michael Halstenberg im Hinblick auf die Entwicklung des na-tionalen Bauproduktenrechts gehört hat (siehe Seite 6), der darf sichohne Zweifel Sorgen machen.

Wer zusätzlich daran denkt,

� dass der Bundesgerichtshof die Amtshaftung der Prüfsachverstän-digen gekippt hat,

� dass im Zuge der Einführung neuer Normen Entscheidungen vorbe-reitet werden, nach denen externe bautechnische Prüfungen nurnoch für große, mit hohen sicherheitsrelevanten Risiken behafteteBauvorhaben die Regel sein könnten und

� dass die derzeitigen Normen uns mittlerweile zu Lasten unsererfachlichen Kreativität strangulieren,

der wird erkennen müssen, dass die Bundesrepublik in europäischenEntscheidungsfindungsprozessen nicht vehement genug auf die Ein-haltung unserer bewährten Qualitätsstandards geachtet hat und dieZeit zum Handeln gekommen ist.

Wie können wir uns wehren gegen die Folgen einer von Wirtschaftsin-teressen geprägten Politik, nach der alle vermeintlichen Handels- oderDienstleistungshemmnisse grundsätzlich zugunsten eines großen frei-en Marktes aus dem Weg zu räumen seien? Milde lächelnd geht dabeidie Kommission auch über schwerwiegende sicherheitstechnische Be-

denken hinweg – wie der Hochhausbrand in Grenfell, London, gezeigthat.

Sie will unbeirrbar in Europa durchsetzen, dass die unkontrollierbareFreiheit der Vermarktung der Produkte wichtiger sei als deren Gehaltan bautechnischer Sicherheit für die Menschen und deren Hab und Gut– mit anderen Worten: die Vermarktung der Produkte ist gegenüberder bautechnischen Sicherheit ebendieser Produkte zu priorisieren.

Die bautechnische Sicherheit liegt nach wie vor in der Verantwortungder Mitgliedstaaten. Diese stehen nun vor der Aufgabe, für die Praxiszuverlässige und juristisch unangreifbare Synthesen der Freiheit desMarktes und der Sicherheit der Bevölkerung bzw. ihrer Bauwerke zuentwickeln.

Diese Fusion von Marktfreiheit und Sicherheit wird aber nur dann Aus-sicht auf Erfolg haben, wenn der bautechnischen Sicherheit gesell-schaftspolitisch der Stellenwert gegenüber den „vertriebsorientiertenZielen“ der Ökonomie zugestanden wird, der für eine handhabbareKontrolle der Produkteigenschaften und somit zum Schutz von Leibund Leben erforderlich ist.

An dieser Stelle stehen wir Prüfingenieure bereit. Wir sind wegen un-serer Ausbildung, beruflichen Erfahrung und hoheitlichen Anerken-nung diejenige Berufsgruppe, die die Politik und die Administrationunterstützen kann, den Spagat zwischen Markt und Sicherheit in Ein-klang zu bringen. Denn wer, wenn nicht die wirtschaftlich und tech-nisch unabhängigen Prüfingenieure bzw. Prüfsachverständigen, soll essein, der dem Staat und seinen Bürgern jene Sicherheit bestätigenkann, die wir seit Jahrhunderten gewohnt sind?

Um diese Aufgabe unabhängig und effektiv erfüllen zu können, bedarfes jedoch einer staatlichen Legitimation unseres Tuns und amtlicheroder behördlicher Bestimmungen zur eindeutigen und verlässlichenProduktbeschreibung, die die Anwendbarkeit im Zusammenspiel mitden Bemessungsnormen ohne schwer durchschaubare Zusatzqualifi-kationen sicherstellen.

Für die Mitarbeit zur Ausgestaltung solcher Regelungen und deren ge-setzliche Verankerung sind die Politik ebenso wie die Prüfingenieurebzw. Prüfsachverständigen mehr denn je aufgerufen und persönlichgefordert …

Dr.-Ing. Markus WetzelPräsident der Bundesvereini-gung der Prüfingenieure fürBautechnik (BVPI); Beraten-der Ingenieur VBI, Prüfinge-nieur für Bautechnik VPI,Partner der Wetzel & von SehtBeratende Ingenieure im Bau-wesen GbR (Hamburg, Berlin)

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INHALT

4 Der Prüfingenieur | November 2017

AUS 18 SEGMENTEN besteht diese Trogbrücke in Kempten, eine der ersten Brücken in Deutschland,deren Überbau aus Sandwichwandelementen mit einer Innenschale aus Stahlbeton, einer Dämm-schicht, einem Schubgitter und einer textilbewehrten Außenschale besteht. Diese Brücke und vieleandere Bauwerke beweisen, wie weit das Bauen mit Carbonbeton vorangeschritten ist. Einzelheitendarüber finden Sie ab Seite 20

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EDITORIALDr.-Ing. Markus Wetzel Es ist höchste Zeit zum Handeln 3

NACHRICHTENPrüfingenieure stabilisieren ihre künftige berufspolitische Arbeit 6Das digitale Bauordnungsrecht ist europaweit auf gutem Weg 10Karl Morgen 65: Er vereint kreatives Arbeiten mit interdisziplinäremDenken und Verantwortungsbewusstsein 11vpi-Landesvereinigung NRW fördert wieder 40 Studierende des Bauingenieurwesens 12BVPI zur Mitarbeit in der Working Group 8 der IABSE eingeladen 13300 Teilnehmer beim BÜV-Seminar für Sachkundige Planer für denSchutz und die Instandsetzung von Betonbauwerken 13Die Initiative Praxisgerechte Regelwerke im Bauwesen erkenntbislang unerkannte Defizite der internationalen Normungsarbeit 14Praktischer Leitfaden für die statisch-konstruktive Bauüberwachung 15Novellierte Brandschutzanforderungen geben dem mehrgeschossigenHolzbau in NRW neue Impulse 16Dipl.-Ing. Kurt Harrer † 17Fortbildungsseminar Tragwerksplanung in Hessen: Acht ingenieurtechnischeVorträge auf höchstem fachlichen Niveau 1827./29. September in Münster: Nächste Arbeitstagung der Prüfingenieure 19

BETONBAUProf. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Manfred Curbach/ Dr.-Ing. Frank Schladitz/ Dipl.-Ing. Jörg Weselek/Dipl.-Ing. Robert Zobel:Der Betonbau der Zukunft ist nachhaltig, leicht, flexibel und formbar – dank Carbon/Für Sanierung oder Neubau sind jetzt Decken und Wände,Fuß- und Radwegbrücken, Bögen und Fassaden sein Metier 20

Foto: Fa. Drivecon

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INHALT

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FÜNF NEUE SCHLEUSENwerden in den kommen-den Jahren am Dortmund-Ems-Kanal (DEK) gebaut –hier eine Computer-animation der neuenSchleuse bei Gleesen. Sie bedeuten eine enormeHerausforderung für Bau-herrn, Planungsbüros,Prüfingenieure und Bau-firmen. Wie groß diese Herausforderung für alleBeteiligten ist, beschreibenwir ab Seite 36

BIM KANN AUCH ANALYTISCHE MODELLE generieren, mit denen, wenn siean das jeweilige physikalische Modell gekoppelt sind, die Berechnungen fürdie Tragwerksplanung durchgeführt werden können. Wie das geht könnenSie nachlesen ab Seite 52

VERKEHRSWASSERBAUDr.-Ing. Jeannette Ebers-Ernst/Dipl.-Ing. Birgit Maßmann:Eine außergewöhnlich diffizile bautechnische Aufgabe: Fünf neue Schleusen entlang des Dortmund-Ems-Kanals/Gefragt sind die Beratung großer Planungsteams und die möglichst frühzeitige Einbindung der Prüfingenieure 36

Prof. Dr.-Ing. Christoph Heinzelmann/Dr.-Ing. Jörg Bödefeld/Dipl.-Ing. Andreas Westendarp:Eine Herkulesaufgabe: Die Instandhaltung der Wasserbauwerke an denBundeswasserstraßen/Ihre Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit sind Voraussetzung für die angestrebte Verkehrsverlagerung 46

BIM - BUILDING INFORMATION MODELINGMartin Fischnaller:Mit Building Information Modeling ändert sich für die Aufgabe derTragwerksplanung eigentlich nicht viel/Die digital-integrale Arbeitsweiseverlangt aber viel Erfahrung mit der Modellbildung von Tragwerken 52

BAUPRODUKTENRECHTDr. Rainer Mikulits:Das europäische Bauproduktenrecht im Spannungsfeld von erfolgreicherVermarktung und sachgemäßer Verwendung/Die konzeptuellen Problemeder Bauproduktenverordnung werden wohl mit einer konstitutiven Novellierung gelöst 59

Ministerialdirektor a. D. Michael Halstenberg:Die Novellierung des nationalen Bauproduktenrechts durch dieMusterbauordnung 2016 und die MVV-TB/ Neue Regelungen könnten denPrüfingenieuren und Prüfsachverständigen auch Haftungsrisiken bescheren 62

IMPRESSUM 68

Foto: C

³/Jörg Sing

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© AJG Ingenieure GmbH

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NACHRICHTEN

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Arbeitstagung der Bundesvereinigung der Prüfingenieure:Aktuelle bautechnische und baurechtliche VorträgeBVPI-Mitgliederversammlung legt den Grundstein für einefest umrissene Verstärkung ihrer berufspolitischen Arbeit

Die Mitglieder der Bundesvereinigungder Prüfingenieure für Bautechnik (BVPI)haben einen großen und wichtigenSchritt in Richtung einer Verstärkungund Absicherung ihrer zukünftigen be-rufspolitischen Arbeit getan. Auf dieKonsequenzen mehrerer EU-politischerund juristischer Ereignisse reagierend,die sie aus berufspolitischer Sicht über-wiegend kritisch einstufen, haben siemit großer Mehrheit Fakten geschaffen,um das personelle und materielle Funda-ment ihrer Verbandstätigkeit zu stabili-sieren und zu erweitern. Dazu nutztensie die Mitgliederversammlung, die imRahmen ihrer diesjährigen Arbeitsta-gung in Potsdam stattfand. Dort hattensich Ende September an die 200 Prüfin-genieure und Prüfsachverständige ausganz Deutschland getroffen, um ihr all-jährliches Fortbildungsprogramm zu ab-solvieren, das ihnen und ihren Gästen –Repräsentanten der Bundes- und Lan-

despolitik, der Bauwirtschaft, der Bau-verwaltungen der Länder und der Inge-nieurkammern und -Verbände – auch indiesem Jahr wieder vielerlei Fachvorträ-ge über bautechnische, baurechtlicheund ingenieurwissenschaftliche Fragengeboten hat.

Die Ergebnisse ihrer Beratungen, Diskussio-nen und Beschlussfassungen nahmen die Mit-glieder der BVPI noch einmal mit der Rede ih-res Präsidenten Dr.-Ing. Markus Wetzel zurKenntnis, in der dieser zu Beginn der zweitägi-gen Konferenz die Beschlüsse der Mitglieder-versammlung resümierend und summarischin den größeren Zusammenhang der aktuel-len berufspolitischen Situation der Prüfinge-nieure und Prüfsachverständigen in Deutsch-land und Europa gestellt und dabei einige Er-kenntnisse und Postulate formuliert hat, dieder Leiter der Obersten Bauaufsicht (Referat24) im Brandenburgischen Ministerium für In-frastruktur und Landesplanung, Jan-Dirk Förs-

ter, hinterher als „beeindruckend, leiden-schaftlich und informativ“ bezeichnet hat.

Wer Wetzels Potsdamer Kurzfassung dessenhörte, was den Mitgliedern seiner Bundesver-einigung an berufspolitischen Herausforde-rungen bevorsteht, der hat gut verstehenkönnen, dass die Prüfingenieure und Prüf-sachverständigen ihre Reihen nun beinaheeinmütig geschlossen und mit sehr großerMehrheit beschlossen haben, ihre Berufsver-einigung materiell und personell zu ertüchti-gen, um ihr so, wie Wetzel sagte, „neue Hori-zonte für ihr berufspolitisches Vorgehen zueröffnen“.

Als eine der vorrangigen Aufgaben nannte erdie nationale und europäische Normungsar-beit der BVPI. Sie sei für den Verband eineerstrangige berufsfachliche Pflichtübung, dieim ureigenen Überlebensinteresse der Prüfin-genieure und Prüfsachverständigen von derBVPI absolviert und für die neue Ressourcen

Fotos: H

arald Hirsch

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EINEN VOLLEN SAAL gibt es bei den jährlichen Arbeitstagungen der Bundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik (BVPI) immer wieder.Dieses Jahr in Potsdam konnte …

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NACHRICHTEN

Der Prüfingenieur | November 2017 7

aktiviert werden müssten. Der wichtigsteGrund für die Normenarbeit „unseres kleinenVerbandes“ sei die Tatsache, dass, so Wetzel,„Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Ver-waltung ohne uns Prüfingenieure und Prüf-sachverständige ganz unter sich wären unddass sie ohne unser fachlich intendiertes undwirtschaftlich unabhängiges Korrektiv ihreoriginären Interessen ungehindert durchset-zen könnten, das aber „meistens zum Nach-teil der Baukultur in Deutschland“.

Damit appellierte Wetzel über die praktisch-substanziellen Folgen einer Normendefiniti-on ohne Beteiligung der Prüfingenieuregleichzeitig an die vielleicht noch essentielle-re professionelle Selbstachtung seiner Kolle-ginnen und Kollegen, denen niemand erzäh-len müsse, „wie wir manchmal behandeltwerden, wenn wir in sogenannten Fachge-sprächen oder technischen Verhandlungenden Ökonomen, Juristen und Kaufleuten ge-genübersitzen und uns ihnen gegenüber andem vergeblichen Versuch abarbeiten, tech-nische oder wirtschaftlich-technische Not-wendigkeiten und Erfordernisse gegen denunheilvollen und sachfremden ,geilen Geiz´unserer Zeit durchzusetzen“.

Als weiteren gewichtigen Aufgabenbereichnannte Wetzel „eine proaktive, also strate-

gisch vorausschauend aufzubauende undzielgerichtet auszuführende Informations-und Überzeugungsarbeit“. Sie ziele vor allemauf die national agierenden, aber mit euro-paweiter Wirkungsmacht handelnden Reprä-sentanten und Entscheidungsträger der Poli-tik und der Verwaltung.

Mehrfach betonte der Präsident der BVPI inseiner Ansprache sinngemäß: „ … von nichtskommt nichts“, und dass die Qualität unddas Ausmaß dieser nun forcierten berufspoli-tischen Arbeit wegen personaler Fluktuatio-nen in Behörden, Ämtern und Büros durch-aus dem beharrlichen Bohren jener dickenBretter entsprächen, „mit denen wir es beiunserer Normenarbeit auch überall zu tunhaben“.

Dabei sei diese zielgerichtete Berufspolitikein unbedingtes Gebot der Zeit. Denn wenn,was derzeit allen Ernstes auf europäischerEbene ja in Erwägung gezogen werde, dem-nächst nur noch für große Bauvorhaben eineexterne Prüfung gefordert werden sollte,„dann würde diese europaweite Entschei-dung sehr schwerwiegende Folgen für unsals Angehörige eines freien Berufs haben –und natürlich für die Sicherheit unserer Bau-werke und für die gelebte Baukultur inDeutschland“.

Diese für bausicherheitstechnische Gewohn-heiten in Deutschland empörenden offiziel-len europapolitisch angelegten Absichtengingen, wie jeder wisse, auf die Gepflogen-heit in vielen EU-Ländern zurück, in denendie bautechnische Prüfung einer innerbe-trieblichen Prüfung in den ausführenden oderin den planenden Unternehmen anvertrautwerde, oder – aber eben nur auf privatwirt-schaftlicher Basis – externen Büros, „diedann aber ungewollt in jene Abhängigkeitengeraten können, die im Fall der Fälle ihrePrüftätigkeit behindern können“.

Grund dafür seien die in großen TeilenEuropas üblichen großen Planungsfirmenmit tausenden Ingenieuren, in denen, an-ders als in den zumeist kleinparzelligenStrukturen in Deutschland, die Unterhaltungeiner Innenrevision möglich sei, allerdings,betonte Wetzel, ohne die stringent wirt-schaftliche Entkopplung vom zu prüfendenObjekt.

Das deutsche Prinzip der klar geteilten Ver-antwortung für die bautechnische Sicherheitnach dem Vier-Augen-Prinzip würde in die-sem gar nicht mehr so unwahrscheinlichenFall, dass diese europäischen Vorstellungenzu europäischem und damit zu nationalemRecht realisiert würden, von einem wirt-schaftlich abhängigen Abarbeiten immergleicher Cluster der Verantwortung ersetztwerden.

In diesem Zusammenhang wies Wetzel auchauf das Bauproduktenurteil des Europäi-schen Gerichtshofes von Oktober 2014 hin,das zur Folge habe, dass aus der produktbe-zogenen, bauordnungsrechtlichen Bring-schuld des Baustofflieferanten eine projekt-bezogene zivilrechtliche Holschuld des Auf-tragnehmers werde, mit der Konsequenz,dass „wir als Ingenieure zu Handlangern desDeutschen Instituts für Bautechnik mutierenund mit Haftungsrisiken überzogen werden,die wir nicht haben wollen“.

Aus all‘ dem leite er, Wetzel, das Ziel allerPrüfingenieure und Prüfsachverständigen ab,die bundeseinheitliche Ausübung ihres Be-rufs als Prüfingenieur oder Prüfsachverstän-diger zu erreichen, die „nun endlich konkretund kraftvoll angegangen werden muss“.Das Bauen sei ja ein oftmals länderübergrei-fender Akt und deshalb müsse, so Wetzel,jenseits föderal einengender Prinzipien auchalles, was mit dem Bauen zu tun hat, länder-übergreifend als Teil der deutschen Bauwirt-schaft in ihrer Gesamtheit begriffen und ge-setzlich geregelt werden.

… DER PRÄSIDENT der Vereinigung, Dr.-Ing. Markus Wetzel, ein besonders aufmerksames Pu-blikum begrüßen, zu dem neben den Mitgliedern der Vereinigung auch zahlreiche Repräsentan-ten der Bundes- und Landespolitik, der Bauwirtschaft, der Bauverwaltungen der Länder und derIngenieurkammern und -Verbände gehörten.

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„Wir Prüfingenieure und Prüfsachverständi-ge sind deshalb der Meinung“, rief Wetzel imAngesicht zahlreicher Fachleute aus verschie-denen Bauverwaltungen der Länder aus,„dass all die landesgesetzlichen Schutzvor-schriften verstetigt werden müssen, die ei-nen ordnungsgemäßen Wettbewerb über dieLändergrenzen befördern“. Davon ausge-nommen sollten nur jene landesindividuelltradierten Teile des baukulturellen Selbstver-ständnisses bleiben, die es nach Ansicht derjeweiligen Länder vor landesfremden Einflüs-sen zu schützen gelte oder die auf Grund lan-desklimatischer Gegebenheiten technischanders bewertetet werden müssten als in an-deren deutschen Ländern.

Zuspitzend kam Wetzel dann auf den Punkt,als er fragte, warum man die staatlichen Ob-liegenheiten der bautechnischen Prüfung,der Bauüberwachung und der Kontrolle derEinhaltung sicherheitsrelevanter Aspekte desBauens nicht endlich ausschließlich einemhoheitlich beliehenen Unternehmer anver-trauen könne. Damit, so Wetzel, wäre dochallen gedient: Der Staat wäre nennenswertentlastet und gleichzeitig überall präsent, derBauherr wüsste per se, dass jene Faktorenseines geplanten Bauwerks, die auch die Si-cherheit der Bevölkerung betreffen, amtli-cherseits und neutral und qualifiziert über-wacht und geprüft werden, die bauausfüh-renden Unternehmen hätten jemanden, aufden sie sich verlassen könnten. „Denn die Si-cherheit unserer Bauwerke kann“, so spannWetzel seine Überlegung weiter, „in ein-wandfreier und unangreifbarer Qualität nurvon der Prüfung und Überwachung durchwirtschaftlich unabhängige, hoheitlich belie-hene Unternehmer gewährleistet werden“.Deshalb müssten die Prüfingenieure undPrüfsachverständigen über ihre Bundes- undihre Landesvereinigungen in Deutschland si-cherstellen, „dass der Gesetzgeber widersin-nigen ökonomischen Zwängen, schlichtemtechnischen Unvermögen oder gemeinge-fährlicher Gleichgültigkeit nicht länger denVorzug vor der unabhängigen Prüfung undÜberwachung geben kann“. Das sei – unddies sage Wetzel mit ganz ausdrücklichemHinweis auf den tödlichen Hochhausbrandam 14. Juni dieses Jahres London – ein prin-zipielles nationales Anliegen.

Wetzels Ansichten und Betrachtungsweisenfanden in Jan-Dirk Försters Ansprache eineFortsetzung, die im Programm der Arbeitsta-gung als „Politisches Grußwort“ des Leitersder Obersten Bauaufsicht des Landes Bran-denburg angekündigt worden war. FörstersRede war aber viel mehr als nur das; sie war

ein in weiten Teilen sehr aufschlussreicher Be-richt über die Bemühungen und Schwierigkei-ten, die in Deutschlands Ministerien und Be-hörden unternommen und überwunden wer-den müssen, um das Bauproduktenrecht derEU in Deutschland kompatibel zu machen.

Försters Bemerkungen, insbesondere zu die-sem Thema, hatten Gewicht, denn er hat aufallen Ebenen und in allen beteiligten natio-nalen und EU-europäischen Gremien maß-geblich daran mitgearbeitet, dass „unser na-tionales Bauproduktenrecht vereinbar ist mitdem europäischen Rechtsrahmen, und zwarso, dass wir nicht in Konflikt mit der EU-Kom-mission geraten können“. Förster räumteaber auch ein, dass es „am Ende keine Lö-sung geben wird, die so optimal sein wird,wie das, was wir vorher hatten“. In diesenSatz schloss Förster auch neue haftungs-rechtliche Risiken für die Prüfingenieure undPrüfsachverständigen ein. Förster plauderteauch nicht aus dem Nähkästchen, als er sei-nen Zuhörern eingestand, dass der Umbaudes nationalen Bauproduktenrechts nur hatfunktionieren können, nachdem „wir uns ge-

zwungenermaßen hinter die Linie der Bau-werkssicherheit zurückgezogen hatten“.Förster bekannte, dass die Gremien, die mitdiesem Problem zu kämpfen hatten, „mitNachregulierungen kraft EU-Rechts nicht un-mittelbar am Bauprodukt ansetzen durften,um das zu heilen, was in den europäischenNormen als Lücken erkannt worden ist“. Unddamit habe – ganz bewusst – auch eine Um-verteilung des Risikos in Kauf genommenwerden müssen.

Dennoch kam Förster nicht umhin, öffentlichund vor betroffenem Publikum frank und freifestzustellen, dass auch er beim Thema Bau-werkssicherheit dafür plädiere, zuvörderstdie Ursachen zu bekämpfen und nicht imNachhinein lediglich die Symptome. „DieWelt nur von hinten mit den Prüfingenieurenwieder in Ordnung bringen zu wollen, kannbeileibe nicht der alleinige und auch nichtder richtige Weg sein“, sagte Förster, und erwies zur Begründung dieser Ansicht unter an-derem auf die Untersuchungen und Analysender Prüfingenieure im Lande Brandenburghin, die ergeben hatten, dass der Bauherr ei-

DER LEITER der Obersten Bauaufsicht des Landes Brandenburg, Jan-Dirk Förster, konnte in sei-nem politischen Grußwort vielen Thesen, Postulaten und Auffassungen der Prüfingenieure zu-stimmen.

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NACHRICHTEN

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nes Ein- oder Zweifamilienhauses – grob ge-rechnet – nur einen einzigen Euro für Prüfge-bühren ausgeben müsse, um sich am ande-ren Ende fünf bis sieben Euro für die mögli-che spätere Schadensbehebung oder fürMängelausbesserungen ersparen zu können(siehe hierzu auch: DER PRÜFINGENIEUR,Heft 49, Seite 10).

Förster begrüßte ganz ausdrücklich auch Wet-zels „klare Ansage“ für eine Einheitlichkeit imBauordnungsrecht der Länder. Sie sei eineGrundbedingung für die Akzeptanz und Wirk-samkeit der bauordnungsrechtlichen Rege-lungen. Leider, so Förster, verfolge die Politikaber oft ihre eigenen Ziele, häufig sogar wi-dersprüchliche Ziele, und sie konzentriere sichauch nicht immer ausschließlich auf die Bau-werkssicherheit, sondern gebe länderweiseunterschiedliche Vorgaben und Richtlinien zurBefolgung an. Und dann, so Förster weiter,komme die EU-Kommission daher, die sich imUmgang mit Bauprodukten vorrangig als Hü-terin der Marktfreiheit und im Bereich derbautechnischen Prüfung und Überwachungvorrangig als Hüterin der Dienstleistungsfrei-heit verstehe, und weist, auf bausicherheits-technisch riskante Diskrepanzen angespro-chen, ungerührt darauf hin, dass ja nicht sie,sondern die Mitgliedstaaten für die Bau-werkssicherheit im eigenen Lande verant-wortlich seien. „Darin drückt sich“, rief Förs-ter aus, „eine ganz andere Schwerpunktset-zung aus als die, die wir gemeinsam vertre-ten“. Und deswegen, resümierte Förster seineGedanken und langjährigen Erfahrungen,müssen „wir unseren Anspruch, durch natio-nale Regelsetzungen die Bauwerkssicherheitin unserem Land zu garantieren, immer wie-der aufs Neue durchsetzen und verteidigen“.

Zu den Verteidigungslinien, die zu ziehensind, zählt Förster als engagierter und sattel-fester Bauaufsichtsbeamter, auch die Forde-rung Wetzels, ein bundeseinheitlich verste-tigtes System für die Überwachung der Pla-nung und Bauausführung sowie „einheitli-che, die Persönlichkeit des Kandidaten aus-reichend berücksichtigende, Regelungen fürdie Anerkennung und Beauftragung von Prüf-ingenieuren und gleiche Prüfpflichten“. Ander Realisierung dieser Vorstellung arbeitetdie Fachkommission Bauaufsicht der ARGE-BAU schon seit einiger Zeit, und war „als ei-nes unserer thematisch wichtigsten Ziele“.

Bökamp: „Unsere Normenarbeit isteine eminent bedeutsame Aufgabe“So, wie BVPI-Präsident Markus Wetzel, so hatauch der stellvertretende Vorsitzende der Ini-tiative Praxisgerechte Regelwerke im Bauwe-

sen (PRB), Dr.-Ing. Heinrich Bökamp, die Nor-menarbeit der PRB, in der viele Mitglieder derBVPI, neben dem hauptamtlichen Engage-ment, quasi am Mann und vor Ort ehrenamt-liche Arbeit praktizieren, als eine für die prak-tische Berufsausübung der Prüfingenieureund der Prüfsachverständigen eminent be-deutsame und vorrangige Aufgabe bezeich-net. Über seinen eigentlichen Bericht überFortschritt und Erfolge der PRB-Arbeit in denmultilateralen häufig kontroversen fachli-chen Debatten auf nationaler und europäi-scher Ebene hinaus (siehe Seite 14), hat Bö-kamp, wohl auch aus dem Reservoir prakti-scher berufspolitischer Erfahrungen schöp-fend, dessen Inhalte er auch als Präsident derIngenieurkammer Bau von Nordrhein-West-falen tagtäglich aktuell beurteilen kann, sei-nen Kolleginnen und Kollegen plastisch vorAugen geführt, dass „wir ehrenamtlich täti-gen Ingenieure bei unseren Verhandlungen,Gesprächen und Diskussionen nirgendwo, seies in Brüssel, in Berlin oder in unseren Lan-deshauptstädten, auf Ingenieurkollegen alskongeniale Gesprächspartner treffen“. Dortwerde aber gleichwohl, so Bökamp „tiefgrei-fend und folgenschwer über uns und unserzukünftiges berufliches Schicksal entschie-den“.

Bökamp konstatierte, dass die Prüfingenieure„beim Verkauf ihrer Leistungen im Sinne vonWertschätzung noch eine Menge Luft nachoben haben“, was man ganz praktisch jedesMal dann erleben könne, wenn der Auftragzur Prüfung von dem zuständigen Kaufmann

erteilt würde. Denn, so Bökamps aphoristischtreffsicherere Analyse, „alle kennen von al-lem den Preis, aber von nichts den Wert“.Und der Kaufmann kenne seinen Preis, „ahntaber nicht im Geringsten, was er da eigent-lich einkauft oder einkaufen sollte.“ DieseParabel aus dem Leben eines jeden Prüfinge-nieurs oder Prüfsachverständigen gehemanchmal so weit, dass, „nur die von derBauaufsicht geforderten Bescheinigungenbestellt werden, weil man auf die inhaltlichePrüfung wegen des gut versicherten Trag-werksplaners leicht verzichten“ könne.

Nach alldem scheint es Bökamp als erfahre-nem und erprobt berufspolitischem Deputier-ten ganz natürlich zu sein, dass „wir Prüfin-genieure und Prüfsachverständigen „allesdafür tun, dass unser Vier-Augen-Prinzip alsbesonderes Markenzeichen des präventivenHandelns beim Bauen nicht nur erhaltenbleibt, sondern auch regulär wertgeschätztwird“. Denn erst dann, „wenn in den Köpfenwieder klar wird, dass es bei unseren Leistun-gen nicht um den Einkauf von ein paar Sä-cken Zement geht, sondern um eine Leistung,die man nicht abwiegen kann, weil ihr Er-gebnis davon abhängt, wer sie bereitstellt,erst dann werden wir auch eine andere Wert-schätzung erfahren“.

Zwischen Heinrich Bökamps von feiner Ironiedurchsetzten aber praxisnah orientierten An-klage heutiger Verhältnisse und dem soge-nannten Festvortrag, den der Direktor desPotsdam-Instituts für Klimafolgenforschung,

DIE NOTWENDIGKEIT DER NORMENARBEIT, die von der BVPI in und für der Initiative Praxisge-rechte Regelwerke im Bauwesen (PRB) leistet, wurde von deren stellvertretendem Leiter, Dr.-Ing.Heinrich Bökamp, begründet.

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NACHRICHTEN

10 Der Prüfingenieur | November 2017

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joachim Schellnhuber,hielt, bot die Reihe der Vorträge der diesjähri-gen Arbeitstagung der BVPI eine fachlichsehr vielseitig ausgerichtete Palette, bei-spielsweise über zu erwartende künftige Ent-wicklungen im Betonbau, über das neue na-tionale Bauproduktenrecht, über ausgesuch-te Themen des Brandschutzes und des Ver-kehrswasserbaus, über die praktische An-wendung des Building Information Modeling

(BIM) und über Möglichkeiten der zerstö-rungsfreien Prüfung. Alle diese Vorträge wer-den, wie gewohnt, in dieser und in der fol-genden Ausgabe des PRÜFINGENIEURS ver-öffentlicht werden.

Apropos Schellnhuber. Er hat den Prüfinge-nieuren und ihren Gästen einen reich illus-trierten Vortrag gehalten, mit dem er die be-sorgniserregenden und unheilvollen „He-

EINDRINGLICH UND ÜBERZEUGEND hat der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenfor-schung, Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joachim Schellnhuber, bei der diesjährigen Arbeitstagung der Prüf-ingenieure und Prüfsachverständigen die besorgniserregenden Anzeichen des weltweiten Kli-mawandels begreiflich gemacht.

rausforderungen des Klimawandels“ begreif-lich machte. Schellnhubers Potsdam-Institutfür Klimafolgenforschung, dessen Arbeitweltberühmt und weltweit anerkannt ist, hatDaten und Fakten, Voraussagen und Kalkula-tionen, aber auch Spekulationen, Thesen undHypothesen auf vielen Feldern dieses weitenThemas zusammengetragen, analysiert undbewertet, deren antizipatorische Substanz je-den denkenden und fühlenden Menschen zurpraktischen Besinnung bringen könnenmüsste. Schellnhuber hat sie in eindringlicherund überzeugender Art und Weise präsen-tiert, die noch lange nachwirkte.

Übrigens: Auf der Website des Instituts, daswissenschaftlich und gesellschaftlich rele-vante Fragestellungen in den Bereichen Glo-baler Wandel, Klimawirkung und nachhaltigeEntwicklung untersucht und zusammen mitNatur- und Sozialwissenschaftlern interdis-ziplinäre Einsichten erarbeitet, ist eine sehrgroße Fülle unabhängig erarbeiteter ein-schlägiger Informationen versammelt. Siekönnen jedermann jederzeit allfällig benötig-te Argumente mit mannigfachen Inhaltenund in verschiedenen Darstellungsvariantenvermitteln. Die wichtigsten methodischenAnsätze des Instituts sind die System- undSzenarienanalyse, quantitative und qualitati-ve Modellierungen, Computersimulationenund die Datenintegration. Die Ergebnisse derArbeit des Instituts bieten nach eigener Dar-stellung „eine robuste Grundlage für Ent-scheidungen in Politik, Wirtschaft und Zivil-gesellschaft“. Klaus Werwath

Umfrage des Consortium of European Building Control:Digitales Bauordnungsrecht ist europaweit auf gutem Weg

Die Arbeitsgruppe E-Delivery im Consor-tium of European Building Control(CEBC), der internationalen Vereinigungvon Ministerien, Verbänden und Organi-sationen mit Zuständigkeiten für dieBauaufsicht in den europäischen Mit-gliedstaaten, hat kürzlich unter seinenMitgliedern eine Umfrage durchgeführt,um den aktuellen Status der digitalenBauantrags- und Baugenehmigungsver-fahren zu erheben. Fazit: Die Digitalisie-rung im Bauordnungsrecht zeigt inEuropa guten Fortschritt.

In der CEBC-Arbeitsgruppe E-Delivery arbei-tet als aktives Mitglied und als Vertreter der

Bundesvereinigung der Prüfingenieure fürBautechnik (BVPI), die seit vielen JahrenMitglied im CEBC ist, deren Geschäftsführer,Dipl.-Ing. Manfred Tiedemann, mit. Er stell-te die deutschen Antworten auf die CEBC-Umfrage bereit. Sie wurden, so teilte Tiede-mann dazu mit, unter maßgeblicher Beteili-gung jener Referenten erstellt, die im Rah-men der Arbeitstagung der Bundesvereini-gung der Prüfingenieure und Prüfsacherver-ständigen für Bautechnik in Augsburg 2016zum Thema Digitalisierung vorgetragen hat-ten (siehe auch DER PRÜFINGENIEUR; Heft49, Seite 39). Weiterhin wurde die Ge-schäftsleitung der Initiative Planen Bauen4.0 einbezogen.

Die Auswertung der CEBC-Umfrage ist abge-schlossen. Ihre Ergebnisse werden in Kürze inBerichtsform veröffentlicht. Sie zeigen, dassin den Nachbarländern Deutschlands ein gu-ter Status der Digitalisierung zu konstatierenist.

In einer Sitzung im September 2017 habendie Vertreter des finnischen Bauministeriums,einer Nachbarkommune Helsinkis und einerbeauftragten Fachfirma konkret erläutert undpraktisch demonstriert, mit welcher Konse-quenz und Effektivität im Jahre 2014 sie dieeigene Umstellung auf die vollständige Digi-talisierung begonnen hatten und wie sie heu-te erfolgreich betrieben wird.

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Der Prüfingenieur | November 2017 11

NACHRICHTEN

Karl Morgen wurde 65: Er vereint kreatives Arbeiten mitinterdisziplinärem Denken und VerantwortungsbewusstseinAm 19. März hat Dr.-Ing. Karl Morgen seinen65. Geburtstag gefeiert. Für uns ist dies Gele-genheit, Werdegang und Wirken unseres Se-niorpartners zu würdigen. Bereits zum 60.Geburtstag wurden an dieser (DER PRÜFIN-GENIEUR, Heft 40, Seite 15) und an andererStelle [1] die Leistungen von Karl Morgenumfangreich beleuchtet. Deshalb soll hier derSchwerpunkt auf seine jüngeren Leistungengelegt werden.

Karl Morgen wurde in Isny geboren und nahm1972, inspiriert durch das zu dieser Zeit fertig-gestellte Olympiadach in München, das Bau-ingenieurstudium an der Technischen Hoch-schule Fridericiana zu Karlsruhe auf, das er1977 „Mit Auszeichnung“ abschloss. Für sei-ne herausragende Leistung erhielt er noch imgleichen Jahr zwei Auszeichnungen, die „Tul-la-Medaille“ sowie den „Bilfinger-Berger-Preis“. Anschließend war Karl Morgen wis-senschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl fürBaustatik der Universität (TH) Karlsruhe undpromovierte 1983 „Mit Auszeichnung“ mitder Arbeit „Berechnung orthotroper Recht-eckplatten nach der nichtlinearen Elastizitäts-theorie für beliebige Randbedingungen“.

Nach einer kurzen Tätigkeit als Mitarbeiterim Ingenieurbüro Harrer in Karlsruhe wech-selte Karl Morgen 1984 in die HamburgerNiederlassung der Bauunternehmung Dy-ckerhoff & Widmann, um dort als Bauleiterauf der Baustelle tätig zu werden. Nach ei-nem mehrmonatigen Ausbildungs-Aufenthaltals Mitarbeiter bei Lockwood Greene, Archi-tects and Engineers in New York trat KarlMorgen 1986 in das Hamburger Ingenieurbü-ro Dr.-Ing. Windels � Dr.-Ing. Timm als Ange-stellter ein. Bereits zwei Jahre später wurdeer 1988 in die Partnerschaft aufgenommen.So entstand das „M“ von WTM.

In den ersten Jahren als junger Partner wid-mete sich Karl Morgen insbesondere derTragwerksplanung anspruchsvoller Hochbau-projekte. Zwei Jahre nach Eintritt in die Part-nerschaft erwarb er dann die Anerkennungals Prüfingenieur für die FachrichtungenStahlbau und Massivbau sowie wenig späterauch für die Fachrichtung Holzbau. 1995folgte die Anerkennung als Prüfingenieurvom Eisenbahn-Bundesamt (EBA).

Heute ist die Liste der Projekte, die Karl Mor-gen fachlich und konzeptionell geprägt hat,

lang und umfasst alle Tätigkeitsfelder unse-res Ingenieurunternehmens. Sie reicht vonProjekten der Tragwerksplanung über Projek-te aus dem Industriebau bis hin zu großen In-frastrukturplanungen wie beispielsweise dieGesamtplanung für den Röntgenlaser XFEL inHamburg oder aktuell die Mitwirkung an derPlanung des Absenktunnels für die Fehmarn-belt-Querung.

Die fachlichen Erfolge von Karl Morgen ba-sieren auf fundierten Theoriekenntnissen, ge-paart mit der Gabe, für komplizierte Zusam-menhänge einfache, ingenieurmäßige Lösun-gen zu finden. Beispielhaft sei hier die Wei-terentwicklung der fugenlosen Bauweise imHochbau und im Wasserbau genannt.

Als Unternehmer hat er maßgebend denWandel des Büros Windels Timm Morgen zuder heutigen Ingenieurgesellschaft WTM En-gineers vorangetrieben.

Darüber hinaus sieht Karl Morgen seine Auf-gabe aber auch in der Mitarbeit in berufs-ständischen Organisationen sowie in derWahrnehmung ehrenamtlicher Tätigkeiten,die heute einen hohen Anteil seiner Zeit be-anspruchen. Von 1995 bis 2012 war er Lan-desvorsitzender der Prüfingenieure für Bau-

technik (VPI) in Hamburg und von 1997 bis2013 Vorstandsmitglied der HamburgischenIngenieurkammer-Bau (HIK). Seit 1998 istKarl Morgen Mitglied des FachausschussesUfereinfassung der Hafentechnischen Gesell-schaft (HTG), seit 2010 Mitglied im Vorstandder HTG und seit 2012 stellvertretender Vor-sitzender der HTG sowie seit 2005 stellvertre-tender Vorsitzender der Studiengesellschaftfür unterirdische Verkehrsanlagen (STUVA).Nicht zuletzt ist sein langjähriges, unermüdli-ches Engagement für eine praxisgerechteNormung besonders hervorzuheben.

Die Verleihung der Emil-Mörsch-Denkmünzeanlässlich des Deutschen Bautechnik-Tagesam 23. April 2015 steht stellvertretend fürzahlreiche Anerkennungen. In der Laudatioheißt es: „Er vereint auf höchstem Niveausolche Tugenden, denen sich auch der Deut-sche Beton- und Bautechnik Verein verpflich-tet fühlt: kreatives und gewissenhaftes Arbei-ten unter Verknüpfung von Wissenschaft undPraxis, aufgeschlossenes und interdisziplinä-res Denken, gesellschaftliches Engagementund Verantwortungsbewusstsein beim eige-nen Handeln“.

Insbesondere in den letzten Jahren war esaber auch ein Anliegen von Karl Morgen,Wissen und Werte weiterzugeben. So ist ernational und international stets ein gern ge-sehener Vortragender auf Tagungen, Foren,Konferenzen oder Symposien. Eine große An-zahl von Veröffentlichungen über Themenaus dem gesamten Ingenieurbereich belegtdies eindrucksvoll. Im Wintersemester2016/2017 übernahm Karl Morgen zusätzlichnoch die Vorlesung „Entwurf und Konstrukti-on von Betontragwerken“ am Institut fürMassivbau der Technischen Universität Ham-burg-Harburg.

