die spannung zwischen organischem und nicht-organischem bei deleuze, guattari und simondon
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Magisterarbeit, eingereicht am Institut für Philosophie der Universität Leipzig im Wintersemester 2012-2013.TRANSCRIPT
Universitat LeipzigInstitut fur Philosophie
Wissenschaftliche Abschlussarbeit zur Erlangung desakademischen Grades ”Magister Artium”
Die Spannung zwischen Organischem undNicht-Organischem bei Deleuze, Guattari
und Simondon
Charlotte KnipsFrohburgerstr. 40
04277 Leipzig
Matrikelnummer: 11871951. Hauptfach: Philosophie2. Hauptfach: Physik
Betreuung und Gutachten: Prof. Dr. Ulrich Johannes SchneiderDr. Christian Schmidt
Leipzig, 17. Dezember 2012
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 1Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
I Simondons Philosophie der Ontogenese 41 Simondon und das Problem der Individuierung . . . . . . . . . . . 42 Begründung einer neuen Methode und Logik . . . . . . . . . . . . 53 Physikalische und technische Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . 10
Technische Paradigmen: Hylemorphismus und Nachrichten-technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Der Kristall als Paradigma für die Individuierung . . . . . . . . 164 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen . 17
Physikalische und biologische Individuierung . . . . . . . . . . 17Das Lebendige und das Problem, Individuierung als Lösung . . 21Topologie des Kristalls, Topologie des Organismus . . . . . . . . 25
II „La cinématique de l’œuf“ 29Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie . . . . . . . 29Problem und Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Die Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 32Singularität, Struktur und Determiniertheit . . . . . . . . . . . . 34Differentierung, Integration und Differen z
t ierung . . . . . . . . 362 Individuierung als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Das intensive Feld der Individuierung und die Disparation . . . 38Resonanz und Dispars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
3 Embryogenese und Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46Ei, Drama und Larvensubjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Embryogenese, Epigenese und Präformismus . . . . . . . . . . . 49Differenzierung und Strukturalismus in der Biologie . . . . . . . 51Die Komplexität in biologischen Systemen . . . . . . . . . . . . 53
III Der Organismus und das Nicht-Organische 56Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Das Rhizom als Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Der glatte und der gekerbte Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Konsistenz- oder Immanenzebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2 Die Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68„Les deux plans“ oder Konsistenzebene und Bauplan . . . . . . 69
Von Simondon zur Geologie – Die Stratifizierung . . . . . . . . . 72Der Körper ohne Organe als Bild des Nicht-Organisierten . . . . 80
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität . . . . . 84Weder Struktur noch Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85Kritik des klassischen Maschinenbegriffs: Autopoietische Ma-
schinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Die abstrakte Maschine und das maschinische Gefüge . . . . . . 89Auf der Mechanosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Der „Platz des Lebens“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Konklusion und Ausblick 102
Literaturverzeichnis 104
Einleitung
Wie konstituieren sich Lebewesen – als Individuen, als Organismen – und wie
werden sie vom Unbelebten abgegrenzt? Ist ein Lebewesen notwendigerweise
auch ein Organismus?
Diese Fragen gehören zum Bereich der Biologie – so sieht es zunächst einmal
aus. Der Organismus und das Lebende sind, nach der Schuldefinition, Gegen-
stände der „Wissenschaft vom Leben“.
Bei genauerem Hinsehen gibt es Grauzonen und Mischfälle. Ist ein Virus
lebendig, obwohl er kein eigenes Reproduktionssystem hat? Ist ein Compu-
terprogramm lebendig, nur weil es sich selbst spontan und indeterministisch
reproduzieren kann? In Ermangelung einer vollständigen und eindeutigen Lis-
te mit Merkmalen und Kriterien, die ein System erfüllen muss, um als lebendig
zu gelten, verwischen sich nicht nur die Grenzen der Lebewesen, physikali-
schen Dinge und der Artefakte, sondern auch die Grenzen der Biologie, der
Physik, der Chemie und der Ingenieurwissenschaften. Disziplinen wie die
Molekularbiologie oder die Selbstorganisationstheorie mit ihrem Unterbereich
des Artificial Life überschreiten so diese ehemals fest gezogenen Grenzen.
Die drei Denker, deren Positionen Gegenstand dieser Arbeit sind, haben sich
alle immer wieder mit den Gegenständen der Mathematik und der Natur- und
Ingenieurwissenschaften ihrer Zeit befasst, insbesondere mit dem Übergangs-
bereich zwischen ihnen.
Gilbert Simondon ist in Deutschland noch nahezu unbekannt und war auch in
Frankreich lange eine Randfigur mit Ausnahme der Aufmerksamkeit, die De-
leuze und Guattari ihm schon seit den 1960er Jahren in ihren Werken gewidmet
haben. Simondon ist stark von der Kybernetik und der Informationstheorie
der 1950er und 60er Jahre beeinflusst, hier vor allem sein Hauptwerk Du moded’existence des objets techniques.1 Sein zweites Hauptwerk L’individuation à la
1Erschienen 1958.
2 Einleitung
lumière des notions de forme et d’information2 ist dagegen der Frage nach der
Individuierung – zunächst von physikalischen Dingen, dann von lebendigen
Wesen und schließlich von psychologischen und intersubjektiven Phänomenen
– gewidmet. Die Besonderheit an Simondons Philosophie der Ontogenese ist
dabei der kontinuierliche Übergang zwischen diesen Bereichen.
Der erste Teil dieses Werkes, L’individu et sa genèse physico biologique3 hat durch
Deleuze große Beachtung erfahren und Elemente von Simondons Denken tau-
chen immer wieder in seinen Schriften auf. Deleuze selbst hat sich immer
wieder für die Interferenzen von Philosophie, Kunst, Mathematik und Natur-
wissenschaften interessiert und ihre Konzepte als Inspirationsquellen für seine
Philosophie genutzt. So trifft in seiner Philosophie der Ontogenese Bergsons
Virtuelles mit Riemanns Manngifaltigkeiten zusammen, um seinen von Kant
inspirierten transzendentalen Empirismus zu begründen. War Deleuze in seinen
Schriften der 1960er Jahre noch dem Strukturalismus in gewisser Hinsicht zu-
geneigt, änderte sich dies durch die Zusammenarbeit mit Félix Guattari. Im
gemeinsamen Werk der beiden nimmt das Konzept der Maschine einen zentra-
len Platz ein – zunächst mit der Wunschmaschine in Anti-Œudipus4, dann mit
der abstrakten Maschine und dem maschinischen Gefüge in Mille Plateaux.
Im Zuge dieses universellen Maschinismus verschiebt sich die Frage von der nach
dem Übergang von physikalischen und lebendigen Systemen zu der Frage nach
der Möglichkeit eines nicht-organischen Lebens, oder vielleicht sogar zu der des
Vorrangs des Nicht-Organischen vor dem Organisierten.
Aufbau der Arbeit
Das erste Kapitel ist Simondons L’individu et sa genèse physico-biologique gewid-
met, genauer der Beschreibung der Individuierung von technischen, physikali-
schen und lebendigen Individuen. Im zweiten Kapitel wird Deleuzes Theorie
der Individuierung als Aktualisierung eines Virtuellen diskutiert, wobei die
Betonung besonders auf den biologischen Aspekten und Simondons Einflüssen
liegt.
Im dritten Kapitel sollen dann Verbindungen, sowohl von Simondons Philo-
sophie der Ontogenese, insbesondere seiner Kritik des hylemorphistischen
2Vollständig erst 2005 erschienen.3Erschienen 1968, im weiteren Verlauf mit „IGP“ abgekürzt. Für weitere Abkürzungen s.
Literaturverzeichnis.41972 erschienen.
Einleitung 3
Modells, als auch von Deleuzes Schriften der 1960er Jahre zur Zusammenarbeit
mit Félix Guattari aufgezeigt werden, um schließlich die Frage nach dem Ver-
hältnis vom Lebendigen zum Organisierten zu beantworten. Hier werden auch
Guattaris Schriften – Bücher und Sammlungen von Artikeln – zur Maschine
miteinbezogen. Insgesamt wird versucht, Bezüge zur Mathematik und zu den
Naturwissenschaften herauszustellen.
Kapitel I
Simondons Philosophie der
Ontogenese
1 Einleitung: Simondon und das Problem der Indi-
viduierung
„Peu de livres, en tout cas, font autant sentir à quel point un philosophe
peut à la fois prendre son inspiration dans l’actualité de la science, et
pourtant rejoindre les grands problèmes classiques en les transformant, en
les renouvelant.“1
Gilbert Simondon (1924-1989) ist in Deutschland noch nahezu unbekannt. Das
als sein Hauptwerk betrachtete Du mode de l’existence des objets techniques wurde
erst kürzlich ins Deutsche übersetzt2. Von seinen übrigen Werken liegen noch
keine vollständigen Übersetzungen vor. Auch die Forschung in Frankreich
zeigt erst seit den 1990er Jahren großes Interesse an diesem Denker, bis dahin
„figure marginale“3 und hauptsächlich als Technikphilosoph bekannt. Den-
noch ist Simondons Denken für Deleuze bzw. für Deleuze und Guattari von
großer Bedeutung. Anne Sauvagnargues geht sogar so weit zu sagen, dass man
Différence et répétition nicht verstehen könne, ohne Simondons Philosophie sehr
aufmerksam zu studieren4. In Deleuzes Werken der 1960er Jahre, wie auch in
Mille Plateaux finden sich vor allem Verweise auf Simondons L’individu et sa
1Deleuzes Rezension zu L’individu et sa genèse physico-biologique, in L’île déserte et autres textes(1953-1974), herausgegeben von David Lapoujade, Minuit, Paris, 2002 , S.120-124, S. 124.
2Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Diaphanes, 2012.3Sauvagnargues 2010, S.2424Ebd.
2 Begründung einer neuen Methode und Logik 5
genèse physico-biologique 5. Veröffentlicht 1964, stellt dieses Werk nur einen Teil
von Simondons gesamter Dissertation dar, die vollständig erst 2005 unter dem
Titel L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information6 erschien. Es
war daher dieser Teil, der Deleuze und Guattari stark beeinflusst hat und daher
auch hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen soll.
