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Eszter Pabis: Migration erzählen

© 2020, V&R unipress GmbH, GöttingenISBN Print: 9783847110644 – ISBN E-Book: 9783847010647

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Chamisso-Studien

Band 3

Herausgegeben von

Jutta Weber, Walter Erhart und Monika Sproll

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Eszter Pabis

Migration erzählen

Studien zur »Chamisso-Literatur«deutsch-ungarischer Autorinnen der Gegenwart

V& R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þberhttps://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Alexander von Humboldt-Stiftung.

� 2020, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 GçttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigenschriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Keszthely am Balaton (Ungarn), 1908 (beschÐdigtes Foto).Die Abbildung stammt von dem Ungarischen Geographischen Museum / Magyar FçldrajziMfflzeum ErdØlyi Mór cØge (via das Archiv Fortepan).Druck und Bindung: CPI books GmbH, Birkstraße 10, D-25917 LeckPrinted in the EU.

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2512-7306ISBN 978-3-8470-1064-7

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»Es gibt heute auffallend viele ungarischstämmige Schriftstellerinnen auf derWelt, die alle Prosa schreiben, Gahse, Mora, Kristof, Zsuzsa B#nk, Christina

Vir#gh. Ist es denkbar, daß Ungarn die Prosaschriftstellerinnen, seine Prosa-schriftstellerinnen vertreibt? Ist es denkbar, daß die Ungarn wegen ihrer Prosa-

schriftstellerinnenintoleranz berüchtigt und berühmt sind? Ist es das und dasGulasch? Daß wir fast schon von einer Prosaschriftstellerinnenjagd sprechen

müssen, daß wir diesen Reflex aus dem fernen Asien mit uns gebracht haben?Oder ist es möglich, daß es ein wenig umgekehrt stimmt: sie sind eben deshalb zu

Prosaschriftstellerinnen geworden, weil sie weggegangen sind? Und wenn sie zuHause geblieben wären, dann schrieben sie heute Lyrik oder gar nichts? Eine Frau

soll Lyrikerin sein, und/oder ordentlich kochen können.« (P8ter Esterh#zy)

»Mein Beruf ist Schriftstellerin! Nicht: Berufsossi, Berufsausländerin, Berufsfrau

oder gar -fräulein!« (Ter8zia Mora)

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration. Perspektiven für dieErforschung des »Eastern turn« in der »Chamisso-Literatur« und derErinnerungskultur nach 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Nach und jenseits der »Chamisso-Literatur«: Zur Problematik einerKategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Ausländer – Brückenschläger – Sprachwandler. Sprache und Ort der»Chamisso-Literatur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21»Thickening« places, immigrating into the past: Raum und Zeit der»Chamisso-Literatur« und der postmigrantischen deutschenErinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration. Zur Kritik desDiskurses um die »literarische Osterweiterung« in postmigrantischerPerspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

»Hongrie profonde« oder »ein zutiefst ungarischer Roman aufDeutsch«? Zur Erzählkomposition und zum Gedächtnis Ungarns nach1956 in Zsuzsa B#nks Der Schwimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Translokale Dimensionen: Bewegung und Bewegungslosigkeit imWasser und in der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Temporalität, Trauma und Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Den Aufstand erzählen? 1956 in Der Schwimmer . . . . . . . . . . . . . 65

»Um mich herum war alles Gewalt«. Körperliche Transgressionen inTer8zia Moras Seltsame Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Grenz- und Gewalterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71Zur Poetik der Deterritorialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Ausbruchsbewegungen und (räumliche) Transgressionsprozesse . . . . 83

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»Und Nema. So wie das Nichts.« Zur Poetik der Leerstelle in Ter8ziaMoras Alle Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Am Anfang war … der Nullpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95»Der Ehemann, den es in Wahrheit gar nicht gibt«. Subjektlosigkeitversus Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98Mehrsprachigkeit und Stummheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103Die Poetik des Raumes: die Leerstelle als displacement . . . . . . . . . 111

Sichtbare und unsichtbare Monstrositäten: zu Ter8zia Moras Der einzigeMann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer . . . . . . . . . . . . . . . 119

Darius Kopp als Homo faber 2.0 – Unsichtbarkeit, Entkörperlichungund Virtualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120Körperlichkeit, Gewalt und Monstrosität . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Die »Seconda« im »Treppenhaus«: zur Aushandlung und Auflösung vonDifferenzen in Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf . . . . . . . . . 141

(Ver-) Schweigen versus Erzählen: Strukturen und Beziehungen vonZeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143Verbergen und Enthüllen: Scham und Sprache . . . . . . . . . . . . . . 151

Das »Ich ohne Zoli«, der »König aller Kreuzworträtsel« und der»Schildkrötensohn«: Sprache und Gewalt in Melinda Nadj AbonjisSchildkrötensoldat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Der Fallsüchtige und die Sprache der Gewalt: Zolis Position und seineFremdbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164Der Rätselkönig und die Gewalt der Sprache: Zoli als Sprachkünstler . 169Der Schildkrötensoldat: Verbergen, Sichtbarmachen und dieProblematik des Verstehens im Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Die Poetik der Grenzüberschreitung in Ilma Rakusas Mehr Meer.Erinnerungspassagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Grenzgänge und Dimensionen der Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . 186Prozessualität, Selbstkonstitution und die Problematisierung derErinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Zur Poetik und Topografie der Einsamkeit. Ilma Rakusa: Einsamkeitmit rollendem »r« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Die Topografie der Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202Die Poetik und Poetogenität der Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . 210

Inhalt8

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M wie Muttersprache – Gender, Genealogie und Geschichte inZsuzsanna Gahses Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück . . . . . . 217

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Inhalt 9

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Vorwort

Migration, Erinnerung und Ästhetik werden in anhaltenden und aktuellenDiskussionen – etwa um die postmigrantische Gesellschaftsforschung (Foroutanet al. 2018) oder um den »Eastern turn« der deutschen Literatur (Haines 2015,2008) – zwar kritisch reflektiert und konstruktiv aufgegriffen, jedoch nur imseltensten Fall, wenn überhaupt, in ihrem wechselseitigen und komplexen Zu-sammenhang erkannt. Erst seit neuestem oder eher am Rande werden entwederWechselwirkungen zwischen Migration und Ästhetik thematisiert (Bal 2007,Bal; Hern#ndez-Navarro 2011), oder die Verschränkungen zwischen Migrationund Erinnerung fokussiert (Motte; Ohliger 2004, Georgi 2003) – die Frage nachden komplexen Verflechtungen zwischen Migrationserfahrungen, erinne-rungskulturellen Praktiken und ästhetisch-literarischen Diskursen bleibt aberweitgehend unterbeleuchtet. Die überwiegende Anwendung ethischer und dieVernachlässigung ästhetischer Kategorien, die nahezu völlig fehlende Reflexionauf die Konstruktion und Reproduktion kultureller, politischer und historischerOst-West-Diskurse innerhalb Europas sowie die Herstellung exkludierenderDichotomien bestimmen die Thematisierung und Theoretisierung aktuellerMigrationsphänomene generell – so auch den enorm ausufernden Diskurs überdie »Migrationsliteratur« und die aktuellen Diskussionen um Erinnerungskul-turen in einem durch die Herausforderungen der Massenmigration gespaltenenEuropa.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes greifen den neuen Forschungsbereichdes »Eastern turn« auf (bzw. sie verbinden die Debatte um den postmigranti-schen Diskurs mit dem Phänomen der »literarischen Osterweiterung« in derdeutschsprachigen Literatur) und sollen dazu dienen, durch die neue Verhält-nisbestimmung von Migration, Erinnerung und Literatur die wegweisende Re-levanz der Ästhetik für eine kritische Erforschung postmigrantischer Gesell-schaften und ihrer Erinnerungskulturen aufzuzeigen. Ausgehend davon, dasserst der Blick auf poetisch-ästhetische Perspektiven und Kontexte die Wech-selwirkungen von literarisch-narrativen Strategien und Migrationserfahrungensowie – entgegen der These vom ›Ausnahmefall‹ und ›Problem‹ der Migration –