Seine Kollegen und Freunde wünschen KarlMorgen zu seinem 65. Geburtstag alles Gute,mehr Zeit für seine Familie und sein Hobby,das Drachensegeln, und vor allem Gesundheit.

Ulrich Jäppelt, Stefan Ehmann, Alexander Steffens, Hans Scholz,

Otto Wurzer, Helmut Heiserer

[1] Manfred Curbach: Karl Morgen – einerder ganz Großen im Bauwesen wird 60Jahre alt. Beton- und Stahlbetonbau 107(2012), Heft 4, S. 276.

WURDE 65 JAHRE ALT: der langjährige Vorsit-zende der Landesvereinigung der Prüfinge-nieure in Hamburg, Dr.-Ing. Karl Morgen, Ge-schäftsführender Gesellschafter und Senior-partner im Ingenieurunternehmen WTM En-gineers in Hamburg

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NACHRICHTEN

12 Der Prüfingenieur | November 2017

Die vpi-Landesvereinigung NRW fördert auch in diesemJahr wieder 40 Studierende des Bauingenieurwesens Die Landesvereinigung der Prüfingenieu-re für Baustatik in Nordrhein-Westfalen(vpi-NRW) hat in diesem Jahr fortge-setzt, was sie im vergangenen Jahr be-gonnen hatte: Die Förderung des drin-gend benötigten studentischen Nach-wuchses in Nordrhein-Westfalen. Diesgeschieht im Rahmen des Deutschland-stipendiums, mit dem, in Zusammenar-beit mit dem Bundesministerium für Bil-dung und Forschung, jedes Jahr 40 Stu-denten und Studentinnen des Bauinge-nieurwesens mit Vertiefung im konstruk-tiven Ingenieurbau finanziell direkt ge-fördert werden.

Das Deutschlandstipendium ermöglicht alsöffentlich-private Partnerschaft im Bildungs-

bereich jungen Talenten Bildungsperspekti-ven unabhängig von deren sozialer Herkunft.Es sieht während der vier Semester des Mas-terstudiums für besonders qualifizierte Stu-denten eine monatliche Zuwendung in Höhevon 150 Euro vor, die der Bund um die glei-che Summe erhöht, sodass ein monatlichesDeutschlandstipendium von 300 Euro je Sti-pendiat/in entsteht.

Was die Unterstützung nicht nur finanziell,sondern auch ideell bewirkt, erfahren die Ver-treter der Landesvereinigung bei ihrer Teil-nahme am Auswahlverfahren, im persönli-chen Kontakt mit den Stipendiaten und beider Übergabe der Urkunde im Rahmen einesFestaktes (siehe Bildkasten unten). Dabeiwird von den Auslobenden in kurzen State-

ments Einiges an eigener Erfahrung an dienächste Generation weitergegeben und einausbaufähiger Kontakt zu den zukünftigenAbsolventen hergestellt. Ziel des Stipendi-ums ist es, die Studierenden zu motivierenund bei ihren weiteren Schritten auf demWeg ins Berufsleben zu begleiten.

Die Förderung findet an der FH Aachen, derRWTH Aachen, der Hochschule Bochum,der Ruhr-Universität Bochum, der TU Dort-mund, der Universität Duisburg-Essen, derFH Köln, der FH Münster, der UniversitätSiegen und der Bergischen UniversitätWuppertal statt.

Dr.-Ing. Ralf Grube, Essen, Dr.-Ing. Wolfgang Roeser, Aachen

… und der Rheinisch-Westfäli-schen Technischen HochschuleAachen, wo deren Rektor, Prof.Dr.-Ing. Ernst Schmachtenberg(l.), dem Initiator des Stipendi-ums dankte, dem Vorsitzendender vpi-NRW, Dipl.-Ing. Alexan-der Pirlet.

… Bergischen UniversitätWuppertal (mit Dr.-Ing. Thanh

Nhan Nguyen (links), Mitglied des Technischen

KoordinierungsausschussesNRW, …

DAS DEUTSCHLANDSTIPENDIUM der Landesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik in Nordrhein-Westfalen wurde in diesem Jahr vergeben an Studentinnenund Studenten der …

… Ruhr-Universität Bochum (mit Dipl.-Ing. Oliver Hennig (Mitte), Mitglied des Technischen KoordinierungsausschussesNRW), …

… Hochschule Bochum (mit Professor Dipl.-Ing. Balthasar Gehlen (rechts), dem Vorsit-zenden des Technischen Koordinierungsaus-schusses NRW), …

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NACHRICHTEN

Der Prüfingenieur | November 2017 13

39. Internationales Symposium der IABSE in Vancouver:BVPI zur Mitarbeit in der Working Group 8 eingeladenDie Bundesvereinigung der Prüfinge-nieure für Bautechnik (BVPI) ist eingela-den worden, in einer der weltweit ein-flussreichen Arbeitsgruppen der Interna-tionalen Vereinigung für Brückenbau undHochbau (IABSE) mitzuarbeiten.

Die Einladung erfolgte als Reaktion auf einenVortrag, den Prof. Dr.-Ing. Eric Brehm (Bens-heim) als Delegierter der Bundesvereinigungder Prüfingenieure für Bautechnik (BVPI) an-lässlich des diesjährigen Symposiums derIABSE (International Association of Bridgeand Structural Engineers) in Vancouver ge-halten hatte, das parallel zur Arbeitstagung2017 der BVPI in Potsdam stattfand (sieheSeite 6).

Brehms ausführliches Referat vor dem Ple-num des IABSE-Kongresses behandelte denUnterschied zwischen Zuverlässigkeit und Si-cherheit und erklärte die Wichtigkeit der pro-phylaktischen Verhinderung und wirksamenBeseitigung menschlicher Fehler durch dasVier-Augen-Prinzip.

Dieses Referat war nach Brehms Einschät-zung auch deshalb so wichtig, weil das inter-national zusammengesetzte Auditorium, vordem Brehm sich äußern konnte, vielfachnicht oder nur unvollständig über die Vorzü-

ge des deutschen bautechnischen Prüfsys-tems unterrichtet ist. Vielfache Reaktionenauf die Beschreibung der unabhängigen Tä-tigkeit und der bauordnungsrechtlichen Stel-lung des deutschen Prüfingenieurs und Prüf-sachverständigen und seiner offensichtlichenvolkswirtschaftlich messbaren Bedeutunghat hier, wie bei anderen, früheren Gelegen-heiten, immer wieder Erstaunen und interes-sierte Verwunderung hervorgerufen, eine Re-aktion, die dem Vorstand der BVPI unter demAspekt des von ihm gewünschten und be-rufspolitisch angestrebten Exports des deut-schen bautechnischen Prüf- und Überwa-chungsprinzips in andere Länder der Welt –und vor allem der EU – notabene nicht unge-legen gekommen sein dürfte.

Brehms Vortrag ist jedenfalls, so wurde be-richtet, hervorragend aufgenommen worden.Zusammen mit seiner und Prof. Dr.-Ing. Ro-bert Hertles früherer Veröffentlichung zu die-sem Thema* führte Brehms Referat auch da-zu, dass die Vertreter der BVPI in die WorkingGroup 8 der IABSE (Forensic Structural Engi-neering) eingeladen worden sind. Über dieseArbeitsgruppe besteht die Möglichkeit, Ver-öffentlichungen über technische Themen undüber das Vier-Augen-Prinzip weltweit zu plat-zieren, um damit weitere zitierfähige Texte zuschaffen, die der Normungsarbeit dienen und

in der politischen Diskussion verwendet wer-den können.

An dem internationalen Kongress der IABSEnehmen jedes Jahr hunderte von Ingenieurenaus der ganzen Welt teil. In Vancouver sindinsgesamt über 450 Vorträge in mehreren pa-rallelen Sessions gehalten worden. Ergänztwurde dieses Programm von zahlreichen Pos-ter-Präsentationen über aktuelle Forschungs-arbeiten.

Der diesjährige Kongress stand unter demMotto „Engineering the future“. Traditionellstehen Brücken, deren Planung und Ausfüh-rung im Fokus, in Vancouver wurden darüberhinaus aber auch viele andere Themen undProbleme des konstruktiven Ingenieurbausbehandelt. Vor allem die weltweite Entwick-lung der Normen und der politischen Rand-bedingungen in bestimmten Mitgliedslän-dern der IABSE wurde, wie in den Jahren zu-vor, auch in diesem Jahr, jeweils bezogen aufdie Arbeit der Ingenieure, ausführlich disku-tiert.

* Brehm, E. & Hertle, R. „Failure Identificati-on: Procedural Causes and CorrespondingResponsibilities“, Structural Engineering In-ternational Nr. 3/2017, pp. 402-408, ISSN1016-8664, IABSE, Zürich, 2017

300 Teilnehmer beim BÜV-Seminar für Sachkundige Planerfür Schutz und Instandsetzung von BetonbauwerkenWeit über 300 Ingenieurinnen und Inge-nieure haben dieses Jahr eine der vielenrenommierten Fachveranstaltungen be-sucht, mit denen der Bau-Überwa-chungsverein (BÜV) seit einigen JahrenSachkundige Planer für den Schutz unddie Instandsetzung von Betonbauwerkenfortbildet.

Auch das diesjährige BÜV-Fortbildungssemi-nar am 12. und 13. Oktober zeichnete sichdurch die kooperative Beteiligung des Insti-tuts für Bauforschung (ibac) der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule(RWTH) Aachen im Rahmen des 53. AachenerBaustofftages aus.

Den Teilnehmern wurde an diesen beiden Ta-gen eine Vielzahl von Themen aus Forschungund Wissenschaft sowie aus der Praxis prä-sentiert, dem Inhalt und der Aufgabe der In-standhaltungsrichtlinie des Deutschen Aus-schusses für Stahlbeton (DAfStb) folgend, de-ren Einführung zwar noch aussteht, derenGehalt aber den Stand der Technik repräsen-tiert.

Übereinstimmenden Berichten aus dem Teil-nehmerkreis zufolge ist dieses didaktischeProzedere auf eine überaus positive Reso-nanz gestoßen. So sei es den Veranstalterngelungen, neueste Erkenntnisse anhand pra-xisbezogener Beispiele zu vermitteln.

Wie in den vergangenen Jahren wurden auchin diesem Jahr am zweiten Veranstaltungstagneben Fachvorträgen praktische Vorführun-gen zur Bestimmung der Betondeckung undzur Bestimmung des Wassergehaltes durch-geführt.

Neben vielen schon zertifizierten Sachkundi-gen Planern waren zu diesem Symposium desBÜV auch viele solcher Ingenieure eingeladenund zahlreich zugegen, die an diesem Semi-nar deswegen Interesse hatten, weil sie sichin ihrer täglichen Arbeit mit dem Schutz undder Instandsetzung von Betonbauwerkenpraktisch befassen. Sie erhielten hier wertvol-le Informationen für die eigene Zertifizierung.

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NACHRICHTEN

14 Der Prüfingenieur | November 2017

Aktueller Bericht über den Stand der Arbeiten derInitiative Praxisgerechte Regelwerke im BauwesenIn den multilateralen Verhandlungen werden jetztbislang unerkannte Defizite der Normungsarbeit erkannt

Nach dem erfolgreichen Abschluss derPhase 1 der Initiative Praxisgerechte Re-gelwerke im Bauwesen (PRB), in der diebestehenden Eurocodes auf Schwach-stellen und Verbesserungsmöglichkeitenund hinsichtlich ihrer Praxisnähe unter-sucht worden sind, laufen nunmehr dieArbeiten der zweiten von insgesamt vierPhasen. Der Zeitplan bis zum Abschlussdieser aktuellen Normengeneration wirdsich nach derzeitiger Einschätzung umbis zu zwei Jahre verzögern. In dieserPhase steht der Transfer der in den ver-gangenen Jahren erarbeiteten Ergebnis-se in die europäischen Gremien im Vor-dergrund. Die Projektarbeit in der PRBwird dabei weiterhin in sechs Projekt-gruppen geleistet.

1 Allgemeines Die Überarbeitung des Eurocodes geschiehtbekanntlich in den Working Groups (WG) undSub-Committees (SC) des CEN/TC 250. Diefachliche Bearbeitung erfolgt in den jeweilszugeordneten Project Teams (PT), welche ihreErgebnisse an die übergeordneten WorkingGroups und Sub-Committees zur Abstim-mung übergeben. Für eine Einflussnahme aufden Normungsprozess ist eine Mitgliedschaftim Project Team sehr bedeutsam. PRB istaber mittlerweile in der vorteilhaften Lage,dass viele ihrer ehrenamtlichen Mitarbeiterin den Project Teams präsent sind und Ein-fluss nehmen können. Mittlerweile liegen dieersten Berichte der Project Teams vor, unteranderem über EN 1990.

Die wesentliche Aufgabe der Projektgruppeninnerhalb der PRB ist die Diskussion, Prüfungund Bewertung der laufend eingehendenVorschläge für die Weiterentwicklung der Eu-rocodes, insbesondere von anderen europäi-schen Ländern. Diese werden eingehend ge-prüft, um festzustellen, welche Beiträge diedeutschen Interessen unterstützen, welchesinnhaften Ergänzungen die Positionen vonPRB beziehungsweise welche absolut nichtmit den PRB-Vorgaben für praxisnahe Nor-men übereinstimmen. Diese Prüfung ist sehrkomplex, da die europäische Normungsstruk-tur kleinparzellig organisiert ist. Den meistenSub-Committees sind mehrere Working

Groups und Project Teams zugeordnet. DieProject Teams liefern eigene Berichte, welchebereits auf die Übereinstimmung mit der Ziel-setzung von PRB überprüft werden sollten,um frühzeitig auf die Diskussion in den Wor-king Groups einwirken zu können. Der Um-fang ist dabei immens – alleine das Sub-Committee 7 (Geotechnik) weist sechs Pro-ject Teams auf.

Nachfolgend wird der aktuelle Stand der Ar-beit von PRB zusammengefasst. Für detail-liertere Informationen über Phase 1 der ein-zelnen Projektgruppen wird auf [1], [2], [3]und [4] verwiesen. Alle Ergebnisse der erstenPhase sind als Abschlussberichte vom Bun-desinstitut für Bau-, Stadt- und Raumfor-schung (BBSR) veröffentlicht worden, die Ar-beitsergebnisse der sechs Projektgruppensind in Form von Synopsen (zweispaltigzwecks Vergleichs von Originaltexten mitdem jeweiligen PRB-Vorschlag) dokumentiertund können von den Mitgliedern der BVPI inderen Geschäftsstelle in Berlin angefordertwerden. Damit ist seitens der BVPI derWunsch einer Bewertung des PRB-Vorschlagsdurch die in der Praxis stehenden Kollegenverbunden.

2 Stand der Arbeiten in den Projekt-gruppenDie Vertreter der PRB-Projektgruppen setzensich aktuell für die Durchsetzung der PRB-Er-gebnisse in den jeweiligen nationalen Nor-mungsausschüssen (NA Bau) ein. Eine detail-lierte Darstellung des momentanen Arbeits-stands und eine Abschätzung der Erfolgsquo-te ist aufgrund der aktuell auf den verschie-densten Ebenen andauernden Diskussionennicht möglich. Hinsichtlich der bearbeitetenThemen wird auf den jüngsten Statusberichtin der Ausgabe 49 des PRÜFINGENIEURS(Seiten 14/15) verwiesen.

Neben der Mitteilung der Ergebnisse nachEuropa stehen in einigen Projektgruppenauch noch Vergleichsberechnungen an kon-kreten Beispielen auf Basis der Regelungender Eurocodes und der von PRB erarbeitetenVorschläge auf dem Plan. Diese sollen dieDurchsetzung der PRB-Ergebnisse in Europaunterstützen.

3 Bisheriger Erfolg von PRB und weite-re EntwicklungAuch wenn sich bisher noch nicht angebenlässt, in welchem Umfang und in welcher De-tailtiefe die Ergebnisse der Phase 1 von PRBin die neue Normengeneration übernommenwerden, so kann man doch einige wesentli-che Erfolge benennen. Dabei sind insbeson-dere die gewonnenen Erfahrungen im euro-päischen Normenprozess von unschätzbaremWert. Dank diesen ist es nun möglich, dieweitergehende Normenarbeit in Deutschlanderfolgsversprechender zu gestalten.

Die Tatsache, dass die Erfahrungen innerhalbvon PRB fachübergreifend geteilt werdenund sich nicht mehr auf einzelne Fachrichtun-gen begrenzen, ist dabei als äußerst wertvollzu beurteilen. Gleichlautende Erfahrungen inden Normungsausschüssen, insbesonderedie Begegnung der deutschen, ehrenamtlichtätigen Normungsvertreter mit professionel-len, hauptberuflichen Normungsvertreternanderer europäischer Staaten, wurden aussämtlichen Fachgebieten berichtet und ma-chen es möglich, strukturelle und organisato-rische Defizite in der Normungsarbeit aufzu-decken und zu kompensieren.

Die gemeinsamen Erfahrungen führen außer-dem zu einem neuen Bewusstsein in dendeutschen Normungsausschüssen – wegvom national orientierten Diskurs hin zur eu-ropäischen Diskussion und zu stärkerem na-tionalen Zusammenhalt. Es wäre wünschens-wert, wenn sich diese Herangehensweise aufDauer festsetzen und verstärken würde.

Die fachübergreifende Diskussion innerhalbvon PRB erlaubt es, zusätzliche, „horizonta-le“ Themen rechtzeitig zu identifizieren. Hiersind insbesondere die Qualität von Bauwer-ken und der bautechnischen Prüfung (An-hang B zu EN 1990) sowie der Zusammen-hang von Bemessungs- und Produktnormen(Bauproduktenverordnung) zu nennen.

Die Diskussion dieser Themen innerhalb vonPRB war und ist durchaus kontrovers, abersehr hilfreich, und sie wurde in die deutschenSpiegelausschüsse weitergetragen. Insbe-sondere der „Anhang B“, ist für die zukünfti-

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NACHRICHTEN

Der Prüfingenieur | November 2017 15

ge Entwicklung des Berufsbildes des Prüfin-genieurs und Prüfsachverständigen von ent-scheidender Bedeutung. Hier konnte durchdie Diskussion innerhalb von PRB eine ge-meinsame Position mit der Bauindustrie erar-beitet werden, welche den unabhängigenPrüfingenieur/Prüfsachverständigen klar undeindeutig als unerlässlich definiert. Dies istenorm wichtig für die Kommunikation mitden europäischen Normenausschüssen, da inEuropa die Funktion der bautechnischen Prü-fung sehr unterschiedlich geregelt ist

Das zweite der oben genannten Themen hatzwangsläufig die Erweiterung des bisherigenInhalts der PRB-Arbeit (nämlich die Bearbei-tung der Bemessungsnormen) um Produkt-und Ausführungsnormen zum Gegenstand.Dabei geht es nicht um eine redaktionelleoder inhaltliche Überarbeitung dieser Nor-men, sondern insbesondere um die Klärungihres Zusammenhangs und um deren Ab-gleich mit den Bemessungsnormen.

Die Diskussion über den Zusammenhangzwischen Produkt- und Bemessungsnormen,der unter dem Regime der Bauproduktenver-ordnung immer noch im Detail ungeklärt undproblematisch ist, wurde durch die Gesprä-

che und Untersuchungen von PRB signifikantbeeinflusst.

4 FazitDie Phase 1 von PRB ist abgeschlossen. DiePhase 2 ist in vollem Gange. Die Abschluss-berichte der Phase 1 liegen zum (kostenlo-sen) Download bereit (und zwar als Kurzfas-sungen und als Langfassung; Adresse:https://www.bauinformation.de – Suchwort:Verbesserung der Praxistauglichkeit).

Die Ergebnisse der PRB-Arbeitsphase 1 wer-den jetzt nach Europa hineingetragen unddort weitgehend positiv aufgenommen. In-wieweit die Ergebnisse sich in den endgülti-gen Normentexten wiederfinden werden,bleibt abzuwarten, die bisher erzielte Reso-nanz ist aber sehr vielversprechend.

Es muss dabei ausdrücklich festgehalten wer-den, dass PRB bisher erfolgreich arbeitet. DerErfolg beruht dabei auf mehreren Punkten:Nicht nur ist es gelungen, bereits einige Vor-schläge aus Deutschland erfolgreich inEuropa durchzusetzen und den Normungs-prozess positiv zu beeinflussen, es wurdeauch die Normungsarbeit professionalisiert.Zusätzlich, insbesondere durch den Einsatz

des Lenkungsausschusses, wurde es möglich,übergreifende Themen in ihrer Dringlichkeitzu identifizieren und anzugehen (z.B. ThemaEN 1990 – Anhang B). Außerdem wurde dasBewusstsein für die Vorgänge in der Nor-mung und die erforderliche Arbeit wesentlichgeschärft.

Prof. Dr.-Ing. Eric Brehm, BVPIDr.-Ing. Heinrich Bökamp, BVPI

Literatur[1] Brehm E. „Das Ergebnis des ersten inter-

nationalen Workshops der Initiative Pra-xisgerechte Normen übertraf die Erwar-tungen“, Der Prüfingenieur, Ausgabe 46,VPI, Berlin, Mai 2015

[2] Prokop I. „Bericht über die pränormativeArbeit der Bauingenieure an den Euroco-des“, Der Prüfingenieur, Ausgabe 45,VPI, Berlin, November 2014

[3] Brehm, E. „Aktueller Bericht über denStand der Arbeiten der Initiative Praxis-gerechte Regelwerke im Bauwesen“, DerPrüfingenieur, Ausgabe 48, Mai 2016

[4] Brehm, E. „Aktueller Bericht über denStand der Arbeiten der Initiative Praxis-gerechte Regelwerke im Bauwesen“, DerPrüfingenieur, Ausgabe 49, November2016

Leitfaden der Bundesvereinigung der Prüfingenieurefür die statisch-konstruktive BauüberwachungDie Bundesvereinigung der Prüfinge-nieure für Bautechnik hat für das Ge-biet der Standsicherheit erstmals ei-nen Leitfaden für die statisch-kon-struktive Bauüberwachung herausge-geben.

In diesem Leitfaden finden sich grundle-gende Hinweise für die Tätigkeiten derPersonen, die nach den Landesbauordnun-gen für die Bauüberwachung verantwort-lich sind. Die Aufgaben der Bauleitunghinsichtlich der Standsicherheit sind bei-spielhaft dargestellt. Es wurden die we-sentlichen Themengebiete zusammenge-fasst, für die Bauüberwachungsmaßnah-men erforderlich sind und die wichtigstenUnterlagen aufgelistet, die im Verlauf derBaumaßnahme vorzulegen sind.

Mit dieser ersten Ausgabe des Leitfadens,der unter der Regie des Technischen Ko-ordinierungsausschusses (TKA) der Bun-desvereinigung entstanden ist, wird einsinnvoll gegliederter Überblick über dieBauüberwachungstätigkeit in den ver-schiedenen Bauarten (zum BeispielGrund-, Massiv-, Metall- und Holzbau)gegeben, wobei jedes Themengebiet mitillustrierten Beispielen von Baumängelnund Bauschäden versehen ist, die durchPrüfingenieure oder Prüfsachverständigeim Rahmen ihrer Bauüberwachungstätig-keit festgestellt worden sind. Nur durchdiese Bauüberwachungstätigkeiten derPrüfingenieure beziehungsweise Prüf-sachverständigen konnten, so belegendie Beispiele, größere Schäden verhindertwerden.

Die BVPI will ihren Leitfaden sukzessivefortschreiben und bittet ihre Mitgliederdeshalb, ihr weitere Beispiele für dienachweisbare Effizienz der unabhängigenBauüberwachung durch Prüfingenieureoder Prüfsachverständige an die Hand zugeben, die in die kommenden Auflagendes Leitfadens aufgenommen werdenkönnen.

Der Leitfaden kann auf der Internetseiteder Bundesvereinigung der Prüfingenieurefür Bautechnik als PDF-Dokument herun-tergeladen werden.

www.bvpi.de Erarbeitete Richtlinien

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16 Der Prüfingenieur | November 2017

Die neue Landesbauordnung von NRW bestimmte dieAgenda des 26. Bautechnischen Seminars NRW in Ratingen Ein Resultat: Die novellierten Brandschutzanforderungengeben dem mehrgeschossigen Holzbau neue Impulse

Zum 26. Mal ist am 16. Oktober 2017 dastraditionelle Bautechnische SeminarNRW durchgeführt worden, das Neuig-keiten über das Bauproduktenrecht inNRW und über die Impulse vermittelte,die von der novellierten Landesbauord-nung NRW für den Holzbau ausgehenwerden. Darüber hinaus wurden die neu-en LBO-Brandschutzanforderungen inNRW, Details der geplanten neuen Stahl-bau-Richtlinie vorgestellt, die Praxis desBIM erläutert und Planungstipps fürGlas treppen gegeben.

Auch zu diesem Seminar hatten das Ministe-rium für Verkehr des Landes Nordrhein-West-falen, die Landesvereinigung der Prüfinge-nieure vpi NRW, der Landesverband der Be-ratenden Ingenieure VBI und die Ingenieur-kammer Bau NRW in die Dumeklemmer-Hal-le in Ratingen eingeladen.

Dort begrüßte der Vorsitzende der Landesver-einigung der Prüfingenieure NRW, Dipl.-Ing.Alexander Pirlet, die zahlreich aus dem gan-zen Land und darüber hinaus in Ratingen er-schienenen Ingenieure. Er gab das Wortgleich danach an Dipl.-Ing. Andreas Plietzvom Referat Bautechnik des nordrhein-west-fälischen Verkehrsministeriums weiter, dasneuerdings auch für das Bauen und Wohnenzuständig ist. Ihm oblag es, frische Informa-tionen über das neue Bauproduktenrecht inder nordrhein-westfälischen Landesbauord-nung vorzustellen, die bezüglich der Bauar-ten und Bauprodukte am 28. Juni 2017 inKraft getreten ist. Plietz ging vor allem aufdie neuen Bestimmungen ein und erläutertedie Begriffe „allgemeine Bauartengenehmi-gung“ (früher „Zulassung“) und „vorhaben-bezogene Bauartengenehmigung“ (früher„Zustimmung im Einzelfall“). Er zeigte Bei-spiele für die Konkretisierung der neuen Ver-waltungsvorschrift Technische Baubestim-mungen (VVTB), welche die bisherige Baure-geliste und die Musterliste der TechnischenBaubestimmungen ablöst. Bis zum Inkrafttre-ten der Muster-VVTB (MVVTB) sind, so sagtePlietz, in NRW Übergangsregelungen anzu-wenden. Das Inkrafttreten der weiteren Teileder neuen Landesbauordnung NRW werdeaber voraussichtlich durch ein Moratorium

um ein Jahr bis auf den 28.12.2018 verscho-ben. Dabei seien inhaltliche Anpassungendurch die neue Landesregierung zu erwarten.Für Bauanträge, die bis zum 01.10.2018 ein-gereicht werden, gelte altes Recht auchdann, wenn die Baugenehmigung erst nachdem Inkrafttreten der neuen LBO erteilt wer-den wird.

Aus der neuen Landesbauordnung NRW sindImpulse auch für den Holzbau zu erwarten,wie Dr.-Ing. Mandy Peter von der bauart Kon-struktions GmbH & Co. KG (München) in ih-rem Vortrag über das Bauen mit den Brand-schutzanforderungen der neuen LBO in NRWprognostizierte, indem sie die Gebäudeklas-sen erklärte, die aus der Musterbauordnungder Länder (MBO) eingeführt werden sollen.Mit den differenzierten Brandschutzanforde-rungen dieser Gebäudeklassen würden, soPeters, künftig auch der Bau mehrgeschossi-ger Konstruktionen in Holzbauweise ermög-licht beziehungsweise vereinfacht. Zur Unter-mauerung dieser These zeigte sie einerseitsKonstruktionsdetails für Holzständerwändeder Brandschutzklasse REI 60 mit Kapselkri-terium K260 und andererseits Ergebnisse ausBrandschutzversuchen. Außerdem präsen-tierte sie verschiedene Ausführungen vonMassivholzdecken mit Brettsperrholz, Brett-schichtholz und in Holz-Beton-Verbundbau-weise.

Im Rahmen ihres Vortrages über praxisge-rechte Stahlbaunormen erstatteten Prof. Dr.-Ing. Markus Feldmann vom Lehrstuhl fürStahlbau der Rheinisch-Westfälischen Techni-schen Hochschule Aachen und Prof. Dr.-Ing.Jörg Laumann vom Lehrstuhl für Stahlbauder Fachhochschule Aachen Bericht über denStand der Arbeiten an der Richtlinie für dievereinfachte Bemessung gewöhnlicher Stahl-baukonstruktionen, die die IngenieurkammerBau NRW, die Landesvereinigung NRW derPrüfingenieure für Bautechnik und baufor-umstahl in Auftrag gegeben haben. Dieseneue Richtlinie ist vor allem für den allgemei-nen Hochbau gedacht – also zum Beispiel fürGeschossbauten und für Industrie- und Ge-werbehallen mit Kranbahnen. Nach dem Vor-bild der Holzbau-Richtlinie wollen die beidenReferenten in diesem Projekt mit finanziellen

Mitteln der Ingenieurkammer und der vpi desLandes eine praxistaugliche Richtlinie aufGrundlage des Eurocode 3, Teil 1 und Teil 6,erarbeiten. Dabei soll die aufs Wesentlichekomprimierte Richtlinie eine wirtschaftlicheund übersichtliche Bemessung ermöglichen.Ziel ist ein stringenter Aufbau der Richtlinie.Die Bearbeitung soll mittels Handrechnungmöglich sein. Anstelle der Vielzahl von Last-fallkombinationen, wie sie im Eurocode vor-gesehen sind, werden deutlich vereinfachteLastfall-Kombinationen in Anlehnung an DIN18800 ohne ψ-Beiwerte gesetzt. Anhand vonüblichen Rahmentragwerken wurde in um-fangreichen Vergleichsrechnungen gezeigt,dass diese zu annährend den gleichen Be-messungslasten bei deutlich verringertemBerechnungsaufwand führen. Auch werdendie Spannungsnachweise für Querschnitteund Schweißnähte auf das Format der DIN18800 zurückgeführt, das mechanisch we-sentlich einfacher nachzuvollziehen ist. FürBiegedrillknicken wird ein einfacher Ansatzmit einem Ersatzdruckstab in der Biegedruck-zone vorgeführt.

Der Zukunftsforscher Dr. Daniel Dettling vomre:publik-Institut für Zukunftspolitik (Berlin)zeigte in einem weiteren Beitrag die Chan-cen des demografischen Wandels für Gesell-schaft und Wirtschaft auf: Wir werden zu-künftig gesünder, aktiver und länger leben,sagte er, weil er das Altwerden nicht alsSchicksal betrachtet, sondern als einen Pro-zess. In einem Mehrphasen Modell werdedas Rentenalter in Zukunft vermehrt zum„Unruhezustand“ und das „Pro Aging“ zurneuen Philosophie einer Gesellschaft des lan-gen Lebens. Einer Minderheit von zornigen„Silver Zombies“ werde in Zukunft die großeMehrheit der gelassenen und optimistischen„Free Ager“ gegenüberstehen.

Eines der aktuellen Top-Themen der Planerund Bauschaffenden behandelte der Archi-tekt Wolfgang Zimmer von den KZA Architek-ten in Essen: Building Information Modeling(BIM). Die dreidimensionale Darstellung ei-ner Planung wird dabei durch transparenteKommunikationsformen zum kooperativenMiteinander im Planungsteam erweitert. Da-bei kommen den Technik Strukturen der

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NACHRICHTEN

Der Prüfingenieur | November 2017 17

Dipl.-Ing. Kurt Harrer †

„Open-BIM“-Zusammenarbeit mit derSchnittstelle IFC, den Auftraggeber-Informa-tions-Anforderungen (AIA) und dem BIM-Ab-wicklungsplan (BAP) eine zentrale Bedeu-tung zu. Das „BIM Collaboration Format“(BFC) ermöglicht in der Kollisionsprüfung derModelle eine präzise und schnelle Informati-on aller Beteiligten.

Treppen in Glasbauweise waren das Themavon Dr.-Ing. Martin Teich von der Firma Seeleund seinem Co-Autoren Dipl.-Ing. Eric Bussevom Ingenieurbüro Feldmann + WeynandConsulting in Aachen. Transparente Glastrep-

pen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit.Die Konstruktion besteht in der Regel ausGlasstufen und lastabtragenden Glaswan-gen. Die Wangen und die Stufen stabilisierensich gegenseitig. Die Verbindung zwischenStufe und Wange erfolgt mit metallischen Fit-tings, die in das Glas eingelassen werden.Durch ihre Biegesteifigkeit können die Ver-binder die Tragsicherheit sicherstellen, wobeiein duktiles Versagen der metallischen Ver-bindung im Grenzzustand der Tragfähigkeitvor dem Glasversagen angestrebt wird. Auf-grund der zahlreichen Abweichungen vonden technischen Baubestimmungen ist eine

Zustimmung im Einzelfall beziehungsweisevorhabenbezogene Bauartengenehmigungerforderlich.

Das Schlusswort für das diesjährige Bautech-nische Seminar NRW hielt der Präsident derIngenieurkammer Bau NRW, Dr.-Ing. HeinrichBökamp, der den außergewöhnlich hochste-henden sachlichen Inhalt dieses Seminarslobte, das aus dem fachlichen Terminplanervieler Ingenieure jedweder Couleur nichtmehr wegzudenken sei.

Dr.-Ing. Wolfgang Roeser, Aachen

Am 15. Juli 2017 ist im 87. Lebensjahrnach langer schwerer Krankheit Di-plom Ingenieur Kurt Harrer gestorben,der Ehrenvorsitzende der Landesver-einigung der Prüfingenieure für Bau-technik in Baden-Württemberg.

Kurt Harrer hat sich neben seiner Tätigkeitin seinem Karlsruher Ingenieurbüro zeitseines Lebens berufsständisch stark enga-giert. 1973 wurde er in den Vorstand derVPI in Baden-Württemberg berufen, von1983 bis 1995 war er dessen 1. Vorsitzen-der, danach deren Ehrenvorsitzender. Inseine Amtszeit fielen wichtige Entschei-dungen für den Berufsstand in der Bun-desrepublik Deutschland im Allgemeinenund in Baden-Württemberg im Besonde-ren.

Mit seinem Engagement unterstrich KurtHarrer immer wieder die Bedeutung einerstarken berufsständischen Vereinigung.Durch seine integre Art, seine profundenKenntnisse und seinen stetigen Einsatz fürdie Sache hat sich Harrer bei den Prüfinge-nieuren in Baden-Württemberg und in derÖffentlichkeit ein hohes Ansehen erwor-ben.

Harrer wurde am 16. Juni 1930 in Wiengeboren und siedelte 1936 mit seinen El-tern nach Karlsruhe um, wo er 1949 amGoethe-Gymnasium das Abitur ablegte.Trotz der damaligen Kriegswirren konnteer unmittelbar danach die Alma mater Fri-dericiana als Student der Fakultät für Bau-ingenieurwesen besuchen. Er beendete

sein Studium im Jahre 1954 nach nur fünfJahren und trotz paralleler Tätigkeit im In-genieurbüro Fischer. Anschließend arbeite-te er im Konstruktionsbüro der Firma Holz-mann AG, Niederlassung Mannheim. 1956erhielt er das Angebot, in das Ingenieur-büro Fischer als Diplom-Ingenieur einzu-treten. Mit 29 Jahren nahm Harrer, zwi-schenzeitlich Oberingenieur, die Chancewahr, das Büro als alleiniger Inhaber zuübernehmen.

Es ist nicht vermessen zu behaupten, dasser seit dieser Zeit die StadtgeschichteKarlsruhes in baulichen Dingen positiv be-einflusst hat. In Zusammenarbeit mit nam-haften Ingenieurkollegen und Architektenwidmete sich sein Ingenieurbüro der stati-schen und konstruktiven Bearbeitung vonHochbauten, beispielsweise wurde 1960schon der 70 Meter hohe Verwaltungssitzdes Badenwerkes als eines der erstenHochhäuser in Stahlverbundkonstruktionentworfen.

Der Bauboom der 60er und 70er Jahre er-öffnete ein neues Betätigungsfeld: Ausge-hend von der Rationalisierung von Wohn-anlagen erfolgte der Aufbau des Fachbe-reiches “Projektsteuerung”, der heute einwesentliches Element im Leistungsbilddieses Ingenieurbüros darstellt.

Zusammen mit seinen damaligen Part-nern, den Diplom-Ingenieuren EberhardAdam und Andreas Hadisaputro, trieb ergleichzeitig den Ausbau des FachbereichsBrücken- und Tiefbau voran. Seit dieserZeit entstanden hunderte von Brücken aufden Reißbrettern und den CAD-Anlagendes Ingenieurbüros; viele andere wurdengeprüft.

Auch in der Verbandsarbeit war er sehr ak-tiv: 1965 erfolgte der Eintritt in den VBI,1966 die Anerkennung als Prüfingenieurfür Baustatik und die Mitgliedschaft imVPI. 1973 wurde er Mitglied des Rechts-ausschusses sowie des HOAI-Ausschussesund hat in diesem Zusammenhang vieleAuswertungen vorgenommen.

Mit der Errichtung der IngenieurkammerBaden-Württemberg 1990 führten einweiteres Mal seine berufsständischen Vor-stellungen zum Erfolg. Frühzeitig stellte erfest, dass sich auch in den Ingenieurver-bänden nur dann etwas bewegt, wennsich Mitglieder der Gemeinschaft ver-pflichtet fühlen und dazu beitragen, ihrenBerufsstand zu fördern und zu festigen.

Dipl.-Ing. Matthias Gerold

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NACHRICHTEN

18 Der Prüfingenieur | November 2017

Auch in diesem Jahr kamen mehr als 700 Teilnehmerzum Fortbildungsseminar Tragwerksplanung in HessenAcht aktuelle ingenieurtechnische Vorträge vonnamhaften Referenten auf höchstem fachlichen Niveau

Zum mittlerweile schon 31. Mal hat am5. September 2017 in Friedberg dashessische Fortbildungsseminar Trag-werksplanung stattgefunden, eine Ge-meinschaftsveranstaltung der Vereini-gung der Prüfingenieure für Baustatikin Hessen, der Ingenieurkammer Hessenund des Hessischen Ministeriums fürWirtschaft, Energie, Verkehr und Lan-desentwicklung. Und wieder war diesesSeminar bestens besucht: mehr als 700Teilnehmer waren gekommen, um achtVorträge hochrangiger Referenten zuhören, deren Renommee eine Veranstal-tung auf höchstem fachlichen Niveaugewährleisteten. Eine ergänzende Fach-ausstellung bot darüber hinaus, wie je-des Jahr – die Möglichkeit, Kontakte zuknüpfen und sich einen Überblick überaktuelle Trends und Produkte zu ver-schaffen.

Den Reigen der Vorträge des diesjährigenFortbildungsseminars eröffnete BaudirektorDr.-Ing. Dieter Pohlmann vom Hessischen Mi-nisterium für Wirtschaft, Energie, Verkehr undLandesentwicklung (HMWVL), der die Veran-staltung eröffnete, dabei neue bauordnungs-rechtliche Regelungen vorstellte und vor al-lem darauf hinwies, dass es für die unmittel-bare Geltendmachung der Muster-Verwal-tungsvorschrift Technische Baubestimmun-gen (MVV TB), die vom Deutschen Institut fürBautechnik (DIBt) veröffentlicht worden sind,in Hessen noch der öffentlichen Bekanntma-chung der entsprechenden Verwaltungsvor-schrift durch das HMWEVL bedürfe. Außer-dem kündigte Pohlmann an, dass mit dem In-krafttreten der Novelle der Hessischen Bau-ordnung nicht vor Ende des Jahres 2017 zurechnen sei.

Dem fügte der Präsident der Ingenieurkam-mer Hessen (IngKH), Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing.E.h. Udo F. Meißner, in einem kurzen Gruß-wort Informationen über den Stand der Ein-führung des Ingenieurgesetzes bezüglich derFachingenieurinnen und Fachingenieure(IngKH) an. Gemäß der im Staatsanzeiger fürdas Land Hessen veröffentlichten Satzungseien, so Meißner, neun Fachgebiete vorge-sehen, und zwar:

� Arbeitsschutz im Hoch- und Tiefbau, � Barrierefreies Planen und Bauen, � Building Information Modeling (BIM), � Brandmeldeanlagen, � Brandschutz, � Energieeffizienz, � Liegenschaftswesen, � Nachhaltiges Planen und Bauen und� Wasserwirtschaftsplanung.

Meißner erläuterte die Vorgehensweise derEinführung der Fachingenieure und Fachinge-nieurinnen (IngkH) und berichtete, dass be-reits Fachkommissionen für die einzelnenFachgebiete gebildet worden seien, die diefachlichen Anforderungen für die Eintragungerarbeiten. Diese Richtlinien werden, so kün-digte Meißner an, nach der Genehmigungdurch das Wirtschaftsministerium im Staats-anzeiger veröffentlicht, was für die Fachge-biete Energieeffizienz und Brandschutz be-reits erfolgt und für das Fachgebiet Barriere-freies Planen und Bauen in Kürze zu erwartensei. Damit könnten ab sofort Anträge auf Ein-tragung gestellt werden, wobei man wissenmüsse, dass bereits eingetragene Fachplaner(IngKH) sowie Ingenieure mit langjährigerBerufserfahrung und eigenverantwortlichenPlanungs- und Beratungstätigkeiten vom ver-einfachten Eintragungsverfahren profitierenkönnten. Für neue Interessenten seien Fort-und Weiterbildungsveranstaltungen der Inge-nieur-Akademie Hessen (IngAH) in Vorberei-tung.