Sich abwendend von einer Logik der Einheit und der Identität, verändert Si-
mondon das klassische Begriffs- und Kategoriensystem von Grund auf und
begründet durch Anleihen bei Biologie, Physik, Informationstheorie und Ky-
bernetik seine eigene Terminologie. Das Ziel von L’individu et sa genèse physico-biologique sei, das Werden von Individuen neu zu denken, und zwar auf den
drei Niveaus physisch, vital und psycho-sozial 7. Hierbei liegt der Fokus auf
dem Prozess statt auf dem Ergebnis, auf dem Intermediären, dem metastabilen
Bereich statt auf stabilen und unveränderlichen Substanzen. Die hylemorphisti-
sche Dyade Materie-Form wird aufgebrochen und ergänzt, so dass Disparität,
Singularität und Information, wie auch die Transduktion, ein Prozess des Wer-
dens, der dem System immanent, sich von Bereich zu Bereich fortpflanzend
abläuft, zu Schlüsselbegriffen werden.
Mit diesem Begriffssystem untersucht Simondon die Formationsprozesse von
Kristallen, Einzellern oder Viren bis hin zu komplexeren Organismen.
Diese Vorgehensweise impliziert eine gewisse Kontinuität zwischen den unter-
suchten Phänomenen. Simondon nimmt nur eine Seinsweise für physikalische
und lebende Individuen an. Er verfällt dennoch nicht in einen Reduktionismus
des Lebendigen auf das Physikalische, da er das physikalische Paradigma des
Kristalls zum Lebendigen in entscheidenden Punkten weiterentwickelt und
qualitative Unterschiede zwischen den jeweiligen Individuierungsprozessen
einräumt.
2 Begründung einer neuen Methode und Logik
Simondons Projekt bricht in Bezug auf Logik und Ontologie mit der Tradition.
Sowohl der aristotelische Hylemorphismus und der Atomismus als auch die
hegelsche Dialektik sind Ziel seiner Kritik. Den traditionellen Modellen wirft er
Unvollständigkeit vor; wo der Atomismus die Problematik in die elementaren
5Im weiteren Verlauf als IGP zitiert6Gilbert Simondon, L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information, Suppléments
Millon, Grenoble, 2005.7(IGP 16).
6 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
Bausteine der Materie verlege und diese einfach als bereits individuiert anneh-
me8, sei der Hylemorphismus außer Stande, die Individuierung vollständig
mit den Konzepten von Form und Materie zu erklären, da diese immer vor der
realen Individuierung als bloße Abstraktion betrachtet würden.9.
In jedem Falle könne mit den traditionellen Methoden allenfalls ein Teil der
Realität als „verarmtes Seiendes“10 gedacht werden, das immer schon fertige
Individuum. Ausgehend von Prinzipien wie dem der Identität oder vom ausge-
schlossenen Dritten sei es unmöglich, den präindividuellen Seinsbereich oder,
in Simondons Terminologie, die präindividuelle Phase des Seins zu beschreiben.
Simondon situiert seine Untersuchung daher vor jeder Logik und Ontologie:
„[L]’être individuel, principe de la notion de substance, doit être considéré
à travers l’individuation, opération qui le fonde et l’amène à l’être; l’étude
de l’ontogenèse doit être antérieure à la logique et à l’ontologie.“ (IGP
275-6)
Um das Individuum von seinem Entstehungsprozess her zu fassen, seien die
herkömmlichen Identitätskriterien nicht mehr hilfreich. Wie einem optischen In-
strument mit zu geringem Auflösungsvermögen, entgehe ihnen das Wesentliche
an Simondons Modell. Inspiriert von Quantenfeldtheorie und Kristallwachs-
tum – ein Phänomen, das später zum Paradigma für Individuierung überhaupt
wird – postuliert er die Mehrphasigkeit des Seins: es sei „mehr als Einheit undmehr als Identität„.11 So reichert er den präindividuellen Bereich an, um den
Entstehungsprozess immanent, von seinen Bedingungen her, beschreiben zu
können. In dieser Dynamik spielt die Relation eine wichtige Rolle und so ist
eines der – oder das Grundpostulat von Simondons Theorie:
„[C]onsidérer toute véritable relation comme ayant rang d’être“. (IGP 17)
Das mehrphasige Seiende steht zu sich selbst in Relation. Diese wird später
über das physikalische Paradigma als „interne Resonanz“ bezeichnet und ist es-
senziell für den Prozess der Individuierung. Die klassische Logik übersehe den
intermediären Bereich und könne nur die Extreme fassen; auf der einen Seite die
abstrakte Idee eines Individuums, das als ideelle Form zu einer völlig formlosen
Materie kommt, und auf der anderen das abgeschlossene, „verarmte“, von dem
Milieu, aus dem es entstand, abgetrennte Individuum.8Vgl. IGP 101.9Vgl. IGP 3, mehr zur Hylemorphismuskritik im nächsten Abschnitt.
10Ein „être appauvri“ (IGP 17).11„Plus qu’unité et plus qu’identité“ (IGP 7).
2 Begründung einer neuen Methode und Logik 7
Wie genau ist der Individuierungsprozess nach Simondon zu denken, wie läuft
er ab? Und wie kann die Einheit eines Individuums garantiert werden, das ein
komplexes, mehrphasiges Seiendes ist? An die Stelle der Einheit der Identität
tritt die transduktive Einheit. Im Gegensatz zur Einheit der stabilen, einfachen
Substanzen beschreibt die Transduktion einen Prozess in einem heterogenen,
sich im metastabilen Gleichgewicht befindlichen System.
„[C]e n’est pas d’une substance mais d’un système qu’il y a individuation.“
(IGP 123)
Auch wenn der Begriff der Transduktion in der Genetik bereits verwendet wird,
definiert Simondon ihn auf seine Art neu.
„Nous entendons par transduction une opération physique, biologique, so-
ciale, par laquelle une activité se propage de proche en proche à l’intérieur
d’un domaine, en fondant cette propagation sur une structuration du do-
maine opérée de place en place: chaque région de structure constituée sert
à la région suivante de principe de constitution.“ (IGP18)
Das beste und einfachste Beispiel für die Transduktion im simondonschen Sinn
ist das Wachstum eines Kristalls aus einem Keim in einer übersättigten Lö-
sung; allgemeiner gefasst ein Übergang von einer Struktur zu einer anderen,
begünstigt durch eine Spannung, d. h. eine potenzielle Energie. Die Rolle, die
physikalische Konzepte bei dieser Operation spielen wird in Abschnitt 3 dieses
Kapitels genauer diskutiert werden.
Als „mentales Vorgehen“ und Vorgehensweise im entdeckenden Geist, die
darin besteht, „dem Seienden in seiner Genese zu folgen“12 stellt Simondon die
Transduktion der Dialektik gegenüber. Der entscheidende Unterschied liegt
in der Rolle des Negativen. Während in der Dialektik das Negative sozusa-
gen getrennt, sukzessiv in eine zweite Etappe ausgelagert wird, liegt es bei
der Transduktion „sous forme ambivalente de tension et d’incompatibilité“
immanent in der Bedingung des Prozesses vor (IGP 20). Die Etappen – oder
besser Phasen – sind simultan statt sukzessiv.13 Dieses Negative, als Spannung
zwischen Disparaten, als Problematisches, ist somit zugleich Bedingung der
transduktiven Lösung eben dieses Problems. Ursprung und Bild der Disparati-on entnimmt Simondon aus der Psycho-Physiologie der Wahrnehmung. Dort
bezeichnet Disparation den Unterschied der Bilder des linken und rechten Au-
ges. Unvereinbar miteinander im Zweidimensionalen, da aus verschiedenen12Ein „procédé mental“ und „démarche qui consiste à suivre l’être dans sa genèse“ (IGP 20).13Vgl. IGP 278.
8 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
Blickwinkeln aufgenommen, werden sie im Wahrnehmungsprozess so zusam-
mengeführt, dass eine „einzige Gesamtheit von höherem Grad“14 entsteht – das
dreidimensionale Bild als Lösung des Problems der Wahrnehmung.
Hierin sieht Simondon auch den Unterschied zwischen Transduktion auf der
einen, Induktion und Deduktion auf der anderen Seite. Während die Deduktion
ein dem problematischen Sachverhalt äußerliches, allgemeines Prinzip zusätz-
lich annehmen muss, kann die Induktion nicht die Realität des problematischen
Sachverhalts verlassen, da sie nur das Positive, das allen Termen Gemeinsame
einbezieht. Die Transduktion dagegen entnimmt die Problem-lösende Struktur
selbst aus den Spannungen des problematischen Bereichs und kann, indem sie
diese Disparationen, diese Unterschiede berücksichtigt daraus etwas genuin
Neues erhalten.15
Ganz allgemein gefasst ist die Transduktion der Übergang zwischen verschiede-
nen Phasen des Seins und wird in Simondons Methode die zentrale Operation,
die den Übergang von unterschiedlichen Niveaus der Individuierung als Pa-
radigma leiten. Die Theorie solcher Phasenübergänge allgemein bezeichnet
Simondon als allagmatique. Dies ist ein Neologismus, der vom griechischen
allatein, „sich wandeln, verändern“ abgeleitet ist.
In L’individu et sa genèse physico-biologique charakterisiert Simondon eine al-
lagmatische Theorie als „eine allgemeine Theorie des Austauschs und der
Zustandsänderung“.16 In einem kurzen Text Analyse des critères de l’individualitébeschreibt Simondon solche Zustandsänderungen, in denen die Genese des
Individuums besteht, genauer als „eine Art von Realitäts-Transfert, eine andere
Verteilung von Materie und Energie“.17 Dabei stehen Anfangs-und Endzustand
nicht im Verhältnis von Ursache und Wirkung sondern ersterer sei das „voraus-gehende Äquivalent“18 von letzterem. Abstrakte methodische Betrachtungen zur
Allagmatik finden sich in L’allagmatique.19 Dort schreibt Simondon:
„L’allagmatique est la théorie des opérations.“ 20
14„Un ensemble unique de degré supérieur“ (IGP 223, Fußnote).15Diese Auffassung vom Problem, das gleichzeitig auch Feld der Lösung ist, wird sich in
Différence et répétition wiederfinden. Dies wird im folgenden Kapitel diskutiert werden.16„[U]ne théorie générale des échanges et des modifications des états“ (IGP 287).17„[U]ne sorte de transfert de réalité, une autre répartition de matière et d’énergie“. aus Ana-
lyse des critères de l’individualité, in L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information(op. cit.), S. 558.