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die ›Ursprünglichkeit‹ und ›Normalität‹ des Migratorischen sichtbar macht,widmen sich die Analysen des Bandes anhand von Beispielen aus dem Kanon desliterarischen Grenzgängertums zwischen »Ost(mittel)europa« und dem »Wes-ten« den Korrelationen zwischen migrationsbedingten Phänomenen und derästhetischen Form der jeweiligen Texte. Die Erforschung der Literatur des»Eastern turn« in den kultur- und erzähltheoretischen Interpretationen ausge-wählter Romane aus und über den symbolischen Raum »Osteuropa« soll da-durch die Herausforderungen der kritischen Migrationsforschung, der Dis-kurstheorie und der transnationalen Verflechtungsgeschichte aufnehmen undproduktiv bei der Lektüre literarischer Kunstwerke nutzen sowie relevante ge-sellschaftspolitische Themen in einem gesamteuropäischen Horizont aufgreifen.

Der vorliegende Band geht auf mein an der Universität Bielefeld durchge-führtes Forschungsprojekt »Grenzgängergeschichten zwischen Deutschlandund Ungarn: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur von Autorinnen ungari-scher Herkunft als Medium des dialogischen Erinnerns« zurück. An dieser Stellemöchte ich allen, die die Arbeit begleitet und in vielfältiger Weise unterstützthaben, meinen Dank aussprechen. Ganz herzlich danken möchte ich ProfessorWalter Erhart, der das gesamte Projekt mit stetem Interesse begleitet und michdurch kompetenten Rat und konstruktive Kritik motiviert und angespornt hat.Mikljs Tak#cs danke ich für zahlreiche wertvolle Anregungen und seine enga-gierte Unterstützung des Vorhabens. Mein besonderer Dank gebührt PhilippTeichfischer für das sorgfältige Lektorieren des Manuskripts. Für die Über-nahme der Druckkosten und die Unterstützung der Forschung danke ich nichtzuletzt der Alexander von Humboldt-Stiftung, ohne deren großzügige Förde-rung die Arbeit nicht zustande gekommen wäre.

Bielefeld, im März 2019

Vorwort12

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Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration.Perspektiven für die Erforschung des »Eastern turn« in der»Chamisso-Literatur« und der Erinnerungskultur nach 2015

In seiner pointierten Laudatio auf die Chamisso-Preisträgerin Zsuzsanna Gahsekommentierte P8ter Esterh#zy die hohe Anzahl auf Deutsch schreibenderSchriftstellerinnen ungarischer Herkunft wie folgt:

Es gibt heute auffallend viele ungarischstämmige Schriftstellerinnen auf der Welt, diealle Prosa schreiben, Gahse, Mora, Kristof, Zsuzsa B#nk, Christina Vir#gh. Ist esdenkbar, daß Ungarn die Prosaschriftstellerinnen, seine Prosaschriftstellerinnen ver-treibt? Ist es denkbar, daß die Ungarn wegen ihrer Prosaschriftstellerinnenintoleranzberüchtigt und berühmt sind? Ist es das und das Gulasch? Daß wir fast schon von einerProsaschriftstellerinnenjagd sprechen müssen, daß wir diesen Reflex aus dem fernenAsien mit uns gebracht haben? Oder ist es möglich, daß es ein wenig umgekehrtstimmt: sie sind eben deshalb zu Prosaschriftstellerinnen geworden, weil sie wegge-gangen sind? Und wenn sie zu Hause geblieben wären, dann schrieben sie heute Lyrikoder gar nichts? Eine Frau soll Lyrikerin sein, und/oder ordentlich kochen können.(Esterh#zy 2006: 5)

In den nicht ironiefreien Worten des im deutschen Sprachraum bisher meist-gedruckten ungarischen Autors wird spielerisch der Zusammenhang zwischendem Migrationsphänomen (vertrieben/gejagt werden – weggehen), der histo-risch-diskursiven Gemachtheit identitärer Festlegungen (»Eine Frau soll …«, was»wir […] aus dem fernen Asien mit uns gebracht haben«, als Ungarn »berüchtigtund berühmt« sein) und der ästhetisch-literarischen Aushandlung ihrer ge-samtgesellschaftlicher Dynamiken (Prosa schreiben und Prosaschriftstellerinwerden) explizit. Migration, erinnerungskulturelle Praktiken und Ästhetikwerden auch in anhaltenden und aktuellen akademischen Diskussionen – etwaum die postmigrantische Gesellschaftsforschung (Foroutan et al. 2018) oder umden »Eastern turn« der deutschen Literatur (Haines 2015, 2008) – konstruktivaufgegriffen und kritisch reflektiert, jedoch nur im seltensten Fall, wenn über-haupt, in ihrem wechselseitigen und komplexen Zusammenhang erkannt. Dieinfolge der spürbar starken Präsenz von deutschsprachigen AutorInnen osteu-ropäischer Herkunft seit ungefähr einem Jahrzehnt diskutierten Phänomene der»literarischen Osterweiterung« (Ackermann 2008, Bürger-Koftis 2008, Her-

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mann-Horstkotte 2016) oder des – analog zum Turkish turn (Adelson 2005) oderBalcan turn (Previsic 2009) eingeführten – »Eastern turn« (Haines 2008, 2015)der deutschen Literatur bieten Anlass zur Reflexion auf die Wechselwirkungenvon literarisch-narrativen Strategien, Migrationserfahrungen und der Kon-struktion und Reproduktion kultureller, politischer und historischer Ost-West-Diskurse innerhalb Europas. Die vorliegende Arbeit greift den neuen For-schungsbereich des »Eastern turn« auf und unternimmt den Versuch, aktuelleHerausforderungen der kritischen Migrationsforschung, der Erinnerungsfor-schung und der transnationalen Verflechtungsgeschichte aufzunehmen undproduktiv bei der Lektüre literarischer Kunstwerke und der Kulturanalyse zunutzen sowie darüber hinaus einen literaturtheoretischen Beitrag zur Ästhetikder Postmigration zu leisten. Der Blick auf poetisch-ästhetische Perspektivenund Kontexte macht des Weiteren – und entgegen der These vom ›Ausnahmefall‹und ›Problem‹ der Migration – die ›Ursprünglichkeit‹ und ›Normalität‹ desMigratorischen sichtbar und erschließt der Forschung neue Wege, um die impolitisch-kulturellen Diskurs herrschenden binären Logiken (wie etwa dieTrennungen zwischen »MigrantInnen« und »Nicht-MigrantInnen«, »Problem«und »Mehrheitsgesellschaft«, »Ost« und »West«) zu überwinden und neueDeutungs- und Verstehensmuster für oftmals virulente Differenzen zu gewin-nen. Im Folgenden werden daher die Problematisierung exkludierender Kate-gorisierungen und (von der Kritik zumeist ausgeblendete) Zusammenhängezwischen ethisch und ästhetisch begründeten Theoretisierungen migratorischerPhänomene fokussiert – zunächst im Kontext der Erschließung der »Chamisso-Literatur« und deren »Osterweiterung«.

