die geschichte der Östrogene: “etwa ein molekül wie das morphin”

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352 | Pharm. Unserer Zeit | 33. Jahrgang 2004 | Nr. 5 DOI:10.1002/pauz.200400080 © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim „Etwa ein Molekül wie das Morphin“ Die Geschichte der Östrogene U LRICH MEYER N achdem Anton van Leeuwenhoek (1632– 1723) das Mikroskop in die anatomische Forschung eingeführt hatte, konnten schon bald wesentliche Erkenntnisse über Aufbau und Funktion des Nervensystems gewonnen werden. Dank vergleichender mikroskopi- scher Studien an Säugern, Vögeln, Fischen und Amphibien galt beispielsweise schon 1842 die „Selbstständigkeit des sympathischen Ner- vensystems durch anatomische Untersuchun- gen“ als „nachgewiesen“ [1]. Die Hormone er- schlossen sich hingegen erst mit Beginn des 20. Jahr- hunderts der Erforschung. Die Verfeinerung präparativer und analytischer Methoden sowie die Auffindung geeig- neter biologischer Prüfmodelle an meist vorgeschädigten Tieren schufen hierfür die Voraussetzungen. Erste Kenntnis der Hormone Jokichi Takamine (1854–1922) und Thomas Bell Aldrich (1861–1938) isolierten 1902 unabhängig von einander aus Es erscheint heute selbstverständlich, dass die Funktionen des menschlichen Organismus gleichermaßen durch Nerven- system und hormonelle Regelkreise gesteuert werden, indes erfolgte die Aufklärung dieser Zusammenhänge keineswegs gleichzeitig. Nebennierenmark eine kristalline Substanz, die sie als Adre- nalin bezeichneten. Drei Jahre später gelang dem bei Hoechst tätigen Apotheker Friedrich Stolz (1860–1936) die Synthese des Adrenalins, das die Farbwerke als Suprarenin ® in den Handel einführten. Den Begriff „Hormon“ prägten 1905 Ernest Henry Starling (1866–1927) und William Mad- dock Bayliss (1860–1924), nachdem sie 1902 das aus 27 Aminosäuren bestehende Duodenalhormon Secretin ent- deckt hatten. Starling und Bayliss postulierten, dass Hor- mone körpereigene Stoffe seien, die von endokrinen Drü- sen direkt ins Blut abgegeben würden und als chemische Boten Körperfunktionen steuerten. Die Bezeichnung „Hor- mon“ leiteten sie vom griechischen horman = antreiben, anregen ab. Die zutreffende, aber beim damaligen Kenntnisstand im Grunde kühne Hormon-Theorie von Starling und Bayliss er- fuhr mit der Auffindung des Thyroxins durch Edward Cal- vin Kendall (1886–1972) im Jahr 1915 eine Bestätigung. Die Entdeckung warf allerdings neue Fragen auf, handelte es sich bei diesem Hormon doch nicht wie im Falle des Ad- renalins um ein biogenes Amin, sondern um eine iodhalti- ge aromatische Aminosäure. Als zweites Peptid-Hormon wurde 1921 das von Frede- rick Grant Banting (1891–1941), Charles Herbert Best (1899–1978) und John James R. MacLeod (1876–1935) ent- deckte, 51 Aminosäure zählende Insulin bekannt. Der zu- ABB. 1 Berliner Schering AG: das Hauptlaborato- rium, das heute das Schering- Museum beher- bergt und der Es- tradiol-Versuchs- betrieb im Werk Wedding, 1935.