18„[E]quivalent antérieur“, ebd.19Ebenfalls einem der Anhänge zur Gesamtausgabe von L’individuation à la lumière des notions
de forme et d’information (op. cit.).20Ebd. S.559.
2 Begründung einer neuen Methode und Logik 9
Dass die Transduktion ein Übergang von einer Struktur zu einer anderen ist
wurde bereits gesagt, ganz allgemein definiert Simondon eine Operation wie
folgt:
„L’opération est ce qui fait apparaître une structure ou qui modifie une
structure. L’opération est le complément ontologique de la structure et la
structure est le complément ontologique de l’opération.“21
Also befasst sich die Allagmatik mit Strukturtransformationen und deren Ver-
hältnis zueinander. Da die Genese des Individuums über solche Transforma-
tionen begriffen werden muss, ist die Allagmatik somit auch das Studium des
individuierten Wesens.
In L’individu et sa genèse physico-biologique bezeichnet Simondon seine Methode
als „analogistischen Paradigmatismus“ (IGP 20).22 Mit Hilfe von Paradigmen
und analogistischen Verbindungen zu anderen Operationen will die Allagmatik
das Werden, d. h. den Zusammenhang von Strukturen und Operationen im
Seienden, verstehen. Damit ein Schema zu einem Paradigma wird, muss es
eine analogistische Relation im folgenden Sinn herstellen:
„L’acte analogique est la mise en relation de deux opérations, directement
ou à travers des structures.“23
Eine Analogie vergleicht Operationen oder bringt genauer gesagt Identitäten
zwischen operationalen Verhältnissen zum Vorschein, während im Gegensatz
dazu die Relation der bloßen Ähnlichkeit sich mit Identitäten zwischen struktu-
rellen Verhältnissen befasst.24 Die Allagmatik will zur ersten Art gehören. Ihr
Programm „zielt darauf ab, eine universelle Kybernetik zu sein“25, Dies wäre
eine Wissenschaft, deren Methode analogistischen Anwendung von Paradigmen
wie dem Kristallwachstum und der Informationstheorie auf die verschiedenen
Bereiche der Individuierung. Das bedeutet, die verschiedenen Systeme nach
den Prozessen und Operationen, die sie ausführen, nicht nach deren Strukturen,
in Zusammenhang zu stellen und so auch der Individuierung des Lebendigen
oder des psycho-sozialen auf den Grund zu gehen. Inwieweit diese Metho-
21Ebd.22Hier übersetze ich „analogique“ nicht im üblichen Wortsinn mit „analog“, sondern mit
„analogistsich“, um den methodischen Aspekt Hervorzuheben – nicht der Paradigmatismus istanalog zu etwas, sondern es handelt sich um eine Methode, die Paradigmen und Analogienverwendet.
23Ebd. S.561.24Vgl. ebd. S.563.25Im Original „vise à être une cybernétique universelle“, ebd.
10 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
de Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit der gewöhnlichen Kybernetik hat,
wird in in Abschnitt II.3 zu Simondons Kybernetik-Kritik noch erläutert werden.
3 Physikalische und technische Paradigmen
Technische Paradigmen: Hylemorphismus und Nachrichten-
technik
Das erste Kapitel von L’individu et sa genèse physico-biologique ist der Hyle-
morphismuskritik gewidmet. Simondon zeigt, dass der Hylemorphismus in
seiner elementarsten Form weder die Ontogenese allgemein, noch die „einfa-
che“ Entstehung eines Ziegels aus Ton und einer abstrakten Form im Speziellen,
vollständig erklären kann. Wie oben bereits erwähnt, fehlen entscheidende
Konzepte zu ihrer Vollständigkeit: die Relation und der intermediäre Bereich.
So ist der einfache Hylemorphismus ein Beispiel für die oben bereits erwähnten
Methoden, die nur die Extreme betrachten. In diesem Falle sind die „termes
extrèmes“ die völlig form- und energielose Materie und die bloß abstrakte
Form. In Simondons Ergänzung wird daher der herkömmliche Hylemorphis-
mus durch ein komplexeres Schema ersetzt, bestehend aus zwei „Halb-Ketten“
und und ihrer „Vermittlung“ – zwei Extreme und ihre Relation als entscheiden-
der dritter Term. Das folgende Schema soll dies veranschaulichen.26
Abstrakte FormA! Form (le moule)
Kra f te ! Formbare Materie B Rohmaterial
makroskopisch mikroskopisch
In diesem Schema sind die beiden „Halb-Ketten“ durch die einfachen Pfeile
(A und B) gekennzeichnet. Sie beschreiben den Übergang von den äußersten
Termen des Modells zu vermittelbaren, einander angenäherten Termen. Abezeichnet die Transformation der abstrakten oder ideellen Form, vom rein
geometrischen Parallelepiped zur materiellen, zur Anwendung bereitstehen-
den Form (le moule), die ausgegossen oder dem Material aufgedrückt werden
kann.27 Dies ist der Teil von makroskopischer Größenordnung.
Auf der anderen Seite bezeichnet B die Transformation vom Rohmaterial, wie
es in der Natur vorkommt zur homogenen Tonmasse, die bereit ist, die beab-
26Im Original „médiation“, vgl. dazu IGP 29-39.27Hier ist die Ausdrucksweise im Deutschen umständlicher als im Französischen, da das
deutsche „die Form“ sowohl „le moule“ (diese materielle Form), als auch „la forme“ (dieabstrakte Form) bedeuten kann.
3 Physikalische und technische Paradigmen 11
sichtigte Form anzunehmen. Hier liegt nun ein fundamentaler Unterschied
zum klassischen Verständnis von Materie: von einer „passiv deformierbaren“
zu einer „aktiv plastischen“ Materie. Die Form-„gebung“ ist demnach nur
auf Grund der mikroskopischen Eigenschaft der Kohäsion, verursacht durch
Anziehungskräfte zwischen den Molekülen des Lehms oder Tons, möglich. Die
potenzielle Energie, die zur Aktualisierung der Form benötigt wird, liegt in der
Materie.
Daher ist die Vermittlung zwischen den beiden Halb-Ketten durch einen Dop-
pelpfeil symbolisiert. Dieser deutet auf die Wechselwirkung zwischen Form
und Geformtem hin. Beide Terme tragen bestimmende Kräfte zur Formgebung
bei. Während die Form (moule) Kräfte ausübt, die zu einer Berandung, der
Bildung einer Oberfläche führen, wird durch die Kohäsion des Materials ge-
währleistet, dass diese Kräfte sich von Molekül zu Molekül fortpflanzen, „in
der ganzen Masse widerhallen“.28
Dieses Bild ist das eines Signals bzw. einer Welle, die sich durch Streuung
(Reflexion oder Refraktion) in einem System fortpflanzt. Passen Frequenz der
Welle und Eigenfrequenz des Materials zueinander, geht das System in einen
neuen Zustand über, den der Resonanz. Simondon definiert diese wie folgt:
„[L]a résonance est échange d’énergie et de mouvements dans une encein-
te déterminée, communication entre une matière microphysique et une
énergie macrophysique à partir d’une singularité de dimension moyenne,
topologiquement définie.“ (IGP39)
Auf den oben beschriebenen Formgebungs-Prozess angewendet, entspricht die
Form (moule) und die von ihr ausgeübte Kraft der makroskopischen Energie,
die Kohäsionskraft der Lehmmoleküle der mikroskopischen Materie, während
es sich bei der topologisch definierte Singularität – d. h. einer Diskontinuität –
um die Berandung handelt. Es geht also nicht nur um die Zusammenführung
von zwei unterschiedlichen Entitäten (Form und Materie) sondern auch um die
Vermittlung zwischen verschiedenen Größenordnungen, d. h. die Herstellung
einer „dimensionellen Kongruenz der beiden Enden der Kette“.29
Hier findet sich das oben besprochene Bild der Disparation wieder: Es wird
beschrieben, wie zwei heterogene und vorerst unvereinbare Bereiche in einer
neuen Ebene zusammengebracht werden können.30 Im Fall des hylemorphis-
tischen Modells ist dieses entscheidende Element und Schlüsselkonzept zur28„[S]e réverbère[nt] dans toute la masse“ (IGP 37).29„[C]ongruence dimensionnelle des deux bouts de la chaîne“ (IGP34).30Vgl. IGP 29.
12 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
Individuierung die Energie, die implizit schon in beiden Größenordnungen
enthalten war, jedoch erst durch die Individuierung im Zustand der Resonanz
manifest wird. Der hylemorphistische Dualismus von Form und Materie wird
zur „Triade Matiere-Form-Energie“ (IGP46) ergänzt. Um zu verdeutlichen, dass
dieser Formgebungsprozess nichts Äußerliches an sich hat – „die Form wirkt
nicht von außen“31 – spricht Simondon meist von der internen Resonanz.
Wie beim physikalischen Phänomen der Resonanz müssen zwischen den beiden
Systemen energetische und strukturelle Bedingungen erfüllt sein. Diese der
Materie inhärenten Strukturen nennt Simondon eccéités, Haecceitäten. Eine tech-
nische Formgebung muss diese Vorstrukturierung berücksichtigen, da diese,
wie schon am Beispiel der Kohäsion des Lehms gesehen, die Formbarkeit der
Materie bestimmt.
„[L]a prise de forme technique n’est pas une genèse absolue d’eccéité;
l’eccéité de l’objet technique est précédée et soutenue par plusieurs niveaux
d’eccéité naturelle qu’elle systématise, révèle, explicite, et qui commodu-
lent l’opération de prise de forme.“ (IGP 58)
Während die Form (moule) nicht einfach nach Belieben eine amorphe Materie
modelliert, sondern bestehende Strukturen moduliert (IGP 32), spielen die Haec-
ceitäten eine ebenso aktive Rolle, indem sie komodulieren. Statt aktiver Form und
passiver Materie entsteht eine Kommunikation zwischen den beiden, gewisser-
maßen ein Dialog aus Modulation und Komodulation. Hier wird das klassische
Bild des Ziegels durch die des Modulators als technisches Gerät (Triode, Relais,
Transistor), das zentral für die Nachrichten- und Informationstechnologie war
und ist, erweitert.