Meißner informierte die Teilnehmer außer-dem über Probleme mit der Anwendung desHessischen Vergabe- und Tariftreuegesetzes(HVTG). So beklagten viele freiberuflich täti-ge Ingenieure gravierende Missstände beider Ausschreibung und Vergabe von öffentli-chen Aufträgen, beispielsweise

� intransparente Vergabeverfahren, � den hohen bürokratischen und juristischen

Aufwand, � einen mangelnden Leistungswettbewerb, � ruinöse Preiswettbewerbe, � unauskömmliche Honorare, � das Unterlaufen der HOAI, � den unverhältnismäßigen Kostenaufwand

seitens der Auftraggeber sowie

� unbezahlte und unangemessene Akquisiti-onskosten der Auftragnehmer.

Das alles habe, so Meißner, eine erheblichgesunkene Erfolgsquote und eine Verweige-rung von Bietern zur Folge. Für 2017 ist, sokündigte Meißner an, die Evaluation des Ver-gabe- und Tariftreuegesetzes und die Umset-zung der Unterschwellenvergabeordnung(UVgO) auf Landesebene zu erwarten. Zielder Ingenieurkammer Hessen sei es daher, imkonstruktiven Dialog mit der Politik notwen-dige und zukunftsfähige Vorschläge in dieEvaluation einzubringen, damit freiberuflicheDienstleistungen von den neuen bürokrati-schen Restriktionen ausgenommen werden.

Die ingenieurfachlichen Beiträge dieses Se-minars bestritten

� Prof. Dr.-Ing. Ralf Steinmann (Honorarpro-fessor Stahlbau der TU Darmstadt), der sichmit der Dokumentation von Standsicher-heitsnachweisen im Stahlbau und derSchnittstelle zwischen Planung und Ausfüh-rung befasste. Sein Fazit: Software-Nach-weisprogramme setzen zwar die Nachweis-methoden der EN 1993-8 um, aber eine Kom-bination von Anschlüssen an einem Knotenist oft nicht möglich, die Dokumentation seischlecht nachvollziehbar und prüfbar, kon-struktive Aspekte der Fertigung und Montageder Stahlbauteile blieben außer Betracht. Dasbedeute einen erhöhten Abstimmungsbedarfbei integralen Berechnungsmethoden und seisomit nicht wirtschaftlich,

� Dr.-Ing. Oliver Geibig, (Hilti DeutschlandAG), der vor allem über das sogenannte LeanDesign Management (LDM) referierte, dasdie kooperative Zusammenarbeit im BIM-Pla-nungsprozess begleiten könne. Kern dieserMethode sei es, Hersteller, Lieferanten undMontagefirmen in die Prozesskette und da-mit sehr viel früher auch in die Ausführungs-planung einzubinden,

� Prof. Dr.-Ing. Stefan Kimmich (RIB Enginee-ring GmbH, 70567 Stuttgart), der die Heraus-forderungen bei der Nachrechnung und Er-tüchtigung von Straßenbrücken vorstellteund dafür vier Maßnahmen und Investitionen

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NACHRICHTEN

Der Prüfingenieur | November 2017 19

als notwendig darstellte: die ob-jektbezogene Nachrechnung, dieWirtschaftlichkeitsuntersuchung,die Planung der Maßnahmen unddie Erlangung des Baurechts unddie Finanzierung und Durchfüh-rung der Baumaßnahme. In derPraxis sei festzustellen, dass dieNachrechnung und Ertüchtigungvon Brückenbauwerken in unmit-telbarem Zusammenhang stündenund aufeinander aufbauten. Be-sonders wies Kimmich auf denUmstand hin, dass man, um beste-hende Brücken zukunftsfähig ma-chen zu können, ein reiches histo-risches Bauwerks- und Normen-verständnis besitzen müsse, des-sen Inhalte er ausführlich darstell-te,

� Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. JürgenKüenzlen (Fa. Adolf Würth GmbH& Co. KG) informierte über dieneuen Anforderungen an die Be-festigung von Fenstern und ab-sturzsichernden Verglasungen.Sein Fazit: Moderne Fensterele-mente und Fensterprofile führenheute dazu, dass die handwerkli-che Praxis des Ausschäumens derAnschlussfuge nach der Befestigung desFensters im Mauerwerk mit PU-Schaum nichtmehr ausreicht. Detaillierte Regelungen da-für, wie Fensterbefestigungen in verschiede-nen Untergründen sicher ausgeführt werdensollen, gebe es aber derzeit nicht.

� Dipl.-Ing. Wolfgang Weese (Ingenieurbürofür Tragwerksplanung und Bauwesen Engel-hardt + Weese, 35683 Dillenburg) und Dipl.-Ing. Franz Schächer (Ingenieurbüro für Bau-statik und baulichen Brandschutz, 61118 BadVilbel) sprachen über die Wechselwirkungzwischen dem Brandschutz nach neuer In-

dustriebau-Richtlinie und der Konstruktion.Sie hoben hervor, dass nach der Industrie-bau-Richtlinie größere und mehrgeschossigeBereiche ohne Anforderung an die Feuerwi-derstandsdauer der tragendenden Bauteilerealisiert werden können,

� Prof. Dr.-Ing. Steffen Kind (Ingenieurbürofür Bauwesen, Prof. Kind & Partner, 65185Wiesbaden) berichtete über diverse Scha-densfälle durch Einstürze von Bauteilen undderen Schadensursachen. Eine Häufung die-ser Schadensfälle trete beispielsweise beiUnterdecken, Gebäuden ohne Nutzung so-

wie bei landwirtschaftlich genutz-ten Gebäuden auf. Aber auch stab-förmige, leichte Konstruktionen wieHolz- und Stahlbaukonstruktionenseien in Verbindung mit geringenEigenlasten und großen Spannwei-ten betroffen,

� Prof. Dr.-Ing. Peter Lieblang(Bauphysiklabor TH Köln) befasstesich mit Schallmessungen am Bauund mit dem Schallschutz nach DIN4109. Lieblang erklärte seine Über-zeugung, dass sich eine Überein-stimmung der Bauausführung mitdem Schallschutznachweis ohnestichprobenartige Baumessungennicht nachweisen lassen könne unddass für eine sinnvolle Durchfüh-rung der Messungen gründlicheKenntnisse der Möglichkeiten undGrenzen der entsprechenden Ver-fahren unbedingt notwendig seien.So gesehen müsse sich die DIN4109: 2016-07 in der Baupraxisnoch beweisen,

� Dipl.-Ing. Dominic Henner (de-BAKOM GmbH, 51519 Odenthal)beschäftigte sich mit dem Problemdes Baustellenlärms, für den prinzi-

piell der Bauherr verantwortlich sei. Dies seiauch der Grund, warum er, Henner, immerdafür plädiere, dieses Thema bereits bei derPlanung zu berücksichtigen. Dabei sei zu be-achten, dass behördliche Auflagen währendder Bauphase Mehrkosten verursachen könn-ten, deren Übernahme von den am Bau Be-teiligten im Vorfeld geregelt werden sollten.Man müsse auch wissen, dass die Folgen ei-ner Überschreitung der Immissionsrichtwerteum mehr als 5 dB die Beschränkung der täg-lichen Betriebszeiten oder die Einrichtung ei-nes passiven oder aktiven Lärmschutzes seinkönnten.

DAS SCHLUSSWORT des diesjährigen, 31. Tragwerksplanersemi-nars in Friedberg kam Dr.-Ing. Ulrich Deutsch zu, dem Vorsitzen-den der Landesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik inHessen. Er konstatierte zufrieden, dass auch in diesem Jahr wie-der an die 700 Teilnehmer zu dieser traditionellen Fortbildungs-veranstaltung gekommen sind.

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Bitte schon vormerken: Die nächste Arbeitstagung der Prüfingenieure ist vom 27. bis 29. September in MünsterVom 27. bis 29. September 2018 wirddie nächste Arbeitstagung der Bun-desvereinigung der Prüfingenieure fürBautechnik (BVPI) stattfinden.

Sie wird in Münster durchgeführt, und

zwar in einem Hotel in unmittelbarer Nähedes Aasees, fußläufig zentral gelegen.

Vor den traditionellen beiden Tagen derFachvorträge und fachlichen Diskussionenwird dort am 27. September die jährliche

Mitgliederversammlung der BVPI abgehal-ten. Neben den üblichen verbandstechni-schen Regularien wird in dieser Sitzungauch die satzungsgemäße Wahl der Mit-glieder des Vorstandes der Bundesvereini-gung auf der Tagesordnung stehen.

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BETONBAU

20 Der Prüfingenieur | November 2017

Eine Vision wird Realität: Der Betonbau der Zukunft ist nachhaltig, leicht, flexibel und formbar – dank CarbonFür Sanierung oder Neubau sind jetzt Decken und Wände,Fuß- und Radwegbrücken, Bögen und Fassaden sein Metier

Was in dieser Zeitschrift zum Thema Carbonbeton vor gut sechsJahren noch als „Vision“ bezeichnet wurde [1], ist heute ereig-nisreiche Realität: Mit Carbon-/Textilbeton wurden unter ande-rem bereits Decken im Hochbau, Silowände oder Bögen undFahrbahnen von Brücken saniert. Im Neubau kommt Carbon-/Textilbeton beispielsweise bei Fassaden, Sandwichwänden undFußgängerbrücken schon zum Einsatz. Und das weltweit größteForschungsprojekt mit über 170 Partnern, bis zu 60 MillionenEuro Forschungsmitteln und acht Jahren Laufzeit widmet sichder Weiterentwicklung und der Markteinführung des Carbonbe-tons. In diesem Beitrag werden nun die aktuellen rechtlichenRahmenbedingungen, eine Biegebemessung gemäß geltenderZulassung, eine Auswahl an Praxisprojekten und das Großfor-schungsprojekt „Carbon Concrete Composite“ (C³-Projekt) vor-gestellt, das sich vorrangig der Entwicklung und alsbaldigenMarkteinführung von Carbonbeton widmet.

1 Einführung Beton ist ein hervorragender Baustoff. Er kann in jede beliebige Formgebracht werden, ist unter Umständen wasserundurchlässig, in einemweiten Temperaturbereich dauerhaft einsetzbar, und er kann hoheDruckkräfte aufnehmen. Da Beton jedoch so gut wie keine Zugkräfteabsorbieren kann, war die Anwendung des Betons bis zur Mitte des19. Jahrhunderts fast ausschließlich auf solche Bauteile beschränkt, inderen Querschnitt keine Zugkräfte auftraten.

Mit der Erfindung des Stahlbetons (früher Eisenbeton), bei dem zurAufnahme von Zugkräften Stäbe und Gitter aus Stahl in den Beton ein-gelegt werden, konnte diese Anwendungseinschränkung überschrittenwerden. Es stellt sich jedoch heraus, dass die so vielversprechendeStahlbewehrung im Beton korrodieren kann, denn der Beton verliertüber die Zeit sein alkalisches Milieu – welches für den Schutz derStahlbewehrung von großer Bedeutung ist. Die Folge können teilsmassive Bauwerksschäden und damit verbundene steigende Instand-haltungskosten sein. Indem man unter anderem die Betondeckungdeutlich dicker ausführt als noch vor Jahrzehnten üblich, versucht mandas schützende alkalische Milieu in Höhe der Bewehrung länger auf-rechtzuerhalten.

Ein anderer Weg, den man vor allem in der Wissenschaft geht, ist dieSuche nach alternativen, nichtrostenden Bewehrungsmaterialien. Zunennen sind beispielhaft Edelstahl, Bambus und Holz, aber auch Ba-salt, Glas – und Carbon.

Die Bewehrungen aus Glas- und Carbonfasern bilden vor allem inDeutschland einen großen Forschungsschwerpunkt. Damit kombinier-te Betone ergeben leistungsfähige Verbundwerkstoffe, bekannt unterden Namen Textilbeton und Carbonbeton (siehe unter anderem in [2]).

Der Definition und Abgrenzung der in diesem Beitrag verwendetenBegriffe Stahlbeton, Carbonbeton, Textilbeton und C³-Projekt dientAbb. 1.

In Deutschland wurde die Grundlagenforschung auf dem Gebiet nicht-metallischer Bewehrungen vorrangig durch zwei von 1999 bis 2011von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sonder-forschungsbereiche (SFB) in Aachen und Dresden vorangetrieben ([3],[4]).

Der Schwerpunkt der Entwicklung lag auf dem Textilbeton mit einerBewehrung aus alkaliresistentem (AR-)Glas. Erst in den letzten Jahrender Sonderforschungsbereiche wurde die Carbonbewehrung immermehr in den Fokus genommen. Das Großforschungsprojekt „CarbonConcrete Composite“ (C³-Projekt), welches sich vorrangig der Ent-wicklung und Markteinführung von Carbonbeton widmet, ist im Jahr2014 begonnen worden ([5], [6]). Dieses Projekt ist mit deutschland-weit über 170 Partnern (zwei Drittel davon sind Unternehmen und Ver-

Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Manfred Curbach studierte Bauingenieurwesen an der UniversitätDortmund und arbeitete dann im IngenieurbüroKöhler + Seitz; er ist Inhaber des Lehrstuhls fürMassivbau der TU Dresden, wo er den Leichtbaumit Textil- und Carbonbeton erforscht, und er ist

Vorsitzender des Vorstandes und Sprecher des C³-Projektes

Dr.-Ing. Frank Schladitzstudierte Bauingenieurwesen in Leipzig und ar-beitete dann als Projektleiter im IngenieurbüroLeonhardt, Andrä und Partner; seit 2007 forschter an der TU Dresden über Textil- und Carbonbe-ton und leitet das C³-Projekt.

Dipl.-Ing. Jörg Weselekstudierte bis 2012 Bauingenieurwesen (Compu-tational Engineering) an der TU Dresden und istwissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professurfür spezielle Massivbauwerke.

Dipl.-Ing. Robert Zobelstudierte bis 2012 Bauingenieurwesens (Kon-struktiver Ingenieurbau) an der TU Dresden undleitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter die For-schungsgruppe Carbonbeton am dortigen Insti-tut für Massivbau.

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BETONBAU

Der Prüfingenieur | November 2017 21

bände, ein Drittel Forschungseinrichtungen) und rund 60 MillionenEuro Forschungsmitteln das derzeit größte Forschungsprojekt im Bau-wesen (siehe weiter unten Abschnitt 5).

Neben diesen Forschungsvorhaben nehmen die Aktivitäten einen im-mer größeren Raum ein, die zu zahlreichen Zustimmungen im Einzel-fall (ZiE) oder ersten allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen (abZ)führen (siehe unten Abschnitt 2). Bemessungsmodelle werden weiter-entwickelt (siehe Abschnitt 3) und bereits zahlreiche Bauvorhaben(Abschnitt 4) wurden realisiert, bei denen die Vorteile des Carbon- undTextilbetons in der Baupraxis gezeigt werden konnten.

2 Aktueller Stand der rechtlichenGrundlageFür die Etablierung von Carbonbeton sind technische Regeln elemen-tar. Erst die Schaffung technischer Regeln, sogenannter Richtlinien, er-möglicht eine einfache Erfüllung baurechtlicher Auflagen. Sie stellendie Basis einer breiten Anwendung und Akzeptanz des Werkstoffs Car-bon-/Textilbeton durch Bauherren, Tragwerksplaner und Architektendar.

Allgemeingültige bauaufsichtliche Richtlinien für Carbon-/Textilbetonsind gegenwärtig noch nicht verfügbar. Zurzeit wird daher von allenan der Carbonbetonforschung Beteiligten im Rahmen des C³-Projektesdaran gearbeitet, Forschungsergebnisse in technische Regeln umzu-setzen und so eine Richtlinie des Deutschen Ausschusses für Stahlbe-tons (DAfStb) für Carbonbeton vorzubereiten.

Damit der Verbundwerkstoff dennoch in Deutschland Anwendung fin-det, sind allgemeine bauaufsichtliche Zulassungen (abZ) oder für jedesBauvorhaben eine einzelne Zustimmung im Einzelfall (ZiE) notwendig.Die Anwendung bei den meisten der bereits durchgeführten Bauvorha-ben mit Carbon-/Textilbeton, hier beispielhaft in Abschnitt 4 beschrie-ben, erfolgte unter Verwendung einer ZiE. Die für eine ZiE notwendi-gen grundlegenden theoretischen und experimentellen Nachweise lie-gen bereits weitgehend vor. Somit sind meist nur noch die bauvorha-benspezifischen Nachweise zu erbringen, was den zeitlichen und fi-nanziellen Aufwand für eine ZiE erheblich reduziert. Erfahrungsgemäßwerden für die Erlangung einer ZiE für Carbonbeton ein bis drei Mona-te benötigt.

Neben den ZiE gibt es bereits einzelne abZ für verschiedene Anwen-dungen von Carbon-/Textilbeton. Diese abZ ermöglichen unter ande-rem die unmittelbare Verwendung des Carbon-/Textilbetons, wenn derAnwendungsfall in der abZ abgedeckt ist. Mit der im Sommer 2014 er-teilten und Ende 2016 verlängerten abZ „Verfahren zur Verstärkungvon Stahlbeton mit TUDALIT (Textilbewehrter Beton)“ mit der NummerZ-31.10-182 [7] wurde der Grundstein für eine einfachere Anwendungdes Carbon-/Textilbetons im Bestand gelegt. Diese Zulassung ermög-licht es, Carbon-/Textilbeton als Biegeverstärkung von Stahlbetonbau-teilen im Innenbereich einzusetzen. Zudem bildet die Zulassung einehervorragende Grundlage für weitere Anwendungsfälle im Bestand,die nicht durch diese abgedeckt sind. Beispielsweise bestand bei derSanierung eines Zuckersilos mit Carbon-/Textilbeton die Möglichkeit,bei der Beantragung der erforderlichen ZiE auf diese Zulassung aufzu-bauen und gleichzeitig einen Nachweis für dessen Eignung an ge-krümmten Flächen zu erbringen.

Neben der Zulassung für Biegeverstärkung gibt es Zulassungen fürFassadenplatten (zum Beispiel Z-33.1-577 [8] und Z-21.9-2072 [9])und auch bereits für Sandwichwand-Elemente (Z-71.3-39 [10]). AbZfür Fuß- und Radwegbrücken sowie für Fertigteilgaragen sind beimDeutschen Institut für Bautechnik (DIBt) gerade in der Bearbeitung[11]. Des Weiteren sind die Hersteller von textilen und stabförmigenBewehrungen gegenwärtig bestrebt, Zulassungen zu erwirken, die esermöglichen, die entwickelten Bewehrungen unabhängig von konkre-ten Bauteilen einsetzen zu können – ähnlich wie eine Stahlbeweh-rung.

3 Bemessung eines verstärkten, biege-beanspruchten Bauteils3.1 EinleitungBasierend auf der herkömmlichen Stahlbetonbemessung werden imFolgenden die für die abZ Z-31.10-182 [7] angewendeten Berech-nungs- und Bemessungsmodelle zur Bestimmung der Tragfähigkeitbiegebeanspruchter, textilbetonverstärkter Stahlbetonbauteile vorge-stellt. Neben dem iterativen Berechnungsablauf, Tabellen und Dia-grammen für eine einfache und praxisgerechte Bemessung werden zu-dem Ergebnisse einer Studie über den Einfluss der angenommenenSpannungs-Dehnungslinie für Carbonbeton sowie über den Einflussder vor den Verstärkungsmaßnahmen eingeprägten Dehnungen vor-gestellt.

3.2 Querschnittsnachweis Im Rahmen einer Bemessung für überwiegend biegebeanspruchteBauteile ist nachzuweisen, dass die inneren Schnittgrößen mit den äu-ßeren Schnittgrößen im Gleichgewicht stehen. Der Nachweis ist fürausgewählte Querschnitte innerhalb des Tragwerks zu führen. Im All-gemeinen wird dabei der Querschnitt beziehungsweise der Gehalt derBewehrung als Unbekannte gewählt, die es zu bestimmen gilt. Somitbesteht die Bemessungsaufgabe aus mehreren Teilaufgaben, die nach-einander anhand verschiedener Hilfsmittel, beispielsweise sogenann-ter Bemessungstafeln, zu lösen sind. Ferner besteht die Möglichkeit,den iterativen Prozess durch Bemessungssoftware auszuführen.

3.3 Grenzzustände Die Bemessung des Querschnitts soll im Grenzzustand der Tragfähig-keit (GZT) durchgeführt werden. Jede das Versagen beschreibendeDehnungsebene beinhaltet mindestens eine der Grenzdehnungen derMaterialien. Für einen unverstärkten, biegebeanspruchten Querschnitt

Abb. 1: Definition und Abgrenzung der Begriffe Stahlbeton, Carbon-beton, Textilbeton, Kurzfaserbeton und C³-Projekt

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BETONBAU

22 Der Prüfingenieur | November 2017

betrifft es auf der Bauteiloberseite die Grenzdehnung des Betons undauf der Unterseite die des Stahls εsu.

Im Fall eines verstärkten Querschnitts sind an der Unterseite Schichtenvon Carbonbeton – wie in Abb. 5 gezeigt – appliziert, deren charakte-

Abb. 2: Materialkennlinie für druckbeanspruchten Normalbeton nachEC2 [12]

Abb. 3: Materialkennlinie für Betonstahl nach EC2 [12]

Abb. 4: Material-kennlinien für Carbon

Gra

fik: J

örg

Wes

elek

Gra

fik: J

örg

Wes

elek

Gra

fik: J

örg

Wes

elek

ristische Dehnungen fortan für ein Zugversagen herangezogen wer-den. Es wird, aufgrund der signifikant geringeren Grenzdehnung desCarbons εtu (siehe Tabelle 1) ein Versagen der Stahlbewehrung imNormalfall als nicht möglich erachtet, sodass letztendlich nur Beton-oder Carbonversagen maßgebend wird.

3.4 MaterialmodelleDie angeführten Grenzdehnungen entstammen im Allgemeinen ideali-sierten Spannungs-Dehnungsbeziehungen der Materialien unter ein-oder mehraxialer Belastung. Hierbei sind die im späteren Bauteil vor-kommenden Spannungsverhältnisse von Belang. Daher werden im Fol-genden die für den gegebenen Querschnitt relevanten Beziehungenbenannt und gemäß Tabelle 1 mit charakteristischen und Bemes-sungswerten versehen.

3.4.1 (Alt-)BetonEine vereinfachte Spannungs-Dehnungsbeziehung für das Verhaltenvon Beton unter einaxialer Druckbeanspruchung wird in Form des lautEurocode 2 [12] zulässigen Parabel-Rechteck-Diagramms angenom-men, wie für Normalbeton in Abb. 2 abgebildet.

3.4.2 StahlDie Materialkennlinie für Stahl wird gleichsam dem Eurocode 2 [12]und dessen nationalem Anhang entnommen. Eine bilineare Span-nungs-Dehnungsbeziehung mit einem weiteren Anstieg der Spannungnach Erreichen der Fließdehnung wird für das Zug- und Drucktragver-halten berücksichtigt (Abb. 3).

3.4.3 CarbonbetonWird Carbonbeton zur Verstärkung bestehender Tragwerke unterBiegebeanspruchung herangezogen, ist momentan für diesen An-wendungsfall lediglich die Applikation textiler Lagen, eingebettet ineinen speziellen Feinbeton, zugelassen [7]. Es handelt sich somitum einen Kompositwerkstoff, dessen Spannungs-Dehnungsbezie-hung als linear-elastisch mit begrenzter Zugfestigkeit beschriebenwerden kann. In Abb. 4 werden die in diesem Beitrag näher zu un-tersuchenden zwei Verläufe dargestellt. Bei dem im Folgenden alsVariante I bezeichneten Verlauf sind lediglich Bemessungswerte fürdie Zugfestigkeit ft des Kompositwerkstoffs zu bilden. Das heißt, dieZugfestigkeit ist alleinig abzumindern, wohingegen in Variante IIebenfalls die rechnerische Grenzdehnung εtu mittels eines Teilsi-cherheitsbeiwerts γt für die Bemessung reduziert wird. In Variante I

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Der Prüfingenieur | November 2017 23

führt dies zu einem „künstlich“ abgeminderten E-Modul und damitzu einem quasi weicheren Materialverhalten. Dagegen haben dieAnnahmen der Variante II mit der gleichsam abgeminderten Grenz-dehnung, wie im weiteren Verlauf des Beitrags ersichtlich werdenwird, einen zu berücksichtigenden Einfluss auf das Ergebnis der Bie-gebemessung. (Einflüsse aus Temperatur, Dauerstand und Dauer-haftigkeit auf den Bemessungswert werden in diesem Beitrag nichtbetrachtet.)

Umfangreiche Untersuchungen diesbezüglich finden gegenwärtig imC³-Projekt statt (siehe Abschnitt 4).

In der allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung [7] ist ein bilinearerSpannungs-Dehnungsverlauf mit begrenzter Zugfestigkeit angenom-men worden. Dieses Modell wurde anfänglich gewählt, da der Kompo-sitwerkstoff mit Gelegen früherer Generationen bei geringen Dehnun-gen eine geringere Steifigkeit aufgewiesen hat. Durch Weiterentwick-lungen konnten die Ursachen detektiert und beseitigt werden, sodassauch unter Verwendung des Zulassungswerkstoffs nach [7] von einenlinearen Zugtragverhalten ausgegangen werden kann. Dabei wird inder Zulassung [7] mit den Verläufen der Variante I eine Biegebemes-sung durchgeführt, da ursprünglich davon ausgegangen worden ist,dass dies zu einer erhöhten Sicherheit führt.

3.5 Lösung der BemessungsaufgabeDa eine anzusetzende Dehnungsverteilung über den Querschnitt an-fänglich unbekannt ist, werden zur Lösung folgende Vereinfachungengetroffen:

� Die Gültigkeit der BERNOULLI-Hypothese, die von einem Ebenbleibendes Querschnitts unter Beanspruchung ausgeht, wird vorausge-setzt.

� Das Gleichgewicht wird am gerissenen Betonquerschnitt gebildet,wobei nur die Bewehrungskomponenten Zugkräfte aufnehmen.

� Für die Zugkraftaufteilung zwischen Carbonbeton und Stahl wirdjeweils ein starrer Verbund angenommen; die jeweiligen Beweh-rungsdehnungen folgen der BERNOULLI-Hypothese.

Unter den gegebenen Voraussetzungen kann nun anhand eines iterati-ven Prozesses die erforderliche Bewehrungsmenge der Verstärkungs-schicht eines bestehenden Stahlbetonquerschnitts bestimmt werden.In der Arbeit von Bösche [13] ist der Algorithmus als Erweiterung derim Stahlbetonbau üblichen Vorgehensweise, siehe zum Beispiel Zilchund Zehetmaier [15], übersichtlich aufgeführt. Dieses Bemessungsmo-dell wurde später in Frenzel, Curbach [16] umfassend beschrieben undfand in dieser Form Eingang in die erwähnte bauaufsichtliche Zulas-sung. In Frenzel [17] werden außerdem aktualisierte Rechenbeispielemit einer Aufschlüsselung aller relevanten Daten aufgezeigt.

Das Vorgehen soll prinzipiell im Folgenden erörtert und mittels einesAlgorithmus‘ unter Einbeziehung von Bemessungstafeln veranschau-licht werden, sodass die Entscheidung für eine der gezeigten Span-nungs-Dehnungsbeziehungen für Carbonbeton nachvollziehbar wird.

Das Kräftegleichgewicht kann mittels Gl. (1) und das Momenten-gleichgewicht mittels Gl. (2) für den in Abb. 5 gezeigten Rechteck-querschnitt aufgestellt werden. Im Grenzzustand der Tragfähigkeit

Tabelle 1: Bemessungswerte für denWiderstand im Grenzzustand derTragfähigkeit

Normalbeton [12] charakteristisch Sicherheitsfaktor Bemessungswert

Normalbeton

Druckfestigkeit fc 12–50 αcc = 0,85γc = 1,5

7–28

Festigkeitsstauchung εc2 ‰ 2,0 – 2,0

Grenzstauchung εc2u ‰ 3,5 – 3,5

Stahl nach [12] charakteristisch Sicherheitsfaktor Bemessungswert

E-Modul Es 200.000 – 200.000

Streckgrenze fy 500 γs = 1,15 435

Fließdehnung εy ‰ 2,5 γs = 1,15 2,17

Zugfestigkeit fy,cal 525 γs = 1,15 457

Grenzdehnung εsu ‰ 25 – 25

Textil

Zugfestigkeit nach [7] ft 1550 γt = 1,2 nach [13] 1292

Grenzdehnung (Var. I)nach [7]

εtu ‰ 7,5 – 7,5

Grenzdehnung (Var. II) εtu ‰ 7,14 γt = 1,2 nach [13] 5,95

MN

m2

MN

m2

MN

m2

MN

m2

MN

m2

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entsprechen die Einwirkungen den Widerständen. Abweichend vonFrenzel [17] wird die Wirklinie des Momentengleichgewichts auf Höheder textilen Bewehrungsebene verschoben, wodurch sich die Berech-nungen bezüglich etwaiger Vordehnungen, auf die sich später im Bei-trag bezogen wird, entscheidend vereinfachen.

Gl. (1)

Gl. (2)

In Gl. (1) und Gl. (2) sind Fc, Fs1, Fs2 und Ft die Resultierenden der Be-tondruckspannungen und der Stahl- und Carbonzugspannungen. DieVariablen zt, zts1, zts2 und zt1 markieren die jeweiligen Abstände derentsprechenden Resultierenden gemäß Abb. 5.

An dieser Stelle soll keine geschlossene Herleitung der iterativen Lö-sung erfolgen. Stattdessen wird lediglich das Schema der Lösungsfin-dung aufgezeigt.

� Die Iteration beginnt jeweils mit der Vorgabe einer möglichen Deh-nungsebene. Da im Grenzzustand der Tragfähigkeit mindestens ei-ne der Grenzdehnungen definitionsgemäß erreicht wird, sollte beieiner bestmöglichen Querschnittsauslastung angefangen werden,alle möglichen Grenzdehnungen sind also erreicht. Im Gegensatzzur bekannten Stahlbetonbemessung, wo dies εcu an der Oberseiteund εsu an der Unterseite sind, werden bei einer Dimensionierungeiner Verstärkungsschicht die Grenzdehnung des Betons εcu bezie-hungsweise die der textilen Bewehrung εtu relevant.

� Als nächstes können die Druckzonenhöhe x sowie die Lage undGröße der Resultierenden der Betonspannungen Fc bestimmt wer-den. Unter Einbeziehung der Hilfsgrößen des Völligkeitsbeiwerts αRund des Höhenbeiwerts ka, deren Berechnung von der Randdeh-nung in der Druckzone abhängen und die zur Vermeidung der not-wendigen Integration der Druckspannungen σc durch eine adäqua-te Approximation beitragen, kann Fc ermittelt werden.

� Die Stahldehnungen εs werden nun über die geometrischen Bedin-gungen im Querschnitt berechnet, sodass die Resultierenden derStahlzugkraft beziehungsweise der Stahldruckkraft durch Anwen-dung des in Abschnitt 3.4 beschriebenen bilinearen Materialgeset-zes bestimmt werden kann.

� Anschließend kann durch eine geeignete Wahl der Lage der Wir-kungslinie – im vorliegenden Fall auf Höhe der textilen Bewehrung– die Bedingung des Momentengleichgewichts in Gl. (2) geprüftwerden. Ferner ist die vorhandene Querschnittsmenge der Stahlbe-wehrungen As als bekannt vorauszusetzen.

� Sofern diese Bedingung des Gleichgewichts der Momente nicht er-füllt ist, muss der Algorithmus mit einer veränderten Dehnungsebe-ne neu begonnen werden. Besteht jedoch Momentengleichge-wicht, so lässt sich im Nachlauf die Bedingung des Normalkraft-gleichgewichts in Gl. (1) nutzen, um die erforderliche Querschnitts-fläche der textilen Bewehrung der Carbonbetonschicht At berech-nen zu können.

3.6 BemessungstabellenDa das gezeigte Vorgehen bei händischer Ausführung des Algorith-mus‘ in der Regel zu einem hohen rechnerischen Aufwand führt, ha-ben sich im Bauwesen dimensionslose Bemessungstabellen etabliert.Die Verwendung ist zwar mit Einschränkungen behaftet – beispiels-weise in Bezug auf die Wahl der Betongüte oder die Form des Quer-schnitts –, jedoch kann die Bemessung mithilfe weniger Schritte erfol-gen. Soll weiterhin lediglich ein einfach bewehrter Rechteckquer-schnitt dimensioniert werden, kann die notwendige Iteration stark ver-kürzt werden. Der Vollständigkeit halber wird jedoch an dieser Stelledie Verwendung von Zug- und Druckbewehrung berücksichtigt unddas Vorgehen anhand der in Abb. 6 beispielhaft dargestellten Bemes-sungstafel geschildert.

� Die Dehnungen εs1 und εs2 infolge der Belastung sind zunächst un-bekannt. Daher wird die Annahme getroffen, dass die Zugbeweh-rung sowie die Druckbewehrung (falls vorhanden) ins Fließen kom-men.

Die erste Ermittlung von µt schließt sich mit Gl. (3) an:

Gl. (3)

mit:

Fs1d = As1 · fyd ; Fs2d = As2 · fyd ; MEdt = MEd – NEd · zt1

� Ablesen von ωt , εc2 und εt aus der dimensionslosen Bemessungsta-fel

Abb. 5: Querschnitt mit Dehnungs- und Spannungsverhältnissen sowie inneren und äußeren Kräften eines verstärkten Biegebalkens mit Carbon-beton

Gra

fik: R

ober

t Zob

el

N =N

=F + F +F +FEd Rd

s1 s2 t c

M =M

M N · z = –F · z – F · z – F · zEdt Rd

Ed Ed t1 s1d ts1 s2d ts2 cd t–

µtEdt s1d ts1 s2d ts2

cd t2=

M +F · z +F · z

b · f · d

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� Prüfung der Bedingung des Fließens von Stahl mittels Dehnungsbe-rechnungen, Gln. (4) und (5):

Gl. (4)

Gl. (5)

a) Bei der Erfüllung der Bedingungen nach Gl. (4) und Gl. (5) kann dieErmittlung der erforderlichen Querschnittsfläche des Textils mithilfeder Gl. (6) anschließen

Gl. (6)

b) Bei Nichterfüllung der Ungleichungen (4) und (5), das heißt, dieDruckbewehrung und/oder die Zugbewehrung überschreiten nicht dieFließdehnung εyd , muss mittels Gl. (3) das bezogene Bemessungsmo-ment µt unter Berücksichtigung der ermittelten Dehnungen εs1 undεs2 neu bestimmt werden

mit:

Fs1d = As2 · fyd , wenn εs1 ≥ εyd1 Fs2d = – As2 · fyd , wenn | εs2 | ≥ εyd2Fs1d = Εs1 · εs1, wenn εs1 < εyd1 Fs2d = Es2 · εs2 , wenn | εs2 | < εyd2

� Ablesen von ωt , εc2 und εt aus Bemessungstafel sowie Berechnungder Dehnungen εs1;neu und εs2;neu zur Überprüfung der vorher ermit-telten εs1 und εs2 mittels Gln. (7) und (8)

Gl. (7)

Gl. (8)

� Werden die Bedingungen der Gln. (7) und (8) nicht erfüllt, musswiederum ab obigem Punkt b) ein aktualisiertes bezogenes Bemes-sungsmoment µt bestimmt werden, um danach die genannten Be-dingungen der Gln. (7) und (8) erneut zu prüfen, bis diese mit einerangemessenen Toleranz gewährleistet sind.

� Abschließend kann durch Anwendung von Gl. (6) die erforderlichetextile Bewehrungsmenge determiniert werden.

3.7 Einfluss der Spannungs-Dehnungslinie3.7.1 Zwei Ansätze für Carbonbeton In Abschnitt 3.4 wurden die infrage kommenden Spannungs-Deh-nungsbeziehungen für Carbonbeton angeführt. Nun sollte jedoch eineVariante gefunden werden, die für bereits vorhandene und zukünftigeNachweise unabhängig vom Textil herangezogen werden kann.

Dass die Spannungs- und Dehnungswerte für eine Bemessung einesbiegebeanspruchten Bauteils einen maßgebenden Einfluss haben,geht aus den Schilderungen des vorangegangenen Abschnitts hervor.Daher soll nun beantwortet werden, welche Variante vorzuziehen ist.

Die Untersuchungen der Verzugsvarianten erfolgen neben der Anwen-

dung des Carbonbetons als Biegeverstärkung ebenfalls anhand vonNeubauteilen aus Carbonbeton.

Variante I zeichnet sich, ähnlich wie die Spannungs-Dehnungsbezie-hung normalfesten Betons, durch einen festgesetzten Dehnungswertaus, der für den Grenzzustand der Tragfähigkeit als eine Bedingung desVersagens herangezogen wird. Die direkte Verwendung dieser Deh-nungswerte impliziert, dass die Messbarkeit in einaxialen Zugversuchengegeben ist. Da dies jedoch nur bedingt möglich ist, weil beispielsweisebei direkter Messung die Messvorrichtung beschädigt werden könnte,wird in der Veröffentlichung von Rempel und Ricker [24] der Nachweiserbracht, dass das Zugtragverhalten eines Faserstrangs des Beweh-rungstextils linear bis zum Bruch verläuft und folglich mittels der Be-stimmung des E-Moduls bei geringen Belastungen (bis 60 Prozent dergeschätzten Bruchlast) lediglich die – ebenfalls gemessene – Zugfestig-keit notwendig ist, um die Grenzdehnung des Materials zu ermitteln.

Diese versuchstechnische Herangehensweise rechtfertigt die Verwen-dung eines nicht abgeminderten E-Moduls, da die Spannungsbestim-

Abb. 6: Bemessungstafel für einen verstärkten Rechteckquerschnitt(Materialkennlinie Variante I) für εt0 = 0 (keine Vorbelastung)

ε ε ε ε εs1t c2

ts c2 yd1=

d· d + >

ε ε ε ε εs tt c2

tt 2 ydd

(d d )2 2= − − − >·

A b · f d N F Ftt

t cd t Ed s1d s2d= + − −( )1σ

ω· · ·

Gra

fik: R

ober

t Zob

el

εε ε

ε εs1;neut c2

ts c2 s1d

d=−

+ ≈·

ε ε ε ε εs2;neu tt c2

tt s2d

(d – d= − − ≈· )2

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mung mittels der in der Bemessung erhaltenen Dehnung der Carbon-bewehrung als realitätsnäher anzusehen ist. Denn eben dieser Span-nungswert σt trägt maßgeblich zur Bestimmung der erforderlichen Be-wehrungsmenge At bei (siehe Gl. (6)).

Nichtsdestominder kommt es bei dieser Variante zur „künstlichen“Vergrößerung der Betondruckzone bei der Bemessung im Grenzzu-stand der Tragfähigkeit für ein biegebeanspruchtes Bauteil gegenüberVariante I, wenn für die rechnerische Versagensart die Bewehrungmaßgebend ist.

Dieser Sachverhalt kann indirekt ebenfalls aus den jeweiligen Bemes-sungstafeln abgelesen werden. In Abb. 7 sind für die beiden Variantendie relevanten Ausschnitte der Bemessungstafeln dargestellt. Ist dasBauteil für Werte des bezogenen Moments oberhalb der farbigen, ho-rizontalen Linien zu bemessen, wird von einem Bewehrungsversagen,und unterhalb der farbigen, horizontalen Linien von einem Betonver-sagen ausgegangen. Dementsprechend sind die maximalen Werte fürdie Dehnung des Carbons εt oberhalb dieser Linien zu finden.

Mittels der Verknüpfung durch die Spannungs-Dehnungsbeziehungen– sprich: durch das Materialgesetz – kann für die vorhandene Carbon-dehnung εt der zugehörige Spannungswert σt bestimmt werden, wel-cher dann durch Anwendung von Gl. (6) zur Berechnung der erforder-lichen Bewehrungsmenge At beiträgt. Die Bemessungstafeln weisenaufgrund der unterschiedlichen Grenzdehnungen der Bewehrung un-terschiedliche Werte für das bezogene Bemessungsmoment auf, beidem der Wechsel der Versagensart eintritt. Durch das reziproke Ver-hältnis der Textilspannung σt zur erforderlichen Bewehrung At sind inVariante I bei geringeren Werten für µt , nämlich ab µt ≈ 0,225, höhereerforderliche Bewehrungsmengen die Folge. Dieser Übergang tritt beiVariante II bei einem etwas höheren Wert für µt auf, was zu niedrige-ren erforderlichen Bewehrungsmengen im Vergleich zu Variante Iführt.

Es ist also zu prüfen, ob diese geringeren Werte zu Ergebnissen führen,die sich, wie es bei Bauingenieuren ja öfters heißt, auf der „unsicherenSeite“ befinden und deshalb die Variante II als allgemein anzuwen-

dende Spannungs-Dehnungsbeziehung für Carbonbewehrung, trotzder genannten Vorteile, ausscheidet.

Hierzu werden im Folgenden exemplarisch die Bemessungsergebnisseunter Berücksichtigung der Varianten I und II mit den Ergebnissen vonBerechnungen unter Einbeziehung streuender Größen relevanter Be-messungsparameter verglichen. Es sollen der Fall eines Neubauteilsmit Carbonbewehrung als alleiniger Zugbewehrung und der eines ein-fach bewehrten Stahlbetonquerschnitts eine Rolle spielen, der in derZugzone mit Carbonbeton verstärkt wird.