Nach und jenseits der »Chamisso-Literatur«: Zur Problematik einerKategorisierung

Die Geschichte des erstmalig 1985 ausgerufenen Adalbert-von-Chamisso-Prei-ses, seiner Etablierung und seiner Kritik, die Modifikationen bzw. Ergänzungenseiner Satzung und letztendlich die Entscheidung der Robert Bosch Stiftungüber die letztmalige Verleihung der Literaturauszeichnung im März 2017 spie-gelt seismografisch die sich wandelnden Problemstellungen und Verschrän-kungen aktueller Forschungen zur Erinnerungskultur und Literatur in Deutsch-land vor dem Hintergrund transnationaler Migrationsbewegungen wider. Die imKontext der jährlichen Preisvergabe häufig gestellten Fragen, etwa zur Relevanzder Biografie (der Herkunft und Muttersprache) der AutorInnen für dasSchreiben und dessen Rezeption, sind Indikatoren für Grenzziehungen – zwi-schen fremd (zugewandert) und eigen (deutsch), zwischen Nationalliteratur und

Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration14

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Migrationsliteratur – und zugleich für die Aufhebung bzw. Ablehnung dieserDifferenzierungen. Sichtbar wird diese Dynamik von Trennung und Verbindungnicht nur in der verbreiteten poststrukturalistischen Terminologie im Umgangmit exkludierenden Dichotomien und Differenzen oder in der ambivalentenHaltung vieler PreisträgerInnen zu ihrer Kategorisierung als Chamisso-Auto-rInnen (die Etikettierung wird bei gleichzeitiger Anerkennung ihres Markt-wertes zumeist als Ausschluss erlebt),1 sondern auch in der Begründung derEinrichtung und der Einstellung des Preises selbst.

Der erste Meilenstein auf dem Weg der Gründung des Preises war die Bitte desRomanisten und Philologen Harald Weinrich »um eine deutsche Literatur vonaußen« (Weinrich 1983) in einem Vortrag von 1983 – im Jahr, als Helmut Kohlkategorisch feststellte, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei.2 In An-lehnung an die vielzitierte Aussage von Max Frisch »Wir haben Arbeitskräftegerufen und es sind Menschen gekommen« erkennt er, dass »[d]ie Bundesre-publik Deutschland, ob sie es nun wahrhaben will oder nicht, […] ein Vielvöl-kerstaat geworden [ist], und ihre Bürger beginnen allmählich – ganz allmäh-lich – zu begreifen, dass damit nicht nur eine multinationale, sondern auch einemultikulturelle Vielfalt entstanden ist« (Weinrich 2017 [1983]: 41). Weinrichstellt Werke ausgewählter »Gastarbeiter-Schriftsteller« (ebd.: 43) vor, analysiertden Begriff »Literatur der Betroffenheit« (ebd.: 44), und kommt zu dem Schluss,dass die »Ausländerliteratur« (ebd.: 45) oder »die Gastarbeiterliteratur, wenn sieeine ›Literatur der Betroffenheit‹ zu sein anstrebt, bereits in ihrer innerstenSubstanz, zu ihrem Vor- oder Nachteil, deutsch ist« (ebd.). Als Argument kon-statiert er die Aufhebung jeglicher Kongruenz zwischen politischer und sprach-licher Grenzziehung, zwischen Staatsangehörigkeit und Sprachgebrauch (Mut-tersprache), zwischen deutsch und ausländisch, innen und außen:

[D]ie deutsche Literatur kann in der Welt, in der wir heute leben, nicht mehr nur eineSache derer sein, die Staatsangehörige eines Staates mit deutscher Landessprache sind.So wie die Briten mit Stolz auf ihre Commonwealth-Literatur schauen und die Fran-zosen die ganze frankophone Literatur mit Selbstverständlichkeit ihrer eigenen Lite-ratur zurechnen, so haben auch wir weniger welterfahrenen Deutschen allen Grund,vom Konzept der Nationalliteratur im nationalstaatlichen Sinne ein für allemal Ab-stand zu nehmen. Deutschland ist ein Land, aus Sprache und Geschichte gemacht, und

1 Vgl. hierzu u. a. Catalin Dorian Florescu zum Begriff »Migrationsliteratur«, der seiner Auf-fassung nach »einen liebevollen, aber sanften Ausschluss« bezeichne, mit dem »die Literaturvon MigrantInnen an den Rand der jeweiligen Nationalliteratur gedrängt werde« – Spoerri2010: 167, zitiert nach Sievers 2012: 216. Zur Bezeichnung »Migrationsliteratur« als Dis-tinktionszeichen im Sinne Bourdieus und ihrer Relevanz im »Kampf um Anerkennung« vgl.Schweiger 2012, insb. S. 24.

2 »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland, auch wenn ein großer Teil derbei uns lebenden Ausländer auf Dauer im Lande bleiben wird« (Kohl 1983). Vgl. hierzu auchden Wortlaut der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP aus dem Jahr 1983.

Nach und jenseits der »Chamisso-Literatur« 15

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alle Personen, die von der deutschen Sprache einen solchen Gebrauch machen, dass siediese Geschichte weiterschreiben, sind unsere natürlichen Landsleute, sie mögen voninnen kommen oder von außen. (Weinrich 2017 [1983]: 47)

Als Vorgänger jener Ansätze (Meyer 2012, Schmitz 2009, Sievers 2012, Amodeo1996), die die transnationale Einbettung deutschsprachiger Literaturen u. a. vonpostkolonialen Theorien ausgehend untersuchen und diesen einen »kosmopo-litischen«, »transkulturellen« Charakter zusprechen oder geradezu von einerGermanophonie (anstelle der Germanistik) reden, hinterfragt Weinrich dasKonzept der Nationalliteratur in Anlehnung an etablierte französische undbritische disziplinäre Vorbilder und unter Berufung auf kanonisierte Autorenwie Chamisso und Canetti.3 Auf ähnliche Weise problematisiert er die aus-schließende Dichotomisierung zwischen eigen und fremd, die Weinrich auf-grund von Sklovskijs Begriff der Verfremdung nicht auf nationale odersprachliche Zugehörigkeiten bezieht (oder als Analysekategorien einer Zwi-schenposition zwischen mehreren solchen Zugehörigkeiten verwendet), son-dern innerhalb der (poetischen) Sprache verortet zur Kennzeichnung von ihrerLiterarizität, welche die generelle Voraussetzung für die ästhetische Erfahrungdarstellt :