Das von Simondon verwendete Beispiel der Triode dient als Weiterentwicklung
der Form (moule). Die Triode ist eine Elektronenröhre, in der ein zwischen
Anode und Kathode befindliches, relativ zur Kathode negativ gepoltes Gitter
den Elektronenstrahl beeinflusst indem es als variable Potentialbarriere die
Elektronen zu einem gewissen Grad am Durchlaufen hindert. So kann dem
Elektronenstrahl in Form von Intensitätsvariationen eine Information „aufmo-
duliert“ werden. Hier entspricht der Elektronenstrahl der „Materie“ und die
Spannung zwischen Gitter und Kathode der (abstrakten) „Form“. Die Modu-lation verändert kontinuierlich und in sehr kurzen Zeiträumen ein im Fluss
befindliches Medium. So wird die feste, zeitlich nicht veränderliche Form, wie
sie am Ziegel deutlich wurde, zum Informationsfluss.31„[L]e moule n’agit pas du dehors"(IGP 37).
3 Physikalische und technische Paradigmen 13
Ganz allgemein definiert Simondon die Modulation wie folgt:
„[L]a modulation est la transformation d’une énergie en structure (. . . ).
Dans ce cas, la structure est un signal.“32
Die Energie (Elektronenfluss, beschleunigt zwischen Kathode und Anode) wird
zu einer Struktur (Signal) indem ihr durch Variationen der Gitterspannung eine
Information aufmoduliert wird. Zu den fundamentalen Eigenschaften eines
Modulators gehört der Aspekt der Verstärkung. Die potentielle Energie oder
“zu modulierende Energie“ ist im Vergleich zur „modulierende Information
(. . . ) getragen von einer sehr kleinen Energie“33 sehr groß. So wird das kleine
Signal der Gitterspannung durch die Kathodenspannung verstärkt. Daher ist
der Modulator Schema/Paradigma für die Vermittlung zwischen disparaten
Größenordnungen:
„[L]e modulateur est amplificateur sans itération ou processus de multipli-
cation parce qu’il met en jeu un rapport entre termes extrèmes d’une série
énergétique incidente et d’une série locale, en réalisant dans un espace
privilégié une équivalence entre ces termes extrêmes.“34
Das Ausgangssignal wird so als vermittelt zwischen der einfallenden Reihe und
der lokalen Reihe interpretiert als etwas Neues, eine noch nicht dagewesene
Zusammenführung von einer unstrukturierten großen Eingangsenergie und
einer strukturierten, aber an sich zur Übertragung zu schwachen Information.
Ergebnis und Grenzen des technischen Paradigmas
Wie bereits in der Einleitung angekündigt, hat die Hylemorphismuskritik das
Begriffssystem stark verändert:
„Aux notions de substance, de forme, de matière, se substituent des noti-
ons plus fondamentales d’information première, de résonance interne, de
potentiel énergétique, d’ordres de grandeur.“ (IGP17)
Anders betrachtet ist die oben angesprochene Triade Materie-Form-Energie be-
stehend aus zwei disparaten Größenordnungen, die molekulare und die ma-
kroskopische, und ihrer Vermittlung. Sie ist „eine Realität, die einer möglichen
Individuierung den Rahmen setzt“ indem sie durch die Information vermittelt32L’Allagmatique, S. 561.33Im Original „énergie à moduler“ und „information modulante (. . . ) portée par une énergie
très faible“, in Perception et Modulation, S. 191.34„L’amplification dans les processus d’information“ (1962), S.157-176, S. 166.
14 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
bzw. „Kommunikation zwischen Größenordnungen“ herstellt.35 In diesem
letzten Term besteht die Realität der Relation (IGP69), das bereits mehrmals
angesprochene fundamentale Postulat von Simondons Ontologie.
Im intermediären Bereich entsteht eine „zone (. . . ) des singularités qui sont
l’amorce de l’individu dans l’opération d’individuation“ (IGP64). In diesem
Realitätsbereich, durch den und in dem der Individuierungsprozess nur seinen
Anfang nehmen kann, muss sich auch das Prinzip der Individuierung befin-
den: bei den Diskontinuitäten, Grenzen, (Phasen-)Übergängen „jouant un rôle
d’information active“ (IGP65). „Amorce“ bedeutet soviel wie Zünder, was auf
den Aspekt der Verstärkung hinweist. Dies wird am Beispiel der Kristallisation
noch besser deutlich werden. Ein Prozess, der mit Hilfe einer allagmatischen
Theorie (im oben besprochenen Sinn) beschrieben werden muss:
„ [L]a prise de forme ne peut s’éffectuer que si matière et forme sont réu-
nies en un seul système par une condition énergétique de métastabilité.
Cette condition, nous l’avons nommé résonance interne du système, in-
stituant une relation allagmatique au cours de l’actualisation de l’énergie
potentielle.“ (IGP 67)
Schon das auf technische Geräte begrenzte Paradigma zeigt, welche Kondi-
tionen eine „wirkliche“ Individuierung erfüllen muss: ein System, in einem
metastabilen Zustand. Ein im metastabilen Gleichgewicht befindliches System
kann durch Störungen mit relativ kleiner Energie seinen Zustand ändern und
birgt im Gegensatz zum stabilen System noch potentielle Energie, die durch
die Störung freigesetzt werden kann.36 So kann ein passender, aber relativ
kleiner „Zünder“ der Individuierung es in Resonanz versetzten und so zu einer
Zustandsänderung (allagmatische Relation zwischen den Zuständen) bringen.
Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob das technische Paradigma ausreicht, um
die Individuierung allgemein zu erklären. Das obige Ergebnis, insbesondere
die Betonung auf das metastabile Gleichgewicht deutet bereits an, dass eine
Betrachtung von Phasenübergängen in physikalischen Systemen diesem Prinzip
noch besser gerecht werden kann.
Das liegt zunächst daran, dass die technische Individuierung zeitlich begrenzt
ist und den über eine gewisse Lebensdauer aufrecht erhaltenen Zustand der
35„[R]éalité encadrant une individuation possible“ und „communication entre ordres degrandeurs, singularité“, IGP 103.
36Im Gegensatz hierzu ist das stabile Gleichgewicht auch gegen große Störungen stabil undder labile Zustand ändert sich bereits durch infinitesimale Störungen.
3 Physikalische und technische Paradigmen 15
inneren Resonanz nicht erklären kann. Simondon unterscheidet hier zwischen
verschiedenen Arten von Individuen: einem bloßen „individuiertem Seiendem“
und einem „realen“ oder „wahrhaftigen“ (véritable) Individuum“.37 Die tech-
nische Individuierung ergebe zwar die erste Art, aber für ein Individuum im
stärkeren Sinne müsse noch gefordert werden, dass das System der Individuie-
rung mit seinen Potenzialen unter der Bedingung der internen Resonanz vom
Individuum über seine Lebensdauer zu einem gewissen Grad aufrecht erhalten
wird. Dies wird später als „fortdauernde Individuierung„ (individuation per-pétuée bezeichnet.Im Gegensatz dazu sei das technische Individuum nur genau
während seiner Individuierung ein eigentliches Individuum:
„[L]e véritable individu n’existe qu’un instant pendant l’opération techni-
que.“ (IGP 67)
Ein weiteres Manko des technischen Paradigmas ist seine Äußerlichkeit, die
Trennung zwischen Individuum und Individuierendem: der Ziegel ist von
Form und Handwerker getrennt, der Elektronenstrahl durchläuft und verlässt
die Triode. Dagegen müsse das Lebendige als „handelndes und Theater“ agentet théâtre seiner eigenen Individuierung verstanden werden (IGP12). Schon der
Einleitung hatte Simondon das Lebewesen sowohl betreffs seiner Entstehung
als auch seiner Aktivität vom Automaten abgegrenzt:
„Il y a dans le vivant une individuation par l’individu et non pas seulement
un fonctionnement résultant d’une individuation une fois accomplie, com-
parable à une fabrication.“ (IGP 9)
Die Ontogense lässt sich nicht auf die Herstellung einer Maschine reduzieren,
da hierzu eine „intention fabricatrice“ (IGP 46), einen Plan, der dem technischen
Individuum äußerlich bleibt, vorausgesetzt werden muss. Um alle Teleologie
aus der Erklärung der Ontogenese herauszuhalten, müsse man sich über andere
Prozesse dem Lebendigen annähern, „les processus de formation naturelle des
unités élémentaires que la nature présente en dehors du règne défini comme
vivant“ (IGP 46). Das Individuum muss als „s’individuant“ verstanden werden.
Auch die Aktivität des Individuums sieht Simondon als prinzipiell nicht auf
Anpassung und Feedback reduzierbar.
„[L]e vivant résout des problèmes, non pas seulement en s’adaptant (. . . ),
mais en se modifiant lui-même, en inventant des structures internes nou-
velles, en s’introduisant lui-même complétement dans l’axiomatique des
problèmes vitaux.“ (IGP 9)37Ein „être individué“ und „individu réel“.
16 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
Der Automat im Gegensatz dazu löst keine Probleme, er nähert sich nur durch
Anpassen seines „Verhalten“ einem vordefinierten Ziel an ohne dabei neue
Strukturen zu erschließen (vgl. IGP 145). Auf das Konzept des „Problemati-
schen“ wird in Abschnitt 4 dieses Kapitels noch genauer eingegangen werden.