Wie in Abschnitt 3.5 geschildert, handelt es sich um eine iterative Lö-sungsfindung, die mehrere Fallunterscheidungen enthält und daherum eine mathematisch nicht geschlossene Problemstellung. Verwen-det man nun streuende Größen als Eingangswerte, können diesedurch kontinuierliche Zufallsvariablen berücksichtigt werden, die wie-derum zu einem Ergebnis in Form einer Zufallsvariablen für die erfor-derliche Bewehrungsmenge At führen. Aufgrund des iterativen Cha-rakters müssen nun numerische Methoden angewendet werden, umdie streuende Ergebnisgröße zu erhalten. Als robuste Methode ist hierdie Monte-Carlo-Simulation [25] zu nennen, in der zufällig – gemäßder jeweiligen stochastischen Eigenschaften der Eingangsvariablen –Stichproben generiert werden, die zur Lösung der Bemessungsaufgabeherangezogen werden. Bei einer angemessenen Stichprobenanzahlkann letztendlich die Ergebnisvariable approximiert werden, sodassvon dieser die 5- und die 95-Prozent-Quantilwerte ermittelt werdenkönnen, die der Einschätzung dienen, ob die Bemessungsergebnisseaus einer teilsicherheitswertbehafteten Berechnung – das heißt, dersemi-probabilistischen Bemessung – für die verschieden Varianten aufder sicheren Seite liegen.

3.7.2 Streuende Material- und GeometrieeigenschaftenIn Tabelle 2* sind die Materialeigenschaften mit den angenommenenVerteilungstypen sowie deren Parameter für Verstärkungsmaßnahmen

Abb. 7: Dimensi-onslose Bemes-sungstafeln fürdie untersuchtenVarianten

Gra

fik: R

ober

t Zob

el* In dieser sowie in den weiteren Tabellen wird lediglich eine Art der Quantifi-zierung des Streumaßes angegeben, das heißt also, die Standardabweichung σoder der Variationskoeffizient

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und Neubauteile zusammengetragen. Als hier verwendete Verteilungs-typen sind die Normalverteilung (N) und die Lognormalverteilung (LN)zu nennen. Zusätzlich gehen teilweise deterministische (Det.) Werte indie Rechnungen ein.

Die Verwendung von Mittelwerten (µ) anstelle von charakteristischenWerten, die lediglich sogenannte Quantile der Verteilungsfunktionendarstellen, erklärt die zum Teil erheblich größeren Festigkeitswerte dereinzelnen Werkstoffe im Vergleich mit der Methode mit Bemessungs-werten, die für die semi-probabilistische Bemessungen einbezogenworden sind.

Der Wert der Betondruckfestigkeit für Neubauteile beruht auf der An-nahme, dass aufgrund der hohen Zugfestigkeit der textilen Bewehrungfür diese ein adäquater Beton gewählt werden sollte, um beispielswei-se Abplatzungen infolge nicht ausreichender Krafteinleitung der Kom-ponenten zu verhindern. Hierbei ist der gewählte Wert als untereGrenze aufzufassen, und es sind durchaus Betone weitaus höherer Gü-te denkbar, jedoch steigen dann normalerweise auch die Kosten.

Für Verstärkungsmaßnahmen sind niedrige Druckfestigkeiten des Alt-betons wahrscheinlicher, da angenommen werden kann, dass es sichum historische Stahlbetonbauteile handelt und daher ursprünglich nie-derfester Beton verwendet worden ist.

Tabelle 3 zeigt die unabhängigen Zufallsvariablen und deren Eigen-schaften für die geometrischen Dimensionen der untersuchten Quer-schnitte. In den Berechnungen soll das Ergebnis in Abhängigkeit der va-riablen Größe der statischen Nutzhöhe d angegeben werden. Dazu wirdbei der probabilistischen Berechnung lediglich der Mittelwert µd variiert,und das dimensionslose Streumaß des Variationskoeffizienten verbleibtkonstant. Das jeweils untersuchte Intervall orientiert sich in den beidenFällen wiederum an als wahrscheinlich erachteten Bauteilhöhen.

Es sollen bei den Berechnungen die Einflüsse der Streuungen der wi-derstandsseitigen Parameter eine vorrangige Rolle spielen, daher be-steht die Einwirkung ausschließlich aus einer Momentenbeanspru-chung, die deterministisch modelliert ist. Die Zahlenwerte für den ent-sprechenden Fall sind in Tabelle 4 aufgeführt.

(Alt-)Beton

Eigenschaft Größe Einheit Verteilungstyp µ σ Variationskoeff. Quelle

Druckfestigkeit (Neubauteil)

fc LN 48 5 – [12]

Druckfestigkeit (Verstärkung)

fc LN 28 5 – [12]

Festigkeitsdehnung εc2 ‰ LN 2 – 0,15 [19]

Grenzdehnung εcu2 ‰ LN 3,5 – 0,15 [19]

Bewehrungsstahl

Fließspannung fy LN 560 – 0,054 [20]

E-Modul Es Det. 200.000 – – [20]

Grenzdehnung εsu ‰ LN 25 – 0,05 [20]

Carbonbeton

Zugfestigkeit ftu N 1872 148,5 – [13]

Grenzdehnung εtu ‰ N 8,62 1,2 – [21]

MN

m2

MN

m2

MN

m2

MN

m2

MN

m2

Tabelle 2: Verteilungstypen und -parameter für die Materialeigenschaften

Eigenschaft Größe Einheit Verteilungstyp µ σ Variationskoeff. Quelle

Breite b m N 1 – 0,02 [22]

Statische Nutzhöhe d m N Variabel – 0,025 [22]

Betondeckung des zuverstärkenden Bauteils

cnom cm N 2,0 – 0,2 [23]

Betondeckung bzw. Schicht-dicke des Feinbetons1

cnom,t cm N 0,3 – 0,2 [23]

Bewehrungsstahl2 As m2 N 6,28 · 10-4 – 0,025 [22]1 nur für den zu verstärkenden Biegequerschnitt relevant; 2 nur für den zu verstärkenden Biegequerschnitt relevant

Tabelle 3: Verteilungstypen und -parameter für die Geometrieeigenschaften

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3.7.3 Berechnung der erforderlichen BewehrungsmengeIn Abb. 8 und Abb. 9 ist die erforderliche Bewehrungsmenge in Ab-hängigkeit von der statischen Nutzhöhe d dargestellt. Im Fall der Neu-bauteile (Abb. 8) handelt es sich um die statische Nutzhöhe der texti-len Bewehrung, wohingegen bei der Verstärkungsmaßnahme (Abb. 9)die Höhe der vorhandenen Stahlbewehrung angegeben ist. Es ist wei-terhin angenommen, dass sich in diesem Fall die Textilien der Verstär-kungsschicht in einem festen Abstand zu dieser befinden. Der Vollstän-digkeit halber sollen die Betondeckungen bei den probabilistischenBerechnungen gemäß den Angaben in Tabelle 3 streuen.

Die in Abb. 8 und Abb. 9 blau gekennzeichneten, durchgängigen Lini-en zeigen den Median und die gestrichelten Linien das 5- beziehungs-weise 95-Prozent-Quantil der probabilistischen Berechnungen an. ZurErmittlung dieser sowie der grünen und gelben Linie, die die Ergebnis-se der teilsicherheitsbehafteten Rechnungen darstellen, sind äquidis-tante Werte für d beziehungsweise dessen Mittelwert verwendet wor-den, sodass stetige Funktionen abgebildet werden können.

In beiden Darstellungen (Abb. 8 und Abb. 9) ist bei hohen Wertenvon d ein nahezu horizontaler Verlauf der Graphen zu erkennen. Wei-terhin streut die Ergebnisgröße der probabilistischen Berechnung nurgeringfügig. Dies indiziert der geringe Abstand der oberen und der un-

teren gestrichelten Linie, die das 95%-Quantil beziehungsweise den5%-Quantilwert angibt. In diesem Definitionsbereich wird das Beweh-rungsversagen für die Bemessung im Grenzzustand der Tragfähigkeitmaßgebend.

Ein ähnlich flacher Verlauf ist ebenfalls für die Ergebnisse der semi-probabilistischen Berechnungen zu erkennen. Des Weiteren resultierendie gleichen erforderlichen Bewehrungsmengen ab einem gewissenWert von d für beide Fälle. Dies entspricht der Bemessung mit bezoge-nen Bemessungsmomenten µt oberhalb der orangenen, horizontalenLinie in Abb. 7. Übersteigt µt diesen Wert, kommt es bei Variante I zueinem rechnerischen Betonversagen. Dies kann in Abb. 8 und Abb. 9durch den Knick in den Graphen ausgemacht werden. Für die Funktionder Variante II erfolgt dieser Knick bei einem etwas geringeren Wertvon d.

Der große negative Anstieg aller Graphen geht mit der Annahme einerimmer unwirtschaftlicheren Bemessung mit steigendem µt einher, dadie Spannung σt im Textil durch die Verhältnisse innerhalb des Quer-schnitts überproportional abnimmt. Weiterhin streut die Ergebnisgrö-ße in der probabilistischen Berechnung bei einem rechnerischen Be-tonversagen stärker als bei dem Bewehrungsversagen. Dies ergibt sichunter anderem aus den Eingangswerten für die Modellierung des Be-tonverhaltens, die höhere Streumaße aufweisen und bei dieser Versa-gensart einen größeren Einfluss ausüben. Nähere Informationen zudiesem Sachverhalt sind in Häussler-Combe et al. [26] zu finden.

In Bezug auf die Vorzugsvariante und die Abstände der Ergebnisse zuden realitätsnäheren, probabilistischen Berechnungen, die als Indika-tor für die Sicherheit der Bauweise fungieren können, sind unter Ein-beziehung der geschilderten Annahmen und materialseitigen Teilsi-cherheitsbeiwerte keine Bedenken zu äußern. Der geringfügige Versatzzwischen den Graphen der Varianten I und II in Abb. 8 und Abb. 9 be-züglich des rechnerischen Eintretens des Betonversagens stellt dieWerte von µt zwischen den farbigen Linien in den Bemessungstafeln inAbb. 7 dar. Für die entsprechenden Werte wird zwar für einen unter-schiedlichen Versagensfall dimensioniert, jedoch ist, nach den Ergeb-nissen der probabilistischen Rechnungen zu urteilen, der Querschnittüberbemessen, was letztendlich zu einer vielfach erhöhten Traglastführt. Eine Ablehnung der Variante II müsste hingegen empfohlen wer-den, wenn es einen Schnittpunkt zwischen einer blauen und der grü-nen Linie gäbe.

Die gezeigten Ergebnisse sind lediglich Ausschnitte der im TeilprojektV1.2 „Nachweis- und Prüfkonzepte für Normen und Zulassung“ [27]innerhalb des C3-Projekts untersuchten Sachverhalte und gründen invielerlei Hinsicht auf eingeschränkten Annahmen. Sie können aber alsIndiz bei der Entscheidungsfindung einer Vorzugsvariante für die Span-nungs-Dehnungsbeziehung von Carbonbeton beitragen. Daher wirdnach derzeitigem Kenntnisstand Variante II präferiert und deren An-wendung für weitere Belange empfohlen.

Weitaus allgemeingültigere Aussagen sind mittels Einbeziehung zuver-lässigkeitstheoretischer Methoden höherer Ordnung und eines Ver-gleichs mit den Ergebnissen unter Anwendung des semi-probabilisti-schen Bemessungskonzepts möglich. Eine entsprechende Vorgehens-weise wird – mit dem Ziel der Kalibrierung des materialseitigen Teilsi-cherheitsbeiwerts für Carbonbeton – in Häussler-Combe et al. [28] ge-schildert. Außerdem sind die Aussagen zur gewählten Vorzugsvariante(Variante II) für die Bemessung infolge andersartiger Belastungen zuprüfen.

Tabelle 4: Einwirkungen auf die Querschnitte

Abb. 8: Vergleich der erforderlichen textilen Bewehrungsmenge fürNeubauteile

Abb. 9: Vergleich der erforderlichen textilen Bewehrungsmenge fürVerstärkungsmaßnahmen

Gra

fik: J

örg

Wes

elek

Gra

fik: J

örg

Wes

elek

Fall Größe Einheit Wert

Neubauteil MEdt kNm 50

Verstärkung MEdt kNm 100

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3.8 Einfluss einer VorbelastungDa die Werte in Abb. 7 ohne Berücksichtigung der Vorbelastung ange-ben sind, ist noch zu klären, inwiefern diese von der Dehnungsvertei-lung in unverstärktem Zustand abhängen und ob eine Berücksichti-gung der vor den Verstärkungsmaßnahmen eingeprägten Dehnungenεt0 für die Ermittlung der erforderlichen Bewehrungsmenge At notwen-dig ist.

In Abb. 10 ist für verschiedene bezogene Momente µt der mechani-sche Bewehrungsgrad ωt in Abhängigkeit von der fiktiven Dehnung εt0in Abb. 5 abgebildet. Aus dieser geht hervor, dass die vor der Verstär-kungsmaßnahme eingeprägten Dehnungen keinen nennenswertenEinfluss auf den bezogenen Bewehrungsgrad ωt haben. Es ergebensich nahezu horizontal verlaufende ωt-Linien. Da die erforderliche Be-wehrungsfläche neben dem bezogenen Bewehrungsgrad allerdingsauch von der Dehnungsebene und somit von der Versagensart ab-hängt, kann daher an dieser Stelle noch keine Schlussfolgerung fürden Einfluss auf die zu bestimmende Bewehrungsmenge At gezogenwerden.

Um den Einfluss auf die Dehnungsebene zu zeigen, sind daher in Abb.11 die Betonrandstauchung und die Textildehnungen in Abhängigkeitvon der fiktiven Vordehnung εt0 und vom bezogenen Moment µt in ei-ner Grafik dargestellt. Charakterisiert ist die Grafik durch zwei Berei-che. Der grau gekennzeichnete Bereich bildet den Bereich des Beton-versagens ab; die Dehnungsebene wird in diesem Bereich mit der Be-tonrandstauchung εc2 = εc2u = -3,5 ‰ abgebildet. Die Grenzdehnungdes Textils εt variiert zwischen 0 ‰ und 5,95 ‰. Bei gleichem bezoge-nen Moment µt nehmen die Textildehnungen εt mit zunehmender fikti-ver Dehnung εt0 zu. Der Einsatz des Textils im grau gekennzeichnetenBereich ist somit unwirtschaftlich, da die textile Bewehrung die Grenz-dehnung nicht erreicht. Im grün gekennzeichneten Bereich wird dieDehnungsebene mit εt = εtu = 5,95 ‰ abgebildet. Das Textil ist damitwirtschaftlich vollkommen ausgenutzt. Die Betonrandstauchungen va-riieren zwischen 0 und -3,5 ‰. Bei gleichem bezogenen Moment µtnehmen die Betonstauchungen εc2 mit zunehmender fiktiver Dehnungεt0 zu. Weiterhin ist in Abb. 11 zu erkennen, dass die Grenzlinie zwi-schen Beton- und Textilversagen, gekennzeichnet in der Grafik durch

die dunkelblaue Linie, mit zunehmender fiktiver Dehnung εt0 bei glei-chem bezogenen Moment µt abnimmt. Dehnungsebene, Versagensartund damit auch die zu bestimmende erforderliche BewehrungsflächeAt werden somit von der Vordehnung des unverstärkten Bauteils be-einflusst.

Um dies zu verdeutlichen, ist in Abb. 12 das bezogene Moment µt inAbhängigkeit von der Textilspannung σt und von der fiktiven Dehnungεt0 dargestellt. Zu sehen ist, dass im Bereich des Betonversagens, dasheißt, bei großen bezogenen Momenten µt oder großen Vordehnun-gen, die Textilspannungen mit zunehmender Vordehnung abnehmen.Eine Nichtberücksichtigung der Vorbelastung würde unter Umständenzu einer zu geringen erforderlichen Bewehrungsfläche führen.

Dies unterstreicht folgendes einfaches Beispiel. Bei einer gegebenenfiktiven Vordehnung von εt0 = 2,0 ‰ und einem bezogenen Moment

Abb. 10: Einfluss der Vorbelastung auf den mechanischen Beweh-rungsgrad ωt

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Abb. 11: Einfluss der Vorbelastung auf die Dehnungsebene, angelehntan Frenzel [15]

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Abb. 12: Einfluss der Vorbelastung auf die Bemessungsspannung imCarbon

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von µt = 0,24 würde sich bei einer Nichtberücksichtigung der Vordeh-nung eine Textilspannung σt von 1292 N/mm² ergeben (siehe Abb.12, Punkt 1, grün). Die Grenzdehnung des Textils und somit die Trag-fähigkeit des Textils werden rechnerisch erreicht. Wird die fiktive Vor-dehnung von εt0 = 2,0 ‰ nun berücksichtigt, wird nicht mehr Textil-versagen sondern Betondruckversagen maßgebend. Die Grenzdeh-nung des Textils wird nicht mehr erreicht. Es ergibt sich eine rechneri-sche Textilspannung σt von 952 N/mm² (siehe Abb. 12, Punkt 2,grau). Bei gleichem mechanischen Bewehrungsgrad ωt (siehe Abb.10) führt eine Nichtberücksichtigung der Vorbelastung bei dem gege-benen Beispiel zu einer um 26 Prozent geringeren erforderlichen Be-wehrungsmenge. Die zu bestimmende Bewehrungsfläche wird somitunterschätzt.

Zusammengefasst lässt sich konstatieren, dass bei großen Bauteilvor-dehnungen und/oder bei großen bezogenen Momenten eine Berück-sichtigung der Vorverformung erforderlich ist, da ansonsten eineNichtberücksichtigung der Vorbelastung unter Umständen zu einer zugeringen erforderlichen Bewehrungsquerschnittsfläche führt.

4 Praktische Anwendung4.1 EinleitungDie Anwendung von Carbonbewehrung in ersten Praxisprojekten istbereits aus den 1990er Jahren bekannt. In Kanada und Japan wurdenin Teilbereichen von Brücken beispielsweise stabförmige Carbonbe-wehrungen eingesetzt [29]. Zahlreiche aktuelle Brückenprojekte inden USA, bei denen Carbonstabbewehrungen zum Einsatz kommen,sind unter anderen [30] zu entnehmen.

Bei Praxisprojekten in Deutschland kommen bisher stabförmige Be-wehrungen nur aus AR-Glas zum Einsatz. Informationen über ausge-führte Projekte sind beispielsweise in [31] zu finden.

Der Schwerpunkt der Anwendungen lag in Deutschland bisher auf denmattenartigen/textilen Bewehrungen aus AR-Glas und Carbon. Bis vorwenigen Jahren konnte im Rahmen eines Fachbeitrages noch auf allebisherigen Praxisprojekte eingegangen werden. Der starke Anstieg derProjekte mit Carbon-/Textilbeton lässt dies heute nicht mehr zu, so-dass im Folgenden anhand von wenigen Beispielen lediglich die Viel-falt der Anwendung gezeigt werden kann. Die Erläuterung erfolgt ge-trennt nach Neubau und Sanierung/Verstärkung. Weitergehende Be-schreibungen und Projekte werden in [32] und [33] dargestellt.

4.2 NeubauFassaden und Verkleidungen sind bereits bei einer Vielzahl von Praxis-projekten zur Anwendung gekommen. Die Anforderungen an vorge-hängte Fassaden steigen stetig. Die Fassadenplatten sollen mit immergrößeren Elementabmessungen, einer möglichst vielfältigen Profilie-rung, gestalterischer Vielfalt und in verschiedenen Farben verfügbarsein. Eine hervorragende Ergänzung der bestehenden Stahlbetonlö-sungen bieten Carbon- und AR-glasbewehrte Platten mit Dicken vonnur 20 bis 30 Millimeter [34]. Kleinere Platten (zum Beispiel 0,60 m x1,20 m) werden vor allem mit AR-Glasbewehrung bewehrt – bei dengrößeren Platten (teilweise bis zu 3,0 m x 5,0 m) kommt Carbonbe-wehrung zur Anwendung.

Am Stadtquartier Neuer Markt in Neumarkt i. d. Oberpfalz, wird ge-zeigt, dass bei Fassaden auch Mischbauweisen in Kombination mitStahlbeton sinnvoll sein können (Abb. 13).

Die Platten aus textilbewehrtem Beton sind durch ihre hohe Tragfähig-keit und das geringe Gewicht nicht nur zur Verkleidung von Fassadengeeignet. Sie wurden unter anderem bereits als Verkleidung der welt-weit höchsten Brückenpylone (der 322 Meter hohen Pylone der Yavuz-

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Abb. 15: Sandwichwandelement

Abb. 13: Fassadenelemente aus Architekturbeton

Abb. 14: Platten mit Glas- und Carbonbewehrung an der neuen Bos-porus-Brücke in Istanbul

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Sultan-Selim-Brücke über den Bosporus in Istanbul) verwendet. ZurAnwendung kamen Bewehrungen aus Glas und Carbon [35]. Abb. 14zeigt die Anordnung der Platten in einer Höhe von 300 Meter.

Aufbauend auf den umfangreichen Erfahrungen mit den Fassaden undVerkleidungen wurden auch Sandwichwandelemente mit einer Innen-schale aus Stahlbeton, einer Dämmschicht, einem Schubgitter und ei-ner textilbewehrten Außenschale entwickelt. Die Vorteile dieses Wand-aufbaus sind vor allem die reduzierte Wanddicke, das reduzierte Bau-teilgewicht und die reduzierte Menge eingefärbten teuren Betons.Beim Büropark Eastsite in Mannheim wurde die Sandwichwand be-reits bei mehreren Gebäuden erfolgreich eingesetzt [36]. Seit diesemJahr steht auch für den Bau von Sandwichwänden mit textiler Beweh-rung eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung (abZ) zur Verfügung(siehe Abschnitt 2). Beispielhaft ist in Abb. 15 ein Sandwichwandele-ment zu sehen.

Neben der bisher erläuterten Anwendung bei ebenen Platten wird dieBewehrung unter anderem auch zur Bewehrung von Brückenüberbau-ten verwendet. In Deutschland wurden bereits vier Brücken gebaut,die als Fuß- und Radwegbrücke konzipiert sind [37], [38] und [39].

Die ersten zwei Brücken in Oschatz und Kempten sind als Einfeldträgermit Trogquerschnitt und Spannweiten von 8,60 beziehungsweise 16Meter ausgeführt. Die einzelnen circa einen Meter langen Segmentewurden mit Stahlspanngliedern zusammengespannt. Die Wandstärkeder mit AR-Glas bewehrten Segmente beträgt drei Zentimeter. Die drit-te gebaute Brücke steht in Albstadt, ist 97 Meter lang und wurde aussechs mit AR-Glasmatten bewehrten und mit Stahlspanngliedern vor-

gespannten mehrstegigen Plattenbalkensegmenten errichtet. Die Ein-zelsegmente haben eine Länge von bis zu 17 Meter. Die Abb. 16 undAbb. 17 zeigen diese beiden Brückentypen.

Die vierte Brücke wurde in Albstadt-Ebingen errichtet. Sie ist die ersteBrücke, die ausschließlich mit Carbon bewehrt ist. Die 14 Tonnen leich-te Brücke hat eine Breite von drei Metern und eine Spannweite von 15Metern. Die Dicke der Fahrbahn beträgt neun Zentimeter und die Brüs-tung hat eine Dicke von sieben Zentimetern. Die Brücke kann mit Fahr-zeugen befahren werden, deren Gewicht zehn Tonnen nicht über-schreitet [39]. Abb. 18 zeigt die Brücke im aktuellen Zustand.

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Abb. 16: Trogbrücke aus 18 Segmenten in Kempten

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Abb. 17: Plattenbalkenbrücke aus sechs Segmenten in Albstadt-Laut-lingen

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Für weitere Neubauprojekte – wie zum Beispiel Balkonbodenplattenund leichte Dachschalen – wird unter anderen auf [40], [41] und [42]verwiesen.

4.3 Bauen im BestandDer Carbonbeton wurde bereits für die Verstärkung von Stahlbetonge-schossdecken eingesetzt. Unter anderem wurden die Decken in einemneu gebauten Wohn- und Geschäftshaus in Prag verstärkt. Die 23 Zen-timeter dicken Stahlbetonplatten sind 30 × 70 Meter groß und punktu-ell gestützt. Die Decken zeigten eine nicht ausreichende Tragfähigkeitund große Durchbiegungen von bis zu 15 Zentimeter. Der Zustand ei-ner Geschossdecke einer Fertigungshalle in Koblenz ähnelte der ebenbeschriebenen Situation in Prag. Einzelne Deckenbereiche wiesenDurchbiegungen von bis zu neun Zentimeter auf. Die Folge warenSchäden in den Wänden und an Aufbauten im darüberliegenden Büro-geschoss. Bei beiden Bauwerken wurden die Decken auf der Untersei-

te mit einer ein bis zwei Zentimeter dicken Carbonbetonschicht ver-stärkt [43].

Ein weiteres großes Anwendungsfeld ist die Sanierung und Verstär-kung von denkmalgeschützten Schalen- und Kuppelkonstruktionen.Die Verstärkung einer Hyparschale in Schweinfurt aus dem Jahr 1960ist als eine der ersten Anwendungen zu nennen [44]. Die Abmessun-gen der im Mittel acht Zentimeter dicken Stahlbetonschale beträgt38 × 39 Meter. Eine Verstärkung mit Carbonbeton erfolgte mit einernur 1,5 Zentimeter dicken Schicht auf der Außenseite.

Auch die Verstärkung eines Tonnendaches in Zwickau aus dem Jahr1903 kann in diesem Zusammenhang als Beispiel aufgeführt werden[45]. Die acht Zentimeter dicke Stahlbetonkonstruktion überspannt ei-ne Fläche von 7 × 16 Meter. Ein Nachweis der Tragfähigkeit der denk-malgeschützten Konstruktion konnte nach heutigen Sicherheitsstan-

Abb. 19: Denkmalgeschütztes Tonnendach nach der Sanierung

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Abb. 20: Zuckersilo während der Instandsetzung

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Abb. 18: Trogbrücke aus Carbonbeton in Albstadt-Ebingen

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dards nicht mehr erbracht werden. Die erforderliche Verstärkung er-folgte mit einer ein bis zwei Zentimeter dicken Schicht aus Carbonbe-ton auf der Außen- und Innenseite. Abb. 19 zeigt einen Teilbereich desTonnendaches nach der Sanierung.

Ebenso wurde Carbonbeton bereits zur Sanierung von Silos eingesetzt.Zuerst wurde ein Zuckersilo mit einem Fassungsvermögen von 20.000Tonnen verstärkt. Das zylindrische Stahlbetonsilo besitzt eine Höhevon circa 45 Meter sowie einen Außendurchmesser von rund 30 Meterund ist in horizontaler Richtung vorgespannt. Auf der Innenseite wiesdie Oberfläche zahlreiche Risse mit großen Rissweiten auf. Um dieBausubstanz des Silos zu erhalten und die Reinheit des Zuckers zu ge-währleisten, war eine grundlegende Rissinstandsetzung des Silos er-forderlich [46]. Zudem war ein weiteres Silo mit einem Fassungsver-mögen von 80.000 Tonnen Zucker nach einem Brand instandzusetzen.Die Instandsetzung beider Silos erfolgte mit Carbonbeton auf der In-nenseite. Abb. 20 zeigt die Innenansicht des zweiten Silos im Bauzu-stand.

Anwendungen im Bereich von Brücken sind auch aus Kempten be-kannt. Das Aufbringen einer Schutz- und Ausgleichsschicht auf einer18 Meter langen Rohrbrücke aus Leichtbeton sind hier genauso zunennen, wie die Sanierung des Sockelbereiches eines 50 Meter langenund 15 Meter breiten Durchlasses.

Als Beispiel für größere Projekte im Bereich von Straßenbrücken kön-nen die Sanierung einer Einfeldbrücke im Jahr 2012 und die Sanierung

einer Mehrfeldbrücke im Jahr 2014 genannt werden (unter anderen[47] und [48]). Bei beiden Projekten wurde als Aufbeton eine direktbefahrbare Carbonbetonschicht aufgebracht. Abb. 21 zeigt die Her-stellung der Carbonbetonschicht auf der Mehrfeldbrücke.

Ein weiteres Beispiel ist die Sanierung einer Eisenbahnbogenbrückeaus dem Jahr 1910, die heute als Fuß- und Radwegbrücke genutztwird [49]. Die bis zu 19 Meter weit gespannten Bögen wiesen Rissemit großen Rissweiten auf. Die Sanierung erfolgte an den Unterseitender Bögen mit einer vollflächigen Carbonbetonschicht. Abb. 22 zeigtdie Brücke gegen Ende der Sanierungsarbeiten.

Eine neuartige praktische Anwendung, bei der die Carbonbewehrungder Sanierungsschicht gleichzeitig als kathodischer Korrosionsschutzverwendet wird, ist unter anderem in [50] beschrieben.

5 Das C³-ProjektDie sehr positive Entwicklung und das hohe Potenzial der Carbon- undTextilbetonbauweise haben das Bundesministerium für Bildung undForschung (BMBF) veranlasst, ein großes Forschungsprojekt zum The-ma Carbonbeton mit dem Ziel zu finanzieren, den Baustoff als neuen,nachhaltigen, umwelt- und ressourcenschonenden Baustoff durch dieVorbereitung einer Richtlinie zu etablieren. Das Großprojekt umfasstüber 50 einzelne Forschungsvorhaben.

Von Anfang 2015 bis Ende 2016 wurden in vier Basisvorhaben vor al-lem richtungweisende Arbeiten zu Bewehrungen, Beschichtungen,Bindemitteln, Betonen, Konstruktionen, Bemessungsverfahren und zurMaterialprüfung durchgeführt. Somit liegen heute belastbare Untersu-chungsergebnisse für textile und stabförmige Bewehrungen vor, die indie weitere Bauteilentwicklung einfließen können.

2016 begannen Projekte zum Abbau von Markteintrittsbarrieren. Hierwerden beispielsweise Themen wie Herstellungs- und Verarbeitungs-prozesse, Normen und Zulassungen, Arbeitsschutz, aber auch Ab-bruch, Rückbau und Recycling bearbeitet. Die Ergebnisse sollen unteranderem die Grundlagen für Richtlinien und Normen sein, sodass dieAnwendung von Carbonbeton in Zukunft noch einfacher wird. Anfang2017 sind Vorhaben zur Technologieumsetzung gestartet, und ab 2018stehen Untersuchungen und Studien zu konkreten Produkten, Dienst-leistungen und Anwendungen im Fokus. Sowohl Parkhausdecken alsauch Doppelwände sind hier beispielhaft zu nennen. Die Verbesserungder Automatisierung der Herstellung bildet einen weiteren Schwer-punkt solcher Arbeiten.

Durch das Ziel der zeitnahen flächendeckenden Markteinführung ste-hen bei vielen der Forschungsvorhaben innerhalb des C³-Projektes diewichtigen und unverzichtbaren Themen wie das Tragverhalten, dieDauerhaftigkeit und die Bemessung im Zentrum der Arbeit. C³ geht je-doch auch weiter und fasst visionäre Themen an. Im Folgenden wer-den beispielhaft nur drei Ansätze genannt.

� Prepregs (vorimprägnierte Fasern) sind aus dem Kunststoffbereichschon heute bekannt. Carbontextilien werden bereits während derFertigung mit einem Harz (der Matrix) getränkt und anschließendam Aushärten gehindert – zum Beispiel durch eine sehr kühle Lage-rung. Die frei formbaren Halbzeuge können auch nach Wochennoch in die gewünschte Form gebracht und beispielsweise durchWärme ausgehärtet werden. Carbonbetonforscher widmen sich ak-

Abb. 21: Herstellung der direkt befahrbaren Carbonbetonschicht

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Abb. 22: Bogenbrücke zum Ende der Sanierung

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tuell der Frage, ob ein vergleichbares Verfahren auch mit Beton um-setzbar ist. Abb. 23 zeigt einen Vergleich eines Prepregs aus demKunststoff- und dem Betonbereich.

� Multifunktionalität von Bauteilen könnte vor allem mit Carbonbe-ton umsetzbar sein. Die Carbonfasern sind elektrisch leitend undhaben einen elektrischen Widerstand. Im Labor wurde bereitsnachgewiesen, dass die im Bauteil verbaute Carbonbewehrunggleichzeitig als Heizelement genutzt werden und so zum Beispieleine Wandheizung sehr einfach realisiert werden kann [51]. Darü-ber hinaus wird in der Forschung die Nutzung der Fasern für Senso-rik und Speicherung, aber auch für die Datenübertragung unter-sucht.

� Mineralische Beschichtungen und Carbonbewehrungsstäbe sindweitere Schwerpunkte. Die Anwendung der bisher verwendetenKunststoffbeschichtungen und -tränkungen der Carbongarne istauf eine Temperatur von 100 Grad Celsius begrenzt. Außerdemkönnen die bisherigen Carbonbewehrungen nur auf Zug und nichtnennenswert auf Druck beansprucht werden. Gelänge es, die ein-zelnen Carbonfilamente mit einer mineralischen Matrix zusammen-zufassen, könnte der Anwendungsbereich auf einen deutlich höhe-ren Temperaturbereich ausgeweitet werden. Auch die Ableitungvon Druckkräften wäre vermutlich deutlich besser möglich. Abb.24 zeigt einen Vergleich zwischen einem Stahlbewehrungsstab undeinem Bewehrungsstab aus Carbonfilamenten mit mineralischerBeschichtung und gleichem Durchmesser.

6 AusblickDas Großforschungsprojekt C³ wird bis Ende 2021 fortgeführt. In denkommenden Jahren werden die Bewehrungen – unter anderem dieTemperaturbeständigkeit, die Tragfähigkeit, das Verbundverhalten unddie Kosten – weiter verbessert. Bemessungsmodelle werden über ersteRichtlinien in die Praxis eingeführt und Herstellprozesse in Bezug aufZeit, Kosten und Qualität optimiert. Ganz neue Produkte wie zum Bei-spiel Leitplanken, Parkhausdecks, Doppelwände und Fertigteilgaragenreifen zur wirtschaftlichen Verwertbarkeit.

9 Literatur[1] Curbach, M.; Ortlepp, R.; Scheerer, S.; Frenzel, M.: Von der Vision

zur Anwendung: Verstärken mit textilbewehrtem Beton. Der Prüf-ingenieur (2011) 39, S. 32-44

[2] Scheerer, S.; Schladitz, F.; Curbach, M.: Textile reinforced Concrete -from the idea to a high performance material. In: Brameshuber, W.(Hrsg.): Proceedings of the FERRO-11 and 3rd ICTRC in Aachen.Bagneux, France : Rilem Publications S.A.R.L., 2015, S. 15-33

[3] Sonderforschungsbereich 528: https://tu-dresden.de/bu/bauinge-nieurwesen/imb/forschung/sfb528/index/ (Stand 01.09.2017)

[4] Sonderforschungsbereich 532: http://www.textilbeton-aachen.de(Stand 01.09.2017)

[5] Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Zwan-zig20 – Partnerschaft für Innovation, http://www.unternehmen-region.de/de/6829.php (Stand 01.09.2017)

[6] C³-Konsortium: http://www.bauen-neu-denken.de (Stand 01.09.2017)

[7] Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung Nr. Z-31.10-182: Verfah-ren zur Verstärkung von Stahlbeton mit TUDALIT (TextilbewehrterBeton). Deutsches Institut für Bautechnik, Berlin, 01.12.2016

[8] Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung Nr. Z-33.1-577: „beto-Shell Classic“ Platten aus Betonwerkstein mit rückseitig einbeto-nierten Befestigungselementen zur Verwendung als hinterlüfteteAußenwandbekleidung oder als abgehängte Decke. DeutschesInstitut für Bautechnik, Berlin, 27.11.2013

[9] Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung Nr. Z-21.9-2072: Rücksei-tige Befestigung von betoShell-Fassadenplatten mittels FischerZykon-Plattenanker FZP II auf Unterkonstruktionen. DeutschesInstitut für Bautechnik, Berlin, 29.09.2016

[10] Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung Nr. Z-71.3-39: SolidianSandwichwand. Deutsches Institut für Bautechnik, Berlin,22.05.2017

[11] von der Heide, A.-C.: Allgemeine bauaufsichtliche Zulassungenfür Sandwichwände und Fertigteilgaragen. In: TUDALIT e. V.(Hrsg.): TUDALIT Magazin 17 (September 2017), S. 21

[12] DIN-EN-1992-1-1: Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton-und Spannbetontragwerken - Teil 1-1: Allgemeine Bemessungsre-geln und Regeln für den Hochbau. 2011

[13] Just, M.: Sicherheitskonzept für Textilbeton. Beton- und Stahlbe-tonbau 110 (2015) Spezial Suplement „Verstärken mit Textilbe-ton“,, S. 42-46

[14] Bösche, A.: Möglichkeiten zur Steigerung der Biegetragfähigkeitvon Beton-und Stahlbetonbauteilen durch den Einsatz textilerBewehrungen – Ansatz für ein Bemessungsmodell, TechnischeUniversität Dresden, Dresden, 2007, Dissertation

[15] Zilch, K.; Zehetmaier, G.: Bemessung im konstruktiven Betonbau.Springer, Heidelberg, 2010

[16] Frenzel, M.; Curbach, M.: Bemessungsmodell zur Berechnung derTragfähigkeit von biegeverstärkten Stahlbetonplatten. In: Cur-bach, M.; Ortlepp, R. (Hrsg.): Textilbeton in Theorie und Praxis –Tagungsband zum 6. Kolloquium zu textilbewehrten Tragwerken,Abschlusskolloquium der Sonderforschungsbereiche 528 (Dres-den) und 532 (Aachen), Berlin, 19./20. September 2011. Techni-sche Universität Dresden, 2011, S. 381-399

[17] Frenzel, M.: Bemessung textilbetonverstärkter Stahlbetonbautei-le unter Biegebeanspruchung. Beton- und Stahlbetonbau 110(2015) Spezial Suplement „Verstärken mit Textilbeton“, S. 54-68

[18] DIN-EN-1990: Grundlagen der Tragwerksplanung. 2010[19] JCSS: Probabilistic Model Code. Joint Commitee of Structural

Safety, 2000

Abb. 23: Vergleich von Prepregs für carbonfaserverstärkte Kunststoffe(links) und Carbonbeton (rechts)

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erAbb. 24: Vergleich eines Carbonbewehrungsstabes (links) und einesStahlbewehrungsstabes (rechts)

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[20] Hansen, M.: Zur Auswirkung von Überwachungsmaßnahmen aufdie Zuverlässigkeit von Betonbauteilen. Universität Hannover,2004, Dissertation

[21] Curbach, M.; Lorenz, E.; Schladitz, F.; Schütze, E.; Weiland, S.:Gesamtbericht der experimentellen Untersuchungen zur allge-meinen bauaufsichtlichen Zulassung für ein Verfahren zur Ver-stärkung von Stahlbeton mit TUDALIT (Textilbewehrter Beton) /Institut für Massivbau der TU Dresden. unveröffentlichter Be-richt, dem Deutschen Institut für Bautechnik (DIBt) vorliegend,2014

[22] Hansen, M.; Grünberg, J.: Überwachungsmaßnahmen und Bau-werkszuverlässigkeit – Zusammenhänge und Auswirkungen. Be-ton- und Stahlbetonbau 101 (2006), S. 343-349

[23] Pottharst, R.: Zur Wahl eines einheitlichen Sicherheitskonzeptesfür den konstruktiven Ingenieurbau. In: Mitteilungen aus dem In-stitut für Massivbau der Technischen Hochschule Darmstadt, Heft22, Ernst & Sohn Verlag, Berlin, 1977

[24] Rempel, S.; Ricker, M.: Ermittlung der Materialkennwerte der Be-wehrung für die Bemessung von textilbewehrten Bauteilen; Bau-ingenieur; Bd. 92, 2017, S. 280-288

[25] Rubinstein, R. Y.; Kroese, D. P.: Simulation and the Monte Carlomethod. John Wiley & Sons, 2016.