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352 | Pharm. Unserer Zeit | 33. Jahrgang 2004 | Nr. 5 DOI:10.1002/pauz.200400080 © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

„Etwa ein Molekül wie das Morphin“

Die Geschichte der Östrogene ULRICH MEYER

Nachdem Anton van Leeuwenhoek (1632–1723) das Mikroskop in die anatomische

Forschung eingeführt hatte, konnten schonbald wesentliche Erkenntnisse über Aufbauund Funktion des Nervensystems gewonnenwerden. Dank vergleichender mikroskopi-scher Studien an Säugern, Vögeln, Fischen undAmphibien galt beispielsweise schon 1842die „Selbstständigkeit des sympathischen Ner-vensystems durch anatomische Untersuchun-gen“ als „nachgewiesen“ [1]. Die Hormone er-schlossen sich hingegen erst mit Beginn des 20. Jahr-hunderts der Erforschung. Die Verfeinerung präparativerund analytischer Methoden sowie die Auffindung geeig-neter biologischer Prüfmodelle an meist vorgeschädigtenTieren schufen hierfür die Voraussetzungen.

Erste Kenntnis der HormoneJokichi Takamine (1854–1922) und Thomas Bell Aldrich(1861–1938) isolierten 1902 unabhängig von einander aus

Es erscheint heute selbstverständlich, dass die Funktionen des menschlichen Organismus gleichermaßen durch Nerven-system und hormonelle Regelkreise gesteuert werden, indeserfolgte die Aufklärung dieser Zusammenhänge keineswegsgleichzeitig.

Nebennierenmark eine kristalline Substanz, die sie als Adre-nalin bezeichneten. Drei Jahre später gelang dem beiHoechst tätigen Apotheker Friedrich Stolz (1860–1936) dieSynthese des Adrenalins, das die Farbwerke als Suprarenin®

in den Handel einführten. Den Begriff „Hormon“ prägten1905 Ernest Henry Starling (1866–1927) und William Mad-dock Bayliss (1860–1924), nachdem sie 1902 das aus 27Aminosäuren bestehende Duodenalhormon Secretin ent-deckt hatten. Starling und Bayliss postulierten, dass Hor-mone körpereigene Stoffe seien, die von endokrinen Drü-sen direkt ins Blut abgegeben würden und als chemischeBoten Körperfunktionen steuerten. Die Bezeichnung „Hor-mon“ leiteten sie vom griechischen horman = antreiben,anregen ab.

Die zutreffende, aber beim damaligen Kenntnisstand imGrunde kühne Hormon-Theorie von Starling und Bayliss er-fuhr mit der Auffindung des Thyroxins durch Edward Cal-

vin Kendall (1886–1972) im Jahr 1915 eine Bestätigung.Die Entdeckung warf allerdings neue Fragen auf, handeltees sich bei diesem Hormon doch nicht wie im Falle des Ad-renalins um ein biogenes Amin, sondern um eine iodhalti-ge aromatische Aminosäure.

Als zweites Peptid-Hormon wurde 1921 das von Frede-rick Grant Banting (1891–1941), Charles Herbert Best(1899–1978) und John James R. MacLeod (1876–1935) ent-deckte, 51 Aminosäure zählende Insulin bekannt. Der zu-

A B B . 1 BerlinerSchering AG: dasHauptlaborato-rium, das heutedas Schering-Museum beher-bergt und der Es-tradiol-Versuchs-betrieb im WerkWedding, 1935.

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vor rasch tödlich endende Typ-I-Diabetes war damit einerlebensrettenden Behandlung zugänglich, Banting undMacleod erhielten für ihre Entdeckung 1923 den Medizin-Nobelpreis [2].

Die Entdeckung des ÖstronsDie Initiative zur Erforschung der weiblichen Sexual-hormone ging in Deutschland von der Berliner ScheringAG (Abb. 1) aus. Dort hatte sich der Chemiker Max Dohrn(1874–1943), der seit 1904 das physiologische Labor leite-te, frühzeitig für die gerade entdeckten Hormone interes-siert. 1923 schloss das Unternehmen mit dem Wiener Phy-siologen Eugen Steinach (1861–1944) einen Vertrag „zurHerstellung und kommerziellen Verwertung von Organ-präparaten“ ab, wobei „unverzüglich … Eierstockpräpara-te in Angriff genommen werden“ sollten.