Simondon kritisiert deshalb die Kybernetik – in einem genannt mit Descartes
Doktrin der Tier-Maschinen – da sie versuche, die Funktionen des Lebendigen
allein durch Darstellungen „issues de la technologie“ (IGP 47-48) zu durch-
dringen. Was er der Kybernetik vorwirft ist, statt wissenschaftlich Analogien
zwischen Operationen aufzustellen, nur pseudo-wissenschaftlich Ähnlichkeiten
von Strukturen zu betrachten und so in einen Reduktionismus verfällt.38 Auf
das Bild des Modulators wird Simondon später in diesem Sinne der Analogie
allerdings noch zurückkommen. 39
Der Kristall als Paradigma für die Individuierung
Die Physik der Phasenübergänge: Metastabilität und potenzielle Energie
Die Hylemorphismuskritik hatte gezeigt: Phasenübergänge, Singularitäten und
Zustandsänderungen, nicht Kontinuität der Materie stehen im Mittelpunkt.
Erster und fundamentaler Aspekt der physikalischen Individuierung wird
daher folgender:
„L’individuation comme opération n’est pas liée à l’identité d’une matière,
mais à une modification d’état.“ (IGP 96)
Als Beispiel für einen Phasenübergang sucht Simondon das Phänomen der
Kristallisierung aus, da es sich dabei um eine Strukturtransformation vom
amorphen zum geometrisch angeordneten Zustand handelt. Bei einer übersät-
tigten Lösung im metastabilen Zustand genügt dann schon ein Kristallkeim um
die Kristallisierung in Gang zu setzen. Dieser Keim kann spontan entstehen
oder von außen zugefügt werden. Dies nennt Simondon die „condition infor-
mationnelle“ (IGP 97), der Keim spielt die Rolle der Singularität, wie sie weiter
oben beschrieben wurde, und löst die Struktur-Veränderung aus:38L’Allagmatique, S. 563, auch Combes 1999, S.11.39Hier soll am Rande betont werden, dass L’individu et sa genèse physico-biologique vor dem
Aufkommen von Selbstorganisationstheorie, Synergetik und Artificial Life verfasst wurde.Umberto Maturana und Francesco Varela zum Beispiel definieren den Maschinenbegriff soum, dass Autopoiesis die externe Teleologie ersetzt. Auch der epigenetische Standpunktund Selbstorganisationstheorien in biologischen Systemen rücken davon ab, das Lebendigeals Ausführendes eines genetischen Programms zu sehen. Hier ist Deleuzes Theorie derbiologischen Systeme und auch Deleuze und Guattaris Theorie der Maschine sicher näher ander heutigen Naturwissenschaft. Dies wird in Abschnitt II.3 und III.3 diskutiert werden.
4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 17
„Le début de l’individuation structurante est un événement pour le systè-
me en état métastable.“ (IGP 97)
Der Keim bricht (rompt) das metastabile Gleichgewicht und das System geht
transduktiv fortschreitend in einen stabilen, den kristallinen Zustand über. Die
Richtung hiervon wird durch die potentielle Energie geleitet, es ist eine „Be-
wegung von der Zone, die reich an potenzieller Energie ist hin zum bereits
strukturierten Bereich“.40
Diese Transduktion ist wesentlich Verstärkung, da der Keim „eine Materie
strukturiert, deren Masse um einen Faktor von mehreren Milliarden größer als
seine eigene ist.41 Diese Strukturierung läuft solange fort, bis die energetischen
oder strukturellen Voraussetzungen der Metastabilität nicht mehr erfüllt sind.
Das Beispiel des Kristalls zeigt, dass Individuierung „eine Operation ist, die aus
dem Zusammentreffen und der Kompatibilität von einer Singularität und von
energetischen und materiellen Bedingungen resultiert“ (IGP 102). Und anders
als bei den technischen Beispielen dem System immanent, frei von äußerer
Teleologie. Der Keim trifft auf ein metastabiles Feld, eine „situation hylémor-
phique tendue“ (IGP 109), die globale energetische und materielle Bedingungen
bereitstellt.
Simondon beschreibt nun die Allagmatik als eine Methode, die die Individuen
von genau so einem Prozess her zu verstehen sucht: die Entwicklung einer
Singularität durch die Vereinigung von globalen energetischen und materiellen
Bedingungen in einer intermediären Größenordnung.42 Der Kristall liefert hier-
für ein Paradigma, das das technische Beispiel nur andeutungsweise deutlich
machen konnte.
4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung
des Lebendigen
Physikalische und biologische Individuierung
Die Absicht des analogistischen Paradigmatismus ist, von der physikalischen Indi-
viduierung aus die Individuierung des Lebendigen zu verstehen. Inwiefern ist
40Im Orignial „un mouvement vers la zone riche en énergie potentielle à partir du domainedéjà structuré“, „L’amplification dans les processus d’information“, S.173.
41„[L]a structuration d’une masse de matière plusieurs milliards de fois supérieure à lasienne“ (IGP 106).
42Vgl. IGP 102.
18 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
das physikalische Modell wirklich paradigmatisch? Insofern, als es allagmatisch–im oben Besprochenen Sinne einer Methode – ist. Die Betonung liegt auf der
Zustandsänderung, die durch dem System immanente Bedingungen erklärt
werden kann:
„La physique invite á penser l’individu comme étant échangeable contre
la modification structurale d’un système, donc contre un certain état défini
d’un système.“ (IGP287)
Hierbei beruft sich Simondon nicht nur auf die Strukturierung einer amorphen
Lösung beim Kristallwachstum, sondern auch auf den Dualismus von Welle
(„quantité d’énergie“) und Teilchen („individu physique“) des Photons. Teil-
chen bzw. Strukturen können allgemein entstehen oder vernichtet werden, das
entscheidende dabei sind die Potenziale, die die Lösungen der Wellengleichung
bestimmen.43
Zur Beschreibung der Individuierung des Lebendigen werden daher die selben
Konzepte wie beim physikalischen Paradigma angewendet, der Übergang von
physikalisch zu lebendig ist der Methode nach kontinuierlich. Simondon stellt
eine methodologische Hypothese auf:
„Il ne semble pas qu’il faille opposer une matière vivante et une matière
non vivante, mais plutôt une individuation primaire en systèmes inertes
et une individuation secondaire en systèmnes vivants, précisément selon
les différentes modalités des régimes de communication au cours de ces
individuations.“ (IGP 131)
Der Unterschied zum vitalistischen Denken, das dem Lebendigen einen substan-
ziellen, qualitativen Unterschied zugesteht, liegt in der graduellen Definition
des Unterschieds in Simondons Modell. Hier gehören Physikalisches und Le-
bendiges nicht verschiedenen Ordnungen von Realität an, sondern werden als
„zwei Geschwindigkeiten der Evolution des Realen“ behandelt44 – als Produkte
von grundsätzlich analogen Prozessen die aber durch unterschiedliche Be-
dingungen und unterschiedliche Geschwindigkeiten verschiedene Strukturen
hervorbringen:
„[U]ne individuation rapide et itérative donne une réalité physique, une
individuation ralentie, progressivement organisée, donne du vivant.“ (Fuß-
note1 IGP 279)
43Eine ausführliche Diskussion der Bedeutung des Welle-Teilchen-Dualismus für SimondonsTheorie der Ontogenese findet sich in Barthélémy 2008, S.24-34.
44„ [D]eux vitesses d’évolution du réel“ (IGP 279).
4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 19
Verglichen werden gemäß Simondons analogistischer Methode die Operatio-
nen der Individuierung, im Prozess des Werdens, den das System durchläuft,
nicht Strukturen, Formen oder Organisationen. Das Verständnis der physikali-
schen Individuierung ist reichhaltig genug um graduelle aber fundamentale
Unterschiede zwischen den Bereichen zu machen. Über die Fähigkeit eines Sys-
tems, Information aufzunehmen als „essenzieller Ausdruck der Operation der
Individuierung“45 wird gewissermaßen ein Grad der Individuierung definiert:
„[I]l y a individuation physique lorsque le système est capable de recevoir
une seule fois de l’information , puis développe et amplifie en s’individuant
de manière non autolimitée cette singularité initiale. Si le système est capa-
ble de recevoir successivement plusieurs apports d’information, de com-
patibiliser plusieurs singularités au lieu d’itérer par effet cumulatif et par
amplification transductive la singularité unique et initiale, l’individuation
est de type vital, autolimitée, organisée.“ (IGP132)
Die Individuierung des Lebendigen unterscheidet sich demnach fundamental
dadurch, dass sie komplexer und vielschichtiger als die physikalische ist, die
gewissermaßen einfach und geradlinig jeweils ausgehend von einer Singularität
voranschreitet. Das hat vor allem Auswirkungen auf die topologischen Aspekte
der Individuierung.