[26] Häußler-Combe, U.; Weselek, J.; Jesse, F.: A safety concept fornon-metallic reinforcement for concrete demonstrated for ben-ding. Structural Concrete; 2017 (eingereicht)

[27] Zobel, R.: V.1.2 Nachweis- und Prüfkonzept für Normen und Zu-lassungen. Vorhaben im C³-Projekt, https://www.bauen-neu-den-ken.de/vorhaben/v1-2-nachweis-und-pruefkonzepte-fuer-nor-men-und-zulassungen/

[28] Häußler-Combe, U.; Jesse, F.; Weselek, J.: Konzeption von Teilsi-cherheitsfaktoren für Verstärkungen von Biegequerschnitten mit-tels Carbonbeton. Beton- und Stahlbetonbau; Bd. 110, Novem-ber 2015, S. 747-758

[29] Rizalla, S. H.; Tadros, G.: FRP for prestressing of concrete bridgesin Canada. ACI Special Publication (2003) 215, pp. 75–90

[30] Ushijima, K.; Enomoto, T.; Koso, N.; Yamamoto, Y.: Field deploy-ment of carbon-fiber-reinforced polymer in bridge applications.PCI Journal 61 (2016) 5, pp. 29–36

[31] Schöck: Combar, https://www.schoeck.de/de/combar [32] Ehlig, D.; Schladitz, F.; Frenzel, M.; Curbach, M.; Textilbeton - Aus-

geführte Projekte im Überblick. Beton- und Stahlbetonbau 107(2012) 11, S. 777–785

[33] Erhardt, E.; Weiland, S.; Lorenz, E.; Schladitz, F.; Beckmann, B.;Curbach, M.: Anwendungsbeispiele für Textilbetonverstärkung.Beton- und Stahlbetonbau 110 (2015) S1, S. 74-82

[34] Rempel, S.; Will, N.; Hegger, J.; Beul, P.: Filigrane Bauwerke ausTextilbeton. Beton- und Stahlbetonbau 110 (2015) Spezial Suple-ment „Verstärken mit Textilbeton“, S. 83-93

[35] Shams, A.: Verkleidung der höchsten Brückenpfeiler der Welt mitTextilbeton. In: TUDALIT e. V. (Hrsg.): TUDALIT Magazin 17 (Sep-tember 2017), S. 14

[36] Kulas, C.: Allgemeine bauaufsichtliche Zulassungen für Sand-wichwände und Modulbauten. In: TUDALIT e. V. (Hrsg.): TUDALITMagazin 17 (September 2017), S. 20

[37] Scheerer, S.; Michler, H.; Curbach, M.: Brücken aus Textilbeton. In:Mehlhorn, G; Curbach, M. (Hrsg.): Handbuch Brücken. SpringerVieweg Verlag, 2014, S. 118-126

[38] Michler, H.: Segmentbrücke aus textilbewehrtem Beton – Rot-tachsteg Kempten im Allgäu. Beton- und Stahlbetonbau, 108(2013), S. 325-334

[39] Helbig, T.; Unterer, K.; Kulas, C.; Rempel, S.; Hegger, J.: Fuß- undRadwegbrücke aus Carbonbeton in Albstadt-Ebingen. Beton- undStahlbetonbau 111 (2016), S. 676–685

[40] Frenzel, M.; Lieboldt, M.; Curbach, M.: Leicht Bauen mit Beton:Balkonplatten mit Carbonbewehrung. Beton- und Stahlbetonbau109 (2014), S. 713-725

[41] Scholzen, A.; Chudoba, R.; Hegger, J.; Will, N.: Leichte Dachscha-len aus Carbonbeton. Beton- und Stahlbetonbau 111 (2016), S.663-675

[42] Scheerer, S.; Chudoba, R.; Garibaldi, M. P.; Curbach, M.: Shellsmade of textile reinforced concrete – applications in Germany. In:Journal of IASS, 2017, S. 79-93

[43] TUDALIT-Planermappe: http://tudalit.de/wp-content/uploads/2016/09/TUDALIT-Planermappe-gesamt.pdf

[44] Curbach, M.; Ortlepp, R.; Weiland, S.; Haupenbucher, B.: Textilbe-wehrter Beton zur Verstärkung eines Hyparschalentragwerks inSchweinfurt. Beton- und Stahlbetonbau 102 (2007), Heft 6, S.353-361.

[45] Schladitz, F.; Lorenz, E.; Jesse, F.; Curbach, M.: Verstärkung einerdenkmalgeschützten Tonnenschale mit Textilbeton. Beton- undStahlbetonbau 104 (2009), Heft 7, S. 432–437. doi:10.1002/best.200908241

[46] Weiland, S.; Schladitz, F.; Schütze, E.; Timmers, R.; Curbach, M.:Rissinstandsetzung eines Zuckersilos. Bautechnik 90 (2013), S.498-504. doi:10.1002/bate.201300046

[47] Feix, J.; Hansl, M.: Pilotanwendung von Textilbeton für Verstär-kungen im Brückenbau. In: Curbach, M. (Hrsg.): Tagungsbandzum 25. Dresdner Brückenbausymposium. 09./10.3.2015 in Dres-den, Dresden: Institut für Massivbau der TU Dresden, 2015, S. 99-110

[48] Egger, M.; Feix, J.: Textilbeton im Ingenieurbau. Innsbrucker Bau-tage 2017, 23. Februar 2017 in Innsbruck, S.88-108

[49] Al-Jamous, A.; Uhlig, K.: Sanierung der historischen Betonbogen-brücke in Naila. In: Curbach, M. (Hrsg.): Tagungsband zum 27.Dresdner Brückenbausymposium. 13./14.3.2017 in Dresden,Dresden: Institut für Massivbau der TU Dresden, 2017, S. 71-78

[50] Asgharzadeh, A.; Raupach, M.; Koch, D.; Mahjoori, M.: Kathodi-scher Korrosionsschutz für Parkbauten mit carbontextilienbe-wehrtem Spezialmörtel. Bautechnik 93 (2016), S. 185-191

[51] Schütze, E.; Tietze, M.; Curbach, M.; Hülsmeier, F.: Heizen mitBauteilen aus Textilbeton - Das Projekt smarttex. Carbon Compo-sites Magazin 2 (2013), S. 79

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VERKEHRSWASSERBAU

36 Der Prüfingenieur | November 2017

Eine außergewöhnlich diffizile bautechnische Aufgabe:Fünf neue Schleusen entlang des Dortmund-Ems-Kanals Gefragt sind die Beratung großer Planungsteams unddie möglichst frühzeitige Einbindung der Prüfingenieure

In den kommenden Jahren werden am Dortmund-Ems-Kanal(DEK) fünf neue Schleusen gebaut. Zwei Planfeststellungsver-fahren, Standardisierungsanforderungen innerhalb der Wasser-straßen- und Schifffahrtsverwaltung, ein langjähriger Planungs-prozess und nicht zuletzt 15 Bauvergaben stellen eine enormeHerausforderung für Bauherrn, Planungsbüros, Prüfingenieureund Baufirmen dar. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-tung des Bundes (WSV) ist für die Einhaltung aller Anforderun-gen der Sicherheit und Ordnung verantwortlich, setzt aber, wieim folgenden Beitrag über diese Großprojekte deutlich wird,auch zahlreiche externe Büros ein. Bei derartigen Infrastruktur-maßnahmen erfolgt nach der Vergabe der Bauleistungen in derRegel ein Wechsel des planenden Ingenieurbüros. Die Unterbe-hörde der WSV kann als verantwortlicher Entwurfsaufsteller In-genieurbüros für die Bearbeitung und Prüfingenieure für diePrüfung der Entwurfsunterlagen einschalten. Anschließend er-folgt eine Weiterentwicklung der Entwurfsplanungen zu Aus-schreibungsplanungen – im optimalen Fall durch das selbe Pla-nungsbüro. Die abschließende Ausführungsplanung wird in derRegel mit der Bauleistung vergeben und dann im Auftrag desBauunternehmens von einem weiteren Planer erbracht. DiesePlanungen werden wiederum im optimalen Fall von demselbenPrüfingenieur geprüft und anschließend von der WSV zur Aus-führung freigegeben.

1 EinleitungDer Dortmund-Ems-Kanal (DEK) verbindet über den Rhein-Herne-Ka-nal und den Wesel-Datteln-Kanal das Ruhrgebiet mit den SeehäfenBremen und Hamburg sowie über den bei Bergeshövede abzweigen-den Mittellandkanal mit den Industrieregionen in Mittel- und Ost-deutschland.

Während sein südlicher Teil von Datteln bis Bergeshövede bereits seit2007 von Großmotorgüterschiffen mit 2,50 Meter Abladetiefe befah-ren werden kann, sind auf seiner Nordstrecke von Bergeshövede bisGleesen bisher nur Schiffe mit Abmessungen von bis zu 100 MeterLänge und 9,65 Meter Breite bei einer maximalen Abladetiefe von2,70 Meter zugelassen.

Die sechs Stufen des Dortmund-Ems-Kanals zwischen Bergeshövedeund Gleesen bilden die Schleusentreppe Rheine (Abb. 1), die ur-sprünglich aus sieben Schleusen mit 67 Metern Nutzlänge und 8,60Metern Kammerbreite bestand. Um der früheren Verkehrsentwicklungund der Zunahme der Schiffsgrößen Rechnung tragen zu können, wur-de die Schleusentreppe Rheine von 1914 bis 1918 um jeweils eine zu-sätzliche Große Schleuse mit 160 Metern Nutzlänge und Kammerbrei-ten von 9,80 bis zehn Meter erweitert. Dabei übernahm die GroßeSchleuse Bevergern die Funktion von zwei Kanalstufen, der kleinenSchleuse Bergeshövede und der kleinen Schleuse Bevergern.

Die heute noch in Betrieb befindlichen Großen Schleusen Bevergern,Rodde, Venhaus, Hesselte und Gleesen sind über einhundert Jahre altund haben das Ende Ihrer Lebensdauer erreicht. Die zwischen denSchleusen Rodde und Venhaus liegende Schleuse Altenrheine wurdebereits 1974 durch einen Neubau ersetzt.

Damit auch zukünftig die DEK-Nordstrecke zuverlässig und dauerhaftbetrieben werden kann, ist ein Ersatz auch der fünf übrigen Schleusen-bauwerke der Schleusentreppe Rheine erforderlich.

Dazu sollen die vorhandenen Bauwerke durch neue Schleusen mit 140Metern Nutzlänge und 12,50 Meter Kammerbreite ersetzt werden. DieSchleuse Altenrheine wurde seinerzeit mit einer nutzbaren Kammer-länge von 190 Metern und einer Kammerbreite von zwölf Metern ge-baut. Durch die gewählten Abmessungen können zukünftig auchGroßmotorgüterschiffe und übergroße Großmotorgüterschiffe mit ei-ner Breite von 11,45 Meter die Schleusentreppe Rheine passieren. Diesentspricht einer teilweisen Umgestaltung des betroffenen Streckenab-schnitts zur Wasserstraßenklasse Va gemäß dem Klassifizierungssys-tem für europäische Wasserstraßen*.

Dr.-Ing. Jeannette Ebers-Ernststudierte Bauingenieurwesen an der TU Leipzigund an der TU Braunschweig, wo sie auch pro-movierte; nach sechsjähriger Tätigkeit als wis-senschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sta-tik der TU Braunschweig war sie in verschiede-

nen Funktionen bei der Sweco GmbH tätig, zuletzt als Bereichs-leiterin und Prokuristin; seit 2017 ist sie Prokuristin und Mitgliedder Geschäftsfeldleitung der grbv Ingenieuere im Bauwesen(Hannover); Jeannette Ebers-Ernst ist seit 2009 Beratende Inge-nieurin der Ingenieurkammer Niedersachsen.

Dipl.-Ing. Birgit Maßmannstudierte Bauingenieurwesen (Konstruktiver Ingenieurbau) an derUniversität Dortmund und ist seit 1992 bei verschiedenen Was-ser- und Schifffahrtsverwaltungen in mehreren Sachbereichen alsLeiterin tätig; seit 2008 ist sie beim Wasserstraßen-NeubauamtDatteln für das Projekt „Neue Schleusen DEK-Nord“ verantwort-lich.

* Die Wasserstraßenklasse Va bezeichnet Binnenwasserstraßen, die von „Gro-ßen Rheinschiffen“ (Großmotorgüterschiffen) befahren werden können. Siesind maximal 110 Meter lang, 11,45 Meter breit, und sie haben einen Tiefgangvon 2,50 bis 2,80 Meter.

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VERKEHRSWASSERBAU

Der Prüfingenieur | November 2017 37

2 Projektverlauf und Organisation derProjektabwicklung

Der Neubau der Schleusen der DEK-Nordstrecke genießt in der RegionEmsland höchste Priorität, damit die Wertschöpfung bereits begonnenerInvestitionen zum Tragen kommt und die Wettbewerbsfähigkeit der Re-gion gestärkt wird. Das Projekt liegt somit nicht nur im unmittelbarenInteresse des Güterverkehrs, sondern auch im Interesse der Wirtschaftder Region sowie des Landes Niedersachsen. Am 6. November 2007wurde deshalb ein Vertrag zwischen der Region und der Wasserstraßen-und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) geschlossen, um das Pro-jekt gemeinsam voranzutreiben. Die Anfang 2008 gegründete Projekt-gruppe DEK-Nord besteht zum Teil aus Mitarbeitern der Region und istorganisatorisch an das Wasserstraßenneubauamt (WNA) Datteln ange-bunden. Der 2007 zwischen der Region und der WSV geschlossene Ver-trag ist auf zehn Jahre angelegt und läuft Ende dieses Jahres (2017) aus.

Der Bund hat diese Maßnahmen bereits 2007 in den Investitionsrah-menplan bis 2010 für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes (IRP) auf-genommen, weil sie einen dringend notwendigen Beitrag zur Sub-stanzerhaltung leisten und durch die Zulassung größerer Fahrzeugein-heiten gleichzeitig der Verbesserung der Gesamtwirtschaftlichkeit und– damit einhergehend – rationelleren Verkehrsabläufen dienen.

Auf der Grundlage eines von der WSV aufgestellten Entwurfs einerHaushaltsunterlage (Entwurf-HU) wurden 2009 Ingenieurbüros mitden Projektplanungen beauftragt.

Im März 2009 erhielt die Ingenieurgemeinschaft (INGE) DEK-Nord –Schleusen – bestehend aus den Büros Sweco (Bremen) (vormalsGrontmij), grbv Ingenieure im Bauwesen (Hannover), Lahmeyer Hy-droprojekt (Weimar), Knabe Enders Dührkop Ingenieure (Hamburg; in-zwischen ausgeschieden) und IRS Stahlwasserbau Consulting AG(Würzburg) – den Auftrag für die Planung der Schleusen und der Vor-häfen; die Federführung obliegt Sweco.

Mit Beginn der Entwurfsplanung wurde im Dezember 2011 eine Prüf-gemeinschaft – bestehend aus der König und Heunisch Planungsge-sellschaft (KHP, Frankfurt), der Schömig-Plan Ingenieurgesellschaft

(Kleinostheim) und der Prof. Dr.-Ing.Victor Rizkallah + Partner Ingenieurge-sellschaft (RI+P, Hannover) – mit derPrüfung der Entwurfsplanung in stati-scher und konstruktiver Hinsicht beauf-tragt. Da für den Bereich des Stahlwas-serbaus standardisierte Planungen mitgeprüften Ausführungsunterlagen denAusschreibungen zugrunde liegen soll-ten, erfolgte bereits für die Aufstellungder Ausschreibung auch die Beauftra-gung der Prüfgemeinschaft mit der Prü-fung der Ausführungsplanung im De-zember 2014.

Zur Erlangung des Baurechts sind Plan-feststellungsverfahren in zwei Bundes-

ländern erforderlich, nämlich in Niedersachsen und Nordrhein-Westfa-len. Nach Einleitung der Planfeststellungsverfahren im September2012 und zwei Erörterungsterminen im Mai und Dezember 2014 dau-ert das Klageverfahren in Niedersachsen gegen den Planfeststellungs-beschluss vom Februar 2015 noch an. Auch für den Planfeststellungs-abschnitt in Nordrhein-Westfalen liegt noch kein rechtskräftiger Be-schluss vor. Nach Genehmigung der sofortigen Vollziehung der Bau-maßnahmen am Schleusenstandort Gleesen wurde im März 2016 dererste Bauauftrag erteilt. Am 23. August 2016 erfolgte der symbolischeerste Spatenstich für die Baumaßnahmen am DEK-Nord.

Auch für die Unterstützung der Wasserstraßen- und Schifffahrtsver-waltung des Bundes bei der Bauabwicklung wurden freiberuflich Täti-ge eingeschaltet. Im Dezember 2016 erhielt die Ingenieurgemein-schaft Bauüberwachung Neue Schleusen DEK-Nord – bestehend ausden Büros grbv Ingenieure im Bauwesen (Hannover), Fichtner Water &Wind (Stuttgart), Lpi Ingenieurgesellschaft Prof. Dr.-Ing. Ludger Lo-haus/Dr.-Ing. Lasse Petersen (Hannover), Krebs+Kiefer (Darmstadt),ZPP German Engineering (Bochum) und iwb Ingenieure (Hamburg) –den Auftrag unter anderem für Leistungen aus den Bereichen Bauüber-wachung, Qualitätssicherung, Sicherheits- und Gesundheitsschutz undNachtragsbearbeitung.

Die Organisation der Projektabwicklung erfolgte unter folgenden we-sentlichen Randbedingungen:

� Die WSV hat in allen Phasen der Baudurchführung (Voruntersu-chung, Planung, Ausschreibung, Vergabe, Bauüberwachung, Be-trieb und Unterhaltung) ihrer bauaufsichtlichen Verantwortung ge-mäß Paragraf 48 des Bundeswasserstraßengesetzes (WaStrG) fürdie eigenen Anlagen in vollem Umfang gerecht zu werden.

� Die Planungsleistungen für dieses Projekt sind mit dem größtmög-lichen Anteil an Leistungen Dritter umzusetzen. Die Ausführungender Bauleistungen sind ebenfalls vor dem Hintergrund knapper Per-sonalressourcen zu planen. Hierzu waren die notwendigen Verga-beverfahren rechtzeitig zu optimieren.

In der Vorplanungsphase (Leistungsphasen 1 und 2 der HOAI) werdendie Grundsätze und die Konzeption für den gesamten Projektumfangfestgelegt. Gemäß Verwaltungsvorschrift für die Wasserstraßen- und

Abb. 1: Projektgebiet für den Ersatz derSchleusen am Dortmund-Ems-Kanal

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VERKEHRSWASSERBAU

38 Der Prüfingenieur | November 2017

Schifffahrtsverwaltung des Bundes sind diese Planungsleistungennicht geeignet, an Dritte vergeben zu werden, da die WSV als verant-wortliche Fachverwaltung ihr spezifisches Wissen in die Planung undAusführung einzubringen und vorzuhalten hat, was sich auch in derfachlichen Steuerung der Aufträge zeigt.

Allerdings ist eine Unterstützung der WSV durch Teilleistungen Dritterauch in diesen Leistungsphasen zulässig.

Da die Personalressource für dieses Projekt knapp bemessen ist (ins-besondere stehen keine Techniker und technischen Zeichner zur Verfü-gung), mussten auch für die Vorplanungsphase freiberuflich Tätigeherangezogen werden. Um der bauaufsichtlichen Verantwortung ge-mäß Paragraf 48 des Bundeswasserstraßengesetzes trotzdem in die-ser Planungsphase in vollem Umfang gerecht werden zu können,musste der Vertrag für die Leistungsphasen 1 und 2 der HOAI (Grund-lagenermittlung, Vorplanung) konkrete Verpflichtungen des Auftrag-nehmers beinhalten, deren Einhaltung der WSV die erforderlichenEntscheidungen – und somit auch die fachliche Steuerung des Projek-tes – ermöglicht.

Um den interagierenden Abhängigkeiten und Beeinflussungen jeweilsaller Objekte (insbesondere im Rahmen der Variantendiskussion) ineinem Planungsabschnitt umfassend darstellen zu können, war fürdie Grundlagenermittlung und für die Vorplanung – einerseits – je-weils eine kohärente Planung von einem Auftragnehmer erforderlich;andererseits beeinflussen die Planungsvorschläge für die Eingriffe indie unterschiedlichen Schutzgüter (Eigentum Dritter, Grundwasser,Ökologie, Landschaftsbild etc.) die öffentliche Akzeptanz und die öf-fentlich-rechtliche Durchsetzbarkeit der Maßnahmenplanung wesent-lich, und sie bilden deshalb den Schwerpunkt des Planfeststellungs-verfahrens.

Um diesen Anforderungen Rechnung zu tragen, empfahl sich die Be-auftragung eines Auftragnehmers mit der Bearbeitung der Objektpla-nung (Leistungsphasen 1 und 2 der HOAI) für alle Objekte der beidenPlanungsabschnitte sowie die Fortsetzung der Bearbeitung durch denselben Auftragnehmer (HOAI-Leistungsphasen 3 bis 6).

Ziel war insbesondere die Sicherstellung einheitlicher Planungsgrund-sätze beziehungsweise der Planungserfahrungen an oder für jedenSchleusenstandort und damit die Minimierung der Schnittstellen mitder erforderlichen Fachkunde beim potentiellen Auftragnehmer im Sin-ne der Qualitätssicherung.

3 Randbedingungen für die PlanungDer Dortmund-Ems-Kanal überwindet mit der Schleusentreppe Rheineauf einer 29 Kilometer langen Strecke zwischen der Einfahrt in denMittellandkanal und der Ems einen Höhenunterschied von 28,7 Meter(Abb. 2).

Der Wasserverbrauch der Schleusentreppe Rheine wird durch den Ver-brauch der Schleuse Altenrheine bestimmt. Während die Ein- und dieAusgangsschleuse der Schleusentreppe Sparschleusen sind, sind dieSchleusen geringer Hubhöhe in Rodde, Venhaus und Hesselte einfacheEinkammerschleusen. Die vorhandenen Schleusen werden über Längs-läufe befüllt und entleert. Die Längsläufe dienen gleichzeitig der Regu-lierung der Wasserstände in den Haltungen. Darüber hinaus verfügtdie Nordstrecke des Dortmund-Ems-Kanals über keine Einrichtungenzur Wasserbewirtschaftung. Der Wasserbedarf wird aus dem west-deutschen Kanalnetz und über den Mittellandkanal abgedeckt.

Ziel der Planung ist die Gewährleistung der Sicherheit und der Leich-tigkeit der Schifffahrt. Die Baumaßnahme muss unter Aufrechterhal-tung des Verkehrs auf dem Kanal aber auch auf den kreuzenden Ver-kehrswegen erfolgen.

Neben der Verfügbarkeit der Flächen entlang der Baumaßnahme stel-len die Eingriffsminimierung bezüglich der Schutzgüter Mensch, Naturund Umwelt, die öffentlich-rechtliche Genehmigungsfähigkeit und dieSicherheit der Bauabläufe wesentliche Planungsrandbedingungen dar.Weitere Kriterien sind nicht zuletzt die Wirtschaftlichkeit und die Nach-haltigkeit der vorgesehenen Baumaßnahmen.

4 Schleusenkonzeption undStandardisierungDie Bedarfsplanung der WSV sah zunächst den Ersatz der SchleusenBevergern, Venhaus und Gleesen bei gleichzeitigem Entfall derSchleusen Rodde und Hesselte einschließlich der erforderlichen Hal-tungsanpassungen vor. Umfangreiche Untersuchungen der Wirt-schaftlichkeit sowie die mit Haltungsanpassungen verbunden bau-technischen Herausforderungen veranlassten die Wasserstraßen- undSchifffahrtsverwaltung des Bundes zu der Entscheidung, alle fünfSchleusen unter Beibehaltung der vorhandenen Fallhöhen durch Neu-bauten zu ersetzen und auf Haltungsanpassungen mit Streckenaus-bau zu verzichten.

Abb. 2: Schleusentreppe Rheine

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Der Prüfingenieur | November 2017 39

Die von der Ingenieurgemeinschaft bearbeiteten Vorentwürfe dientendem Nachweis der Machbarkeit unter Berücksichtigung der öffentlich-rechtlichen Umsetzbarkeit sowie der Bausicherheit und der Wirtschaft-lichkeit hinsichtlich der Festlegung der Schleusenstandorte. Dazu wur-den Bauteilgeometrien als Umhüllende verschiedener Konstruktions-weisen auf der sicheren Seite liegend festgelegt.

Auf der Grundlage der Vorentwürfe wurde anschließend eine einheitli-che Schleusenkonzeption für die Sparschleusen sowie die Schleusengeringer Hubhöhe in der DEK-Nordstrecke insbesondere unter Berück-sichtigung der Aspekte Sicherheit und Verfügbarkeit, Betrieb und Un-terhaltung sowie Wirtschaftlichkeit erarbeitet. Die Schleusenkonzepti-on behandelt das hydraulische System, die Anordnung der Sparbecken(abgerückt oder integriert), die Bauweise der Schleusen (monolithischoder fugenbehaftet), Art und Bauweise der Verschlüsse, des Stoßschut-zes sowie der Antriebe.

Mit Verfügung der Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrtwurden ein hohes Maß der Standardisierung bei gleichzeitiger Kosten-senkung gefordert und wesentliche Konstruktionsprinzipien festge-legt. Insbesondere für den Stahlwasserbau und für die Technische Aus-rüstung wurden im engen Dialog mit der Standardisierungskommissi-on der WSV ausführungsreife Lösungen für Verschlüsse und Antriebefür Schleusen bis zehn Meter Hubhöhe entwickelt. Die Empfehlungenfür Schleusen geringer Hubhöhe konnten teilweise für die Konzeptionder Sparschleusen herangezogen werden, um einen möglichst hohenStandardisierungsgrad zu erreichen.

Für die Schleusen geringer Hubhöhe (mit weniger als vier Meter Fall-höhe) wurden nach grundlegenden Untersuchungen folgende Kon-struktionsprinzipien festgelegt:

� Kammer in Spundwandbauweise,� hydraulisches System als Endsystem mit Befüllung und Entleerung

über die Tore,

� keine unterirdischen Betriebsräume (Kavernen),� Obertor: Drucksegment mit Füllmuschel,� Untertor: Stemmtor mit Entleerungsschützen (Drehsegmente),� Antriebe: Elektrohubzylinder (EHZ) am Untertor, Obertor hydrau-

lisch,� Seilstoßschutz am Unterhaupt,� Kammerrevisionsverschluss: Dammbalken.

Die Konstruktionsprinzipien für die Schleusen geringer Hubhöhe wur-den weitestgehend auch für die Sparschleusen herangezogen. Für dieSchleusen Bevergern und Gleesen wurden daher folgende Festlegun-gen getroffen (Abb. 5 bis Abb. 9):

� Kammer und Sparbecken in Massivbauweise,� Endsystem mit Restwasserbefüllung und -entleerung über die Tore,� offene Sparbecken mit Sparbeckenzulauf an das Oberhaupt,� keine unterirdischen Betriebsräume (Kavernen),� Obertor: Drucksegment mit Füllmuschel und einseitigem oberirdi-

schen Antrieb,� Untertor: Stemmtor mit Entleerungsschützen (Drehsegmente),� Sparbeckenverschlüsse: Tafelverschluss als Rollschütz,� Antriebe: EHZ am Untertor, Obertor und Sparbeckenverschlüsse hy-

draulisch,� Balkenstoßschutz am Unterhaupt,� Kammerrevisionsverschluss: Dammbalken,� Revisionsverschlüsse Zuläufe: Tafelverschlüsse.

5 Herausforderungen bei der PlanungDie INGE wurde mit der Gesamtplanung der Schleusen am DEK-Nordbeauftragt. Neben dem Aspekt, dass sich die Planungsleistungen überfünf verschiedene Schleusenstandorte erstrecken, stellen insbesonderedie vielfältigen und komplexen Fragestellungen eine enorme Heraus-forderung für die Planer dar.

Abb. 3: Umfang der Baumaßnahme am Schleusenstandort Gleesen

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So umfasst die Objekt- und Tragwerksplanung für den Neubau der fünfSchleusen die Planung für das eigentliche Schleusenbauwerk, die Kam-mer, die Häupter und teilweise auch die Sparbecken sowie die Verschlüs-se und Betriebsgebäude, die Schleusenbrücke, die Baugruben, die Vor-häfen, die Dämme und Uferwände, die Freiwasserleitung, die Verkehrs-anlagen, die Bodenmanagement- und Ablagerungsflächen sowie denRückbau oder die Sicherung vorhandener Anlagen. Darüber hinaus istauch die Planung der gesamten technischen Ausrüstung für die neuenSchleusen einschließlich aller Bauzwischenzustände und bauzeitlicheProvisorien Teil des Planungsauftrags. Abb. 3 zeigt den Umfang der zuplanenden Objekte am Beispiel des Schleusenstandortes Gleesen.

Neben der Objekt- und Tragwerksplanung sowie der Planung der Tech-nischen Ausrüstung ist für die zahlreichen Teile der Schleusenanlageauch eine Vielzahl interdisziplinärer Fragestellungen zu bearbeiten.Dazu gehören

� die Planung der Wasserbewirtschaftung für den DEK-Nord, � die Planung des Bodenmanagements mit der Anforderung, mög-

lichst sämtliche Böden innerhalb der Maßnahme wiederzuverwen-den,

� die Aufstellung zahlreicher Messprogramme für die vermessungs-technische und geotechnische Überwachung der vorhandenen undder neuen Bauwerke während der Bauzeit und des späteren Be-triebs,

� die Erarbeitung von Lärmschutzkonzepten und von Konzepten zurVerkehrslogistik,

� detaillierte Planungen der Bauabläufe und einzelner Bauphasen, � die Planung zahlreicher Provisorien für den Betrieb der vorhande-

nen und neuen Anlagen während der Bauzeit, � die Erarbeitung von Gefahrenanalysen, Betriebsanleitungen, Si-

cherheits- und Gesundheitsschutzplänen, � die Erarbeitung von Konzepten für den Brand-, Blitz-, Überspan-

nungs- und Einbruchsschutz der fernbedienten Schleusen, � die Erstellung von 3D-Simulationen für die Steuerung und den Be-

trieb der neuen Schleusen und vieles andere mehr.

Die Aufgaben der Objektplanung lassen sich häufig nur im direktenZusammenwirken mit der Tragwerksplanung lösen. Dabei sind sowohlfür die Konstruktion des Bauwerks als auch für den Tragwerksentwurfdas spezifische Regelwerk der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-

tung des Bundes sowie die Anforderungen aus Betrieb und Unterhal-tung zu beachten. Einige der Aspekte aus der Objekt- und Tragwerks-planung für die neuen Schleusen am DEK-Nord werden deshalb nach-folgend erläutert.

Maßgebend für die Standortwahl der neuen Schleusen ist die Aufrecht-erhaltung des Verkehrs während der Bauzeit und damit der seitliche Ab-stand von den vorhandenen alten Großen Schleusen, um negative Aus-wirkungen der Baumaßnahme insbesondere durch die Herstellung derBaugrube auf deren Betrieb auszuschließen (Abb. 4). Neben den Set-zungsberechnungen der INGE wurden von der Bundesanstalt für Was-serbau (BAW) in Karlsruhe 2D-FEM-Berechnungen der Bauwerk-Boden-Interaktion durchgeführt, um die Auswirkungen des Baubetriebs aufden Schleusenbetrieb der Bestandsschleusen zu untersuchen. Durchden Tragwerksplaner war zu prüfen, ob im Bestand die Verformungender Häupter den Betrieb der Schleusentore beeinträchtigen.

Für Schleusen geringer und mittlerer Hubhöhe kommen für die Kon-struktion der Schleusenkammer in der Regel zwei Bauweisen in Be-tracht. Neben einem flach gegründeten U-Rahmen in Massivbauweise,der den horizontalen Erddruck und den Wasserdruck auf die Kammer-wände über Biegung in die Sohle und weiter in den Baugrund abträgt,können alternativ auch vertikale Verbauelemente der Baugrubenkon-struktion als spätere Kammerwand herangezogen werden. Nach einge-henden Untersuchungen der Wirtschaftlichkeit, des Bauablaufs und derAnforderungen aus Betrieb und Unterhaltung wurde entschieden, dieSchleusen geringer Hubhöhe (< 4,00 m) mit einer Spundwandkammerauszuführen und die Schleusen mit größerer Hubhöhe mit einem durch-gehenden Stahlbeton-U-Rahmen umzusetzen (Abb. 5a und Abb. 5b).

Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen war durch den Trag-werksplaner eine ausreichende Systemsicherheit im Hinblick auf dieBauausführung zu gewährleisten. Um Systemwechsel nach Erteilungdes Bauauftrags zu vermeiden, wurde zwischen dem Wasserstraßenneu-bauamt Datteln, den Planern und den Prüfingenieuren ein Auslastungs-niveau von 80 Prozent für die Standsicherheitsnachweise vereinbart.

Die Hauptabmessungen der Stahlbetonkonstruktion resultieren insbe-sondere aus Überlegungen zur Gebrauchstauglichkeit und zur Dauer-haftigkeit. In der Regel ist für massive Wasserbauwerke von einer Nut-zungsdauer von einhundert Jahren auszugehen. Aus diesem Grund

Abb. 4. Lage der alten Großen Schleuse und des geplanten Neubaus am Schleusenstandort Gleesen

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Der Prüfingenieur | November 2017 41

legt die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes gro-ßen Wert auf robuste Konstruktionen. Übliche Bewehrungsgehaltemassiver Schleusenkonstruktionen liegen bei rund 120 Kilogramm proKubikmeter Beton. Um die sichere Einbaubarkeit der Bewehrung unddes Betons auch im Bereich von Einbauteilen und Zweitbetonausspa-rungen mit hohen Bewehrungskonzentrationen zu gewährleisten,wurden im Interesse einer hohen Ausführungsqualität die Quer-schnittsabmessungen so gewählt, dass für die Regelquerschnitte eineeinlagige Bewehrung ausreichend ist.

Maßgebend für die Bemessung der horizontalen Bewehrung in Schleu-senlängsrichtung ist häufig der frühe Zwang infolge abfließender Hy-dratationswärme bei massigen Betonbauteilen sowie später derZwang aus Temperatur- und Setzungsunterschieden. Aus Gründen derStandardisierung wurden die Mindestquerschnittsabmessungen fürdie Schleuse mit der maximalen Hubhöhe, der Schleuse Bevergern, er-mittelt. Die im Rahmen des Entwurfs-und Auslegungsbeschlusses zuerstellende Genehmigungsstatik enthält Bewehrungsskizzen für denNachweis der Einbaubarkeit der gewählten Bewehrung.

Die Bemessung für den frühen Zwang aus abfließender Hydratations-wärme erfolgt nach dem Merkblatt Rissbreitenbegrenzung für frühenZwang in massiven Wasserbauwerken (MFZ) der Bundesanstalt fürWasserbau. Die Größe der Zwangskräfte aus abfließender Hydratati-onswärme ist maßgeblich von der Höhe der Betonierabschnitte abhän-gig. Neben der Begrenzung der Zwangskräfte waren die Lage der Aus-steifungen für den Baugrubenverbau sowie der Betonierdruck für dieSchalung für die Entscheidung zur Lage der Arbeitsfuge von Bedeutung.

Fugenbänder stellen in der Regel eine Schwachstelle im Hinblick aufdie Dauerhaftigkeit und die Gebrauchstauglichkeit dar. Aus diesemGrund hat die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes

als Standardbauweise die monolithische Bauweise für Massivschleu-sen etabliert. Dabei ist darauf zu achten, durch einen geeigneten Bau-ablauf den Zwang infolge von Setzungsdifferenzen zwischen den„schweren“ Häuptern und der „leichteren“ Kammer zu reduzieren.Die Schnittkraftermittlung für die Einwirkungen aus spätem Zwang er-folgt am räumlichen Gesamtmodell.

Die massiven Sparbecken sind durch den Baugrubenverbau von derKammerwand entkoppelt und über den Zulaufbereich monolithischam Oberhaupt angeschlossen. Die Schwimmpoller werden zur Redu-zierung der Beanspruchung unter Berücksichtigung der bevorzugtenWindrichtung sowie der Sonneneinstrahlung auf der rechten (nordöst-lichen) Kammerseite angeordnet.

Der Anschluss der Sparbeckenzuläufe erfolgt seitlich am Drempel desOberhauptes. Die Energieumwandlung für die Kammerfüllung ausdem Sparbecken sowie die Restfüllung über das Drehsegment mit Füll-muschel erfolgt über die durch die Bundesanstalt für Wasserbau hy-draulisch optimierten Störkörper und die Gitterwand.

Mit der Entscheidung für das Stemmtor mit Entleerungsschützen ist imUnterhaupt ebenfalls eine Energieumwandlungsanlage erforderlich.Gemäß Empfehlung der Bundesanstalt für Wasserbau sind hierfür inSchleusenlängsrichtung den Abflussstrahl richtende, ein Meter hoheLeitwände vorgesehen. Der Abflussstrahl wird so zur Energieumwand-lung gegen eine Schwelle geleitet.

Die Schleusen geringer Hubhöhe mit Spundwandkammer erhaltenebenfalls massive Häupter zur Aufnahme der Betriebsverschlüsse. Diekonstruktive Ausbildung der Häupter erfolgt im Sinne der Standardisie-rung analog zu den Häuptern der Massivschleusen. Der Übergang zwi-schen Spundwandkammer und dem U-Rahmen der Häupter stellt auch

Abb. 5a + b: Regelquerschnitte U-Rahmen (Schleuse Gleesen, links) und Spundwandkammer (Schleuse Venhaus)

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einen Wechsel des statischen Systems mit großen Steifigkeitsunter-schieden des Tragwerks und der Gründung dar. Während die Boden-pressungen unter der Sohle der U-Rahmen der Häupter Setzungen inder Gründungsebene erzeugen, ist die Spundwandkammer weitestge-hend setzungsfrei. Der Erddruck wird über die Rückverankerung derSpundwand und das horizontale Fußauflager aufgenommen bezie-hungsweise über die Konstruktionssohle als Steife kurzgeschlossen. Le-diglich die Wasserfüllung der Kammer führt zu Bodenpressungen unterder Konstruktionssohle. Rechnerisch nicht angesetzt, wirken die Auf-triebspfähle gemeinsam mit der Sohle jedoch als kombinierte Pfahl-Plattengründung. Während der U-Rahmen die maximale Auslenkungam Wandkopf aufweist, tritt die maximale Wandverformung der Spund-wand zwischen der oberen Stützung und der Konstruktionssohle ein.

Um auch im Gebrauchszustand einen eindeutigen Lastabtrag sicherzu-stellen, wird zwischen den Häuptern und der Kammer jeweils eineRaumfuge angeordnet. Das Regelwerk der Wasserstraßen- und Schiff-fahrtsverwaltung des Bundes sieht für Neubauten den Einsatz innenlie-gender Fugenbänder vor. Ein im Übergangsbereich zwischen Kammerund Haupt angeordneter Stahlbetonübergangsblock dient deshalb derAufnahme des innenliegenden Fugenbandes und gleichzeitig der Redu-zierung der Steifigkeitsunterschiede der beiden Wandkonstruktionenund der daraus resultierenden Beanspruchungen für das Fugenband.Ein weiterer Aspekt im Hinblick auf die Gebrauchstauglichkeit ist dieGröße der zulässigen Verformungen hinsichtlich der Betriebsbedingun-gen für die Betriebsverschlüsse. Die Verformungen des Massivbaussind auf ein solches Maß zu begrenzen, dass jederzeit ein sicheres Öff-

Abb. 6: Längsschnitt der neuen Schleuse Gleesen

Abb. 7: Draufsicht der neuen Schleuse Gleesen einschließlich Schleusenbrücke am Unterhaupt

Abb. 8: Längsschnitt und Grundriss Oberhaupt der neuen Schleuse Gleesen

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nen und Schließen der Tore möglich ist und die gemäß DIN 19704 ge-regelten Dichtigkeitsanforderungen erfüllt werden. Dies erfordert eineenge Abstimmung zwischen dem Tragwerksplaner im Massivbau so-wie dem Objekt- und dem Tragwerksplaner im Stahlwasserbau bereitsin der Entwurfsplanung.

Um eine größtmögliche Verfügbarkeit der Spundwandschleusen auchim Schadensfall zu gewährleisten, wurde vereinbart, die Verankerungder Kammerwand funktional von der Verankerung der Nischenpollerzu trennen. Bei Lastüberschreitung an den Nischenpollern und Ausfallder zugehörigen Verankerung ist damit die Standsicherheit der Kam-merwand weiterhin gegeben.

Mit dem Baugrundgutachten wurde durch den Bauherrn auch einechemische Analyse des Grundwassers hinsichtlich Betonangriff undStahlkorrosion beauftragt. Die erhöhten Werte an kalklösender Koh-lensäure wurden bei der Festlegung der Expositionsklassen für den Be-ton durch den Tragwerksplaner berücksichtigt. Im Zuge der Erstellungder Vergabeunterlagen führten zusätzliche Untersuchungen des

Grundwassers zum Gehalt an kalklösender Kohlensäure zu der Festle-gung, die Verwendung von Verpressankern und Verpresspfählen fürdauerhafte Verankerungen auszuschließen, da es keine verlässlichenUntersuchungen des Einflusses der kalklösenden Kohlensäure auf dielangfristige Tragfähigkeit von Verpresskörpern gibt. Damit wurden zudiesem späten Planungszeitpunkt erneut Varianten- und Wirtschaft-lichkeitsuntersuchungen zum Verankerungskonzept für die Uferwände,für das Baugrubenkonzept der Massivschleusen sowie zum Kammer-konzept für die Spundwandschleusen erforderlich.

Durch überwiegende Verwendung von Rundstahlverankerungen mitAnkertafeln für die Vorhäfen und einer Aussteifungsebene statt Rück-verankerungen für die Baugrube der Schleuse Gleesen erfolgte unterBerücksichtigung der Wirtschaftlichkeit eine kurzfristige Änderung desEntwurfskonzeptes im Zuge der Erstellung der Vergabeunterlagen fürden Neubau der Schleuse Gleesen. Insbesondere im Hinblick auf dieAuftriebssicherung der Kammersohle ist für die Spundwandkammernder Schleusen geringer Hubhöhe eine grundsätzlich neue Variantenun-tersuchung zum Kammerkonzept erforderlich.

Abb. 9. Längsschnitt Unterhauptder neuen Schleuse Gleesen

Abb. 10: Übergangsblock an der Schleuse Venhaus (von links: Draufsicht Raumfuge, Schnitt a-a, Schnitt b-b)

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6 Anforderungen an die Prüfung imRahmen der Entwurfsaufstellung

Die Verwaltungsvorschrift der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwal-tung zur Entwurfsaufstellung (VV-WSV 2107) regelt im Sinne desHaushaltsrechts neben Aufgaben, Inhalt und Umfang auch die Prüfungund Genehmigung der Entwürfe. Die Entwürfe stellen die geplanteMaßnahme in technischer, finanzieller und rechtlicher Hinsicht dar.Das Aufstellen, Prüfen und Genehmigen der Entwürfe-AU ist Teil desProzesses der nach Paragraf 48 des Wasserstraßengesetzes der Was-serstraßen- und Schifffahrtsverwaltung auferlegten bauaufsichtlichenVerantwortung.