Denn die Distanz und Fremdheit, die der Ausländer erfährt, auch wenn er die deutscheSprache schon sehr gut beherrscht, ist kein schlechter Ratgeber in ästhetischen Dingen.Erinnern wir uns, dass die russischen Formalisten, die sich besser als manche anderePoetologen auf die besonderen Qualitäten der poetischen Sprache verstanden, vonPoesie nur dann sprechen wollten, wenn die Sprache des literarischen Textes so be-schaffen ist, dass sie die Aufmerksamkeit des Lesers wenigstens in Spuren bei denWörtern festhält und sie daran hindert, vorschnell zu den Sachen durchzudringen.[…]. Es gibt also viele Anzeichen dafür, dass Ausländer, die nicht in ihrer Mutter-sprache, sondern in deutscher Sprache schreiben, durch die Behinderungen, die ihnendie Fremdsprache auch bei guter Sprachbeherrschung noch auferlegt, angehaltenwerden, sich mehr als andere auf die Sprache einzulassen, sich ihrer Führung willigeranzuvertrauen und genauer auf die Wörter und ihre Bedeutungen zu achten. Mit einem

3 Vgl. Weinrich: »Die deutschen Schriftsteller, die von außen kommen, können ebenso gut wieSchriftsteller binnendeutscher Herkunft Meister der deutschen Sprache und Vorbilder gutendeutschen Sprachgebrauchs werden. Wer schreibt denn unter den Autoren der deutschenGegenwartsliteratur ein reineres Deutsch als Elias Canetti, der doch die deutsche Sprache erstmit acht Jahren als seine Drittsprache gelernt hat?« (Weinrich 2017 [1983]: 47). Chamissos Ort»zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen« (ebd.: 40) analysiert er am Anfang des Vortragsin Anlehnung an Thomas Mann: »Thomas Mann, der sich diesem französischen Dichterdeutscher Zunge [Adalbert von Chamisso] sehr nahe fühlte, schreibt dazu: ›Es ist überliefert,dass er, produzierend, bis zuletzt seine Eingebungen laut auf französisch vor sich hinsprach,bevor er daran ging, sie in Verse zu gießen, – und was zustande kam, war dennoch deutscheMeisterdichtung. Das ist erstaunlich, – mehr, es ist unerhört‹« (ebd.). Zum Transnationalis-mus als Konzept und Analysekategorie der deutschen Gegenwartsliteratur und der »Will-kommenskultur« vgl. Taberner 2017.

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irreduktiblen Rest Fremdheit macht die Sprache hier auf sich selber aufmerksam.(Weinrich 2017 [1983]: 45)

Deutschsprachige Literatur nicht-deutschmuttersprachiger AutorInnen avan-ciert dadurch vom »Sonderfall« beinahe geradezu zum »Modellfall«, an dem dieästhetisch konstitutive Funktion der Fremdheit bzw. Verfremdung sowie letzt-endlich auch die Unhaltbarkeit der Differenzierung zwischen AutorInnen einer»deutschen Nationalliteratur« und den Vertretern einer »Migrationsliteratur«exemplarisch zum Vorschein kommen – wie das unlängst Sasa Stanisic in Überdrei Mythen vom Schreiben der Migranten feststellte:

For me, writing itself is a foreign language. […] I am very suspicious when, in terms ofliterary quality, the fact that an author writes in his second or even third language leadsto a more favourable critical judgment, even when the »uncommon« use of linguisticconstructs is highlighted, the »exotic« figures and the »rich« vocabulary. Giving animmigrant author credit for every little language-game he tries is (to exaggerateslightly) nothing more than another way to say, »Oh, look how well that foreignerlearned German.« […] [I]t is neither impossible nor forbidden for a domestic author toexperiment, to produce uncommon linguistic structures or to connect to anotherfolklore. A language is the only country without borders. (Stanisic 2008)

Weinrichs Vortrag aus dem Jahr 1983, der im Chamisso-Magazin Viele Kulturen– eine Sprache über die letzten Preisträger des Jahres 2017 wieder abgedrucktwurde, verortet seine Problematisierung der Begrifflichkeiten und Zugangs-möglichkeiten der »deutschen Literatur von außen« explizit im politischen undgesellschaftlichen Kontext der Zeit, er verweist auf xenophobe Parolen wie»Ausländer raus« (Weinrich 2017 [1983]: 45), auf die Gastarbeiterwellen undihre Aufnahme in der Öffentlichkeit und im Literaturbetrieb (u. a. auf dieGründung der Interessengemeinschaft PoLiKunst, d. h. Polynationaler Litera-tur- und Kunstverein für Gastarbeiter-Schriftsteller, im Jahr 1980, ebd.: 43).Gegen die Einstellung des Preises im Jahr 2017 Protestierende (und auch derenUnterstützer) beriefen sich analog auf die anhaltende »Migrationskrise«,4 wieIris Radisch halb ironisch resümiert:

Gerade jetzt sei der Zeitpunkt für das Ende des Chamisso-Preises schlecht gewählt.Nachdem erst die deutsch schreibenden Gastarbeiterkinder, dann die osteuropäischenExilanten, die jugoslawischen Kriegsflüchtlinge, die Spätaussiedler und die Asylanten

4 Vgl. hierzu noch die Frage an Uta-Micaela Dürig, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stif-tung: »Aber es gibt gerade heute herausfordernde neue gesellschaftliche Veränderungen …?«und ihre Antwort: »Im Ergebnis werden wir unsere Arbeit verstärkt auf drei Schwerpunkteausrichten, in die die Expertise aus allen Fördergebieten der Stiftung einfließt : Migration,Integration und Teilhabe, Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland und Europa sowieZukunftsfähige Lebensräume. So haben wir beispielsweise zum Thema Flüchtlinge eine Ex-pertenkommission eingesetzt und viele Praxisprojekte gefördert, die sich mit den ganzkonkreten Herausforderungen der Integration vor Ort beschäftigen« (Dürig 2017: 52).

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aus aller Herren Länder gefördert worden seien, solle der Preis auch für die zu er-wartenden Flucht- und Vertreibungsromane, die in den nächsten Jahren und Jahr-zehnten auf uns zukommen, weiter zur Verfügung stehen. Der Preis werde denschreibenden Flüchtlingen und Deutschdebütanten fehlen wie der Schatten dem armenSchlemihl in Chamissos Erzählung. (Radisch 2016)

Das wesentlichste Argument der Begründung der Preiseinstellung lautete, dassder Förderpreis sein Ziel erreicht habe und damit überflüssig geworden sei –Chamisso-AutorInnen sind mittlerweile zum selbstverständlichen Teil desdeutschen Literaturbetriebs geworden, so Uta-Micaela Dürig:

Kulturelle Vielfalt ist in unserer Gesellschaft und in der deutschsprachigen Literaturinzwischen in weiten Teilen zur Normalität geworden. Ein Preis sollte daher, aus un-serer Sicht statt die biografische Herkunft und Erfahrung von Autoren hervorzuheben,ein starkes Miteinander und Wir-Gefühl in der Gesellschaft unterstützen. Dies umsomehr, weil viele Autoren mit Migrationsgeschichte bereits in der zweiten Generation inDeutschland leben. Sie sind mit der deutschen Sprache aufgewachsen und sehen sichselbst als deutschsprachige Autoren. Ihre Werke sind ein selbstverständlicher undunverzichtbarer Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur. Und Chamisso-Preisträgergewinnen wichtige andere Literaturpreise wie z. B. den Deutschen Buchpreis. (Dürig2017: 51)

Die Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung beruft sich hier letztendlich aufdie Aufhebung jener distinktiven Grenze zwischen deutschen und zugewan-derten AutorInnen, die bereits bei der Entstehung der Idee des Preises als einenicht-existierende postuliert wurde, so u. a. als Harald Weinrich in seinemPlädoyer für eine deutsche Literatur von außen davon sprach, dass »die Aus-länder […] bisweilen sogar ein besseres Deutsch als mancher Deutsche [spre-chen und schreiben]«, oder dass »[d]ie deutschen Schriftsteller, die von außenkommen, […] ebenso gut wie Schriftsteller binnendeutscher Herkunft Meisterder deutschen Sprache und Vorbilder guten deutschen Sprachgebrauchs werden[können]«. (Weinrich 2017 [1983]: 46f.)

Der exklusive Akt der Distinktion der Literatur bzw. der AutorInnen nicht-deutscher Herkunft als Adressaten eines Förderpreises (einer »Auszeichnungfür deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache«)5 diente desWeiteren ihrer Inklusion und führte auch zur Öffnung des Literaturkanonshinsichtlich der »Chamisso-Literatur«,6 deren prinzipielle Ununterscheidbar-

5 So die ursprüngliche Konzeption bei der ersten Preisausschreibung 1985. Vgl. online unter :http://projects.bosch-stiftung.de/content_projekte/language1/html/14169.asp (zuletzt auf-gerufen am 18. 07. 2019).

6 Trotz der häufig thematisierten Unzulänglichkeit des Begriffes (Lamping 2011: 18, Blum-Barth 2013) wird im obigen Aufsatz der Terminus Chamisso-Literatur verwendet – im Ge-gensatz zu den oben behandelten weiteren Bezeichnungen wie Migrationsliteratur, post-migrantische/transnationale Literatur oder Bindestrich-Komposita wie deutsch-türkische

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keit von der »deutschen« Literatur – paradoxerweise zwecks der Erfüllung derZielsetzung – ab ovo angenommen wurde.

Ähnliche Ambivalenzen prägen die gesamte Geschichte der Preisverleihung:Die Festlegung auf die Herkunft als entscheidendes Kriterium der Preisverlei-hung wurde durch die Erweiterung der Definition des Preises 2012 aufgehoben– die potenziellen Preisträger waren von dem Zeitpunkt an »auf Deutschschreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist«. DieBegründung für die Modifizierung der Preisstatuten – »die Literatur dieserAutoren ist zu einem selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteildeutscher Gegenwartsliteratur geworden«7 – macht wiederum die schwankendeGrenzziehung zwischen innen und außen sichtbar, welche die Auszeichnungtrotz ihrer grundsätzlichen »Überflüssigkeit« oder gerade deswegen legitimiert.Infolge der Verortung des Förderpreises im Spannungsfeld zwischen Literaturund Kulturpolitik, zwischen immanent ästhetischen und außerliterarischenKriterien (wie Herkunft und Biografie) galt der Chamisso-Preis von Anfang an– bei aller Anerkennung seiner Funktionen als Türöffner, als »Eintrittsbillet insliterarische Leben«8 oder Kanonisierungsinstanz für die Preisträger – als um-stritten: Er wurde als »Nischenpreis« (Kegelmann 2010 a) kritisiert, man be-fürchtete die diskriminierende Etikettierung »ausländischer« AutorInnen odereine Art »Reservatbildung« (Hofmann 2006: 320). Die kritische Diskussion umdie Existenzberechtigung und die Zukunft des Preises (zu Veranstaltungen wiedem Marbacher Symposium Chamisso – wohin? Über die deutschsprachige Li-teratur von Autoren aus aller Welt zum 25. Jahrestag der Auszeichnung oder derKonferenz Chamisso-Literatur – eine »Nomadisierung der Moderne«? Interdis-ziplinäre Perspektiven der Interkulturalitätsforschung in München 2014) gehörtmittlerweile auch zu seiner Tradition. Symptomatisch dafür steht die oftmals

Literatur/AutorInnen verweist man mit der Verwendung des Wortes »Chamisso-Literatur«auch auf die grundsätzliche (und oben ausführlich erläuterte) Problematik der distinktivenKategorisierung und auf die Unmöglichkeit der Grenzziehung zwischen »deutscher« und»nicht (nur) deutscher« Literatur.

7 Vgl. hierzu die Robert Bosch Stiftung über die Geschichte des Preises: »Der Preis wurdedamals definiert als Auszeichnung für deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Mut-tersprache. Wurde die mit dem Preis gewürdigte Literatur seit den 1980er-Jahren zunächstnoch ›Gastarbeiterliteratur‹ genannt, entwickelte sie sich nach Öffnung des Eisernen Vor-hangs zur sogenannten ›Migrationsliteratur‹, die verstärkt auch außereuropäische Einflüsseumfasste. Die gesellschaftliche Realität zeigt heute, dass eine stetig wachsende Autorengruppemit Migrationsgeschichte Deutsch als selbstverständliche Muttersprache spricht. Für dieLiteratur dieser Autoren ist der Sprach- und Kulturwechsel zwar thematisch oder stilistischprägend, sie ist jedoch zu einem selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteildeutscher Gegenwartsliteratur geworden. 2012 wurde die Definition des Preises daher er-weitert«. Online verfügbar unter : http://projects.bosch-stiftung.de/content_projekte/language1/html/14169.asp (zuletzt aufgerufen am 18. 07. 2019).

8 Ackermann 2007: 48, zitiert nach Kegelmann 2010 a: 21. Zum biografischen Diskurs über die»Chamisso-Literatur«, d. h. zur »Transnationalisierung der Biographik«, vgl. Schweiger 2013.

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zitierte Rede Ilija Trojanows von Migration als Heimat, der im Hinblick auf diefortschreitende Kanonisierung der deutschsprachigen Literatur ausländischerAutorInnen Folgendes feststellte: »[E]s gibt keine Chamisso-Literatur mehr,sondern nur das Hineinwachsen der deutschsprachigen Literatur ins Weltlite-rarische mit Hilfe der Agenten der Weltläufigkeit und Mehrsprachigkeit« (Tro-janow 2009).9 Die Berufung auf die Unhaltbarkeit der »Aussonderungen« (bzw.der Grenzziehung zwischen der »herkömmlichen deutschen« Literatur als Regelund der »neueren Migrationsliteratur« als Abweichung) sowie auf die Univer-salität der Mehrsprachigkeit ist eine Diskurskonstante seit den 1980er-Jahren bisin die Gegenwart, womit ironisch – als assertion in denial10 – Differenzierungenfortgeschrieben und die problematisierten Begrifflichkeiten ex negativo bestä-tigt werden. Im Folgenden gilt meine Aufmerksamkeit nicht speziell der Ge-schichte, der Bedeutung und den Herausforderungen der Chamisso-Literatur-Forschung – deren Literatur mittlerweile ein beinahe unübersehbares Maß er-reicht hat11 –, sondern den aktuellen Tendenzen und Strategien im literatur-wissenschaftlichen Umgang mit jenen Differenzierungen, die auch die Rezep-tions- und Kanonisierungsprozesse der Chamisso-Literatur bestimmen unddarüber hinaus für die Analyse literarischer Grenzgänge zwischen bzw. inner-halb von Ost- und Westeuropa methodisch-begrifflich konstitutiv sind.