Dieses Mehr an Komplexität bedeutet aber nicht, dass die Individuierung
des Lebendigen nach der physikalischen kommt, im Gegenteil: Wo der Kris-
tall im Fortschreiten metastabile in stabile Bereiche umwandelt, konserviert
das lebendige Individuum immer noch metastabile Bereiche, die für künftige
Individuierungen Potenziale (z. B. des Wachstums oder der Wundheilung) be-
reitstellen können. So gleicht es im Hinblick auf die energetischen Bedingungen
eher einem „einem Kristall im Entstehungsprozess, der sich verstärkt ohne
sich zu stabilisieren“46 als einem fertigen und somit stabilen physikalischen
Individuum. Simondon spricht von einer Dilatation, d. h. eine Ausdehnung der
Anfangsphase der physikalischen Individuierung, ein Auf- oder Zurückhalten
des Prozesses der Stabilisierung. Mit dem biologischen Terminus der „Neo-
tenie“, der ein Fortbestehen von nicht-voll-entwickelten oder larven-artigen
Zügen in einem erwachsenen Lebewesen bezeichnet, charakterisiert er dies
auch als „Neotenisierung der physikalischen Individuierung.47
45„[E]xpression essentielle de l’opération de l’individuation“. (IGP 132).46Im Orignial „un cristal à l’état naissant s’amplifiant sans se stabiliser“ (IGP 133).47„[N]éoténisation de l’individuation physique“ (IGP 280)
„Neotenie [von griech. neos=Junges, teinein=spannen (. . . )], Neotänie, Progenese, Erreichen der
20 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
Diese Formulierung könnte vermuten lassen, dass Lebewesen als bloße Vorstufe
zu unbelebten Wesen angesehen werden. Eine solche Verkürzung der Verbin-
dung zwischen den Individuierungsprozessen von Belebtem und Unbelebtem
birgt die Gefahr eines Reduktionismus. Derartige Vorwürfe weist Simondon
allerdings zurück, es handele sich weder um eine Reduktion noch um einen
Zusammenhang von Ursache und Wirkung:
„[C]omme nous supposons qu’il y a des degrés divers d’individuation,
nous avons utilisé le paradigme physique sans opérer une réduction
du vital au physique (. . . ). Nous ne voulons nullement dire que c’est
l’individuation physique qui produit l’individuation vitale.“ (IGP 271)
Vielmehr sei die Individuierung des Unbelebten „eine Individuierung die Etap-
pen überspringt, die an ihrem Ursprung nicht lange genug ausharrt“48, da
sie den Phasenübergang zu schnell und vollständig vollziehe. Bei der Indivi-
duierung des Lebendigen passiert so gewissermaßen mehr, da sie durch die
Dilatation des inkohärenten, metastabilen Zustandes eine „Vertiefung des ex-
tremen Anfangs“ vollzieht.49 Sie vertieft und kompliziert die physikalische
Individuierung indem sie sie verlangsamt, in der Schwebe hält und dabei
verstärkt. Daher erfordert sie auch komplexere Anfangsbedingungen, was
Spannung und Metastabilität betrifft. Die Transduktion im Lebendigen, der
fortschreitende Formungsprozess, ist aus diesem Grund viel komplizierter als
am Beispiel des Kristalls erläutert. Auf eine Weise, die als „indirekt und hierar-
chiesiert“ 50 beschrieben wird, ist die Operation der Transduktion nicht mehr
einfach sondern wird als das Verhältnis von Integration und Differenzierung
beschrieben. Die Passage hierzu in L’individu et sa genèse physico-biologique ist
kryptisch und nicht sehr detailliert ausgeführt. Aber da Simondon Integration
und Differenzierung eher vom technischen Gerät, bzw. den Grenzwerten von
Differenzen und Summen her zu verstehen scheint, liegt hier ein Ansatz zur
Interpretation.
Die technische Operation der Differenzierung ist ein Zerlegen von Signalen,
misst die Veränderungsrate eines Signals. So geht auch im Organismus die
Differenzierung von der Gesamtheit, dem übergeordneten Niveau zum unter-
geordneten – eine relative Einheit in der Organisation wird in ihre Bestandteile
Geschlechtsreife unter Beibehaltung von Larvalmerkmalen.“ (Spektrum Lexikon der Biologie,Band 10).
48Im Orignial „ une individuation qui brûle les étapes, qui ne reste pas assez suspens à sonorigine“ (Fußnote IGP 272).
49„[U]n approfondissement de l’extrême début“ (ebd.).50„[I]ndirecte et hiérarchisée“ (IGP 142).
4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 21
zerlegt.51
Die Integration dagegen geht vom untergeordneten zum höheren Niveau, ist
Aufsummieren, eine Kumulation von Signalen. Im Organismus werden daher
Bestandteile in die nächst höhere Einheit integriert.
So strukturiert der Organismus sich und sein Milieu nicht einfach in eine Rich-
tung wie der Kristall, sondern ist ständig in Kumulation und Ausdifferenzieren
von Bereichen begriffen.52
Das Lebendige und das Problem, Individuierung als Lösung
Hiermit kommen wir zum wichtigen Konzept des Problems, das methodisch
schon in Abschnitt II.2 bei der Erwähnung der Disparation als Inkommensura-
bilität vorgekommen war.
Die Individuierung des Lebenden beginnt als Lösung eines neuen Problems:
„[L]’individuation physique est la résolution d’un premier problème en
cours, et l’individuation vitale s’insère en elle, à la suite du surgissement
d’une nouvelle problématique.“ (IGP 272)
Diese neue, prä-vitale Problematik kommt allerdings mit der Entstehung des
lebendigen Individuums zu keiner vollständigen Lösung: das Lebendige erhält
präindividuelle Potenziale, Aspekte der Problematik, aufrecht, sie sind „Keim
von neuen verstärkenden Operationen“(germe d’opérations amplifiantes nouvelles)
(IGP 272) und somit Ausgangspunkte für neue (partielle) Lösungen. Jede Ent-
wicklungsstufe ist Formulierung eines Teilproblems, jeder Entwicklungsschritt
eine partielle Lösung
„L’état d’un vivant est comme un problème à résoudre dont l’individu
devient la solution à travers des montages successifs de structures et de
fonctions.“ (IGP 223)
Die Ontogenese wird zur „perpetuierten Problematik“ (IGP 224), eine Verket-
tung und Ineinanderschachtelung von Prozessen. Das sich individuierende
lebendige Individuum ist immer – ob während der Ontogenese oder als Er-
wachsenes – mit Problemen konfrontiert, mit disparaten Größenordnungen im51Wenn diese Interpretation stimmt, wäre allerdings mit Differenzierung nicht die „Ausdif-
ferenzierung“ eines Organismus im Sinne von Spezifizierung von Organen, etwa in einementwicklungsgeschichtlichen Verlauf gemeint, sondern nur ein Prozess innerhalb der üblichenFunktionsweise eines Organismus.
52Vgl. IGP 142-143.
22 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
metastabilen Gleichgewicht, zu denen es Lösungen finden muss. Dabei wird
durch jede Individuierung, jede Neustrukturierung, jede Handlung ein neuer
Absatz (palier) der relativen Stabilität erreicht (vgl. IGP 285). Das Lebende
löst dabei die Spannungen nicht auf, sondern vollzieht eine Transformation
hin zu einem Endzustand, der ein „System von Strukturen und Funktionen,
in dessen Innerem die Spannungen kompatibel sind“ ist.53 So hält erhält sich
das Individuum als ständig Werdendes in einem Zustand der „Homöostase
des metastabilen Gleichgewichts“.54 Homöostase (von homoios: ähnlich und
stasis: Zustand) ist eine Eigenschaft eines offenen Systems (Zelle, Organismus,
Population), das auf Störungen so reagiert, dass seine Einheits- und Existenzbe-
dingungen aufrecht erhalten werden.55 Die Formalisierung der Homöostase ist
ein zentrales Anliegen der Kybernetik. In diesem Sinne beschreibt Homöostase,
die Eigenschaft von Systemen, die über Rückkopplungs-Mechanismen (feedback)
die für das Überleben wichtigen Parameter im operationellen Bereich erhalten.56
Daher ist die „Homöostase des metastabilen Gleichgewichts“ im Lebewesen
die Aufrechterhaltung von präindividuellen Potenzialen auch im individuier-
ten Zustand, die darauf gerichtet ist, wandlungs- und reaktionsfähig zu bleiben.
Das Beispiel des Kristalls war insofern einfacher, als hier nur zwei Phasen, die
metastabile der übersättigten Lösung und die stabile, kristalline, durch einen
direkten und definitiven Übergang getrennt vorkamen und nach Beendigung
der Individuierung nur noch eine Phase übrigbleibt. Das Individuum dagegen
wird als polyphasig bestimmt, in ihm koexistieren die präindividuelle Phase als
„pures Potenzial“ (IGP 272) und die individuierte Phase, in einem Vorgang der
Resonanz zwischen disparaten Größenordnungen weiterhin auch nach dem
Übergang zu einer neuen Struktur .
Simondon bezeichnet die Resonanz auch als „Korrelation zwischen Chronolo-
gie und Topologie des Systems“ (IGP 129) denn sie ist ein In-Kommunikation-
Setzen von disparaten Größenordnungen, die ineinander geschachtelt sind. Da-
bei hat jede Größenordnung zunächst ihre eigene Chronologie, ihrem eigenes
Werden spezifische Zeitskala. Je mehr und je weiter auseinander liegende Grö-
53„[U]n système de structures et de fonctions à l’intérieur duquel les tensions sont compati-bles“ (IGP 224).
54„[H]oméostasie de l’équilibre métastable“ (IGP 223)55Vgl. Encyclopædia universalis, Paris 2002.56Vgl. Wiener 1958 , S.135, hier nennt Wiener als Beispiel die Regulierung des einfallendes
Lichts durch die Öffnung der Pupille. Für eine ausführliche Diskussion, vor allem von RossAshbys Arbeiten der 1950er Jahre zur Homöostase s. Johnston 2008, S.40-47.
4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 23
ßenordnungen in Resonanz treten, desto größer ist der Grad der Individuierung.
Auf der anderen Seite ist nur, wo noch „Nicht-Koinzidenz von Chronologie und
Topologie“ (IGP 129) besteht, d. h. nicht alle Größenordnungen des Systems
durchlaufen eine synchronisierte Entwicklung und eine Transformation ist noch
möglich.
Ein Individuum in totaler Resonanz wäre die Substanz (im simondonschen
Sinne), als System, das „vollkommen kohärent mit sich selbst ist, verarmt und
leer, dessen Potenziale erschöpft sind“.57
So ein Individuum wäre eine perfekte Einheit, statt mehreren Phasen hätte es
nur eine einzige. Das simondonsche Individuum dagegen ist metastabil weil
mehrphasig und „mehr als eins“
“[L]’individu est multiple en tant que polyphasé (. . . ) parce qu’il est une
solution provisoire, une phase du devenir qui conduira à de nouvelles
opérations.“ (IGP 273)
Es kann sich noch weiterentwickeln, weil es nicht alle Potenziale ausschöpft,
sondern provisorisch Probleme löst indem es durch die zeitliche Dimension die
Disparaten in einem neuen, kontinuierlichen System einbindet.58
Das stabile Gleichgewicht, gleichbedeutend mit dem wahrscheinlichsten Zu-
stand oder dem Zustand der maximalen Entropie wird mit dem Tod assoziiert.:
„tous les potentiels sont épuisés: il est système mort“ (IGP 237).