Schering folgte damit Unternehmen wie Hoffmann-LaRoche (Basel), Merck (Darmstadt), Knoll (Ludwigshafen),Engelhard (Frankfurt/Main) und Dr. Freund & Dr. Redlich(Berlin), die bereits seit 1896 Präparate wie Ovadin®, Ovari-in®, Oophorin® und Ovaraden® entwickelt und angebotenhatten. Die Herstellungsverfahren dieser Präparate und dieIntensität ihrer klinischen Erprobung differierten deutlich,manche Ovarialpräparate waren auch nur wenige Jahre imHandel [3].

Als Resultat der Kooperation mit Steinach brachte Sche-ring 1928 das aus tierischer Plazenta gewonnene Progy-non® (Abb. 2) in den Handel; 10 Dragees kosteten statt-liche 35 Reichsmark. Nachdem die Extraktgewinnung auf

den Urin schwangerer Frauen umgestellt wurde, konnte dasBerliner Unternehmen den Preis um mehr als die Hälftesenken. Schließlich kam statt des Schwangerenharns dernoch ergiebigere Urin trächtiger Stuten zum Einsatz, so dass1933 für 30 Dragees Progynon® nur noch 5,35 Reichsmarkverlangt werden mussten (Abb. 3) [4].

Auch für Progynon® galt zunächst die Feststellung, dieder Berliner Gynäkologe Leopold Landau (1848–1920) 1896mit Blick auf die gerade populär werdenden Ovarialpräpa-rate getroffen hatte: „Die Isolierung deswirksamen Stoffes … ist bis jetzt nochnicht gelungen.“

Der Chemiker Walter Schoeller (1880–1965) (Abb. 4), seit 1923 Leiter des Haupt-labors der Schering AG, wollte genau diesändern und nahm deshalb 1927 Kontaktmit dem seinerzeit neben Heinrich Wie-land (1877–1957) führenden deutschenNaturstoffchemiker Adolf Windaus (1876–1959) in Göttingen auf. Windaus, der sichzu diesem Zeitpunkt vollkommen der Er-forschung des Vitamin D widmete (wofürer 1928 den Nobelpreis erhielt), lehnte diepersönliche Bearbeitung ab, gewann aberseinen frisch promovierten AssistentenAdolf Butenandt (1903–1995) [5] (Abb. 5)für das Thema. Butenandt erinnerte sichspäter: „Ich sehe noch sein gütiges und ernstes Gesicht vormir und höre seine Worte: ‘Ich schlage Ihnen vor, diesesThema zu bearbeiten, die Zusammenarbeit mit dem Haupt-laboratorium der Schering-Kahlbaum AG zu ergreifen undzu versuchen, das sicher nicht leichte Problem zu lösen. Es scheint mir für eine erfolgreiche Bearbeitung reif, und ich habe mir immer vorgestellt, daß unser Institut sich ein-mal für das Gebiet der Sexualhormone interessieren könne.Ich stelle Ihnen die Hilfe des Instituts und – soweit möglich– auch meinen persönlichen Rat zur Verfügung. Damit Sie nicht in eine finanzielle Abhängigkeit von der Industriegeraten, werde ich mich für eine großzügige Förderung

A B B . 2 Veröffentlichung zur Markteinführung vonProgynon®, 1928

A B B . 3 Das Progynon® von1928

A B B . 4Walter Schoeller

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Ihrer Forschungen durch die Notgemein-schaft der Deutschen Wissenschaft einset-zen.’“ [6].

Schoeller, der ein unbegrenztes Ver-trauen zu Windaus gehabt haben soll, folg-te seiner Empfehlung und ließ sich auf ei-ne Kooperation mit dem in der wissen-schaftlichen Welt noch unbekanntenButenandt ein. Schoeller äußerte gegen-über Butenandt:

„Das kann ja eine sehr langwierige Arbeit werden. Ich stelle mir vor, daß esetwa ein Molekül wie das Morphin seinkönnte. Selbst wenn die Isolierung in absehbarer Zeit gelingen sollte, so wür-de die Strukturermittlung doch sehrschwierig sein, möglicherweise eine