9 Zu den Beiträgen von Dieter Lamping, Karl Esselborn, Immacolata Amodeo, MorayMcGowan und Walter Schmitz zu demselben Thema vgl. den Tagungsbericht von KlausHübner (Hübner 2010).

10 Dieselbe Logik charakterisiert auch den Diskurs über die deutschsprachige Schweizer Li-teratur und die Thematisierung der Schweiz bzw. des Politikums in der zeitgenössischenProsa. Corina Caduff kommt aufgrund der Veröffentlichung von Anthologien mit schwei-zerischer Nationalliteratur zum Schluss, dass die »Zauberformel Schweizer Literatur« auchin den letzten Jahrzehnten virulent geblieben ist und dass man im Fall von Literatur derSchweiz auf den Heimatbezug insistiert, auch wenn er offenbar fehlt oder nur als »verloreneHeimat« existiert (Caduff 2005). Die (affirmative) Verneinung ihres Gegenstandes hält auchdie akademische Diskussion über die Existenzberechtigung des Begriffes Schweizer Literaturaufrecht: Diese scheint nämlich auch heute noch intensiv zu sein, obwohl die Frage nach derExistenz einer homogenen Schweizer Nationalliteratur längst verneint wurde. MichaelBöhler geht sogar noch weiter : Wegen der Inkongruenz zwischen sprachlicher und politi-scher Grenzziehung innerhalb und um die Schweiz stuft er den gesamten Prozess der nation-building in der Schweiz als ambivalent und paradox ein, er verweist darauf mit Terry Ea-gletons Ausdruck self-assertion in denial @ Böhler 2010: 41. Vgl. hierzu Pabis 2017: 33–44.

11 Vgl. hierzu u. a. Ackermann 2004, Esselborn 2004, Kegelmann 2010 a, Lamping 2011 undBlum-Barth 2013.

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Ausländer – Brückenschläger – Sprachwandler. Sprache und Ortder »Chamisso-Literatur«

Wie wir gesehen haben, fungiert in der Diskussion um den Chamisso-Preis dieSprachlichkeit der Literatur auf Deutsch schreibender AutorInnen nicht deut-scher Herkunft als entscheidendes Kriterium für die Konstruktion eines Text-korpus, das nicht durch außerliterarische oder exotisierende und marginali-sierende Faktoren wie eine migratorische Biografie verbunden wird. Paradig-matisch zeigt sich diese Konstruktion an der erwähnten Erweiterung bzw.Modifizierung der Statuten der Auszeichnung, die ab 2012 an »herausragendeauf Deutsch schreibende Autoren« vergeben wurde, »deren Werk von einemKulturwechsel geprägt ist und die ein außergewöhnlicher, die deutsche Literaturbereichernder Umgang mit Sprache eint«12 (kursiv E.P.). Es ist aber gerade dieSprache (die ästhetische Qualität) ihres Werks, aufgrund derer die betroffenenAutorInnen sich der deutschen Literatur zuordnen bzw. die Grenze zwischen der»deutschen« und der die deutsche Literatur »bereichernden« Literatur über-winden wollen. So reagierte Ter8zia Mora auf die Feststellung, »dass Sie ebennicht deutsche Autor[in] […] im Sinne von Goethe oder Thomas Mann sei«(Mora 2005: 28), mit der Aussage »Ich bin genauso deutsch wie Kafka« (ebd.),und sie wies gleichzeitig die dichotomische Trennung zwischen Fremdheit (inDeutschland) und Heimat bzw. die ebenfalls verbreitete Konvention der Beru-fung auf den Sprachwechsel zurück: »Ich habe hier keine Fremdheitsgefühle.Fremd war ich in dem ungarischen Dorf. Ich habe die Sprache nicht gewechselt.Ungarisch und Deutsch sind beides meine Muttersprachen« (ebd.). In eineähnliche Richtung weist Ilija Trojanow, als er sich nebst Kafka, Celan und JosephConrad auch auf den Kanon der deutschsprachigen Nobelpreisträger Canetti,Grass, Jelinek und Herta Müller beruft, um von zeitgenössischen AutorInnen wieTawada, Özdamar, Zaimoglu oder Rakusa festzustellen, dass keiner von ihnender »althergebrachten Wahrnehmung« entspricht, »es handle sich bei der›Chamisso-Literatur‹ um etwas Eigentümliches, Neuartiges, spezifisch Deut-sches« (Trojanow 2009):

Auch in der deutschsprachigen Literatur herrscht kosmopolitische Vielfalt vor, verfasstvon mobilen Schicksallosen […]. Wie sonst ließe sich erklären, dass die letzten vierdeutschsprachigen Nobelpreisträger alles andere als typische Deutsche waren: von

12 Vgl. die Definition des Preises auf der Webseite der Robert Bosch Stiftung: http://www.bosch-stiftung.de/de/projekt/adelbert-von-chamisso-preis-der-robert-bosch-stiftung (zu-letzt aufgerufen am 18. 07. 2019). Die Problematik der Mehrsprachigkeit der zugewandertenAutorInnen bzw. der Polyphonie ihrer Texte findet als Gegenstand literaturwissenschaftli-cher Forschung schon seit Langem Aufmerksamkeit (Spoerri 2010, Tatasciore 2012, Zing-geler 2011, Kegelmann 2012 und Burka 2016). Zu den unterschiedlichen Dimensionen derVielsprachigkeit literarischer Texte vgl. Schmitz-Emans 2004.