Dies ist eine intrinsische Art von Tod, die immer schon in der Individuierung
mit enthalten ist. Mit jeder Individuierung, Lösung eines Problems, Strukturie-
rung von präindividuellen Bereichen, Ausdifferenzierung von pluripotentem
Gewebe bleibt ein gewisser Rest:
„[T]oute différenciation laisse un certain résidu qui ne peut être éliminé et
qui grève l’être individué d’un poids diminuant les chances d’individuations
ultérieures (. . . ); l’individu qui se structure ses organes ou les montages
automatiques de l’habitude devient de moins en moins capable de refaire
de nouvelles structures si les anciennes sont détruites“ (IGP 241-242)
So „zahlt“ das Individuum seine Ausdifferenzierung, seine Organisation mit
einer größeren Trägheit. Von einer Stufe zur nächsten, in den intermediären
metastabilen Zuständen gehen ihm sozusagen Potenziale des ursprünglichen
57„[P]arfaitement cohérent avec lui-même (. . . ), appauvri et vidé de ses potentiels“ (IGP126-127).
58Vgl. IGP 227.
24 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
Zustandes verloren. Nach dieser Bilanz hat es weniger Energie für zukünf-
tige Strukturänderungen oder Operationen, die zur Aufrechterhaltung der
Homeostase dienen, zur Verfügung.
In diesem Sinn schreibt Simondon:
„[T]oute opération d’individuation dépose de la mort dans l’être indivi-
dué.“ (IGP 242)
Das Lebendige bewegt sich ständig zwischen den Extremen einer völlig undif-
ferenzierten, bloß potenziellen, und einer vollständig strukturierten Materie,
wie in der folgenden tabellarischen Gegenüberstellung veranschaulicht weden
soll.
tot stabil kontinuierlich Einheit kohärent
lebendig metastabil singulär Vielheit mehrphasig
Der Aspekt der Information
An dieser Stelle tritt das technische Paradigma des Modulators wieder auf.
Seine Anwendung auf physikalische Individuierung und die des Lebendigen
macht einen Unterschied deutlich:
„[L]’information dans l’individuation physique n’est pas distincte des
supports de l’énergie potentielle qui s’actualise dans les manifestations de
l’organisation.“ (IGP 222)
Information und Struktur werden gleichgesetzt und mit Eigenschaften der
präindividuellen Materie identifiziert. Dem Modulator entspricht die fortschrei-
tende Grenze, nicht das Individuum selber.59 Informations- und Energie-Input
kommen beide vom Material:
„ [A]u contraire, l’individuation dans le vivant serait fondée sur la distincti-
on entre les structures modulatrices et les supports de l’énergie potentielle
impliquée dans les opérations caractérisant l’individu;“ (ebd.)
Das Lebendige Individuum wird mit dem Modulator identifiziert, da es wirk-
lich die Struktur des Materie-Inputs transformiert, indem es die Materie als
etwas von sich verschiedenes inkorporiert. Das ist eine Transduktion im Sinne59Vgl. „[O]n pourrait dire que la limite entre le germe structurale et le champ structurable,
métastable, est un modulateur. C’est l’énergie de métastabilité du champ, donc de la matière,qui permet à la structure, donc à la forme, d’avancer: les potentiels résident dans la matière,et la limite entre forme et matière est un relais amplificateur .“ forme, information, potentiels,Conférence faite à la Société Française de Philosophie le 27 février 1960, S. 532).
4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 25
des technischen Geräts „Transduktor“, das verschiedene Arten von Energie
ineinander umwandelt.60
Es enthält und verarbeitet Information durch die disparaten Größenordnungen
die es kompatibel macht, seine interne Problematik ist wie eine Nachricht (vgl.
IGP 198, 223). Nachricht sollte aber nicht im Sinne eines genetischen Codes
verstanden werden. Vielmehr ist die Information im Individuum bloß implizit
und liegt in Form von „disparaten Elementen“ (IGP 227) vor. Sie ist statt mit
einem Code, der nur auf seine Ausführung, (déroulement) wartet, eher mit noch
auszuwertenden Daten vergleichbar.61 Sie wird durch die Operationen, in
denen die Individuierung besteht, entwickelt und expliziert, und zwar als neue
Dimension von vormals inkompatiblen, disparaten Größenordnungen. 62
Topologie des Kristalls, Topologie des Organismus
In diesem Abschnitt soll nun abschließend die Topologie der Individuierung
besprochen werden, die sich für den Kristall und das Lebewesen fundamental
unterscheidet. Die Struktur eines topologischen Raums, im Gegensatz zu
metrischen Räumen wie z. B. der euklidischen Raum-Zeit, wird nicht über
Entfernungen zwischen Punkten festgelegt , sondern allein über Mengen von
Punkten und deren Eigenschaften.63
Wenn Simondon von „chronologischen und topologischen Strukturen“ spricht,
anstatt von raum-zeitlichen, scheint er diese Formulierung zu umgehen, um
einen zu engen Bezug zur euklidischen Raum-Zeit zu vermeiden. Die Fragen,
die eine solche Topologie beantworten muss, sind, wie sich das Individuum als
Bereich oder Menge definiert, was „innen“ (topologisch: zur Menge gehörend)
und „außen“ (topologisch: zu ihrem Komplement gehörend) bedeuten und
vor allem, was die Grenze oder die Oberfläche (topologisch: der Rand, Punkte
zwischen dem Inneren Menge und dem des Komplements ist, und welche Rolle60In der Einführung zu Perception et modulation spricht Simondon von einem „schème propre-
ment paradigmatique“: Der Energie-Input entspricht der Nahrung, der Input der Informationder Wahrnehmung und der Output der Aktion des Lebendigen auf sein Milieu (in Perception etmodulation (1968), Introduction, S.190).
61Vgl. Atlan 2011.62Um den epigenetischen Standpunkt, Komplexität und Selbstorganisation wird es sowohl
bei der Besprechung von Différence et répétition als auch von Mille Plateaux noch gehen.63Nur als Anmerkung soll hier vorweg geschickt werden, dass metrische Räume eine Un-
terklasse der topologischen Räume sind. Präziser müsste oben von „topologischen, nicht-metrischen, nicht Vektor-Räumen“ die Rede sein.s. auch Delanda 2002, S. 22-25 für eine allgemeine Erklärung zu topologischen Räumen und S.62 f. für ihre Anwendung zur Embryogenese. Auch wenn Delanda Simondon nicht erwähnt,befasst er sich an diesen Stellen mit dem stark von Simondon beeinflussten Teil von DeleuzesTheorie der Ontogenese.
26 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
sie spielt.
Seine Überlegungen zur Topologie des Lebendigen beginnt Simondon mit
der Vermutung, dass dessen Wesen vielleicht in einer gewissen topologischen
Anordnung liege, die man mit Physik und Chemie – sofern deren Betrachtungen
immer in euklidischen Räumen bleibt – nicht fassen kann.64
Bei komplexen Organismen ist die Struktur vor allem durch verschachtelte
Beziehungen von Innenrem und Äußerem gegeben:
„[L]’intériorité et l’extériorité sont partout dans l’être vivant.“ (IGP 144)
„Überall“ im Sinne von auf allen Größenordnungen der hierarchischen Orga-
nisation. Zunächst betrachtet Simondon daher die primitivste topologische
Struktur bzw. die niedrigste Stufe dieser Hierarchie, die Membran. Für das
Lebendige ist die Membran von fundamentaler Bedeutung, denn sie definiert
ein inneres Milieu im Verhältnis zu einem äußerlichen, indem sie selektiv Strö-
me passieren lässt und so Polaritäten erhält.65 In solchen Membranpotenzialen
sieht Simondon konkret eine Bedingung für Individuierungen oder besser or-
ganische Aktivität auf Zell-Ebene und fasst die Wichtigkeit der Grenze für die
Individuierung des Lebenden zusammen:
„On pourrait dire que le vivant vit à la limite de lui-même, sur sa limite.“ (IGP
260)
Obwohl Individuierung nach Simondons Theorie auch im physikalischen Indi-
viduum immer an der Grenze abläuft, besteht ein fundamentaler Unterschied
in der Struktur von Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Dies hängt mit der Art des
Wachstums und der Entwicklung - sowohl in räumlicher wie auch zeitlicher
Hinsicht - zusammen, wie Simondon schon in der Einleitung bemerkt. Was
den zeitlichen Aspekt betrifft, assimiliert der Organismus, indem er durch sein
Wachsen und Verhalten vielfältiger wird.66 Der Kristall hingegen wächst durch
„Iteration der Anknüpfung von geordneten Schichten in indefiniter Anzahl“67
Während das Lebende „Zeitgenosse seiner selbst/gleichzeitig mit sich selbst in
all seinen Elementen“ ist, enthält das physikalische immer „radikal Vergange-
nes/radikale Verganhenheit“, selbst wenn es noch im Wachsen begriffen ist.68
64Vgl. IGP 259. Hierauf wird in Kapitel III anlässlich des für Mille Plateaux sehr wichtigenBegriffspaar von glattem und gekerbten Raum noch zurückzukommen sein.
65Vgl. IGP 260.66Im Original „assimile en se diversifiant“.67„[S]’accroît par l’itération d’une adjonction de couches ordonnées, en nombre indéfini“
(IGP 132).68Im Orignial „contemporain de lui-même en tous ses éléments“ und „comporte du passé
radicalement passé, même lorsqu’il est encore en train de croître“ (IGP 10).
4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 27
Genau dies ist der Aspekt der Neotenisierung, denn das Lebende erhält überall
dort, wo es noch reaktionsfähig ist, kleine Bereiche – mit Deleuzes Worten
larvenartige Bereiche–, von denen wieder eine neue Individuierung ausgehen
kann, aufrecht.