Konkret betrifft dies die Aufstellung der Entwürfe-AU für die Schiffs-schleusenanlagen Bevergern, Rodde, Venhaus, Hesselte und Gleesen.Hierzu sind statische Berechnungen für alle Bauten und ihre tragendenund stützenden Teile aufzustellen. Es sind für wesentliche tragendeund stützende Teile vorgezogene, prüfbare Berechnungen (Entwurfs-statik) zu erstellen und nach dem Vier-Augen-Prinzip, in der Regeldurch einen Prüfingenieur, zu prüfen. Die Standsicherheit der Bauwer-ke ist nachzuweisen. Für Dämme und Böschungen sind grundsätzlichStandsicherheitsnachweise zu führen.

Darüber hinaus sollen unter anderem auch vorgezogene, prüfbare undfür die Ausführung geeignete Berechnungen sowie Zeichnungen we-sentlicher tragender Teile und der Gründung durch einen Prüfingenieurgeprüft werden, um damit die Planungen aus folgenden Gründen ab-zusichern:

� Der Verwaltungsentwurf muss im Hinblick auf technische Lösungs-möglichkeiten und die Bauablaufplanung sicher und wirtschaftlichumsetzbar sein.

� Sicheres Beherrschen kritischer und schwieriger Bauzwischenzu-stände.

� Abgrenzung zu technisch nicht gleichwertigen Lösungsmöglichkei-ten und Festlegung von Randbedingungen beziehungsweise Anfor-derungen an mögliche Nebenangebote im Vergabeverfahren.

� Sicheres Erkennen von nicht gleichwertigen Nebenangeboten unddamit insgesamt größere Sicherheit für ein störungsfreies Vergabe-verfahren für die Bauleistung selbst.

Konkret bezieht sich dies auf Leistungen für die Gewerke Tiefbau, Mas-sivbau, Stahlwasserbau und Maschinenbau. Im Rahmen der Entwurfs-aufstellung fallen keine Prüfingenieurleistungen für die Elektro- undSteuerungstechnik an.

Für den Aufgabenumfang des Prüfingenieurs bedeutet dies dem Grun-de nach:

� Prüfung der Entwurfsunterlagen (Entwurf-AU) hinsichtlich Tragfä-higkeit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeit der Bauwerkeund seiner Bauwerksteile für den Bau- und Endzustand und ihrerVollständigkeit, Richtigkeit und Schlüssigkeit und Umsetzbarkeitunter Berücksichtigung von verwaltungsinternen Vorgaben.

� Prüfen der Wirtschaftlichkeit und Initiieren weiterer Untersuchun-gen.

Diese zu erbringenden Prüfleistungen für die einzelnen Schleusen sindgesamtheitlich, fach- und standortübergreifend zu betrachten. Techni-sche, wirtschaftliche und fachliche Abhängigkeiten und Schnittstellen

sind zu erkennen, zu beurteilen und koordiniert in die Prüfungen dereinzelnen Entwurfsunterlagen einfließen zu lassen.

In technischer Hinsicht besteht das Erfordernis einer ganzheitlichenPrüfung der Entwurfsunterlagen, weil das Gesamtprojekt (die Schleu-senkette) nicht aus zusammenhanglosen Einzelschleusen besteht, son-dern aus einem System von unmittelbar hintereinander geschaltetenVerkehrswasserbauwerken. Mit ihren wechselseitigen Schnittstellenstehen alle Schleusen dieser Kette in technischer und verkehrlicher Ab-hängigkeit zueinander und stellen gemeinsam die Durchgängigkeitdieses DEK-Abschnitts sicher.

Konkret umfasst die erforderliche ganzheitliche Prüfung zum Beispiel:

� die Erfassung der fachlichen Schnittstellen von Stahlwasserbau(Torkonstruktion etc.) zum Massivbau (Lasteinleitung und Lastab-trag) sowie zum Maschinenbau,

� die sicherheitstechnische Beurteilung der aufgezeigten Lösungenunter Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte mit Maßstäben,die für alle zu prüfenden Schleusen gelten,

� die Entwicklung technischer Lösungen, die der Standardisierung imSchleusenbau der WSV zugrunde gelegt werden sollen (Musterdar-stellungen beziehungsweise sogenannte Blaupausen),

� die einheitliche Beurteilung und Prüfung gleichartiger Leistungen(Wiederholungsfaktoren).

Mit der Beauftragung eines Prüfingenieurs für die Prüfung aller fünfSchleusenstandorte wurde die im Rahmen der Planungsleistung ge-wählte Projektorganisation logisch fortgeführt. In diesem Sinne erfolg-te auch die spätere Beauftragung desselben Prüfingenieurs für diePrüfung der Ausführungsplanung wiederum über alle fünf Schleusen-standorte. Dieses Vorgehen war infolge der vorgegebenen Randbedin-gungen für die Projektabwicklung möglich, spiegelt aber nicht durch-gängig die Praxis der WSV wider.

Die Fachliste Prüfingenieure gibt den Dienststellen der Wasserstraßen-und Schifffahrtsverwaltung des Bundes eine Übersicht über die Prüfin-genieure beziehungsweise staatlich anerkannten Sachverständigenfür einzelne Leistungsbereiche (Massivbau, Metallbau, Holzbau undErd- und Grundbau). Mit der Fachliste, die bei Vergabeverfahren unter-halb des EU-Schwellenwertes im Geschäftsbereich der WSV anzuwen-den ist, ist eine Marktübersicht gegeben. Um die Aufnahme in dieFachliste können sich Prüfingenieure der Fachrichtungen Massivbau,Metallbau, Holzbau und staatlich anerkannte Sachverständige derFachrichtung Erd- und Grundbau bewerben.

7 Einbindung freiberuflich Tätiger beider BauausführungDie Vergabe der Bauleistungen ist im Hinblick auf die öffentlich-recht-lichen Anforderungen und mittelstandsfördernde Vergabeeinheiten inmehreren Bauaufträgen zu den einzelnen Schleusenstandorten vorge-sehen. Wesentliche Aspekte der Aufteilung der zugehörigen Bauab-schnitte sind die Sicherheit bei der Bauabwicklung, die Sicherheit unddie Leichtigkeit der Schifffahrt, Gewährleistungsabgrenzungen undnicht zuletzt die durch den Bauherrn zu leistenden Koordinierungsauf-gaben und das Schnittstellenmanagement.

Die Unterstützung bei der Bauabwicklung erfolgt sinngemäß zum Ver-tragsumfang für Planungs- und Prüfingenieur ebenfalls durch einen

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Auftragnehmer über alle fünf Schleusenstandorte im Rahmen einerstufenweisen Beauftragung. Der Leistungsumfang beinhaltet folgendeLeistungsbereiche beziehungsweise Leistungsbilder (Bauüberwa-chungsleistungen in den Bereichen der/des):

� Objektplanung (in Anlehnung an die HOAI),� Tragwerksplanung (in Anlehnung an die HOAI),� Technische Ausrüstung (in Anlehnung an die HOAI),� Bauvermessung (in Anlehnung an die HOAI),� fachgutachterliche Leistungen in den Bereichen der Geologie, Hy-

drogeologie, Abfallwirtschaft,� Sicherheits- und Gesundheitsschutz,� Nachtragsbereitung,� Koordinierung mehrerer Bauleistungen und� Öffentlichkeitsarbeit.

Diese Leistungen sind für nachfolgende Objekte zu erbringen:

� Schleusenanlagen Gleesen, Hesselte, Venhaus, Rodde und Bever-gern einschließlich Verkehrsanlagen,

� Bodenmanagementflächen Hesselte, Venhaus, Bevergern und Dö-renthe,

� Oberbodenfläche Hesselte,� Umsetzung Bodenmanagementkonzept,� Umschlagstellen Gleesen, Hesselte, Venhaus und Bevergern,� Anlagen für die Wasserbewirtschaftung Gleesen, Hesselte, Ven-

haus, Altenrheine, Rodde und Bevergern,� Teilrückbau beziehungsweise Umbau Bergeshöveder Steg,� Teilrückbau beziehungsweise Umbau der Kleinen Schleusen

und/oder Schleppzugschleusen Gleesen, Hesselte, Venhaus, Rodde,Bevergern und Bergeshövede.

Ebenfalls wird über den Partner der Ingenieurgemeinschaft Bauüber-wachung ZPP Ingenieure AG (Bochum) das Plan- und Dokumentenma-nagementsystem ZPP Interprojekt zur Verfügung gestellt. Ziel ist dieDigitalisierung von Prüfläufen mit dem Entfall von ansonsten erforder-lichen „Verfolgungs-Excel-Tabellen“, die stetige Abrufbarkeit des Prüf-

standes, eine klare Zuordnung der Aufgaben für Wasserstraßen- undSchifffahrtsverwaltung des Bundes, Ingenieurgemeinschaft Bauüber-wachung und Prüfingenieur, möglichst kurze Prüfläufe sowie eine ho-he Transparenz zwischen allen an der Bauabwicklung Beteiligten. Wei-terhin dient das Planmanagementsystem der Dokumentation der Kom-munikation und dem Austausch von Unterlagen. Die Prüfung der Un-terlagen erfolgt damit umfassend durch alle Beteiligten durch digitaleSignatur. Den Abschluss bildet die digitale Signatur der WSV mit derFreigabe zur Ausführung (fiskalisch und bauaufsichtlich).

Die Prüfingenieure sind damit in das Projekt Neue Schleusen DEK-Nord von der Entwurfs- über die Genehmigungs- bis hin zur Ausfüh-rungsplanung durchgehend eingebunden, wohingegen die von derWSV mit der Planung beauftragte Ingenieurgemeinschaft mit Beginnder Bauausführung aus dem Projekt ausscheidet. Die Fortführung derAusschreibungsplanung zur Ausführungsplanung erfolgt dann durchdas bauausführende Unternehmen und den von ihm beauftragtenAusführungsplaner.

8 FazitPlanende Ingenieure, Prüfingenieure und das Wasserstraßenneubau-amt Datteln als Bauherr müssen eine in sich geschlossene Kette bilden,um mit der erforderlichen Transparenz, dem erforderlichen konsequen-ten Informationsfluss und dem gemeinsamen Lernen mit Durchhalte-vermögen das Projekt erfolgreich bearbeiten zu können. Dabei fallenauf Grund von Änderungen aus öffentlich-rechtlichen oder technischenAnforderungen sowie aus zwischenzeitlich neuen Erkenntnissen insbe-sondere auch aus dem Baugrund oft Planungswiederholungen an.

Derartige Planungsaufgaben erfordern deshalb eine langfristige, konti-nuierliche Bearbeitung durch große, interdisziplinäre Planungsteamsund ein hohes Maß an Beratungsleistungen sowie die frühzeitige Ein-bindung der Prüfingenieure. Nur mit gegenseitiger Akzeptanz allerProjektbeteiligten lassen sich diese komplexen und anspruchsvollenBaumaßnahmen gemeinsam verwirklichen!

Abb. 11 Ansicht der neuen Schleuse Gleesen von Unterwasser

Foto: Fa. Drivecon

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Eine Herkulesaufgabe: Die Instandhaltung derWasserbauwerke an den BundeswasserstraßenIhre Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit sind Voraussetzung für die angestrebte Verkehrsverlagerung

Der Güterverkehr wird bis 2030 in Deutschland auf 4,4 Milliar-den Tonnen anwachsen. Das sind 17,6 Prozent mehr als 2010.Und die Güterverkehrsleistung, also das Produkt aus Güterver-kehrsaufkommen und Transportweite, wird sogar um 38 Pro-zent auf 840 Milliarden Tonnenkilometer ansteigen, eine enor-me Herausforderung für die Verkehrsinfrastruktur und für dieVerkehrsplanung in Deutschland. Als Alternative zu den über-lasteten Straßen- und Schienenwegen weisen die Bundeswas-serstraßen mit einer Netzlänge von 7.300 Kilometern noch er-hebliche Kapazitätsreserven auf. Deshalb wird die Bedeutungder Substanzerhaltung und der Weiterentwicklung der Wasser-straßeninfrastruktur, mit der sich der folgende Beitrag beschäf-tigt, offensichtlich. Er erläutert die im Bundesverkehrswege-plan 2030 verankerten politischen Ziele, skizziert die Priorisie-rungsmethodik von Investitionsmaßnahmen an Bundeswasser-straßen und erläutert die neuen Nachrechnungsrichtlinien fürbestehende Wasserbauwerke. Den Schwerpunkt bilden Konzep-te für Instandsetzungsmaßnahmen an Schleusenanlagen unterlaufendem Schiffsbetrieb. Der Beitrag schließt mit einem Aus-blick auf die Möglichkeiten des Building Information Modelingbei Planung, Bau und Betrieb der Wasserbauwerke.

1 Einführung Der Güterverkehr in Deutschland wird vom Straßengüterverkehr domi-niert. Im Jahr 2010 betrug der Anteil des LKW-Verkehrs am gesamtenGüteraufkommen 84,1 Prozent. Auf die Eisenbahnen entfielen 9,7 Pro-zent und auf die Binnenschifffahrt 6,2 Prozent. Prognosen zufolgewird der Güterverkehr künftig weiter stark zunehmen. Im Zeitraumvon 2010 bis 2030 ist mit einer Steigerung des Verkehrsaufkommensum 17,6 Prozent auf annähernd 4,4 Milliarden Tonnen zu rechnen. Imselben Zeitraum wird die Güterverkehrsleistung (Produkt aus Güter-verkehrsaufkommen und Transportweite) sogar um 38,0 Prozent aufungefähr 840 Milliarden Tonnenkilometer ansteigen, da neben demVerkehrsaufkommen auch die mittlere Transportweite deutlich zuneh-men wird [1].

Dieses prognostizierte Güterverkehrswachstum stellt eine enorme He-rausforderung für die Verkehrsinfrastruktur und die Verkehrsplanung inDeutschland dar.

Mit 7.300 Kilometer Binnenwasserstraßen verfügt Deutschland überein leistungsfähiges Wasserstraßennetz. Es weist noch erhebliche Ka-pazitätsreserven auf, die künftig stärker genutzt werden müssen, umden drohenden Verkehrskollaps zu vermeiden. Vor diesem Hintergrundwird die Bedeutung der Substanzerhaltung und der bedarfsgerechtenWeiterentwicklung der Wasserstraßeninfrastruktur offensichtlich. ImBestand der für die Bundeswasserstraßen verantwortlichen Wasser-straßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) befinden sichderzeit 315 Schleusenanlagen, zwei Schiffshebewerke, 307 Wehranla-gen, 40 Kanalbrücken, 354 Düker, 1.300 Brücken sowie zahlreicheweitere Bauwerke zur Unterstützung des Wasserstraßenbetriebs. Da-rüber hinaus bilden Strombauwerke, wie Uferdeckwerke und Buhnen,einen wesentlichen Anteil an der Wasserstraßeninfrastruktur. Dieseskomplexe System will optimal erhalten und modernisiert werden,denn eine zuverlässige und leistungsfähige Wasserstraßeninfrastruk-tur ist zwingende Voraussetzung für die gewünschte Verkehrsverlage-rung auf das Binnenschiff.

Diesen Anforderungen steht eine Wasserstraßeninfrastruktur mit pro-blematischer Altersstruktur entgegen. Bei circa 30 Prozent der für denBetrieb des Wasserstraßennetzes besonders wichtigen Schleusen istdas technische Lebensalter von einhundert Jahren bereits erreicht oderüberschritten. Bei Wehranlagen, die zudem nicht gesperrt werden kön-nen, ist die Altersstruktur ähnlich ungünstig (Abb. 1). Aufschluss überden baulichen Zustand der Wasserbauwerke gibt der Verkehrsinfra-strukturbericht des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infra-struktur [2]. Darin heißt es: „Aufgrund der Altersstruktur und aufge-schobener Erhaltungsinvestitionen aus der Vergangenheit sind zuneh-mend kritische Bauwerkszustände feststellbar. […]. Der Anteil derBauwerke, die in einem nicht ausreichenden bzw. ungenügenden Zu-stand mit einem kurzfristigen Handlungsbedarf sind, oder die in einemnoch ausreichenden Zustand sind, für den innerhalb von etwa zehn

Prof. Dr.-Ing. Christoph Heinzelmannstudierte und promovierte an der TU Darmstadt;er arbeitete in der Wasserstraßen- und Schiff-fahrtsverwaltung des Bundes und im Bundesver-kehrsministerium, seit 2005 ist er Leiter der Bun-desanstalt für Wasserbau; von 2002 bis 2012

lehrte er Verkehrswasserbau an der Ruhr-Universität Bochum (seit2008 als Honorarprofessor), seit 2013 ist er Honorarprofessor ander TU München.

Dr.-Ing. Jörg Bödefeldstudierte an der Bergischen Universität Wupper-tal und promovierte 2010 an der UniversitätLeipzig; er ist seit 1994 Mitarbeiter der Bundes-anstalt für Wasserbau, zunächst im ReferatMassivbau, später in den Bereichen Bauwerksin-

spektion und Erhaltungsmanagement; seit 2016 leitet er dasBAW-Referat Erhaltung und Hochbau.

Dipl.-Ing. Andreas Westendarpstudierte Bauingenieurwesen an der TU Hanno-ver und ist seit 1987 in der Bundesanstalt fürWasserbau tätig, seit 1999 als Leiter des Refe-rats Baustoffe; er ist in zahlreichen Arbeitskrei-sen des DIN, des DAfStb, des DIBt und des BMVI

vertreten; als Obmann leitet er den für die ZTV-W LB 219 zustän-digen Arbeitskreis.

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Jahren ein Handlungsbedarf erforderlich wird, nimmt stetig zu.“ DieMaxime muss sein, Schäden, die die Tragfähigkeit und Gebrauchstaug-lichkeit der Bauwerke gefährden können, frühzeitig zu erkennen undrechtzeitig mit geeigneten Erhaltungs- und Instandsetzungsmaßnah-men gegenzusteuern. Bei Schleusenanlagen ist zu berücksichtigen,dass Instandsetzungsarbeiten im Regelfall unter laufendem Schiffsbe-trieb erfolgen müssen, da im weitmaschigen Wasserstraßennetz zu-meist keine Umfahrungsmöglichkeiten existieren und längere Schiff-fahrtssperrungen unbedingt vermieden werden müssen.

Die hohe Bedeutung der Erhaltung und Instandsetzung von Verkehrs-infrastruktur spiegelt sich auch im Bundesverkehrswegeplan 2030 wi-der, den die Bundesregierung im Jahr 2016 beschlossen hat [3]. Er bil-det die verkehrspolitische Gesamtstrategie der Bundesregierung abund ist das zentrale Planungsinstrument, mit dem der Rahmen für dieanstehenden Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur des Bundes bis2030 abgesteckt wird, und dies sowohl für Erhaltungs- als auch fürAus- und Neubaumaßnahmen. Von den für die Wasserstraßenprojekteinsgesamt veranschlagten Ausgaben von rund 24,5 Milliarden Euroentfallen etwa zwei Drittel auf Erhaltungs- und Ersatzinvestitionen.

Als technisch-wissenschaftlicher Berater und Gutachter für das Bun-desministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) und fürdie Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) istdie Bundesanstalt für Wasserbau (BAW) bei Erhaltung und Instandset-zung von Wasserbauwerken sowohl auf der konzeptionellen undSteuerungsebene als auch auf der operativen Ebene intensiv beteiligt.Wesentliche Leistungen der BAW hierbei sind:

� Aufbau von neuen und Optimierung sowie Vernetzung von vorhan-denen Datenbanken (zum Beispiel: Bestandsdaten, Zustandsdaten,Kostendaten, …);

� Erarbeitung von Standards für den Umgang mit bestehenden Bau-werken;

� Entwicklung von Kriterien für die Entscheidung über Instandset-zung oder Neubau;

� Zustandsprognosen für perspektivischen Bedarf;� Begutachtung von Bauwerken;� Beratung bei Planung, Ausschreibung und Bauausführung;� Wissens- und Erfahrungsvernetzung.

Nachfolgend wird zunächst die vom BMVI entwickelte Methodik zurPriorisierung von Investitionsmaßnahmen an Bundeswasserstraßenskizziert. Anschließend werden die Grundzüge der kürzlich von derBAW erarbeiteten Nachrechnungsrichtlinien für bestehende Wasser-

bauwerke dargestellt. Den Schwerpunkt der Ausführungen bilden In-standsetzungsmaßnahmen an Schleusenanlagen mit dem besonderenFokus auf Instandsetzung unter laufendem Schiffsbetrieb. Abschlie-ßend wird über die kürzlich gestarteten Aktivitäten zur Nutzung vonBuilding Information Modeling (BIM) im Verkehrswasserbau berichtet.

2 Methodik zur Priorisierungvon InvestitionsmaßnahmenDer langjährige Investitionsstau an den Bundeswasserstraßen hat zueinem großen Nachholbedarf an Investitionsmaßnahmen geführt, dernur durch strikte Priorisierung nach Dringlichkeit der Projekte aufge-löst werden kann. Das BMVI hat daher im Jahr 2015 eine für die Was-serstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes verbindlich anzu-wendende Methodik zur Priorisierung von Investitionsmaßnahmen anBundeswasserstraßen entwickelt, die folgende vier Prioritätsstufen un-terscheidet:

� Prioritätsstufe 1, hohe Dringlichkeit: Projekte, die entweder bereits bauvertraglich gebunden sind oderauf Basis fachlicher Kriterien als so dringlich identifiziert werden,dass kein weiterer Aufschub hingenommen werden kann;

� Prioritätsstufe 2, mittlere Dringlichkeit: Projekte, die zur Aufrechterhaltung der verkehrlichen Funktion un-bedingt notwendig sind und deren Aufschub kurz- bis mittelfristigzu verkehrlichen Einschränkungen führt;

� Prioritätsstufe 3, hohe Vorteilhaftigkeit: Projekte, die für die Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers vonBedeutung sind;

� Prioritätsstufe 4, keine Dringlichkeit, geringe Vorteilhaftigkeit: Projekte, die unter strategischen Gesichtspunkten für die Wettbe-werbsfähigkeit des Verkehrsträgers keine oder nur geringe Bedeu-tung haben.

Die Einstufung der Projekte in die Prioritätsstufen erfolgt nach folgen-den Kriterien:

� Kriterium 1, Unterscheidung Kernnetz/Nebennetz: Mit diesem Kriterium wird die strategische Unterscheidung getrof-fen, ob das Projekt für den Bestand des Verkehrssystems Schiff/Wasserstraße von Bedeutung ist („Kernnetz“) oder ob das Projektpotenziell geeignet ist, bei Ressourcenmangel zugunsten verkehr-lich relevanterer Projekte zurückgestellt zu werden („Nebennetz“);

� Kriterium 2, Stand des Projekts: Mit diesem Kriterium werden bauvertraglich gebundene Projektepriorisiert. Sie werden als indisponibel betrachtet und daher derhöchsten Prioritätsstufe 1 zugeordnet;

� Kriterium 3, Art des Projekts: Mit diesem Kriterium wird der Grundsatz „Ersatz vor Ausbau“ ver-folgt;

� Kriterium 4, Sicherheitsrelevanz: Dieses Kriterium priorisiert aufgrund der Relevanz für die Sicher-heit.

Das letzte Kriterium Sicherheitsrelevanz wird anhand der Bauwerksartund des Bauwerkszustands beurteilt. Hierzu wurde der Begriff der„systemrelevanten Bauwerke“ eingeführt. Systemrelevante Bauwerkesind entweder nicht sperrbar (zum Beispiel Wehranlagen, Düker,Durchlässe), oder sie haben eine hohe Relevanz für die Schifffahrt undliegen im Kernnetz (zum Beispiel Schleusen, Kanalbrücken). Liegt der

Abb. 1: Altersstruktur der Schleusen- und Wehranlagen

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Zustand dieser Bauwerke im nicht ausreichenden beziehungsweiseungenügenden Bereich (Zustandsnote > 3,7 im vierstufigen Notensys-tem), werden sie als „systemkritisch“ bezeichnet und als indisponibelin die Prioritätsstufe 1 eingestuft.

Aus der Gruppe der systemkritischen Bauwerke wurden 31 Wehranla-gen identifiziert, die vorrangig bearbeitet werden müssen. Mit einerUmsteuerung der Personalressourcen und verbesserten Rahmenbedin-gungen für eine schnelle und effiziente Planung soll eine deutliche Er-höhung des Investitionsumsatzes bei Wehranlagen erreicht werden.Ziel ist es, die Projekte an den 31 Wehranlagen bis zum Jahr 2030 ab-zuschließen. Die Bundesanstalt für Wasserbau unterstützt die Arbei-ten auf allen drei Verwaltungsebenen: Ministerium, Mittelbehörde undUnterbehörden.

3 Nachrechnungsrichtlinien fürWasserbauwerkeSeit mehr als einer Dekade werden Bauwerke in Deutschland nachdem semi-probabilistischen Sicherheitskonzept bemessen. Die beste-henden Fachnormen (EC, DIN) wurden entsprechend neu aufgestelltund gelten vorwiegend für Hoch- und Industriebauten sowie für Brü-cken. Im Vergleich dazu unterscheiden sich Wasserbauwerke zum Teildeutlich durch andere Abmessungen, spezielle Tragwerksformen undtypische Lasten. Hinzu kommt, dass die Fachnormen für Neubauten

konzipiert sind und die bautechnischen Besonderheiten alter, beste-hender Bauwerke nur unzureichend erfassen. Das führt dazu, dass dieTragfähigkeit für bestehende Wasserbauwerke nach geltender Nor-mung oftmals rechnerisch nicht nachgewiesen werden kann. Im Ge-gensatz zum Straßenbrückenbau („Richtlinie zur Nachrechnung vonStraßenbrücken im Bestand“) oder zum Eisenbahnbrückenbau(„Richtlinie Tragsicherheit bestehender Eisenbahnbrücken“) fehltenbis vor kurzem entsprechende Regelwerke für Wasserbauwerke.

Um diese Lücke zu schließen, hat die Bundesanstalt für Wasserbaufolgende Merkblätter erarbeitet:

� BAW-Merkblatt „Bewertung der Tragfähigkeit bestehender massi-ver Wasserbauwerke (TbW)“, Ausgabe Juli 2016 [4] und

� BAW-Merkblatt „Bewertung der Tragfähigkeit bestehender Ver-schlüsse im Stahlwasserbau (TbVS)“, Entwurf März 2017 [5].

Während das BAW-Merkblatt für die Bewertung der Tragfähigkeit be-stehender massiver Wasserbauwerke bereits bauaufsichtlich durch dasBMVI eingeführt worden ist, befindet sich das BAW-Merkblatt für dieBewertung der Tragfähigkeit bestehender Verschlüsse im Stahlwasser-bau derzeit im WSV-internen Gelbdruckverfahren.

Ziel der Merkblätter ist eine strukturierte und einheitliche Vorgehens-weise beim Nachweis rechnerischer Tragfähigkeitsreserven unter Ein-haltung der Vorgaben des Eurocode 0. Dabei wurde ein stufenweises

Abb. 2: Vorgehen bei der Standsi-cherheitsuntersuchung an beste-henden Massivbauwerken [5]

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Vorgehensprinzip gewählt, bei dem zunächst mit einfachen Verfahrenversucht wird, die Tragfähigkeit rechnerisch nachzuweisen, bevor auf-wendigere und komplexere Methoden und Verfahren zum Einsatzkommen (Abb. 2). Die Nachweisformate wurden auf die Ziele derMerkblätter zugeschnitten und teilweise mit Ergänzungen bei Einwir-kungen und Widerständen modifiziert. Die Teilsicherheitsbeiwerte unddie Sicherheitsformate wurden angepasst. Mit den beiden Merkblät-tern stehen effiziente Werkzeuge zur Verfügung, um die Tragfähigkeitbestehender Wasserbauwerke sicher bewerten zu können.

4 Instandsetzung von Schleusen unterBetriebSchleusenanlagen zählen zu den wichtigsten Wasserbauwerken anstaugeregelten Wasserstraßen und Kanälen. Die klassischen Bauwei-sen aus Beton oder Stahlbeton sind robust und mit vergleichsweisegeringem Unterhaltungsaufwand verbunden. Für den Stahlwasserbausind Nutzungsdauern von etwa sechzig Jahren, für den Massivbau vonetwa achtzig bis einhundert Jahren üblich; fallweise werden diese Nut-zungsdauern auch deutlich überschritten. Für den Austausch derSchleusentore und der Antriebstechnik, die im Regelfall mit Anpassun-gen am Massivbau einhergehen, sind mehrmonatige Bauzeiten derRegelfall. Grundlegende Instandsetzungsmaßnahmen am Massivbauwerden insbesondere dann erforderlich, wenn eine Schleusenanlageüber die genannte Nutzungsdauer hinaus für weitere Jahrzehnte ge-nutzt werden soll. Die Grundinstandsetzung einer Schleusenkammer,in der Regel also der Abtrag und die Reprofilierung des Betons an denwasserseitigen Wand- und Sohlenflächen sowie der Schleusenplanie,nimmt je nach Gegebenheiten zwischen ein und drei Jahre in An-spruch. Derartige Bauzeiten sind insbesondere für die ungefähr 260Einkammerschleusen im bundesweiten Wasserstraßennetz nicht ak-zeptabel, weil hiermit immer eine entsprechend lange Unterbrechungder Schifffahrt auf der betroffenen Wasserstraße verbunden wäre. Um-fahrungsmöglichkeiten, wie im Bereich des Straßen- oder Eisenbahn-verkehrs, existieren bei den Wasserstraßen zumeist nicht oder würdenzu wirtschaftlich nicht vertretbaren Umwegen führen. Lange Sperrzei-ten oder Umwege hätten zwangsläufig Verkehrsverlagerungen von derWasserstraße auf andere Verkehrsträger zur Folge.

Die Altersstruktur für Einkammerschleusen besagt, dass 45 Prozentder Anlagen älter als achtzig Jahre sind. Die zugehörigen Zustandsno-ten (im oben beschriebenen vierstufigen Notensystem), die auf Grund-lage der regelmäßig durchzuführenden Bauwerksinspektion ermitteltwerden, liegen bei 42 Prozent der Anlagen zwischen 3,0 und 3,5 undbei 30 Prozent der Anlagen zwischen 3,5 und 4,0. Diese Zahlen lassenerkennen, dass an den Anlagen kurz- und mittelfristig ein enormerHandlungsdruck zu erwarten ist. Unter der Prämisse, dass längereSchifffahrtssperren unbedingt zu vermeiden sind und dass ein Ersatz-neubau in unmittelbarer Nachbarschaft der bestehenden Anlage oft-mals unwirtschaftlich und/oder wegen der Platzverhältnisse unmög-lich ist, sind Alternativen zu den herkömmlichen Bauweisen zu entwi-ckeln, die eine Instandsetzung während täglicher Sperrpausen vonbeispielsweise zwölf Stunden gestatten, während die übrige Zeit fürden Schleusenbetrieb zur Verfügung steht. Darüber hinausgehende,ein- oder mehrwöchige Sperrungen sollen nur in Ausnahmefällen ein-gerichtet werden. Dieser nachfolgend als Instandsetzung unter Betriebbezeichnete Ansatz wird gegenwärtig im Rahmen eines Forschungs-und Entwicklungsvorhabens (FuE-Vorhaben) unter Federführung derBundesanstalt für Wasserbau und des Amtes für Neckarausbau Heidel-berg (ANH) intensiv praktiziert.

Hierbei besteht Einvernehmen, dass auch Instandsetzungsmaßnah-men unter Betrieb möglichst im Trockenen durchgeführt werden soll-ten, um eine hohe Qualität der Maßnahme zu gewährleisten. Vor die-sem Hintergrund werden Verfahren betrachtet, die innerhalb der tägli-chen Arbeitszeitfenster eine rasche temporäre Trockenlegung und an-schließende Wiederbefüllung von Teilen oder der gesamten Schleusen-kammer ermöglichen.

Die 260 Einkammerschleusenanlagen der Wasserstraßen- und Schiff-fahrtsverwaltung des Bundes unterscheiden sich hinsichtlich ihrer bau-lichen Gegebenheiten teilweise signifikant voneinander. Dies betrifftbeispielsweise Aspekte wie die statische Ausbildung (U-Rahmen oderaufgelöste Bauweise), die Geometrie (Hubhöhen, Kammerlängen etc.)sowie die Bauweisen (unbewehrt/bewehrt; ein- oder mehrschaligetc.). Vor diesem Hintergrund sollen im Rahmen des oben erwähntenFuE-Vorhabens modulare Lösungsansätze entwickelt werden, die an-schließend dem Planer für das jeweilige Einzelprojekt zusammen mitEntscheidungskriterien zur Verfügung stehen. Zur Zeit werden folgen-de Module bearbeitet:

� Temporäre Trockenlegung,� Betonabtrag,� Reprofilierung,� Ersatzneubau Häupter,� Austausch Stahlwasserbau,� Fugeninstandsetzung,� lokale Betoninstandsetzung.

Innerhalb der einzelnen Module werden unterschiedliche Verfahrenuntersucht. Für das Modul Reprofilierung, also für den Ersatz des ge-schädigten und abgetragenen Betons, sind dies beispielsweise vorran-gig:

� Spritzbeton (schnell erhärtend, verankert, bewehrt),� Spritzbeton (schnell erhärtend, textilbewehrt),� dünne Fertigteile als verlorene Schalung,� massive Fertigteile,� Beton (schnell erhärtend, verankert, bewehrt),� Beton (schnell erhärtend, textilbewehrt).

Zu den einzelnen Verfahren liegen teilweise bereits Erfahrungen in un-terschiedlicher Bearbeitungstiefe vor. Teilweise sind Verfahren auchschon in vergleichbaren Situationen in der Praxis angewendet worden.Vor diesem Hintergrund wurden fünf Bearbeitungsstufen definiert, de-nen die vorhandenen Informationen zugeordnet werden:

� Grundsätzliche Machbarkeit,� Entwurfsplanung,� Ausführungsplanung,� Bauteilversuch/Mockup,� Ausführung.

Ziel des FuE-Vorhabens ist es, die wichtigsten Verfahren möglichst bisauf die Bearbeitungstiefen 4 oder 5 hin zu entwickeln, weil bereits er-probte Verfahren die Akzeptanz auf Seiten der Bauwerksverantwortli-chen und deren Planer erfahrungsgemäß und verständlicherweisedeutlich erhöhen. Wenn Informationen auf den einzelnen Bearbei-tungsstufen fehlen, sollen von der Bundesanstalt für Wasserbau undvom Heidelberger Amt für den Neckarausbau gezielt entsprechendeUntersuchungen vorgenommen und/oder möglichst geeignete Pilot-projekte realisiert werden.

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Ein Beispiel für ein solches Pilotprojekt ist die probeweise Instandset-zung der mittleren Kammer der Neckarschleuse Feudenheim (Abb. 3)in den Jahren 2002/2003 (Bearbeitungsstufe 4 beziehungsweise 5).Hier wurden exemplarisch an einem Kammerblock der in Stampfbe-tonbauweise hergestellten Schleusenkammer in Höhe zwischenSchleusenplanie und Unterwasserstand Betonabtrag und anschließen-de Reprofilierung durch eine verankerte und bewehrte Spritzbetonvor-satzschale mit einer Dicke von etwa 25 Zentimeter einschließlich derErneuerung der Einbauteile (Poller mit Verankerung) durchgeführt. DieArbeiten erfolgten nachts innerhalb von vier- beziehungsweise acht-stündigen Sperrzeiten von zwei Pontons aus. Einzelheiten zu diesemPilotprojekt sind in [6] zu finden.

Eine weitere Instandsetzungsmaßnahme unter Betrieb (Bearbeitungs-stufe 5) im Bereich der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung desBundes ist die Instandsetzung der oberen Kammerwandbereiche derSchleuse Wedtlenstedt am Stichkanal Salzgitter in den Jahren2010/2011 [7] (Abb. 4).

Um den Nachweis zu führen, dass sich auch komplexe Instandset-zungsmaßnahmen unter Betrieb realisieren lassen, soll nun die Dop-pelschleuse Schwabenheim am Neckar im Rahmen eines weiteren Pi-lotprojekts unter Betrieb instandgesetzt und zusätzlich eine Schleu-senkammer verlängert werden. Im Einzelnen sind folgende Baumaß-nahmen unter Betrieb geplant:

� Linke Kammer (Grundinstandsetzung): Flächige Betoninstandset-zung der Wände, Instandsetzung der Häupter mit Umbau des Füll-systems einschließlich Energieumwandlung, Erneuerung der An-triebstechnik.

� Rechte Kammer (Grundinstandsetzung und Schleusenverlänge-rung): Instandsetzung des Oberhaupts mit Umbau des Füllsystemseinschließlich Energieumwandlung, Erneuerung der Antriebstech-nik, unterwasserseitige Schleusenverlängerung.

Da bei der Planung dieser Maßnahmen einerseits umfassendes bau-ausführungsspezifisches Know-how erforderlich ist und weil anderer-seits eine angemessene Risikoverteilung zwischen Auftraggeber undbauausführender Firma angestrebt wird, soll die Maßnahme ab demJahr 2018 im Rahmen eines wettbewerblichen Dialogs geplant, verge-ben und ausgeführt werden.

5 Building Information ModelingMit seinem Stufenplan Digitales Planen und Bauen [8] unterstreichtdas Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur sein Ziel,die Möglichkeiten der Digitalisierung im Infrastrukturbau konsequentzu nutzen. Ziel ist es, künftig schneller, qualitativ besser und kosten-günstiger zu bauen. Ab dem Jahr 2020 sollen alle Infrastrukturprojektedes Bundes mit Unterstützung von Building Information Modeling(BIM) geplant, gebaut und betrieben werden. Das bis dahin zu errei-chende Leistungsniveau 1 wird derzeit im Rahmen mehrerer Pilotpro-jekte der Verkehrsträger Straße, Schiene und Wasserstraße konkreti-siert.

Für das Leistungsniveau 1 fordert der Stufenplan im Wesentlichen,dass

� der Auftraggeber sogenannte Auftraggeber-Informations-Anforde-rungen (AIA) als Vertragsbestandteil formuliert,

� zu erbringende Leistungen der Planungsphase digital geliefert wer-den,

� herstellerneutrale Formate verwendet werden und dass� auf Auftraggeberseite die Rahmenbedingungen für die Anwendung

der BIM-Methode vorliegen.

Als Pilotprojekt für die Wasserstraßen hat die Wasserstraßen- undSchifffahrtsverwaltung des Bundes den Neubau der Schleuse Wedtlen-stedt am Stichkanal Salzgitter ausgewählt.

Abb. 3: Betonabtrag an derSchleuse Feudenheim währendvierstündiger Sperrpausen voneinem Ponton aus

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VERKEHRSWASSERBAU

Der Prüfingenieur | November 2017 51

Bislang wurde BIM vor allem bei Hochbauprojekten eingesetzt. Diedort gewonnenen Erkenntnisse lassen sich aber nicht direkt auf Infra-strukturbauwerke übertragen, da sich sowohl die Konstruktionen alsauch die Prozesse bei Planung und Bau signifikant unterscheiden.

Als Einstieg in die BIM-Methodik ist aus Sicht der Bundesanstalt fürWasserbau eine Prozessanalyse erforderlich. Dabei muss analysiert unddokumentiert werden, welche Prozesse signifikant sind, welche Rollenan den Prozessen beteiligt sind und welche Informationen entstehenbeziehungsweise benötigt werden. Ziel von BIM ist es, relevante Infor-mationen qualitativ hochwertig, aktuell und redundanzfrei so vorzuhal-ten, aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen, dass die Prozesse bes-ser unterstützt werden. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltungdes Bundes muss dabei ihre Rolle als Auftraggeberin beachten und for-mulieren, welche Informationen sie zu welchem Zeitpunkt in welchemFormat benötigt und wie die Qualität der Informationen überprüft wer-den soll. Zu diesem Zweck führt die Bundesanstalt für Wasserbau aktu-ell eine Prozessanalyse beim Neubauamt Hannover durch, das für denNeubau der Schleuse Wedtlenstedt verantwortlich ist.

Parallel dazu hat die Bundesanstalt für Wasserbau einen intensiven Er-fahrungsaustausch mit anderen Wissenschaftseinrichtungen und In-frastrukturbetreibern angestoßen. Da seitens des Bundesverkehrsmi-nisteriums offene Standards angestrebt werden, um eine Abhängigkeitvon Software-Produzenten zu vermeiden, unterstützt die Bundesan-stalt nationale und internationale Bestrebungen zur Standardisierungund zum Einsatz offener IT-Standards. Eine Mitgliedschaft der Bundes-anstalt für Wasserbau bei buildingSMART International, einer interna-

tional tätigen nichtstaatlichen Non-Profit-Organisation, die das Aus-tauschformat Industry Foundation Classes (IFC) für den BIM-Daten-austausch im Bauwesen definiert, ist geplant.