Ausländer – Brückenschläger – Sprachwandler 21

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dem in Bulgarien geborenen Sepharden Elias Canetti, der Deutsch erst als dritteSprache lernte, über den Danziger Günter Grass, dessen Mutter kaschubischer Ab-stammung war, sowie die Österreicherin Jelinek, deren Vater tschechischer Jude war,bis hin zur Banater Schwäbin Herta Müller. Zwei leibhaftige Migranten und alle viermulti-, inter- und transkulturell unterwegs. (Trojanow 2009)

Als Sasa StanisiÅ die Kategorie der »Migrationsliteratur« und damit verbundeneMythen vom Schreiben zugewanderter AutorInnen (wie die Bestimmtheit durchdie Biografie und die Migrationsthematik, oder den experimentierfreudigen,»bereichernden« Umgang mit der Sprache) ablehnt, argumentiert er u. a. mit derallgemeinen Fremdheit der ästhetischen Sprache (»[w]riting itself is a foreignlanguage« – StanisiÅ 2008)13 als Grund für die Aufhebung der Grenze zwischennationalliterarischem Kanon und dem »Schreiben der Migranten« und auchzwischen Zentrum und Peripherie (ebd.).14 Der »Mythos« der Bereicherungerweist sich infolge dieser falschen (homogenisierenden und essentialistischen)Trennungen als unhaltbar,15 dem ebenfalls verbreiteten Erklärungsmuster derVermittlung zwischen »einheimischer« und »fremder« Kultur ähnlich. (Auchwenn dieser u. a. bei der Vergabe des Chamisso-Preises ein weiterhin virulenterTopos bleibt: Sigrid Löffler hebt in ihrer Laudatio auf die »Übersetzerin undAutorin« Mora hervor, dass »[i]n einem Europa der Übersetzungen […] dieSchriftsteller Dolmetscher-Dienste [leisten], indem sie Kulturen […] nicht nurbeschreiben, beglaubigen und tradieren, sondern indem sie ihre jeweilige Kulturauch anderen vermitteln, sie ihnen übersetzen« – Löffler 2010). Mittlerweilewehren sich die meisten »Chamisso-AutorInnen« gegen ihre Verortung im

13 Vgl. zum Thema die These Deleuzes, laut der der Schriftsteller in der Sprache immer einFremder ist, auch wenn es seine Muttersprache ist: »Das sagt so viel, daß ein Schriftstellerimmer wie ein Fremder ist in der Sprache, in der er sich ausdrückt, selbst wenn es seineMuttersprache ist. […] Er ist ein Fremder in seiner eigenen Sprache. Er mischt nicht eineandere Sprache mit seiner Sprache, er schnitzt aus seiner Sprache eine Fremdsprache, die esvorher nicht gegeben hat« (Deleuze 1993: 31).

14 »In countries with high immigration rates, like Germany today, minority culture becamelong ago one of society’s constitutive elements. Immigrant authors are no longer a marginalphenomenon, but a significant reference point with almost-mainstream qualities (a goodthing, because it rids the work of the exotic). Immigrant literatures are not an isle in the sea ofnational literature, but a component, both in the depths, where the archaic squids of traditionlive, and on the surface, where pop-cultural waves hit the shore« (StanisiÅ 2008).

15 Als Argument für die Ablehnung des diskriminierenden, falschen und beschönigendenErklärungsmusters der »Bereicherung« der deutschen Sprache durch das Schreiben vonAutorInnen mit einem Migrationshintergrund erwähnt Christine Meyer auch die fehlendeAufnahmebereitschaft der deutschen Gesellschaft : »In der Tat: ›Bereicherung‹ durch fremdeKulturen erfolgt nicht automatisch und ist nicht umsonst zu haben. Sie ist kein einfachesHinzufügen von fremden Zutaten, sondern setzt seitens der Aufnahmegesellschaft die Be-reitschaft voraus, sich vom Anderen verändern zu lassen. Solange dieses Risiko nicht ein-gegangen wird, bleibt die Rede von der Bereicherung eine bequeme Art der Verdrängung«(Meyer 2012 a: 10).

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Dazwischen, gegen die Zuschreibung, Brücken (Vermittler, Übersetzer) zwi-schen zwei Welten zu sein: Vielsagend sind in dieser Hinsicht die Titel einigerTexte Yoko Tawadas – Ich wollte keine Brücke schlagen (Tawada 1997), GuneyDals – Ich bin keine Brücke (Dal 2000) oder die Feststellung Franco Biondis: »Ichlebe mit der italienischen und der deutschen Kultur, nicht dazwischen« (zitiertnach Hillgruber 2009).16 In der wissenschaftlichen Reflexion auf die Problematikerwies sich Leslie Adelsons Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwi-schen als programmatisch. Adelson kritisiert die polarisierende Positionierungder MigrantInnenfiguren in einem Zwischenreich: Diese kommt der netzartigenVerwobenheit, der Interaktionsoffenheit von Kulturen und Literaturen in derheutigen Zeit nicht entgegen, die – mit den Worten Appadurais – von derTransformation der Medien und der Migration bzw. deren Auswirkungen auf dieImagination geprägt wird:

In countless debates about the mass migration to Germany that predated 1990, and inmuch of the international scholarship on »migrants’ literature« or »intercultural lit-erature in Germany« (Chiellino 2000), Turks occupy a central representative position,not on a vibrating tightrope, but on an inflexible bridge »between two worlds«. One ofthese worlds is customarily presumed to be European and the other not, while the spacebetween is cast as a site of discriminatory exclusions or the home of happy hybridity.[…] Turks have shouldered the greatest burden of the imagined bridge for migrants inGermany, as they trigger fears of a »clash of civilizations« (Huntington) or spark hopesfor a »dialogue of cultures«. This is a familiar rhetoric of opposing two worlds un-derstood as originary and mutually exclusive. The space »between« is often reservedfor migrants inexorably suspended in a bridge leading nowhere. (Adelson 2005: 3, 5f.)

Als Alternative zur Fokussierung auf das cultural fable des Dazwischen (oderdessen »Überwindung« durch »Vermittlung« oder »Übersetzung«) schlägtAdelson in ihrem Konzept der touching tales, der sich berührenden Erzählun-gen, vor, Migrationsgeschichten als Verflechtungsnarrative zu deuten, das heißt,das Interagieren der Erzählungen der historischen Vergangenheit und der Ge-genwart (beispielsweise die Verknüpfungen sich berührender deutscher, jüdi-scher und türkischer Geschichten) zu erkennen (Adelson 2000).

Die Rhetorik des Dazwischen (und die daraus resultierende Idee der »Be-reicherung« deutschsprachiger Literatur durch Vermittlung zwischen zweierKulturen und Sprachen) wird, wie wir gesehen haben, erstens im Selbstver-ständnis der AutorInnen angegriffen, die in der deutschen Sprache und imdeutschen Literaturbetrieb angekommen sein wollen, und zwar in erster Linienicht infolge der Einwanderung, sondern vielmehr als Konsequenz der ästhe-tischen Tätigkeit per se – wie es bei Ter8zia Mora der Fall war, die davon spricht,

16 Zur Problematik des »Zwischen-zwei-Welten-Stehens« vgl. Vlasta 2009, Jordan 2006,McGowan 2004 und insbesondere Adelson 2005.