Lebensarbeit.“ [7].Um die Arbeit von Butenandt zu beschleunigen, erfolg-

te die Anreicherung von Plazenta-Extrakten bzw. Schwan-gerenurin bei Schering unter Leitung des seit 1928 im Un-ternehmen tätigen Steinach-Schülers Walter Hohlweg(1902–1992) (Abb. 6), die Konzentrate wurden dann als sogenannte „Rohöle“ nach Göttingen geliefert. Butenandt frak-tionierte sie dort mittels Ausschütteln in diversen Lösungs-mitteln weiter und prüfte die biologische Wirksamkeit dererhaltenen Extrakte. Hierbei kam ihm zugute, dass Windausfür die Vitamin-D-Versuche im Chemischen Institut der Uni-versität eine Biochemische Abteilung eingerichtet hatte, dieunter Leitung des Mediziners Friedrich Holtz (1898–1957)stand. So konnte dort auch der Allen-Doisy-Test durchge-führt werden. Dieser Test war bereits 1923 von dem US-amerikanischen Anatom Edgar Allen (1892–1943) und demChemiker Edward Albert Doisy (1893–1986) entwickeltworden. Anhand der Veränderungen im Vaginalepithel vonkastrierten Mäusen und Ratten ließen sich Fraktionen mitöstrogener Wirksamkeit ermitteln. Die medizinisch-techni-sche Assistentin Erika von Ziegener, die spätere Frau AdolfButenandts, entdeckte im Frühsommer 1929 bei einerDestillation im Hochvakuum die ersten Östron-Kristalle.Da das WindausscheInstitut im Augustferienhalber schloss,mussten die Arbeitenzunächst unterbro-chen werden. Just indiesem Monat stellteDoisy auf einem Phy-siologen-Kongress inBoston seine Unter-suchungen vor, dieebenfalls zum Östron– von ihm Theelin ge-nannt – geführt hat-ten. Butenandt publi-zierte daraufhin im

Oktober 1929 in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“über seine Gewinnung des Östrons, das er verwirrender-weise – wie das Schering-Extrakt-Präparat – Progynon nann-te. Beide Forscher hatten völlig unabhängig und ohneKenntnis voneinander gearbeitet und waren praktischgleichzeitig zum selben Ergebnis gelangt.

Östriol und ÖstradiolAls zweites Östrogen isolierte Guy Frederic Marrian (geb.1904) 1929 in London aus Schwangerenurin Östriol, undbereits im folgenden Jahr konnte Butenandt die naheVerwandtschaft von Östron und Östriol belegen.

Östradiol wurde von den Schering-Chemikern ErwinSchwenk (1887–1976) und Friedrich Hildebrandt (geb.1904) 1932 erstmals synthetisch dargestellt. Östradiol istsechsmal stärker östrogen wirksam als Östron. 1935 ent-deckte Doisy, dass Östradiol auch natürlicherweise inSchweineovarien vorkommt (Abb. 7).

1938 gelang dem seit 1935 bei Schering tätigen Windaus-Schüler Hans Herloff Inhoffen (1906–1992) (Abb. 8) erst-mals die Synthese von Östradiol aus Cholesterin, doch bliebÖstron aus Stutenharn bis zum Ende des Zweiten Welt-krieges für Schering die Hauptquelle der Östradiol-Gewin-nung. Inhoffens Entdeckung war gleichwohl von größterprinzipieller Bedeutung, da Cholesterin eine praktisch un-begrenzt verfügbare Rohstoffressource darstellt.

Ethinylestradiol – ein „Siegeszug mit Hindernissen“

1930 avancierte der oben erwähnte Walter Hohlweg zumLeiter der Abteilung für Hormonforschung des Schering-Hauptlabors, wobei das Unternehmen ihm vierzehn Mit-arbeiter an die Seite stellte und auch an der materiellenAusstattung nicht sparte: „Ein chemisches Labor, ein bio-logisches Labor mit einem Operationsraum und einhistologisches Labor standen mir zur Verfügung. Es gab ei-nen Raum mit Klimaanlage und Käfigen für dreitausend Rat-ten, einen Raum mit Boxen für Kaninchen und einen Raummit Käfigen für Paviane.“ Damit bestand die Möglichkeit, einsehr breit angelegtes Screening von Substanzen mit poten-ziell östrogener Wirksamkeit durchzuführen.