6 Literatur[1] BVU Beratergruppe Verkehr + Umwelt GmbH; Intraplan Consult

GmbH; Ingenieurgruppe IVV GmbH & Co. KG; Planco ConsultingGmbH (2014): Verkehrsverflechtungsprognose 2030. Schlussbe-richt (Los 3), 11. Juni 2014

[2] BMVI: Verkehrsinfrastrukturbericht, unveröffentlicht[3] BMVI: Bundesverkehrswegeplan 2030 [4] BAW: Bewertung der Tragfähigkeit bestehender, massiver Wasser-

bauwerke (TbW). Ausgabe Juli 2016 (BAW-Merkblatt)[5] Fleischer, H.; Kunz, C.; Ehmann, R.; Spörel, F. (2016): Neues BAW-

Merkblatt zur Bewertung der Tragfähigkeit bestehender massiverVerkehrswasserbauten. In: Bautechnik 93 (12), S. 907–911

[6] Reschke, T.: Instandsetzung unter Betrieb mit einem schnell erhär-tenden Spritzbeton - Probemaßnahme Schleuse Feudenheim. In:BAW-Mitteilungen (93), S. 7–28

[7] Bartel, A.: Instandsetzung von Schleusenkammerwänden untereingeschränktem Betrieb. In: Bundesanstalt für Wasserbau (Hg.):Instandhaltung von Verkehrswasserbauwerken. BAW-Kolloquiumam 25./26.10.2011 in Karlsruhe, S. 43–47

[8] BMVI: Stufenplan Digitales Planen und Bauen. Einführung moder-ner, IT-gestützter Prozesse und Technologien bei Planung, Bau undBetrieb von Bauwerken

Abb. 4: Instandsetzung unter Betrieb an der Schleuse Wedtlenstedt mit Betonfertigteilen

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BIM - BUILDING INFORMATION MODELING

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Mit Building Information Modeling ändert sich für dieAufgabe der Tragwerksplanung eigentlich nicht viel Die digital-integrale Arbeitsweise verlangt aberviel Erfahrung mit der Modellbildung von Tragwerken

Mit Building Information Modeling (BIM) ändert sich für dieTragwerksplanung eigentlich nicht viel. Sie legt auch weiterhindas Tragwerkssystem fest, beschreibt es analytisch und nume-risch, definiert Materialmodelle und wählt die Berechnungsme-thode aus. Allerdings verschiebt sich die Arbeitsweise von einereher analog geprägten hin zu einer voll digitalen Planung, dieverschiedene Prozesse der Tragwerksplanung automatisierenkann. Dieser Umstand macht die Wichtigkeit der unabhängigenPrüfung durch den Prüfingenieur deutlich, der vor allem die denBerechnungen zugrundeliegenden Modelle kritisch überprüfenmuss. In den Praxisbeispielen des folgenden Beitrags werdendeshalb Prozesse und Projekte beschrieben, die mit „LittleBIM“ durchgeführt worden sind. Und am Ende dieses Artikelswerden Projekte vorgestellt, die derzeit in Zusammenarbeit mitArchitekten und TGA-Planern mit BIM geplant werden und dennächsten Schritt zu „Big BIM“ darstellen.

studierte an der Fachhochschule München Bauingenieurwesenund ist seit 2005 bei der AJG Ingenieure GmbH in München tätig,seit 2012 als Prokurist, seit 2016 als Beratender Ingenieur undMitgesellschafter.

Martin Fischnaller

1 Einführung BIM basiert auf einem digitalen Bauwerksmodell, das idealerweise imZuge der Planung eines Bauwerkes erstellt wird. Da die Tragwerkspla-nung einen wesentlichen Beitrag dazu liefert, muss auch sie sich mitBIM auseinandersetzen.

Die klassische Planungsweise in der Tragwerksplanung ist bekanntlichnach Stufen aufgebaut und orientiert sich meist an den Leistungspha-sen der HOAI. Die einzelnen Phasen werden mit oder ohne digitaleHilfsmittel bearbeitet, die Arbeitsergebnisse in Text- und Berechnungs-dokumenten sowie Zeichnungen und Plänen dokumentiert.

Obwohl die Ergebnisdokumente heute meist digital erstellt und gespei-chert werden, entsprechen sie doch im Wesentlichen der analogen Zeitvor dem Einsatz des Personal Computers. Der Inhalt und der Informati-onsgehalt sind begrenzt. Zusätzliche Informationen werden nicht verar-beitet, da sie für die eigene Planungsaufgabe überflüssig erscheinen.

Die BIM-Arbeitsweise verfolgt einen anderen Ansatz. Die Planung er-folgt objektbasiert und bindet alle für das Bauwerk erforderlichenFachdisziplinen mit ein. Die Bauteile werden als dreidimensionale Ob-jekte in das digitale Modell eingepflegt und durch zusätzlich benötigteBauteilinformationen ergänzt. So ist beispielsweise ein Wand- oderFundamentobjekt nicht nur ein geometrischer Volumenkörper, sonderner besitzt alle für das entsprechende Objekt erforderlichen Eigenschaf-ten wie Material, Aufbau, Wärmedurchgangswiderstand oder stati-sches Modell. Zusätzlich können dem Objekt Informationen über Bau-phasen, Bauzeiten und Kosten zugeordnet werden. In diesem Zusam-menhang wird häufig von zusätzlichen Dimensionen (4D oder 5D) ge-sprochen. Die einzelnen Eigenschaften werden von den Fachdiszipli-nen wie Architektur, Haustechnik und Tragwerksplanung definiert undin den jeweiligen Berechnungen verarbeitet. Daraus entsteht ein überdie Planungsdisziplinen hinweg einheitliches und konsistentes Bau-werksmodell.

Grundsätzlich soll durch BIM aber auch die Durchgängigkeit der digi-talen Daten über alle Planungsphasen hinweg erreicht werden. Bei derbisherigen Vorgehensweise werden in den unterschiedlichen Phasengrößtenteils unterschiedliche digitale Hilfsmittel verwendet, die aufdie spezielle Aufgabe zugeschnitten sind. Dadurch wird meist nur einTeil der Projektdaten digital verarbeitet und gespeichert. Beim Wechselzwischen den Software-Tools gehen digitale Informationen verloren.

Mit BIM werden nun alle Projektinformationen in einem zentralen Mo-dell und in einer einheitlichen Datenbasis gespeichert. Demzufolge sindauch zahlreiche Informationen über das Tragwerk erforderlich. Begin-nend bei der Planung über die Ausführung bis hin zur Bestandsdoku-mentation müssen alle Angaben zum Tragwerk in das Modell einflie-ßen. Der Tragwerksplanung fällt damit auch mit BIM nach wie vor einemaßgebliche Rolle bei der Planung und Erstellung von Bauwerken zu.

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BIM - BUILDING INFORMATION MODELING

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2 BIM in der Praxis der Tragwerks-planung

BIM ermöglicht die Durchführung der Tragwerksplanung an einemModell, das alle dafür erforderlichen Informationen enthält. Dabeiwerden zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Projekt die notwendigenInformationen in das Gesamtmodell eingepflegt und verarbeitet. Sowird die Basis für eine durchgängige digitale Verarbeitung der Infor-mationen gelegt, mit der Möglichkeit, sie zentral zu verwalten und je-dem Beteiligten transparent zugänglich zu machen.

BIM besteht aus Informationen: Geometrieinformationen zum einenund zum anderen aus zahlreichen zusätzlichen Informationen, die fürdie Herstellung des Bauwerks, für dessen Betrieb und schlussendlichauch für dessen Rückbau erforderlich sind.

Die Tragwerksplanung deckt nur einen Teil der gesamten Informatio-nen des Bauwerks ab. Daraus wird bereits deutlich, dass am gesamtenBIM-Prozess zahlreiche Partner beteiligt sein werden. Allerdings kanndie Tragwerksplanung spezifisch für die eigene Fachplanung einedurchgängige BIM-Planung durchführen, unabhängig von anderenProjektbeteiligten. Eine solche Vorgehensweise wird mit „Little BIM“bezeichnet, im Gegensatz zu „Big BIM“, das die integrale Gesamtpla-nung mit allen Bauwerksinformationen beschreibt.

In den folgenden Beispielen werden Prozesse und Projekte beschrie-ben, die in erster Linie mit Little BIM durchgeführt wurden. Die Prozes-se in der Tragwerksplanung unterscheiden sich bei Little BIM und BigBIM nicht wesentlich. Einzig die Schnittstellenthematik erhält bei BigBIM eine wesentliche und maßgebliche Bedeutung. Zum Ende diesesArtikels werden Projekte vorgestellt, die derzeit in Zusammenarbeitmit Architekten und TGA-Planern mit BIM geplant werden und dennächsten Schritt zu Big BIM darstellen.

Das BIM-Modell wird im Zuge der Vorplanung erstellt. Es enthält alleInformationen, die in diesem Planungsstadium erforderlich sind, zumBeispiel Geometrie und Baustoffeigenschaften, jedoch noch keine De-tailinformationen.

Auf Basis dieses Modells werden Varianten untersucht, gegenüberge-stellt, bewertet und als Entscheidungsbasis vorbereitet.

Aus dem dreidimensionalen Modell können beliebige Ansichten undSchnitte abgeleitet und dargestellt werden (Abb. 1). Gleiches gilt füralle Bauteilinformationen, die bei der ganzheitlichen Modellbildungvollständig in der Datenbasis vorliegen und ausgewertet werden kön-nen. Dies können beispielsweise Massen, Stückzahlen oder Volumina

Abb. 1: Vorplanungsmodell (oben) und Grundriss

© AJG Ingenieure GmbH

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BIM - BUILDING INFORMATION MODELING

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sein, die in entsprechenden Bauteillisten dargestellt und weiterverar-beitet werden können (Abb. 2).

Im weiteren Planungsverlauf wird das Modell verfeinert, mit zusätzli-chen Informationen versehen und Berechnungen zum Tragwerkdurchgeführt. Für die Tragwerksberechnungen werden die Daten desModells direkt weiterverarbeitet. Diese Daten sind im Modell enthal-ten und können entsprechend als analytisches Modell visualisiertwerden (Abb. 3). Mit den Informationen des analytischen Modellswerden die Tragwerksnachweise geführt. Abb. 4 zeigt fünf Ausschnit-te der Berechnung des Bauwerks unter Berücksichtigung der Bauab-schnitte.

Die Dokumentation der Tragwerksplanung kann weiterhin klassischmit Berechnungsdokumenten und zugehörigen Positionsplänen erfol-gen, die aus dem Modell als Modellansichten erstellt werden. DieGliederung erfolgt dabei weiterhin in Einzelpositionen, die die Nach-vollziehbarkeit vereinfachen und eine unabhängige Prüfung ermögli-chen.

Für die Ausführungsplanung werden alle relevanten Informationen zuden Bauteilen eingearbeitet, und das Modell wird schlussendlich ver-feinert und detailliert (Abb. 5). Dies betrifft sowohl die Geometrie, ausauch Details und die Bewehrung, die ebenfalls dreidimensional ge-

plant wird. Aus dem nun vorliegenden Modell werden Darstellungen(Pläne und Visualisierungen) für die Baustelle abgeleitet und könnenin gewohnter Art und Weise zur Verfügung gestellt werden. Wenn ge-wünscht, kann das Planungsmodell für die weitere Bauablaufplanung,wie zum Beispiel Arbeitsvorbereitung, Baustellenlogistik und Termin-planung weiterverwendet werden (Abb. 6).

3 BIM im BestandBauen im Bestand bedingt häufig zahlreiche Zwischenbauzustände,die für die Standsicherheit relevant und daher für die Tragwerkspla-nung von besonderer Bedeutung sind. Das folgende Beispiel zeigt einProjekt, bei dem alle Bauzustände als Bauphasen in BIM erstellt wur-den und sowohl für die Berechnungen als auch für die Ausführung alsPhasenpläne (Abb. 7), sowie als Film zum Bauablauf visualisiert wur-den. Die Information über die entsprechenden Bauphasen ist dem je-weiligen Bauteil direkt zugewiesen und kann damit wieder ausgewer-tet werden.

Das Modell wurde auf Grundlage dreidimensionaler Vermessungsda-ten als Rohbaumodell erstellt und über die statischen Berechnungen(Abb. 8) bis hin zur Bewehrungsplanung (Abb. 9) konsequent in ei-nem Gesamtmodell vervollständigt.

Abb. 2: Bauteilliste

© AJG Ingenieure GmbH

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BIM - BUILDING INFORMATION MODELING

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4 BIM im PlanungsteamWie bereits eingangs angeführt, ist die Tragwerksplanung nur ein Teil-aspekt der Planung eines Bauwerks. Daher ist der BIM-Gedanke derZusammenarbeit aller Planer an einem Modell konsequent und sinn-voll.

Das folgende Beispiel zeigt Ausschnitte aus dem Gesamtmodell einesProjektes (Abb. 10), das durch die Zusammenarbeit mit dem Architek-ten (studioGA in München) und dem Tragwerksplaner derzeit entstehtund sich gerade in der Ausführungsplanung befindet. Die Planung er-folgt dabei an einem Gesamtmodell, das zwischen den Mitarbeiternlaufend und in Echtzeit synchronisiert wird. Neue Kommunikationswe-ge und eine veränderte, offene und enge Kommunikationskultur sindnotwendige und erfreuliche Folgen dieser Arbeitsweise.

Dabei ist die Zusammenarbeit nicht auf einen Partner beschränkt. Diedirekte Integration der Hauptplaner – im Hochbau sind das typischer-weise Objektplanung, Tragwerksplanung und technische Gebäudeaus-rüstung – in ein gemeinsames Modell führt das Konzept von BIM wei-ter. Abb. 11 zeigt ein Projekt, das derzeit in der Vorplanung bearbeitetwird und in dem alle Informationen über Architektur, Tragwerk undTGA in einem Modell zusammengeführt werden.

5 Das TragwerksmodellDie Kernaufgabe der Tragwerksplanung liegt, wie der Name schonsagt, im Entwurf und in der Berechnung des Tragwerks für ein Bau-werk. Dafür abstrahiert der Tragwerksplaner das Bauwerk in ein Trag-werksmodell, das die Tragwirkung ausreichend genau und realistischerfasst.

BIM ermöglicht neben dem physikalischen, geometriebeschreibendenModell ein zweites, in Abb. 3 schon dargestelltes analytisches Modelloder Berechnungsmodell, das an das physikalische Modell gekoppeltist. Auf der Grundlage dieses analytischen Modells können die Berech-nungen im Rahmen der Tragwerksplanung durchgeführt werden.

Das analytische Modell wird zunächst vom Programm anhand dergeometrischen Vorgaben und objektbasierten Eigenschaften automa-tisch generiert. Eine Stütze erhält beispielsweise einen Stab und eineGeschossdecke eine Fläche (Abb. 12). Wie beide Elemente nun weiter-verarbeitet werden, also ob zum Beispiel die Fläche als Platte oder alsSchale beschrieben werden soll, muss vom Tragwerksplaner festgelegtwerden. Gleichermaßen verhält es sich mit der Frage, ob das Tragwerkals dreidimensionales Gesamtmodell oder in Teilmodellen in 2D oder3D berechnet werden soll.

Es bleibt weiterhin Aufgabe der Tragwerksplanung, das Tragwerkssys-tem festzulegen, es analytisch und numerisch zu beschreiben, Materi-almodelle zu definieren und die Berechnungsmethode zu wählen. Da-mit stellt sich schnell heraus, dass die gewohnten grundlegenden Auf-gaben des Tragwerksplaners mit BIM nicht großartig verändert wer-den. Einzig die Modellbildung als Basis für die Berechnung kann ausdem physikalischen Modell abgeleitet werden und gestaltet sich beiintelligenter Modellierung gegebenenfalls einfacher.

Nun ist es allerdings so, dass ein analytisches Modell im Zuge der Er-stellung des BIM-Modells automatisch generiert wird. Das geschiehtauch dann, wenn das BIM-Modell von einem nicht mit der Tragwerks -

Abb. 3: Analytisches Modell

© AJG Ingenieure GmbH

Abb. 4: Berechnung nach Bauabschnitten

© AJG Ingenieure GmbH

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planung beauftragten Fachplaner, zum Beispiel dem Architekten, er-stellt wird. Die Gefahr besteht, wie bei jeder Automatisierung, dassdas Modell ohne kritische Prüfung für die weiteren Berechnungen ver-wendet, und dass dem Programmalgorithmus blind vertraut wird.

Nachdem ein BIM-Modell grundsätzlich ein geometrisch dreidimensio-nales Modell ist, wird im ersten Schritt automatisch auch ein dreidi-mensionales analytisches Modell erzeugt. Das verleitet dazu, auch dasTragwerk als dreidimensionales Gesamtmodell zu berechnen, unab-hängig davon, ob dies technisch sinnvoll oder notwendig wäre. Ein all-zu argloser Umgang mit dreidimensionalen Berechnungsmodellenbirgt jedoch Risiken, die sogar standsicherheitsrelevant sein können.

Beispiele dafür sind die unzureichende Berücksichtigung des Bauab-laufes, der Boden-Bauwerks-Interaktion, der Anschlusselemente oderder Fugen. Die besonderen Eigenschaften eines dreidimensionalen Ge-samtmodells müssen baustatisch berücksichtigt werden. Das gilt aller-dings unabhängig davon, ob es mit BIM oder mit anderen Werkzeugenerstellt wurde.

Aufgrund des dreidimensionalen Bauwerksmodells, dem größtenteilsautomatisch erzeugten analytischen Modell und den zahlreichen Ein-flussfaktoren (zum Beispiel Anschlusssteifigkeiten) sind vertiefte Plau-sibilitätskontrollen für das Tragsystem erforderlich. Die Auswirkungenvon Annahmen und die Sensibilität von streuenden Einflussgrößen auf

Abb. 6: Baustelleneinrichtung

© AJG Ingenieure GmbH

Abb. 5: Modell in der Ausführungsplanung

© AJG Ingenieure GmbH

© AJG Ingenieure GmbH

Abb. 7: Phasenpläne

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BIM - BUILDING INFORMATION MODELING

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das Tragverhalten müssen umso intensiver überprüft werden, destokomplexer das Tragwerksmodell wird.

Daraus wird auch die Wichtigkeit einer unabhängigen Prüfung durchden Prüfingenieur deutlich. Insbesondere ist die Weiterverwendung

© studioG

A, München, AJG Ingenieure GmbH

und Delta-X GmbH

, Stuttgart

Abb. 9: Bewehrungsplanung

Abb. 8: BIM im Bestand

© AJG Ingenieure GmbH

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© AJG Ingenieure GmbH

Abb. 10 a+b: Vorplanungsmodell Architektur (studioGA) und Trag-werksplanung

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A, München, AJG Ingenieure GmbH

und Delta-X GmbH

, Stuttgart

Abb. 10 c+d: Tragwerksvarianten

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BIM - BUILDING INFORMATION MODELING

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des BIM-Modells mit dem analytischen Modell als Grundlage für diebaustatische Prüfung kritisch zu sehen. Dieses kann lediglich als Basisder Vergleichsberechnungen dienen. Vielmehr muss der Prüfingenieurdie Modellbildung selbst hinsichtlich deren Eignung zur Abbildung desTragverhaltens kritisch prüfen.

Die Prüfung der Pläne kann hingegen wieder direkt am BIM-Modell er-folgen, denn auch für die Prüfung ergeben sich dieselben Vorteile wiebei der Planung: Die Daten sind konsistent, koordiniert und aktuell.

6 FazitMithilfe von BIM wird der Prozess der Tragwerksplanung vollständigdigitalisiert. Das Bauwerk wird digital gebaut, bevor es real gebaut

© studioG

A, München, AJG Ingenieure GmbH

und IW

T GmbH

, Hannover

Abb. 12: Physikalisches und analytisches Modell Stab und Fläche

Abb. 11: Vorplanungsmodell Architektur (studioGA), Tragwerksplanung und TGA (IWT)

wird. Der Tragwerksplaner und Bauingenieur wird zum digitalen Bau-meister.

Die Tragwerksplanung beschäftigt sich seit jeher mit Modellen für einBauwerk. Nun kommt das BIM-Modell hinzu. Die grundlegende Arbeitder Tragwerksplanung bleibt aber auch mit BIM dieselbe. Die Trag-werksplanung muss weiterhin standsichere und wirtschaftliche Bau-werke liefern. Allerdings verschiebt sich die Arbeitsweise von einereher analog geprägten hin zu einer voll digitalen und integralen Pla-nung. Die vertieften Kenntnisse der technischen Mechanik werdenaber weiterhin als Grundlagen abverlangt. Darüber hinaus müssenkomplexe dreidimensionale Tragwerkssysteme durch einfache Ersatz-systeme verifiziert werden. Das kann nur durch umfangreiches Know-how und Erfahrung vom Tragwerksplaner geleistet werden. Das kanndie Digitalisierung bisher noch nicht leisten.

© AJG Ingenieure GmbH

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BAUPRODUKTENRECHT

Der Prüfingenieur | November 2017 59

Das europäische Bauproduktenrecht im Spannungsfeld vonerfolgreicher Vermarktung und sachgemäßer VerwendungDie konzeptuellen Probleme der Bauproduktenverordnungwerden wohl mit einer konstitutiven Novellierung gelöst

Die EU-Bauproduktenverordnung trat im Juli 2013 operativ inKraft, doch schon drei Jahre später enthielt der Bericht der EU–Kommission über die Durchführung der Bauproduktenverord-nung deutliche Hinweise darauf, dass diese noch relativ jungeEU-Verordnung schon bald novelliert werden wird. Mittlerweilefanden bereits mehrere Sitzungen der „Technical Platforms“statt, die eigens für die Diskussion von Problemen mit der Bau-produktenverordnung geschaffen worden waren. In diesen Sit-zungen wird auch über die zu erwartende Entwicklung des eu-ropäischen Bauproduktenrechtes im Spannungsfeld von erfolg-reicher Vermarktung und sachgemäßer Verwendung diskutiert,über deren Inhalte und Ziele im folgenden Beitrag aus ersterHand berichtet wird.

Geschäftsführer des Österreichischen Instituts für Bautechnik(OIB); Gemeinsamer Ländervertreter in der Arbeitsgruppe des EU-Rats für die Bauproduktenverordnung, Mitglied des StändigenAusschusses für das Bauwesen der Europäischen Kommission;Experte für Baurecht und Bauprodukte in Projekten der EU undder Weltbank; Herausgeber der Zeitschrift „OIB aktuell“ und Bei-ratsmitglied der „baurechtlichen blätter“; Mitglied in mehrereninternationalen baurechtlichen Gremien

Dr. Rainer Mikulits

1 Einführung Das EU-Bauproduktenrecht soll sicherstellen, dass der freie Warenver-kehr am europäischen Binnenmarkt auch für Bauprodukte funktio-niert. Da die alleinige Anwendung des Prinzips der gegenseitigen An-erkennung für Bauprodukte offensichtlich nicht ausgereicht hatte, be-schloss der Rat bereits Ende 1988 die Bauproduktenrichtlinie. Sie wur-de formell als Richtlinie angesehen, die dem sogenannten Neuen Kon-zept (New Approach) folgt, und führte deshalb auch zur CE-Kennzeich-nung*. Von Anfang an stellte sich hierbei jedoch das konzeptuelle Pro-blem, dass Bauprodukte keine Endprodukte sind, die vom Konsumen-ten direkt verwendet werden, sondern dass es gewissermaßen Vorpro-dukte sind, die erst durch den Einbau in ein Bauwerk ihrer Verwen-dung zugeführt werden. Man verwendet somit eigentlich keine Bau-produkte im Sinne des New Approach, sondern Bauwerke. Entspre-chend betrafen die wesentlichen Anforderungen, die in allen Richtlini-en des New Approach von den jeweiligen Produkten erfüllt werdenmüssen, im Falle der Bauproduktenrichtlinie gar nicht die Bauprodukteselbst, sondern eben die Bauwerke.

Dieses Dilemma versuchte man in der Bauproduktenrichtlinie dadurchzu lösen, dass man den Begriff der Brauchbarkeit von Bauprodukteneinführte. Ein Produkt galt als brauchbar, wenn es so beschaffen ist,dass die Bauwerke, für die es verwendet wird, bei ordnungsgemäßerPlanung und Bauausführung den wesentlichen Anforderungen ent-sprechen. Die Spannungen und Interpretationsschwierigkeiten, diesich dadurch ergaben, dass die Bauproduktenrichtlinie formell eineRichtlinie des New Approach war, andererseits aber die wesentlichenAnforderungen gar nicht die Produkte selbst betrafen und der im NewApproach unbekannte Begriff der Brauchbarkeit als Krücke herangezo-gen werden musste, führten bereits bald zu Kritik und zum Wunsch ei-ner Änderung der Bauproduktenrichtlinie. Trotzdem hielt sie sehr lan-ge, nämlich rund 24 Jahre. Mit der neuen Bauproduktenverordnungaus 2011 versuchte die Kommission, das oben geschilderte Dilemmamit Brachialgewalt dadurch zu lösen, dass

� die Bauproduktenverordnung nicht mehr als dem New Approachzugehörig betrachtet wurde und dass

� ein vollkommen neues Konzept, nämlich jenes der Leistungserklä-rung unter Verwendung einer gemeinsamen technischen Fachspra-che eingeführt wurde.

* Dieser „New Approach“ für die Produktregulierung und das Gesamtkonzeptfür die Konformitätsbewertung der Europäischen Union dienen seit 1985 dertechnischen Harmonisierung bestimmter Produktgruppen und dem Abbau vonHandelshemmnissen innerhalb des Europäischen Binnenmarktes. Gemeinsamhaben diese einander ergänzenden Konzepte, dass sie das Einschreiten desStaates auf ein unentbehrliches Mindestmaß beschränken und somit der Indus-trie bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber der Öffentlichkeit einengrößtmöglichen Handlungsspielraum gewähren.

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BAUPRODUKTENRECHT

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2 Ziele der EU-BauproduktenverordnungTrotz der CE-Kennzeichnung von Bauprodukten unter der EU-Baupro-duktenrichtlinie hatte es weiterhin nationale Zulassungen und Kenn-zeichnungen für Bauprodukte gegeben. Überdies hatten in einigenMitgliedstaaten auch weiterhin formal freiwillige, de facto aber für dieerfolgreiche Vermarktung von Bauprodukten erforderliche Qualitäts-kennzeichnungen bestanden. Die Bauproduktenrichtlinie hatte offen-sichtlich das Ziel, den Binnenmarkt für Bauprodukte sicherzustellen,nicht vollständig erreicht. Überdies war der Fortschritt bei der Schaf-fung harmonisierter Normen sehr schleppend: Ende des Jahres 2008,also zwanzig Jahre nach Beschlussfassung der Bauproduktenrichtliniedurch den Rat, waren erst rund 300 der knapp 500 geplanten harmo-nisierten Normen verfügbar und im Amtsblatt der EU veröffentlicht.Vor diesem Hintergrund legte die Kommission 2008 den ersten Ent-wurf einer neuen EU-Bauproduktenverordnung mit dem Ziel vor, dieeuropäischen Rechtsvorschriften für Bauprodukte zu präzisieren, denVerwaltungsaufwand zu verringern und die Glaubwürdigkeit des Sys-tems zu stärken. Die Kommission analysierte hierbei richtig, dass dasProblem in der unklaren Schnittstelle zwischen der Vermarktung vonBauprodukten in Europa einerseits und der Verwendung von Baupro-dukten in den einzelnen Mitgliedsstaaten – unter Einhaltung der dortgeltenden Bauvorschriften – lag (Abb. 1).

Die Kommission verabsäumte es jedoch, die unklaren Bestimmungenbetreffend Brauchbarkeit im Hinblick auf klarere Bedingungen für dieVerwendbarkeit zu präzisieren, sie ging sogar noch einen Schritt zurückund führte das Konzept der Leistungserklärung mittels einer gemeinsa-men technischen Fachsprache ein. Die Idee war hierbei, dass auf euro-päischer Ebene die erforderlichen Kennwerte (wesentliche Merkmale)sowie die für deren Ermittlung erforderlichen Prüfmethoden festgelegtwerden, und in der Folge die ermittelten Leistungen – also die Prüfer-gebnisse für die einzelnen Kennwerte – in einem europäischen Doku-ment vom Hersteller deklariert werden. Auf der Seite der Mitgliedstaa-ten wiederum wäre es hierfür erforderlich, in den Bauvorschriften aufgenau diese Kennwerte („wesentlichen Merkmale“) Bezug zu nehmen,womit eine eindeutige Schlüssel-Schloss-Kompatibilität gegeben wäre.In diesem Sinne ist auch der Artikel 8 Absatz 6 der Bauproduktenver-ordnung zu verstehen: „Die Mitgliedsstaaten passen die Verfahren, diesie in ihren Anforderungen an Bauwerke verwenden, sowie andere na-tionale Regeln in Bezug auf die wesentlichen Merkmale von Baupro-dukten an die harmonisierten Normen an.“

Leider erwies sich dieses intellektuell durchaus interessante Konzept inder Praxis als sehr blauäugig, denn – wie zu erwarten war – wurde

dieser Auftrag an die Mitgliedsstaaten, nämlich im Sinne des Artikels 8Absatz 6 ihre Bauvorschriften komplett zu restrukturieren und an denleistungsorientierten Ansatz der Bauproduktenverordnung anzupas-sen, nicht erfüllt. Dies führte zu einer Situation, in der es in praxi diePlaner und Bauausführenden sind, denen nunmehr die Verantwortungdafür zufällt, die tatsächliche Verwendbarkeit von Bauprodukten in ei-nem bestimmten Mitgliedstaat für bestimmte Bauaufgaben anhandder in der Leistungserklärung angeführten Leistungskennwerte zu be-urteilen. Es ist nicht verwunderlich, dass in einer solchen Situation inden Mitgliedstaaten der Ruf nach Hilfe laut wurde, dem auch vonmancher Seite sofort pflichtschuldigst nachgekommen wurde, indemals Lösung die „freiwilligen“ Qualitätszeichen oder die (Wieder-)Ein-führung von nationalen Verwendungs- beziehungsweise Anwen-dungszulassungen propagiert wird.

In Österreich versuchte man einen anderen Weg zu gehen, nämlich inForm einer generischen Festlegung der erforderlichen Leistungskenn-werte in einer allgemein gültigen Verordnung. Es handelt sich hierbeium die Baustoffliste ÖE, in der für alle Bauprodukte, die CE-gekenn-zeichnet sind und für die dies als erforderlich angesehen wird, festge-legt wird,

� welche Kennwerte (wesentlichen Merkmale) jedenfalls zu deklarie-ren sind (d.h. die Option NPD = „no performance determined – kei-ne Leistung festgestellt“ ist nicht möglich), sowie

� gegebenenfalls, welche Leistung (Wert oder Klasse) mindestens er-reicht werden muss oder maximal zulässig ist.

Freilich löst auch ein solcher Ansatz das Problem nur teilweise, wiesich anhand der Diskussionen rund um das sogenannte Bauprodukten-urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-100/13 ge-gen Deutschland erkennen lässt.

3 Das Problem der Lücken in harmonisierten NormenDas Bauproduktenurteil des EUGH gegen Deutschland in der Rechts-sache C-100/13 postuliert, dass das harmonisierte System unter derBauproduktenverordnung als vollständig zu betrachten sei. Aus die-sem Grund sei es den Mitgliedsstaaten nicht gestattet, unilateral aufnationaler Ebene den Nachweis zusätzlicher Kennwerte (wesentlicheMerkmale), die für den Nachweis der Erfüllung der Bauvorschriften er-forderlich sind, zu verlangen, selbst wenn diese Kennwerte in den vor-liegenden harmonisierten Normen fehlen.

Was unter dem harmonisierten System zu verstehen ist, wird leicht er-sichtlich, wenn man Artikel 19 Absatz 1 betrachtet. Dort wird unterlit.c den Herstellern von Bauprodukten die Möglichkeit eröffnet, einenKennwert (wesentliches Merkmal), der in einer harmonisierten Normfehlt (Lücke), jedoch für den Nachweis der Erfüllung der Bauvorschrif-ten in einem Mitgliedstaat erforderlich wäre, mittels einer Europäi-schen Technischen Bewertung (ETA) nachzuweisen.

Die Bedeutung dieser Möglichkeit, innerhalb des harmonisierten Sys-tems einen Kennwert (wesentliches Merkmal) zu ergänzen, der in ei-ner harmonisierten Norm fehlt, darf nicht unterschätzt werden. In derPraxis betrifft diese Möglichkeit nämlich nicht nur Fälle, in denen – auswelchem Grund auch immer – ein Kennwert fehlt, der für den Nach-weis der Erfüllung der Bauvorschriften in einem Mitgliedstaat erforder-lich wäre, sondern sie ermöglicht überhaupt erst eine Weiterentwick-Abb. 1: Die Schnittstelle zwischen Bauprodukt und Bauwerk

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BAUPRODUKTENRECHT

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lung der bautechnischen Anforderung in den Bauordnungen der Mit-gliedstaaten, die ansonsten neue Anforderungen (zum Beispiel in Be-reichen wie Nachhaltigkeit oder Gefahrstoffe) erst einführen könnten,wenn in den entsprechenden harmonisierten Normen die dafür erfor-derlichen Kennwerte ergänzt worden sind, was erfahrungsgemäß Jah-re in Anspruch nehmen kann.

4 Das Problem der VerwendungDer Begriff Verwendung kommt in der Bauproduktenverordnung sehrhäufig vor, allerdings lediglich im Sinne von Verwendungszweck. Da-mit ist jedoch nur gemeint, wofür ein Bauprodukt verwendet wird;was in der Bauproduktenverordnung nicht behandelt wird, ist hinge-gen die Frage, wie ein Bauprodukt verwendet werden muss, und zwarim Sinne von Bestimmungen für den korrekten Einbau beziehungswei-se die korrekte Anwendung eines Bauproduktes, damit auch sicherge-stellt ist, dass die in der Leistungserklärung deklarierten Leistungentatsächlich erreicht werden.

Ein sehr plakatives Beispiel für dieses Problem stellen Brandschutztü-ren dar – es wird jeder verstehen, dass die in der Leistungserklärungdeklarierte Feuerwiderstandsdauer nur dann tatsächlich erreicht wer-den kann, wenn die Brandschutztüren samt Zarge korrekt eingebautwurden. Die Frage, wie ein Bauprodukt verwendet oder angewendetwerden muss, wird in der Bauproduktenverordnung also leider nichtbeantwortet.

Die Kommissionsdienste vertreten die Auffassung, dass das Wie desEinbaus beziehungsweise der Anwendung eines Bauproduktes durchArtikel 11 Absatz 6 der Bauproduktenverordnung bereits abgedecktsei. Hierbei handelt es sich um die Pflicht des Herstellers, dem Produkteine Gebrauchsanleitung beizufügen. Nähere Vorgaben, was in dieserGebrauchsanleitung stehen muss, gibt es in der Bauproduktenverord-nung jedoch nicht, auch unterliegt diese Gebrauchsanleitung keinerKontrolle durch die in das anzuwendende AVCP-System einzubinden-den notifizierten Stellen*. Die Bestimmung des Art. 11 Abs. 6 ist dahersicherlich nicht ausreichend, um diese Lücke in der Bauproduktenver-ordnung zu schließen.

5 Weitere Entwicklung – Wird die Bau-produktenverordnung novelliert?Obwohl das Konzept der Bauproduktenverordnung mit der klarenSchnittstelle einer Leistungserklärung intellektuell interessant ist undauch theoretisch ein guter Ansatz wäre, so hat es sich in der Praxisnicht bewährt. Das ist – wie bereits erwähnt – vor allem darauf zu-rückzuführen, dass die Bauvorschriften der Mitgliedstaaten bei wei-tem noch nicht ausreichend leistungsorientiert formuliert sind, um di-rekt an die Leistungserklärungen gemäß Bauproduktenverordnung an-knüpfen zu können. Diese Situation wird auch durch die Stellungnah-men widergespiegelt, die in einer Online-Befragung der Kommissions-

dienste abgegeben wurden, die Mitte dieses Jahres durchgeführt wur-de. Exemplarisch sollen hier nur einige Kernaussagen aus dieser Stel-lungnahmen zitiert werden:

� „Viele Baubeteiligte haben Schwierigkeiten, anhand der Leistungs-erklärung zu entscheiden, ob das harmonisierte Bauprodukt vor Ortfür den vorgesehenen Verwendungszweck eingesetzt werden darfoder nicht“ (Bundesverband Baustoffe, Steine und Erden);

� „The technical relevance of the hENs is questionable, and the userscannot trust on basis of the DOP‘s unless they have a very goodknowledge both of the end use and of the product specificity”(anonym);

� „The CE-mark is misconceived by the market as a quality mark alt-hough it does not contain quality criteria nor does it indicate its fit-ness for use” (KOMO);

� „Countries such as Germany and France have effective barriers inplace that show no signs of being weakened” (CEN-TC Convenoraus dem Vereinigten Königreich).

Neben der Problematik der Verwendung, die in der Bauproduktenver-ordnung unzureichend berücksichtigt wird, gibt es laut dem genann-ten Bericht der europäischen Kommission über die Durchführung derBauproduktenverordnung sowie gemäß den zusammenfassenden Be-merkungen zum Inception Impact Assessment noch eine Reihe weite-rer Punkte, die einer Verbesserung bedürften.

Sowohl im Bericht als auch in den zusammenfassenden Bemerkun-gen wird einerseits auf Probleme bei der Anwendung der Baupro-duktenverordnung Bezug genommen, andererseits aber auch aus-drücklich angeführt, dass es eine Reihe von Problemen gebe, dieüber reine Anwendungsprobleme hinausgingen (und somit mit demText Bauproduktenverordnung verknüpft sind). Hierbei werden unteranderem die vereinfachten Verfahren (Art. 36 bis 38), die Normungs-prozesse, die Marktüberwachung sowie die Tatsache eines „incom-plete/imperfect update of the harmonisation of the rules for the mar-keting of construction products“ genannt, wobei ausdrücklich dievon manchen Behörden der Mitgliedstaaten geforderten nationalenex ante-Nachweise oder -Verfahren erwähnt werden. Des Weiterenwerden in diesem Dokument folgende drei Handlungsoptionen an-geführt:

I. Keine Änderung der Bauproduktenverordnung, lediglich Verbesse-rung der Interpretation und der Anwendung sowie der Prozesse derBauproduktenverordnung;II. Novellierung der Bauproduktenverordnung;a. Begrenzte Revision der Bauproduktenverordnung, nur die Pro-bleme betreffend, die im Bericht über die Durchführung vom Ju-li 2016 explizit identifiziert wurden;

b. größere Revision der Bauproduktenverordnung, die auch diePrinzipien der Bauproduktenverordnung berührt, wobei mehre-re Varianten (die auch kombiniert werden können) erwähntwerden;

c. tiefgreifende Revision der Bauproduktenverordnung, die dasGleichgewicht in der gegenwärtigen Aufgabenverteilung zwi-schen EU und Mitgliedstaaten verlagert;

III. Zurückziehung der Bauproduktenverordnung und alleinige Anwen-dung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung.

Allein die Tatsache, dass für die Option II drei unterschiedliche Varian-ten angeführt werden, ist ein deutliches Indiz dafür, dass es wohl inRichtung einer Änderung der Bauproduktenverordnung gehen wird.

* Die Bewertung und Überprüfung der Leistungsbeständigkeit (Englisch: As-sessment and Verification of Constancy of Performance = AVCP) ist die Voraus-setzung für die Erstellung einer Leistungserklärung. Die Verfahren beziehungs-weise Systeme zur Bewertung und Überprüfung der Leistungsbeständigkeit(AVCP-Verfahren beziehungsweise AVCP-Systeme) sollen genaue, zuverlässigeund vergleichbare Informationen über die Leistungen eines Bauproduktes her-vorbringen.

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Die Novellierung des nationalen Bauproduktenrechtsdurch die Musterbauordnung 2016 und die MVV-TBNeue Regelungen könnten den Prüfingenieuren undPrüfsachverständigen auch Haftungsrisiken bescheren

Das Bauproduktenurteil des Europäischen Gerichtshofs wirft inDeutschland immer neue Probleme auf. Die Folgen des unbe-dingten Prinzips der EU-Kommission, die dem freien Markt auchauf dem Bauproduktensektor jedes erdenkliche Vortrittsrechtverschaffen will, und dabei auch nicht davor zurückschreckt,elementare präventive Sicherheitskonzepte in die zweite Reihezu verweisen, krempelt hierzulande vieles diametral um. Dasdeutsche Sicherheitskonzept sieht bekanntlich vor, dass sicher-heitstechnische Anforderungen nicht nur an das Gebäude selbstgestellt werden, sondern auch an die Produkte, die dem Errei-chen dieses Ziels dienen. Das Konzept der EU-Kommission führtaber dazu, dass sich die Verantwortung für die Einhaltung ge-setzlich verlangter Leistungen von Bauprodukten vom Herstel-ler stärker auf den Bauherrn verlagert – womit sie unweigerlichauch beim Prüfingenieur oder Prüfsachverständigen landenwird. Wenn aber die Leistungserklärungen der Hersteller diebauaufsichtlich erforderlichen Angaben künftig in bestimmtenFällen nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit darstellen,dann können die Bauherren und ihre Planer und die Prüfinge-nieure und Prüfsachverständigen ordentliche bautechnischeNachweise nicht mehr ohne Weiteres führen beziehungsweiseanerkennen. Diese Situation, deren Gründe und zu erwartendenKonsequenzen im folgenden Beitrag dargestellt werden, birgtauch die Gefahr, dass der Bauherr bestimmte Leistungen nichtmehr als vertragsgemäß abnehmen muss – was vor allem fürden privatrechtlich beauftragten Prüfsachverständigen Risikenmit sich bringen kann.

studierte Rechtswissenschaften in Köln und war von 1988 bis2004 im Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehrvon NW in mehreren verantwortlichen Positionen tätig; von 1999bis 2004 war er gleichzeitig EU-Referent der Deutschen Baumi-nisterkonferenz; von 2004 bis 2009 leitete er die Abteilung Bau-wesen, Bauwirtschaft und Bundesbauten im Bundesministeriumfür Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und seit Dezember 2009ist er als Rechtsanwalt in der Kanzlei HFK Rechtsanwälte LLP inDüsseldorf tätig.