Ausländer – Brückenschläger – Sprachwandler 23

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durchs Schreiben im Leben angekommen zu sein: »Im Grunde bin ich erst indem Moment angekommen in dieser Welt, in dem es sich entschied, dass ichschreiben darf« (Mora 2010). Das Festhalten am Zwischenzustand wurdezweitens auch im Kontext der Problematisierung und letztendlich der Einstel-lung des Chamisso-Preises als kanonisierende Instanz und in der wissen-schaftlichen Reflexion darauf beendet: Vielsagend sind diesbezüglich der Titeldes Bandes Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur (Pörksen;Busch 2008), die bereits zitierte Aussage Trojanows, »es gibt keine Chamisso-Literatur mehr, sondern nur das Hineinwachsen der deutschsprachigen Lite-ratur ins Weltliterarische« (Trojanow 2009), sowie die Erklärung der RobertBosch Stiftung, das Ziel des Chamisso-Preises erreicht zu haben: »Autoren mitMigrationsgeschichte zählen heute selbstverständlich zu den Favoriten für diemeisten der über 300 Literaturpreise in Deutschland, […] [sie sind] [i]mdeutschsprachigen Literaturbetrieb angekommen«.17 Drittens kann die Strategieeiner dichotomischen Grenzziehung zwischen deutsch(sprachig)er und Mi-grationsliteratur sowie zwischen den binären Oppositionen »Heimat« und»Ankunftsland« im Lichte diverser poststrukturalistischer und postkolonialerAnsätze subversiv unterlaufen werden. Diese verorten ähnliche Innen-Außen-Grenzziehungen und Differenzen zwischen Sprachen, Kulturen und Subjektenoder zwischen Eigenem und Fremdem im Allgemeinen innerhalb der Sprache,der Kultur oder des Subjektes.18 Die Übersetzungsleistung der Chamisso-Au-torInnen erschöpft sich in diesem Kontext nicht in einer Vermittlung von oderzwischen gegenseitig abzugrenzenden, symmetrischen Kulturen und Sprachen,sondern steht vielmehr der Übersetzung als Existenz- und Konstruktionsmodusder Kultur im Zeitalter transnationaler Migration nahe, d h. jener »komplexenForm der Signifikation«, die Bhabha kulturelle Translation nennt:

Kultur […] ist sowohl transnational als auch translational. […] Die transnationaleDimension kultureller Transformation – Migration, Diaspora, De-platzierung, Neu-verortung – lässt den Prozess kultureller Translation zu einer komplexen Form derSignifikation werden. Der natürliche oder naturalisierte, einheitsstiftende Diskurs, der

17 Robert Bosch Stiftung 2016.18 Bhabha interpretiert die Bedeutungen der performativen bzw. konstativen Aspekte der

Sprache, die Spaltung des Subjektes in ein ausgesagtes Subjekt und ein Subjekt der Aussage,den Widerstreit zwischen seiner Repräsentation in der symbolischen Ordnung und seinemdiskursiven Hervorbringen im Akt narrativer Performanz, in Bezug auf die Nation. In derSchaffung der Nation als Narration seien, so das Ergebnis seiner Ausführungen, zwei un-vereinbare Strategien zu unterscheiden, in denen das Volk als apriorisches pädagogischesObjekt oder als repetitiv aufrechterhaltenes Subjekt der narrativen Performanz erscheint(Bhabha 2000: 218). Vgl. hierzu Pabis 2010: 75–76. Zu den – von der obigen Semantik desDazwischen abweichenden – Begriffen dritter Raum und Treppenhaus vgl. Bhabha 2010. Zurkulturellen Übersetzung und zu Bhabhas Begriff der »translationalen Kultur« vgl. Bhabha2000: 257 und Bachmann-Medick 2014.

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Eszter Pabis: Migration erzählen

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auf festverwurzelten Mythen der kulturellen Besonderheiten wie »Nation«, »Völkern«,oder authentischen »Volks«-Traditionen beruht, kann hier kaum als Bezugspunktdienen. Der große, wenngleich beunruhigende Vorteil dieser Situation besteht darin,dass sie uns ein stärkeres Bewusstsein von der Kultur als Konstruktion und von derTradition als Erfindung verschafft. (Bhabha 2000: 257)19

Die behandelten Verschiebungen in der Dialektik von Trennen und Verbindenspiegeln sich auch in der Diskussion um die diversen Bezeichnungen der Cha-misso-Literatur und der Chamisso-AutorInnen im deutschsprachigen Raumwider. Die später als ausgrenzend kritisierten Begriffe wie Gastarbeiterliteratur,Betroffenheitsliteratur und Ausländerliteratur wurden ursprünglich auch vonden AutorInnen verwendet und geprägt,20 die anschließende Diskussion um dieTermini Migrantenliteratur oder Migrationsliteratur reflektiert die Ablösungdes soziologischen von einem biografisch und thematisch orientierten Zugang.Weitere Wortschöpfungen wie interkulturelle Literatur (Chiellino 2000, Hof-mann 2006), transkulturelle bzw. internationale Literatur (Schmitz 2009) oderpostmigrantische Literatur21 (ursprünglich postmigrantisches Theater, SherminLanghoff) belegen die Verbreitung der poststrukturalistischen Ablehnung di-chotomischer Sichtweisen und normativer Diskurse von homogenen Kultur-räumen und Identitäten. Stattdessen setzt sich bei diesen Ansätzen eine Fo-kussierung auf die ästhetische Sprachlichkeit durch – zentral wird dabei nicht

19 An einer anderen Stelle nimmt Bhabha in demselben Kontext auf die Rolle der Migrati-onsliteraturen in der Subversion westlicher Hegemonie und der Aufdeckung der HybriditätBezug (und verleiht dabei der Position des Dazwischen eine positive Bedeutung): »Themigrant culture of the ›in-between‹, the minority position, dramatizes the activity of cul-ture’s untranslatability ; and in so doing, it moves the question of culture’s appropriationbeyond the assimilationist’s dream, or the racist’s nightmare, of a ›full transmissal of subjectmatter‹; and towards an encounter with the ambivalent process of splitting and hybridity thatmarks the identification with culture’s difference« (Bhabha 2004: 321, zitiert nach: Sievers2012: 219). Ottmar Ette verweist auf die Zwischenposition in dem Terminus ZwischenWel-tenSchreiben ebenfalls in einem ähnlichen Sinn: Er bezeichnet damit die »plural zu verste-henden Literaturen ohne festen Wohnsitz«, die »die Opposition zwischen National- undWeltliteratur« durchkreuzen, »weder in Kategorien wie ›Nationalliteratur‹ oder ›Migrati-onsliteratur‹« adäquat beschrieben werden können und von Dynamiken »im Zeichen einesständigen und unabschließbaren Springens zwischen Orten und Zeiten, Gesellschaften undKulturen« getrieben werden (Ette 2005: 14).

20 Vgl. hierzu Franco Biondi zu dem von ihm eingeführten Begriff der Gastarbeiterliteratur :»Damals waren wir sehr mit Affekten geladen. Ich auch. Und uns hat wütend gemacht, wiewir stigmatisiert wurden, wie wir immer wieder in eine besondere Ecke gesteckt wurden. Wirwaren so gutgläubig und leichtsinnig und haben gedacht, wir könnten in der Lage sein, dieseBegriffe ›Gastarbeiter‹, ›Gastarbeiterliteratur‹ ins Gegenteil zu wenden, als Möglichkeit, dieGesellschaft anzugreifen und zu zeigen ›Wir sind da‹. So blauäugig wie wir waren, haben wirnicht gemerkt, dass wir ein neues Ghetto geschaffen haben. Erst im Nachhinein hat sich dasgezeigt. Heute würde ich ihn nicht mehr benutzen« (Biondi 2009: 10).

21 Zum Zusammenhang zwischen dem Postkolonialismusdiskurs und dem Begriff der »Post-migration« vgl. u. a. Yildiz et al. 2015.

Ausländer – Brückenschläger – Sprachwandler 25