Hohlwegs Ziel war es, peroral applizierbare, östrogen-wirksame Stoffe zu gewinnen, wobei zunächst auchpflanzliche Substanzen in Betracht gezogen wurden. Ba-sierend auf Untersuchungen des Schering-Labors promo-vierte Hohlweg 1937 mit der phytochemischen Arbeit„Über die Isolierung eines östrogenen Wirkstoffes aus Bu-tea superba und seine biologischen Wirkungen“. Indes er-wiesen sich die Butea-Inhaltsstoffe beim Menschen im Un-terschied zum Tier als toxisch.

Über die Entdeckung des Ethinylestradiols berichteteInhoffen: „Eines Morgens kommt mein Kollege Walter Hohl-weg … zu mir und sagt: ‘Machen Sie mir doch mal vomFollikelhormon ein Derivat, die 17-Carbonsäure; ich glau-be, daß sie per os wirksam ist.’ Ich gucke ein paar Sekun-den in die Luft und sage: ‘Die Säure können Sie in zwei Wo-

A B B . 5Adolf Butenandt

A B B . 6Walter Hohlweg

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chen haben. Ich lagere an das Östron Acetylen an und ozo-nisiere dann’“. Inhoffen führte die Ethinylierung innerhalbvon zwei Tagen durch, die Ozonisierung hingegen un-terblieb. Am 6. September 1937 stand Hohlweg Ethinylest-radiol zur biologischen Prüfung zur Verfügung. Die Wirk-samkeit des – eigentlich nur als Synthesezwischenproduktvorgesehenen! – Ethinylestradiols war auch bei oraler Ga-be so spektakulär gut, dass Hohlweg nach zwei Wochen ge-radezu in Inhoffens Labor „hereinstürzte“. Durch den Ver-gleich mit Ethenylestradiol konnte der Beweis erbracht wer-den, dass die Ethinylierung Ursache der guten oralenBioverfügbarkeit ist. Das eine Doppelbindung aufweisendeEthenylestradiol wirkt nämlich bei parenteraler Gabe nochstärker als das Ethinyl-Derivat, ist aber bei peroraler Appli-kation deutlich schwächer wirksam. Die zentrale Publikati-on zum Ethinylestradiol und dem analog hergestellten, über-raschenderweise Gestagen-wirksamen Ethinyltestosteron er-schien 1938 in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“(Abb. 9), wobei die in den Jahren 1935/36 erfolgten Vorar-beiten der Schering-Chemiker Arthur Serini (1897–1945),Lothar Straßberger (geb. 1902), Josef Kathol (geb. 1899)

und Willy Logemann(geb. 1909) hier aus-drücklich Erwähnungfinden sollen.

Die klinische Prü-fung des Ethinylestra-diols erfolgte an ver-schiedenen Frauen-kliniken des Deut-schen Reiches. In Kö-nigsberg behandelteCarl Clauberg (1898–

1957) acht Patientinnen. Auch an derBerliner Charité soll die Substanz vondem bekannten Frauenarzt Carl Kauf-mann (1900–1980) versuchsweise ein-gesetzt worden sein. Indes kam eswohl überall zu deutlichen Neben-wirkungen wie Blutungen und starkerÜbelkeit, was jedoch nur in einer zeit-genössischen Publikation eine Erwäh-nung fand. Die „Klinische Wochen-schrift“ referierte 1939 einen Vortragdes Würzburger Gynäkologen HerbertBuschbeck, der an der dortigen Frau-enklinik Ethinylestradiol und Ethinyl-testosteron eingesetzt und darüber vorder Physikalisch-Medizinischen Ge-sellschaft der Universitätsstadt berich-tet hatte. Aus dem Referat geht her-vor, dass beispielsweise zum „vollen