Ministerialdirektor a. D. Michael Halstenberg

1 EinleitungDie Mitgliedstaaten tragen die Verantwortung für die Errichtung siche-rer Bauwerke. Das deutsche Sicherheitskonzept sieht vor, dass Anfor-derungen nicht nur an das Gebäude gestellt werden (Standsicherheit,Brandschutz, Wärmeschutz, Schallschutz), vielmehr werden schon aufder Ebene der Bauprodukte Anforderungen gestellt, die erfüllt werdenmüssen, damit diese Bauprodukte verwendet werden dürfen. Dadurchwird sichergestellt, dass die Bauprodukte prinzipiell geeignet sind, ummit ihnen ein sicheres Bauwerk zu errichten. Daher ist der Herstellerfaktisch gehalten, diese Werte für sein Produkt im Hinblick auf den an-gegebenen Verwendungszweck (etwa Zugfestigkeit, Druckfestigkeit,Entflammbarkeit, Lambdawert) anzugeben. Diese Werte sind auch er-forderlich, um die bautechnischen Nachweise auf der Bauwerksebeneführen zu können. Auch der Prüfingenieur greift auf sie zurück.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seinem sogenannten Bau-produktenurteil vom 16.10.2014 [1] festgestellt, dass Deutschland ge-gen die EU-Bauproduktenrichtlinie verstoßen hat, weil es in drei Fällen[2] zusätzliche nationale Anforderungen an europäisch harmonisierteBauprodukte gestellt hat, Anforderungen also, die in der europäischenNorm inhaltlich nicht gestellt werden. Harmonisierte Normen, auf de-ren Grundlage der Hersteller sein Produkt mit einer CE-Kennzeichnungzu versehen hat, sind aber als vollständig und damit als abschließendeRegelungen anzusehen. Bauprodukte unterfallen nunmehr zwar derBauproduktenverordnung, es besteht aber weitgehend Einigkeit darü-ber, dass das Urteil in seinen wesentlichen Aussagen auch Geltung fürdie Bauproduktenverordnung beansprucht.

Die deutsche Verwaltungspraxis, wonach auch an harmonisierte Bau-produkte national zusätzliche technische Anforderungen gestellt wer-den können, lässt sich daher nicht mehr aufrechterhalten. Solche An-forderungen sind in Bezug auf den Hochbau bislang vor allem in derBauregelliste (BRL) B Teil 1 enthalten. Die Bundesrepublik hatte derEU-Kommission daher zugesagt, das Feststellungsurteil des EuGH biszum 16.10.2016 in nationales Recht umzusetzen und ab diesem Zeit-punkt an harmonisierte Bauprodukte weder unmittelbar noch mittel-bar zusätzliche Anforderungen zu stellen, solche Anforderungen also,für die eine europäisch harmonisierte Norm kein Prüf-, Bewertungs-oder Messverfahren vorsieht.

Die für das Bauordnungsrecht zuständigen Länder haben sich jedochnicht mit punktuellen Korrekturen in Bezug auf harmonisierte Bau-produkte begnügt, sondern eine Neuordnung des gesamten techni-schen Regelwerks eingeleitet. Die dafür erforderlichen Mustervor-schriften liegen nunmehr vor. Im Kern handelt es sich um eine Neufas-sung der Bestimmungen der (MBO) für die Verwendung von Baupro-dukten sowie die Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baube-stimmungen (MVV TB [3]), durch die künftig die sogenannten Baure-gellisten und die Liste der technischen Baubestimmungen ersetztwerden sollen.

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2 Anforderungen an BauprodukteVorschriften für die zulässige Verwendung von Bauprodukten findensich in den Bauordnungen der Länder, die über die Liste der in dem je-weiligen Land eingeführten technischen Baubestimmungen auch aufdie Bauregellisten verweisen, die beim Deutschen Institut für Bautech-nik geführt werden. Die Bauregellisten verweisen wiederum auf dieeinzuhaltenden technischen Regelwerke oftmals in Form von DIN-Nor-men. Erfüllt ein Produkt diese technischen Anforderungen, erklärt derHersteller mit einer Herstellererklärung eine Übereinstimmung seinesProdukts mit diesen Anforderungen und bringt das Ü-Kennzeichen aufdem Produkt auf. Weicht der Hersteller von diesen Regeln ab oder han-delt es sich um ein Bauprodukt, für das es keine anerkannten Regelngibt, sieht das Bauordnungsrecht der Länder zusätzliche Verwendbar-keitsnachweise vor. Neben der Zustimmung im Einzelfall handelt essich dabei vor allem um allgemeine bauaufsichtliche Zulassungen oderallgemein anerkannte Prüfzeugnisse, die vom Deutschen Institut fürBautechnik oder von einer zugelassenen Prüfstelle erteilt werden. Er-füllt ein Produkt die Anforderungen eines Verwendbarkeitsnachweises,erklärt der Hersteller ebenfalls die Übereinstimmung seines Produktsmit diesen Verwendbarkeitsnachweisen und bringt dementsprechendein Ü-Kennzeichen auf.

Diese Bestimmungen gelten auch weiterhin uneingeschränkt für alle(noch) nicht harmonisierten Bauprodukte. Daher sieht die MBO inso-weit auch keine grundlegenden Änderungen vor. In diesen Fällen kön-nen die am Bau Beteiligten daher auch künftig von einer Zulässigkeitder Verwendung dieser Produkte ausgehen. Diese rein national gere-gelten Produkte sind auch leicht zu identifizieren. Sie tragen nämlichkeine CE-Kennzeichnung, sondern nur ein Ü-Zeichen.

Anders sieht es hingegen mit den europäisch harmonisierten Baupro-dukten aus, die durch harmonisierte europäische Normen (hEN) er-fasst werden, die von der europäischen Normungsorganisation CENerarbeitet wurden und regelmäßig vom DIN als DIN EN-Normen indas deutsche Normensystem integriert werden. Diese Normen bein-halten jedoch nicht immer alle Prüfverfahren für Bauprodukte, die dieEU-Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Feststellung der Bauwerkssi-cherheit benötigen [4]. Deutschland hatte daher auch für viele har-monisierte Bauprodukte ergänzende nationale Anforderungen anBauprodukte bauordnungsrechtlich geregelt und entsprechendeNachweise gefordert, oft in Form allgemeiner bauaufsichtlicher Zu-lassungen. Dieses Verfahren führte im Ergebnis dazu, dass die betref-fenden Bauprodukte neben der CE-Kennzeichnung eine Ü-Kennzeich-nung erhielten. Die Verwender konnten daher weiterhin sicher sein,dass auch die harmonisierten Bauprodukte prinzipiell Verwendungfinden konnten.

Damit ist es nun vorbei.

Künftig tragen harmonisierte Bauprodukte grundsätzlich nur noch ei-ne CE-Kennzeichnung. Entsprechende Verwendbarkeitsnachweise undeine ergänzende Ü-Kennzeichnung der Produkte entfallen und werdennach den Übergangsvorschriften, die die Länder bereits erlassen ha-ben, schon jetzt durch die Bauaufsicht in der Praxis nicht mehr einge-fordert, obwohl die gesetzlichen Vorschriften der meisten Länder diesnoch vorsehen.

Das alles ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass harmonisierteNormen Lücken aufweisen können. Durch die Streichung der zusätzli-chen nationalen Anforderungen, vor allem in der BRL B Teil 1, werden

diese Lücken auch wirksam. Die aus Sicht des nationalen Bauord-nungsrechts besonders gravierenden Lücken hat die FachkommissionBautechnik der ständigen Bauministerkonferenz (ARGEBAU) mit Un-terstützung des DIBt in einer sogenannten Prioritätenliste zusammen-gefasst. Sie listet ungefähr 80 harmonisierte Normen (hEN) nach derBauproduktenverordnung (Verordnung EU Nr. 305/2011) auf, die einervordringlichen Überarbeitung durch das Europäische Komitee für Nor-mung CEN (Comité Européen de Normalisation) bedürfen, um sicher-heitsrelevante Probleme zu vermeiden [5] oder zumindest spürbareMängel auszubessern. Dazu gehört beispielsweise der Umstand, dass

� die Scherfestigkeit von Gipsplatten, die für die Bemessung der Zug-oder Biegefestigkeit erforderlich ist, nicht geregelt wird,

� die Norm für Mauerziegel keine Festlegungen hinsichtlich des Wi-derstandes gegenüber Frost und Tauwechsel enthält,

� für Betonfertigteile in Form von Hohlplatten erforderliche Kennwer-te für Beton- und Spannstahl und für den Beton fehlen,

� der gesamte Bereich der Freisetzung gefährlicher Stoffe in den hENnicht geregelt wird.

Allerdings sollte in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden,dass rund 370 harmonisierte Normen unkritisch gesehen werden.

Unabhängig davon ist zu klären, wie man in den Problemfällen bis zurVerabschiedung vervollständigter Normen umgehen soll.

3 Anforderungen an BauwerkeAusgangspunkt entsprechender Überlegungen der Länder war die Tat-sache, dass die Mitgliedsstaaten weiterhin nationale Anforderungenan die Sicherheit von baulichen Anlagen (Standsicherheit, Brand-schutz, Schallschutz, Wärmeschutz) stellen können, denn für das Si-cherheitsniveau von Bauwerken sind allein die Mitgliedstaaten verant-wortlich [6]. Daher sollten die Anforderungen an Bauprodukte nachMöglichkeit in Bauwerksanforderungen transformiert werden.

Das ist kein Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, denn das eu-ropäische Bauproduktenrecht ist kein Baurecht, sondern Wirtschafts-beziehungsweise Wettbewerbsrecht, das im Kern einen zivilrechtlichenAnsatz verfolgt. Es geht davon aus, dass ein Bauherr oder ein Bauun-ternehmen die nationalen (Sicherheits-)Anforderungen an das Bau-werk kennen und daher die geeigneten Bauprodukte aus der Vielzahlder auf dem europäischen Markt angebotenen Produkte selbst aus-wählen sollen, mit denen sie diese Sicherheitsanforderungen erfüllenkönnen.

Die am Bau Beteiligten können die Eigenschaften eines Produkts abermeist gar nicht bewerten oder gar ermitteln. Faktisch benötigen sie dieerforderlichen Angaben und Nachweise vom jeweiligen Hersteller. DerHersteller ist prinzipiell auch verpflichtet, Angaben auf der Grundlageder betreffenden harmonisierten Norm und der darin geregelten Prüf-verfahren zu machen, sodass der Käufer alle technischen Angaben zuBauprodukten objektiv vergleichen kann.

Dieser Ansatz gewährleistet einen breiten Wettbewerb. Denn diesesSystem versetzt den Kunden in die Lage, auf der Grundlage der ange-gebenen technischen Werte nach dem Preis oder der Wirtschaftlichkeitzu entscheiden. Er kann sich daher auch für Produkte entscheiden, dieweniger leistungsfähig sind und die baulichen Anforderungen nichtohne Weiteres erfüllen. Der Kunde kann zum Beispiel einen Dämmstoff

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mit einem schlechten Lambdawert wählen, dafür aber mehr Dämm-stoff einsetzen und damit auf eine andere technische Weise die gesetz-lich festgelegten Energiebedarfswerte für ein Gebäude erreichen. Die-ses System setzt aber voraus, dass der Hersteller tatsächlich alle erfor-derlichen technischen Angaben macht.

Fehlen dafür die Grundlagen in der Norm, ist die vom Hersteller abge-gebene Leistungserklärung letztlich unvollständig und damit für dieam Bau Beteiligten insoweit untauglich.

Da die am Bau Beteiligten in Deutschland aber weiterhin bautechni-sche Nachweise für die bauliche Anlage erstellen müssen, um gegen-über den Bauaufsichtsbehörden oder den Prüfingenieuren und Prüf-sachverständigen die Einhaltung der bauaufsichtlichen Anforderungenan das Bauwerk nachweisen zu können, bedarf es einer Regelung be-ziehungsweise eines Regelungsmechanismus, wie die erforderlichenLeistungswerte der betreffenden Bauprodukte, die von einer hEN nichterfasst sind, künftig bereitgestellt werden.

Hinzu kommt die zivilrechtliche Situation. Da ein Bauvertrag ein Werk-vertrag ist, schuldet der Auftragnehmer den Erfolg. Dazu gehört auchdie Einhaltung aller öffentlich-rechtlichen Vorschriften. Bislang konn-ten alle Beteiligten davon ausgehen, dass die Hersteller aufgrund derbauaufsichtlichen Anforderungen an Bauprodukte alle relevanten Leis-tungsangaben zuverlässig zur Verfügung stellen. Letztlich erklärte je-der Bauprodukthersteller durch die Aufbringung der Ü-Kennzeichnungnämlich, dass sein Bauprodukt zumindest die öffentlich-rechtlichenAnforderungen erfüllt, die für die bestimmungsgemäße Verwendungseines Bauprodukts bauaufsichtlich erforderlich waren. Diese Leistun-gen waren daher (zumindest stillschweigend) vereinbart, ohne dassder Käufer oder Besteller diese konkret fordern oder ausschreiben undausdrücklich vereinbaren musste.

Bilden die Leistungserklärungen der Hersteller die bauaufsichtlich er-forderlichen Angaben bei CE-gekennzeichneten Bauprodukten künftigaber nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit ab, dann können dieam Bau Beteiligten, das heißt also, die Bauherren, Planer, Bauunter-nehmen, aber auch Prüfingenieure und Prüfsachverständigen, nichtmehr ohne Weiteres davon ausgehen, dass die Produkte für den ent-sprechenden Verwendungszweck technisch zur Erfüllung der Anforde-rungen an das Bauwerk geeignet sind, beziehungsweise dass ein ent-sprechender bautechnischer Nachweis geführt werden kann. Damitbesteht die Gefahr einer mangelhaften Leistung, die der Bauherr nichtals vertragsgemäß abnehmen muss.

4 Anpassung der Musterbauordnungder Länder Einleitend sei angemerkt, dass die MBO nur ein Muster ist, an demsich die Landesbauordnungen ausrichten sollen. Obwohl alle Länderder MBO regelmäßig zustimmen, weichen die Landesbauordnungen invielen Fällen davon ab. Für den Bereich der Bauprodukte enthalten dieLandesbauordnungen aber weitgehend gleiche Regelungen. Aller-dings ist die neue MBO bisher nur in Sachsen-Anhalt und NRW umge-setzt worden. Daher sind die Regelungen in den Ländern auf absehba-re Zeit unterschiedlich. Zudem haben fast alle Länder Übergangsvor-schriften mit unterschiedlichen Inhalten erlassen, sodass im Zweifelfür jedes Bundesland zurzeit noch unterschiedliche Regelungen gel-ten. Auch die MVV TB werden in den Ländern nur verbindlich, wenndas Muster in dem jeweiligen Land für verbindlich erklärt wird.

Die aktuelle Musterbauordnung [7] integriert zunächst Vorschriftender Bauproduktenverordnung, indem sie bestimmte Begrifflichkeiten,etwa für die Definition eines Bauproduktes, übernimmt (§ 2 Abs. 10MBO). In Bezug auf die allgemeinen Anforderung an bauliche Anlagenwird auf die Grundanforderungen der Bauproduktenverordnung Be-zug genommen (§ 3). Darüber hinaus sieht Paragraf 16c der MBO vor,dass die Vorschriften der Bauordnung, die nationale Anforderungen anBauprodukte enthalten oder zulassen, nicht für Bauprodukte gelten,die die CE-Kennzeichnung aufgrund der EU-Bauproduktenverordnungtragen. In Paragraf 16c Absatz 1 der MBO ist allerdings auch geregelt,dass ein Bauprodukt, das die CE-Kennzeichnung trägt, nur verwendetwerden darf, wenn die vom Hersteller erklärten Leistungen den in die-sem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes festgelegten Anforderun-gen für diese Verwendung entsprechen. Damit ist gemeint, dass auchnach den Vorschriften der Bauproduktenverordnung der Mitgliedstaatin Bezug auf technische Leistungen, die nach der harmonisierten Normvom Hersteller angegeben werden können, bestimmte Mindest- oderHöchstwerte verlangen darf, damit das Produkt Verwendung findenkann. Insoweit lässt sich also auch im Hinblick auf harmonisierte Bau-produkte ein nationales (Mindest-)Niveau bestimmen.

Die neue MBO trennt deutlich strikter zwischen Bauarten und Baupro-dukten. Eine Bauart ist gemäß Paragraf 2 Absatz 11 der MBO das Zu-sammenfügen von Bauprodukten zu baulichen Anlagen oder Teilenvon baulichen Anlagen. Eine Bauart ist also die Bautätigkeit. Auch inBezug auf Bauarten können bauaufsichtliche Anforderungen geregeltwerden, zum Beispiel durch die Anforderung eines bestimmten Ausbil-dungsnachweises oder durch einen bestimmten Eignungsnachweis fürSchweißarbeiten. Bauarten dürfen nicht mit Bausätzen verwechseltwerden. Denn Bausätze sind Bauprodukte, die aus Komponenten be-stehen. Durch das Zusammenfügen der Komponenten entsteht alsoein Bauprodukt. Weder das Zusammenfügen von Komponenten nochBausätze sind also Bauarten. Auch für Bauarten kann es Anwendungs-nachweise geben, zum Beispiel dann, wenn diese nicht geregelt sind.Ein besonderer Anwendbarkeitsnachweis ist die neue Bauartengeneh-migung.

Die striktere Trennung von Bauarten und Bauprodukten hat auch Aus-wirkungen auf Anträge zur Erteilung einer allgemeinen bauaufsichtli-chen Zulassung. Denn seit dem 15.07.2017 unterscheidet das DIBtzwischen Anträgen, die nur bauproduktenbezogene Aspekte beinhal-ten, Anträgen, die sowohl produkt- als auch bauartbezogene Aspektebeinhalten und Anträgen, die nur bauartbezogenen Aspekte beinhal-ten. In dem zuletzt genannten Fall wird eine Bauartengenehmigungerteilt. Sind beide Aspekte gegeben, wird nur eine allgemeine bau-aufsichtliche Zulassung erteilt, allerdings weist Ziffer 8 der allgemei-nen Bestimmungen dann auf diese Doppelfunktion des Bescheideshin, der zugleich auch eine allgemeine Bauartgenehmigung enthält.

Auf Grund des neuen Paragrafen 16c der MBO entfällt die Rechts-grundlage für technische nationale Anforderungen an harmonisierteBauprodukte in den Bauregellisten. Im Übrigen sieht die MBO ein Ver-bot der Ü-Kennzeichnung bei CE-gekennzeichneten Bauprodukten vor(§ 87 Abs. 4 S. 1 MBO). Soweit eine Ü-Kennzeichnung noch auf Pro-dukten aufgebracht ist, verliert diese mit Inkrafttreten des Gesetzesseine Gültigkeit (§ 87 Abs. 4 S. 2 MBO).

Die aktuelle MBO kennt ohnehin keine Bauregellisten mehr. Stattdes-sen sieht Paragraf 17 Absatz 1 der MBO vor, dass ein Verwendbarkeits-nachweis erforderlich ist, wenn ein (nicht harmonisiertes) Bauproduktvon einer verbindlichen Technischen Baubestimmung abweicht, und er

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verweist insoweit auf Paragraf 85a Absatz 2 Nummer 3 der MBO. Pa-ragraf 85a MBO enthält die rechtliche Grundlage für Regelungen, umdie in Paragraf 3 MBO enthaltenen allgemeinen Anforderungen anbauliche Anlagen für eine Konkretisierung der technischen Baubestim-mungen zu spezifizieren. Diese Konkretisierungen können gemäß Pa-ragraf 85a Absatz 2 MBO durch Bezugnahmen auf technische Regelnund deren Fundstellen oder auf andere Weise erfolgen, und zwar auchin Bezug auf die Leistung von Bauprodukten in bestimmten baulichenAnlagen oder ihren Teilen. Paragraf 85a Absatz 5 MBO sieht deshalbvor, dass das DIBt nach Anhörung der beteiligten Kreise im Einverneh-men mit der obersten Bauaufsichtsbehörde zur Durchführung diesesGesetzes (also der jeweiligen Landesbauordnungen) und der aufGrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen die Techni-schen Baubestimmungen als Verwaltungsvorschrift (VV TB) bekanntmacht und dass diese bekannt gemachte Verwaltungsvorschrift nunals Verwaltungsvorschrift des jeweiligen Landes gilt, soweit die obers-te Bauaufsichtsbehörde keine abweichende Verwaltungsvorschrift er-lässt.

Die für den Hochbau zuständigen Landesministerien könnten danachalso einfach der Veröffentlichung der MVV TB durch das DIBt zustim-men, so dass mit Veröffentlichung der MVV TB diese in dem jeweiligenLand gelten. Damit wird die Geltung der MVV TB für das jeweiligeLand gesetzlich durch die jeweilige Landesbauordnung festgelegt. DieLänder können aber auch, zum Beispiel in einem Ministerialblatt, Ein-schränkungen oder Änderungen in Bezug auf deren Geltung festlegen.

Man kann darüber diskutieren, ob ein solcher dynamischer Verweis inden Landesbauordnungen sinnvoll ist. Das Land Nordrhein-Westfalenhat jedenfalls in seiner neuen Landesbauordnung abweichende Vor-schriften beschlossen [8]. Zudem hat das Bauministerium dieses Lan-des – trotz Umsetzung der neuen MBO – im Juni 2017 durch Erlass [9]noch eigene technische Baubestimmungen erlassen, die noch auf dieBauregelliste Bezug nehmen. Der in der MBO vorgesehene Automatis-mus gilt daher für NRW nicht. Ähnliches gilt auch für Sachsen-Anhalt[10]. Die Bauordnung dieses Landes bestimmt nämlich, dass die obers-te Bauaufsichtsbehörde nach Anhörung der beteiligten Kreise, insbe-sondere der fachlich berührten Verbände, Vereine, Kammern und Ein-richtungen, durch das Deutsche Institut für Bautechnik zur Durchfüh-rung dieses Gesetzes und aufgrund dieses Gesetzes erlassene Vor-schriften die Technischen Baubestimmungen als Verwaltungsvorschriftim Ministerialblatt für das Land Sachsen-Anhalt öffentlich bekanntmacht. Durch die verunglückte sprachliche Umstellung der MBO-Vor-schrift ist unklar, wer die Anhörung durchführt (das Land?), und ob dasLand zur Durchführung der Bauordnung von Sachsen-Anhalt Vorschrif-ten durch das DIBt (?) im Ministerialblatt des Landes bekannt macht.Das DIBt dürfte jedenfalls keinen Zugriff auf das Ministerialblatt desLandes haben. Die Gesetzeslage wird durch solche Bestimmungen fürden Anwender immer unverständlicher.

5 Die Muster-VerwaltungsvorschriftTechnische Baubestimmungen (MVV TB)Die MVV TB führt die Inhalte der bisherigen Bauregellisten und der Lis-te der technischen Baubestimmungen zusammen. Denn die MVV TBenthält nach ihrer Konzeption in vielen Fällen nur noch Anforderungenan Bauwerke und keine konkreten technischen Anforderungen auf derEbene der Bauprodukte. Daher ist eine Trennung in technische Anfor-derungen an Gebäude und Bauprodukte in verschiedenen Regelwer-ken auch nicht mehr erforderlich.

Diese Konzeption wurde durch die MVV TB allerdings nicht vollständigumgesetzt. In Bezug auf rein national geregelte Bauprodukte ist diesunproblematisch. Die ersten Fassungen der MVV TB enthielten jedochnoch Anforderungen an harmonisierte Bauprodukte, weshalb die EU-Kommission auch auf Grund entsprechender Stellungnahmen einigeranderer Mitgliedstaaten der MVV TB im Rahmen der Notifizierung ihreZustimmung zunächst auch verweigert hat. Nach Anpassungen derMVV TB hat die EU Kommission ihre Bedenken zwischenzeitlich aberzurückgestellt.

Die MVV TB wird von den Gremien der Bauministerkonferenz erarbei-tet und wird künftig – ebenso wie in der Vergangenheit die Bauregel-listen – ständig angepasst werden. Viele Regelungen wurden aus denBauregellisten und der Liste der technischen Baubestimmungen über-nommen und dürften den Verwendern daher auch vertraut sein.

Die MVV TB enthält Anforderungen an Bauwerke, zum Beispiel in Formvon Bemessungsnormen, Einbauregeln und Verwendungsregeln fürBauprodukte und Anforderungen an nicht harmonisierte Bauprodukte.

Die MVV TB gliedert sich in vier Teile,

� die technischen Baubestimmungen, die bei der Erfüllung derGrund anforderungen an Bauwerke zu beachten sind (Abschnitt A),

� die technischen Baubestimmungen für Bauteile und Sonderkon-struktionen, die zusätzlich zu den in Abschnitt A ausgeführten Tech-nischen Baubestimmungen zu beachten sind (Abschnitt B),

� die Technischen Baubestimmungen für Bauprodukte, die nicht dieCE-Kennzeichnung tragen, und für Bauarten, und

� Bauprodukte, die keines Verwendbarkeitsnachweises bedürfen,weil sie bauordnungsrechtlich von untergeordneter Bedeutungsind.

Dazu kommen 13 Anhänge, die unterschiedliche Aspekte behandelnund auf die die Regelungen in den oben genannten Abschnitten Bezugnehmen.

Teil A gliedert sich entsprechend den Grundanforderungen der Baupro-duktenverordnung an Bauwerke in die Anforderungen für

� Mechanische Festigkeit und Standsicherheit (A 1),� Brandschutz (A 2),� Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz (A 3),� Sicherheit und Barrierefreiheit bei der Nutzung (A 4),� Schallschutz (A 5) und � Wärmeschutz (A 6).

Die einzelnen Abschnitte haben Anlagen, auf die Anforderungen füreinzelne Bauwerke oder Konstruktionen sowie Produkte gegebenen-falls Bezug nehmen.

Die Bestimmungen für die Standsicherheit verweisen auf die Eurocodesals Grundlage der Tragwerksplanung, für die Beurteilung der Einwir-kungen auf Bauwerke sowie für die Bemessung. Aus ihrer Anwendungergibt sich, welche Merkmale und konkreten Leistungen die verwende-ten Produkte am Bauwerk zur Erfüllung der bauwerksbezogenen Anfor-derungen ausweisen müssen. Die Anforderungen gliedern sich wieder-um in Grundlagen, Anforderungen an bauliche Anlagen im Erd- undGrundbau, an Anlagen im Beton-, Stahlbeton und Spannbetonbau, anAnlagen im Metall- und Verbundbau, an den Holzbau, an den Mauer-werksbau und an Glaskonstruktionen und Sonderkonstruktionen.

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Ein Vorteil der MVV TB liegt darin, dass nunmehr alle bautechnischenAnforderungen in einem Werk – trotz der 330 Seiten und der vielenVerweise – übersichtlich gegliedert zusammengefasst sind.

In Bezug auf harmonisierte Bauprodukte bestehen allerdings in eini-gen Fällen noch immer Probleme. Das gilt vor allem für die Anforde-rungen an den Gesundheitsschutz. So enthält fast keine harmonisier-te Norm Anforderungen in Bezug auf Gesundheit und Umweltschutz.Bisher wurden daher immer die nationalen Bestimmungen des Ge-fahrstoffrechts herangezogen, und zwar in allen Mitgliedstaaten.Dies ist nach Meinung der EU-Kommission auf Grund der Rechtspre-chung des EuGH nicht mehr möglich. In Abschnitt A 3 bestimmen dieMVV TB aber, dass als Nachweis der entsprechenden allgemeinen An-forderungen der Anhang 8, nämlich die Anforderungen an baulicheAnlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes (ABG), zu erfüllen sind.Diese ABG dienen der Absicherung einer bestimmten Innenraumluft-qualität. Sie enthalten aber auch eine Vielzahl von konkreten Anfor-derungen an Bauprodukte einschließlich harmonisierter Bauprodukte,die nicht nur rechtlich, sondern auch technisch nicht unproblematischsind.

Zudem ist die EU-Kommission derzeit mit der Ausarbeitung europäi-scher Anforderungen dieser Grundanforderung befasst, so dass dasSystem schon in Kürze wieder überholt sein könnte.

Um das Zusammenspiel nationaler Regelungen und europäischer Nor-mung zu verbessern, ermittelt die EU-Kommission auf Drängen derMitgliedstaaten derzeit auch den Reformbedarf im Bereich des Bau-produktenrechts. Vorschläge der Mitgliedstaaten sind durchaus will-kommen. Deutschland hat sich in der Vergangenheit immer durch Viel-stimmigkeit ausgezeichnet, was der Gewichtung der deutschen Stim-me nicht zuträglich war. Anzustreben wäre daher ein Vorschlag, derauch ein möglichst unkompliziertes europäisches Verfahren umfasst,auf dessen Grundlage der Hersteller einen erforderlichen Leistungs-wert zumindest vorübergehend erklären kann, den die Norm nicht re-gelt. Dieser Wert müsste auch von der Bauaufsicht eingefordert wer-den können.

6 „Freiwillige“ Herstellererklärungenals LösungSolange dies nicht geschieht, steht der Bauherr vor dem Problem, dasser bauordnungsrechtlich verpflichtet ist, die Erfüllung der Anforderun-gen auf Ebene der baulichen Anlage durch entsprechende Nachweise,zum Beispiel den Standsicherheitsnachweis, zu belegen. Dafür muss erauf die tatsächliche Leistungsfähigkeit der verwendeten Bauprodukte,beispielsweise auf die Druckfestigkeit der verwendeten Mauersteineim konstruktiven Mauerwerksbau, zurückgreifen können.

Sind in der betreffenden harmonisierten Norm aber keine Kennwerteoder Prüfmethoden für die entsprechenden Leistungen vorgesehenund liegt auch keine ergänzende ETA (Europäisch Technische Bewer-tung) gemäß Artikel 19 der Bauproduktenverordnung (BauPVO) vor,gibt es ein Problem. Denn der Mitgliedstaat darf hierzu künftig keineVorgaben mehr machen und kann selbst auch keine ETA beantragen.

Die Praxis kann sich faktisch daher nur damit behelfen, dass der Bau-herr oder auch das Bauunternehmen die notwendigen Angaben imRahmen von zusätzlichen „freiwilligen“ Herstellererklärungen erhält,für deren Richtigkeit der Hersteller haftet.

Damit ist ein Wechsel zu einem stärker zivilrechtlich geprägten Systemverbunden. Die unteren Bauaufsichtsbehörden beziehungsweise diePrüfingenieure oder Prüfsachverständigen müssen dann die Plausibili-tät einer Herstellererklärung im Einzelfall im Rahmen der Prüfung dervorgelegten bautechnischen Nachweise bewerten. Daher sollten vondem Hersteller vorsorglich Angaben verlangt werden, die von einerunabhängigen dritten Stelle, zum Beispiel einer anerkannten Prüfstel-le, geprüft worden sind, damit der Beweiswert der freiwilligen Anga-ben gesteigert wird.

Die MVV TB lassen solche freiwilligen Erklärungen zu, auch wenn sievon der Bauaufsicht nicht (aktiv) verlangt werden dürfen. Die Über-gangserlasse der Länder [11] enthalten – zum Teil auch unterschiedli-che – Hinweise für die unteren Bauaufsichtsbehörden wie solche „frei-willige Erklärungen“ zu bewerten sind und wie mit noch vorhandenenallgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen und allgemeinen bauauf-sichtlichen Prüfzeugnissen vorläufig umzugehen ist.

Die Länder haben festgelegt, dass vom Verwender beziehungsweisevom Bauherrn auch freiwillige Herstellerangaben herangezogen wer-den können, um bautechnische Nachweise führen zu können. Aus-gangspunkt ist dabei die Überlegung, dass es Herstellern nicht ver-wehrt sein kann, zusätzlich zu einer Leistungserklärung freiwillig An-gaben zu Eigenschaften ihrer Produkte zu machen, die von der harmo-nisierten Norm nicht erfasst sind und daher auch nicht in einer Leis-tungserklärung nach der BauPVO abgebildet werden können.

Das Problem besteht aber darin, dass die unteren Bauaufsichtsbehör-den dann die Zuverlässigkeit dieser Herstellerangaben prüfen und be-werten müssen. Hierzu haben die Länder übergangsweise [12] Rege-lungen getroffen, die faktisch eine ermessensleitende Anweisung andie zuständigen Bauaufsichtsbehörden zur Beurteilung der Zuverläs-sigkeit der Herstellerangabe darstellt.

Gibt der Hersteller eine Übereinstimmungserklärung weiterhin freiwil-lig ab und bringt er gegebenenfalls sogar die Ü-Kennzeichnung auf,sind die Verwender prinzipiell auf der sicheren Seite. Dabei kann derHersteller sich auch auf eine ihm bis zum 15.10.2016 erteilte allgemei-ne bauaufsichtliche Zulassung oder ein erteiltes allgemeines bauauf-sichtliches Prüfzeugnis (abP) beziehen, die dieses Verfahren vorsehen.Denn diese Verwendbarkeitsnachweise sind nach wie vor gültig. Indiesem Fall können sich die Beteiligten, also auch die Prüfingenieure,in den bautechnischen Nachweisen auch weiterhin auf diese Erklärungund Kennzeichnung beziehen.

Alles bleibt also quasi beim Alten und stellt daher für die am Bau Be-teiligten ein einfaches und praktikables Vorgehen dar, das von derBauaufsicht in der Praxis kaum in Zweifel gezogen werden kann. Dasgilt aber nur, solange die Geltungsdauer der betreffenden allgemeinenbauaufsichtlichen Zulassungen und allgemeinen bauaufsichtlichenPrüfzeugnisse noch nicht abgelaufen sind, längstens also bis zum15.10.2021.

Außerdem wirft diese Praxis derzeit rechtliche Fragen auf, weil die Re-gelungen der MBO davon ausgehen, dass eine solche Praxis nicht wei-tergeführt werden wird, obwohl entsprechende Bescheide zumindestnoch bis zum 15.10.2016 mit bis fünfjähriger Geltungsdauer erteiltwurden.

Stehen Übereinstimmungserklärung und Ü-Kennzeichnung des Her-stellers nicht mehr zur Verfügung, etwa weil die Geltungsdauer abge-

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BAUPRODUKTENRECHT

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laufen ist, gelten andere Regeln. Die Erlasse einiger Länder, zum Bei-spiel Baden-Württembergs, sehen vor, dass die Bauherren auch solcheabgelaufenen Nachweise in Bezug nehmen können. Denn dies ist zu-mindest ein Indiz dafür, dass das Produkt, wenn es weiterhin nach denentsprechenden Vorgaben produziert wird, die bauaufsichtlichen An-forderungen auch weiterhin erfüllt. In den Ländern, in denen es an ei-ner entsprechenden Regelung fehlt, ist es den Bauaufsichtsbehördenindes nicht verwehrt, eine solche Vermutung bei der Ausübung ihresErmessens ebenfalls anzustellen, auch wenn dies nicht ausdrücklichgeregelt ist. Stehen keine abZ und/oder abP zur Verfügung, gelten fürHerstellerangaben andere Kriterien, die aber extrem kompliziert unddaher für die tägliche Praxis nur bedingt tauglich sind. Im Kern läuftdie Bewertung dann auf eine Ermessensentscheidung der unterenBauaufsicht heraus, die gegebenenfalls aber auch der Prüfingenieurbeziehungsweise Prüfsachverständige anhand sonstiger technischerRegelwerke und objektiver Anhaltspunkte vorzunehmen hat.

7 ErgebnisIm Ergebnis bleibt festzustellen, dass die erforderlichen Anpassungender Bauordnungen von jedem Bundesland unverzüglich in Angriff ge-nommen werden müssen, denn die MBO ist keine verbindliche Vorga-be, sondern nur eine von den Ländern gemeinsam erarbeitete Empfeh-lung für die jeweiligen Landesgesetzgeber. Der Prozess sollte nach denAnkündigungen der Länder eigentlich schon am 16.10.2016 abge-schlossen sein. Vermutlich wird die überwiegende Zahl der Bauord-nungen der Länder aber erst im Laufe des Jahres 2018 geändert unddie MVV TB daher in den Ländern auch nur verzögert eingeführt wer-den.

Bei der Diskussion auf europäischer Ebene handelt es sich aber nichtum eine Einbahnstraße zulasten der Mitgliedstaaten. Vielmehr gibt esseitens der Bundesrepublik Deutschland und auch anderer Mitglied-staaten erheblichen Druck auf die Kommission, unzureichende Nor-men endlich zu überarbeiten und damit in der erforderlichen Weise zuverbessern.

Außerdem dürften neue Normen zunehmend kritisch geprüft werden,da Mängel national nicht mehr ausgeglichen werden können. Ebensoist davon auszugehen, dass Verstöße gegen einen Normungsauftrag(Mandat) seitens der Mitgliedstaaten verstärkt im Rahmen von Verfah-rens gemäß Artikel 18 der Bauproduktenverordnung gegenüber derEU-Kommission gerügt werden. Damit droht allerdings weiterer Sandin das Getriebe der europäischen Normung zu geraten, denn die Nach-besserungen sind aufwendig. Eine Alternative wäre ein konstruktivernationaler Beitrag zur Fortentwicklung der Bauproduktenverordnungin Form eines vereinfachten europäischen allgemeinen bauaufsichtli-chen Zulassung, mit der Mängel vorübergehend ausgeglichen werdenkönnen.

8 Literatur und Anmerkungen[1] EuGH, Urteil v. 16.10.2014 – RS C 100/13[2] Die Entscheidung betraf: Elastomerdichtungen für Rohrleitungen

(EN 681-2:2000), Dämmstoffe aus Mineralwolle (EN13162:2008) und Tore (EN 13241-1)

[3] https://www.dibt.de/de/geschaeftsfelder/data/MVV_TB.pdf [4] Die seit dem 01.07.2013 geltende Bauproduktenverordnung

(BauPVO) geht sogar davon aus, dass harmonisierte Normen un-vollständig sein können; denn Hersteller können eine Europäi-sche Technische Bewertung (ETA) beantragen, falls die Leistungeines Bauprodukts in Bezug auf seine Wesentlichen Merkmalenicht vollständig (!) anhand einer bestehenden harmonisiertenNorm bewertet werden kann (Art. 19 Abs. 1 BauPVO)

[5] Auf Grund der Mängel halten die Länder gravierende Bauwerks-schäden für möglich, auch weil diese Produkte in der Regel einegroße Verbreitung finden, sodass auch eine direkte Gefährdungder Nutzer oder der Umwelt infolge des Mangels in der Normeintreten kann

[6] Siehe Erwägungsgründe 3, 4, 13 und 47 zur Verordnung (EU) Nr.305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für dieVermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtli-nie 89/106/EWG des Rates, ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 5 (Baupro-duktenverordnung – BauPVO)

[7] Musterbauordnung der Länder (MBO), Fassung November 2002,zuletzt geändert durch Beschluss der Bauministerkonferenz vom13.05.2016:http://www.bauordnungen.de/Musterbauordnung.pdf

[8] Das vom Land Nordrhein-Westfalen nach dem Regierungswech-sel angekündigte Moratorium für die neue Landesbauordnungbetrifft nicht die Vorschriften für das Bauproduktenrecht, denndiese sind bereits im Juli 2017 in Kraft getreten

[9] Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (VV TB),Runderlass des Ministeriums für Bauen, Wohnen, Stadtentwick-lung und Verkehr - VI A 4 – 408 vom 13. 6. 2017, Ministerialblatt(MBl. NRW.) Ausgabe 2017 Nr. 21 vom 30.6.2017 Seite 621

[10] https://mlv.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/MLV/MLV/GesetzeVWVO/Bau/Formulare_Bau/2016_Erlass_Vollzug___16a_bis_25__85a_BauO_LSA.pdf

[11] Vollzugshinweise zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom16.10.2014 in der Rechtssache C-100/13: https://www.dibt.de/de/DIBt/DIBt-EuGH-Urteil.html

[12] Das Problem wird aber dauerhaft bestehen, also auch nach Ein-führung der MBO 2016 in allen Ländern

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HERAUSGEBERBundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik e.V.Dr.-Ing. Markus Wetzel, Kurfürstenstr. 129, 10785 BerlinE-Mail: [email protected], Internet: www.bvpi.de

ISSN 1430-9084

REDAKTIONRedaktionsbüro Werwath, Drachenfelsstraße 39 A, 53604 Bad Honnef-RhöndorfTel.: 0 22 24/9 69 79 01, E-Mail: [email protected]

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Die meisten der in diesem Heft veröffentlichten Fachartikelsind überarbeitete Fassungen der Vorträge, die bei den Arbeitstagungender Bundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik gehalten worden sind.

Der Inhalt der veröffentlichten Artikel stellt die Erkenntnisse und Meinungender Autoren und nicht die des Herausgebers dar.

„Der Prüfingenieur“ erscheint mit zwei Ausgaben pro Jahr.Bestellungen sind an den Herausgeber zu richten.

Auflage: 5000 Exemplare

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