Aufbau der Schleimhaut“ 90 Milligramm Ethinylestradiol ap-pliziert wurden, zur Unterbindung der Laktation kamen 24Milligramm innerhalb von vier Tagen zum Einsatz. DieSchlussfolgerung lautete: „Die große perorale Wirksamkeitist sehr erfreulich. Die Gefahren bei unfachmännischemGebrauch sind groß. Schering AG bringen (!) deshalb vor-läufig das Präparat nicht in den Handel.“

Aufgrund der ersten, wenig ermutigend verlaufendenTests erlahmte im Deutschen Reich das Interesse am Ethi-nylestradiol. Hierbei mögen auch der Kriegsbeginn und dieKonkurrenz der leicht darzustellenden, peroral applizier-baren und eine große therapeutische Breite aufweisendenStilbestrole eine Rolle gespielt haben. Als deutliches Defi-

A B B . 7 Verar-beitung vonSchweine-Ova-rien für die Hor-mongewinnung

A B B . 8 Hans Herloff Inhoffen

A B B . 9Zeitschrift „Die Natur-wissenschaften“

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zit der deutschen Prüfungen des Ethinylestradiols fällt auf,dass auf eine exakte Dosisfindung keine Mühe verwendetwurde, obwohl die aus den Tierexperimenten bekannte ho-he orale Wirksamkeit zu einer Dosis-Minimierung hätte an-regen sollen.

Den Weg der Dosisreduktion schlugen erstmals die ar-gentinischen Frauenärzte J.A. Salaber und E.B. del Castilloein, die 1939 über ihre Ergebnisse berichteten. Sie applizier-ten bei drei Patientinnen mit sekundärer Amenorrhöe über24 bis 32 Tage insgesamt 7,4 bis 15 mg des Ethinylestradiols,also bereits deutlich weniger als die Kollegen in Deutsch-land und zudem zeitlich gestreckt. Die Gynäkologen bezo-gen das Hormon bei Quimica Schering S.A., der argentini-schen Tochter des Berliner Un-ternehmens.

Die Untersuchungen fan-den ihre Fortsetzung in denUSA, wo schließlich B.A. Wat-son zu einer Tagesdosis von nur0,15 mg gelangte. Er urteilte:„Aus unserer Erfahrung herauskann man sagen, dass Ethinyle-stradiol ein wirksames und sicheres Medikament zur Be-handlung menopausaler Symp-tome darstellt.“ Ein entspre-chend niedrig dosiertes Ethi-nylestradiol-Präparat stellte dieUS-amerikanische Schering-Nie-derlassung, die nach Kriegsein-tritt der USA enteignet wurde,zur Verfügung.

Erst 1949 kam Ethinylestra-diol dann in der Bundesrepublik in der geringen Dosierungvon 0,02 mg pro Tablette in den Handel. Schering schriebzur Einführung des Progynon C® (Abb. 10) genannten Han-delspräparates, dieses habe „den großen Vorteil, oral vollwirksam, gut verträglich und ganz besonders wirtschaftlichzu sein.“ Indes zeigte sich Hohlweg 1950 dem Ethinyles-tradiol gegenüber noch immer reserviert: „Leider erwies sichder Stoff im Verlauf umfangreicher klinischer Prüfungen alsnicht gut verträglich. Bei 20 bis 30 Prozent der behandel-ten Frauen traten … Übelkeitserscheinungen auf. Das Präpa-rat wurde daher zunächst nicht in die Therapie eingeführt.Während und nach dem Krieg ist es jedoch im Auslandnochmals klinisch geprüft worden und wegen seiner hohenWirksamkeit wird es auch therapeutisch angewandt, ob-gleich seine therapeutische Breite verhältnismäßig geringist.“ Erst 1953 gestand Hohlweg dem Ethinylestradiol eine„große therapeutische Bedeutung“ zu.

Betrachtet man die zeitliche Verzögerung zwischen Ent-deckung und adäquatem Einsatz des Ethinylestradiols, sogilt gerade für diese Substanz die Bemerkung Wolfgang Fro-benius (geb. 1948), die Östrogene hätten einen „Siegeszugmit Hindernissen“ angetreten. Gleichzeitig ist Ethinylestra-diol ein Beispiel für die von Inhoffen betonte „Nicht-Vorher-

sehbarkeit der Wege von der Grundlagenforschung zur An-gewandten Chemie.“ [8]. Schließlich ist die Entdeckung derÖstrogene, der 1931 das Androsteron und 1934 das Proges-teron folgten, ein seltenes Beispiel für eine überaus effizi-ente Kooperation zwischen Universität und pharmazeu-tischer Industrie. Butenandt erhielt – gemeinsam mit deman der ETH Zürich wirkenden Leopold Ruzicka (1887–1976) – den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1939. Für dieSchering AG entwickelte sich mit den Sexualhormonen einStandbein, das spätestens mit dem 1961 eingeführten Ano-vlar®, dem ersten in Europa erhältlichen hormonellen Kon-trazeptivum, zu einer tragenden Säule des Unternehmensheranwachsen sollte.

Zitierte Literatur:[1] F.H. Bidder, A.W. Volkmann: Die

Selbstständigkeit des sympathi-schen Nervensystems durch ana-tomische Untersuchungen nach-gewiesen. Leipzig 1842.

[2] Vgl. W.-D. Müller-Jahncke, C. Frie-drich, U. Meyer: Arzneimittelge-schichte (2004), WVG Stuttgartund P. Dilg: Zur Frühgeschichteder industriellen Insulin-Herstel-lung in Deutschland. Pharmazie inunserer Zeit 30 (2001), 10-15.

[3] Vgl. H.H. Simmer: Organotherapiemit Ovarialpräparaten in der Mitteder neunziger Jahre des 19. Jahr-hunderts – Medizinische und phar-mazeutische Probleme (1991). In:E. Hickel, G. Schröder (Hrsg.):Neue Beiträge zur Arzneimittelge-schichte – Festschrift für Wolf-gang Schneider zum 70. Geburts-tag. WVG Stuttgart, 229-265.

[4] Scheringianum (Hrsg.).: Aus einem Jahrhundert Schering-ForschungPharma. Berlin 1991, 21-24.

[5] Vgl. z.B. E. Hintsches: Adolf Butenandt – ein Leben für die Wissen-schaft. Universitas 38 (1983), 687-697.

[6] Zitiert nach P. Karlson: Adolf Butenandt – Biochemiker, Hormonfor-scher, Wissenschaftspolitiker (1990). WVG Stuttgart, 38.

[7] Zitiert nach Karlson (wie 6), 39.[8] Vgl. die überaus lesenswerte Schrift von W. Frobenius: Ein Siegeszug

mit Hindernissen – Zur Geschichte der vor 50 Jahren bei Schering inBerlin entdeckten Keimdrüsenhormonderivate Ethinylestradiol undEthinyltestosteron. Berlin 1989. Der Schrift wurden zahlreiche Zitateentnommen.

Der AutorDr. Ulrich Meyer (geb. 1965); Studium der Pharma-zie an der Freien Universität Berlin; 1993 Approbati-on als Apotheker, 1993-1996 wissenschaftlicherMitarbeiter der WALA-Heilmittel GmbH Eckwälden/Bad Boll; 1996-1999 wissenschaftlicher Mitarbeiteram Institut für Pharmazie der Universität Greifs-wald; Promotion bei Prof. Dr. Christoph Friedrich;seit März 2000 Leitung des Außendienstes, seit Juli2002 Leitung des Ressorts Wissenschaft der WALA-Heilmittel GmbH; seit Sommersemester 2001 Lehrauftrag für Geschichte der Pharmazie an derUniversität Heidelberg

AnschriftDr. Ulrich Meyer, Ackerstr. 13, 10115 Berlin

A B B . 1 0 1949war die Markt-einführung von Progynon C®

in Deutschland