Unterschiede in der räumlichen Struktur analysiert Simondon in dem von
Deleuze in der Rezension hoch gelobten Abschnitt über Topologie. Das physi-
kalische Individuum habe keine Innerlichkeit im strengen Sinne, da es keine
homöostatische Einheit bilde. Homöostase war oben wesentlich als Reaktions-
vermögen zum Ausgleich von Störungen bestimmt worden. Am Beispiel des
Kristalls wird anschaulich, wie die Grenze ständig fortschreitet und dabei die
stabile Phase, die nicht mehr zur Individuierung beiträgt, hinter sich lässt. Weil
dieses geometrische Innere somit genauso gut weggelassen oder ausgeschnitten
werden könnte, ohne das Kristallwachstum zu beeinflussen, wird es nicht als
eigentliches – das ist ein auf den Individuierungsprozess bezogenes – Inneres
angesehen. Das physikalische Individuum wird als „für alle Zeit exzentriert,
im Verhältnis zu sich selbst immer an der Peripherie“69 bezeichnet, da es keine
eigentliche Innerlichkeit hat und somit vom Individuierungsprozess her gese-
hen nichts als Grenze ist. Seine Individuierung ist „pelliculaire“, durch dünne
Schichten gekennzeichnet. Sie ist im Fortschreiten immer nur von einer Kris-
tallebene bis zur nächsten erhalten, ihre einzige zeitliche Charakteristik ist die
Sukzession, nicht die Dauer. Daher kann hier auch nicht von Homöostase die
Rede sein, denn selbst wenn die fortschreitende Grenze ein Hindernis umgehen
würde, geschieht dies nicht zur Erhaltung einer Einheit sondern in indifferenter
Sukzession ohne Bezug zum vorhergehenden oder folgenden Verlauf des Pro-
zesses.
Das lebendige Individuum unterscheidet sich hiervon fundamental: Seine Indi-
viduierung ist „perpétuée“, über die Dauer seiner Existenz aufrecht erhalten.
Dies ist die Dilatation oder Neotenisierung der physischen Individuierung: Was
bereits im Innern des Individuums (im eigentlichen Sinne) entstanden ist, tritt
nicht aus dem Individuierungsprozess aus, sondern verbleibt in einem meta-
stabilen Zustand und somit in (topologischem) Kontakt zum präindividuellen
Milieu und in Gleichzeitigkeit mit dem Prozess:
„ [I]l y a résonance et il peut y avoir résonance parce que ce qui a été
produit par individuation dans le passé fait partie du contenu de l’espace
69„[P]erpétuellement excentré, perpétuellement périphérique par rapport à lui-même“(IGP10).
28 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese
intérieur: tout le contenu de l’espace intérieur est topologiquement en
contact avec le contenu de l’espace extérieur sur les limites du vivant : tous
les produits de l’individuation passée sont présents sans distance et sans
retard.“ (IGP 263)
Im Lebendigen besteht eine topologische und chronologische Unmittelbarkeit
zwischen allen Punkten im Innern und dem präindividuellen Milieu, da zwi-
schen dem gesamten Inneren und dem Milieu ein andauernder, transduktiver
Prozess stattfindet.70
Ganz allgemein gesagt, ob physikalisches oder lebendiges Individuum, die
Individuierung gründet immer in einem In-Relation-Setzen von disparaten Grö-
ßenordnungen, prä-individuellen und individuellen Phasen, mikroskopisch
und makroskopisch, Innen oder Außen. Daher ist die Grenze als Konzept so
wichtig für Simondons Ontologie.
Vor der Individuierung gab es Innerlichkeit und Äußerlichkeit nicht, das Indi-
viduum entsteht durch, mit und an der Grenze zu sich selbst: „il se constitue
à la limite de lui-même et existe à la limite de lui-même“ (IGP 68). In diesem
Sinne erhält die Relation Realität, das Individuum ist „Realität einer konstitu-ierenden Relation, nicht Innerlichkeit eines konstituierten Terms“.71 Es definiert
sich nicht darüber, dass es abgeschlossen ist, sich im Innern eines Bereiches
aufhält, sondern darüber, dass es zu Strukturtransformationen fähig ist – Äu-
ßeres kann zu Innerem werden. Muriel Combes nimmt in ihrer Analyse von
Simondons Philosophie der Individuierung eine Identifikation von der Relation
und der Grenze vor: „On dira alors que la relation, dans la mesure où elle est
constituante, existe comme limite.“72 Sie betont, dass es sich darin um eine –
oder um die zentrale Aussage von Simondons Ontologie handelt: „Que les
êtres consistent en relations, que la relation, par là, ait rang d’être et constitue
de l’être“.73 Dies verdeutlicht, wie zentral die Passagen über Topologie des
Lebendigen, d. h. über die Eigenschaften der Grenze für das Individuum, für
das gesamte Projekt der Allagmatik sind. Auch für Deleuzes, bzw. Deleuze
und Guattaris Theorie des Organischen oder des Lebendigen allgemein werden
diese Konzepte von großer Bedeutung sein.
70Der Vollständigkeit halber müsste das „tous les produits de l’individuation“ allerdings et-was eingeschränkt werden, da der „Rest“ der Individuierungsprozesse, wie oben angesprochenwurde, als „poids mort“ nicht mehr beitragen kann, sondern ihn behindert. (vgl.IGP 141-142).
71Im Original „réalité d’une relation constituante, non intériorité d’un terme constitué“ (ebd.).72Combes 1999, S. 18.73Ebd. S. 19.
Kapitel II
„La cinématique de l’œuf“–
Ontologie und Ontogenese des
Lebendigen in Deleuzes Schriften
der 1960er Jahre
Vorbemerkung
Deleuze verwendet nicht nur mathematische, physikalische und biologische
Konzepte, er entwendet sie. So steht sein Verständnis dieser Konzepte zwar
nicht im Widerspruch zur ursprünglichen Anwendung, aber verwischt manch-
mal – im Vergleich zum rigorosen mathematischen oder naturwissenschaftli-
chen Gebrauch – die Nuancen und bringt Anwendungsgebiete zusammen, die
eigentlich nicht zusammengehören. Dennoch ist eine gewisse Erklärung zu den
Grundlagen sinnvoll, um zu sehen, wohin Deleuze die Konzepte schließlich
zusammenführt und dort neu anwendet.
1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilo-
sophie
Das Konzept der multiplicité zieht sich durch Deleuzes gesamtes Werk. Von
Bergson und Spinoza, wie auch Gauss und Riemann inspiriert, ist es von großer
Bedeutung. In deutschen Ausgaben wird es sowohl mit „Vielheit“ als auch
„Mannigfaltigkeit“ übersetzt. In dieser Arbeit wird daher auch „multiplicité“
30 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
mit „Mannigfaltigkeit“ übersetzt.1 Die Mannigfaltigkeit ist ein in der Differenti-
algeometrie des 19. Jahrhunderts entstandene Verallgemeinerung der Fläche.
Zunächst wurde nur der Spezialfall von in den dreidimensionalen Raum ein-
gebetteten Flächen betrachtet. Schließlich wurde der Begriff von Riemann zu
dem der nicht-eingebetteten, n-dimensionalen Mannigfaltigkeit erweitert – ein
Raum, der a priori nicht mehr als Teil eines umgebenden Raumes gesehen
werden kann und dessen geometrische Eigenschaften ebenfalls von denen des
euklidischen Raums abweichen können. Damit ein Raum als topologische
Mannigfaltigkeit bezeichnet werden kann, wird lediglich gefordert, dass es
für jeden Punkt auf der Mannigfaltigkeit eine (offene) Umgebung gibt, die
umkehrbar, eindeutig und stetig auf eine (offene) Teilmenge im euklidischen
Raum abgebildet werden kann.2 Diese Abbildungen werden Karten genannt.
Liegt eine Sammlung von Karten derart vor, dass jeder Punkt der Mannigfal-
tigkeit mindestens auf einer Karte vorkommt, spricht man von einem Atlas.
Um auf einer Mannigfaltigkeit - bzw. auf den Bildern von den Karten - Diffe-
rentialrechnung zu betreiben, muss sie eine gewisse strukturelle Bedingung
erfüllen – die Abbildung, um von einer Karte zu einer anderen zu wechseln
muss differenzierbar3 sein. Mit einer solchen Struktur kann dann von diffe-
renzierbaren oder „glatten“ Funktionen auf der Mannigfaltigkeit gesprochen
werden. Auf einer riemannschen Mannigfaltigkeit können zusätzlich noch über
den metrischen Tensor Abstände, die Geodäten als kürzeste Kurve zwischen
zwei Punkten, definiert werden (metrische Struktur).4
Problem und Idee
Kants Ideen als wesentlich „problematische und problematisierende“ (DR 209),
Simondons präindividuellen Potenziale und Bergsons Virtuelles finden sich in
1Zumal „multiplicité“, deutsch Multiplizität als mathematischer Ausdruck eine andere Artvon Mengen bezeichnet.
2Mathematisch präziser: ín, da der euklidische Raum der ín zusammen mit der eukli-dischen Metrik ist. Um metrische Räume wird es in Kapitel III noch gehen. Die allgemeineDefinition von Mannigfaltigkeit (Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Mannheim 1991): „dieVerallgemeinerung des Flächenbegriffs: Ein topolog. Raum T wird als eine M. der Dimensionn oder als n-dimensionale M. bezeichnet, wenn jeder seiner Punkte eine Umgebung besitzt,die homöomorph [ Homöomorphismus: Umkehrbare, eindeutige und stetige Abbildung] zumInnern der n-dimensionalen Einheitskugel [Kugel im ín mit Radius 1] (. . . ) ist. Flächen sind indiesem Sinne zweidimensionale Mannigfaltigkeiten.“.
3Präziser „unendlich oft differenzierbar“.4Vgl. CRC Encyclopedia of Mathematics.
Für eine Mathematik-historische (wenn auch wenig präzise) Diskussion des Terms „manifold“,Mannigfaltigkeit mit Blick auf Deleuzes Konzept der „multiplicity“, Vielheit s. Delanda 2002,Kapitel 1: The Mathematics of the Virtual.
1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 31
Deleuzes Konzept der Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit wieder. 5
Deleuze betont die Verbindung von Idee und Problem bei Kant. Die kantischen
Ideen seien die „wahren Probleme“ oder „Probleme ohne Lösung“, da sie als
Feld, aus dem und durch das die Lösung erst entstehen kann, diese überdauern.
Das Problem wird als „systematisches und einheitliches Feld“ (champ systémati-que et unitaire) verstanden, als notwendige Bedingung der Lösung (immanenter
Charakter des Problems). Die Begriffe des Verstandes dagegen müssen zu den
Ideen als „ideale Brennpunkte“ konvergieren oder sich an ihnen als „Horizon-
te“ reflektieren (transzendenter Charakter des Problems) (DR 219). Dennoch
spricht Deleuze von einem kantischen „Extrinsizismus“, da Kant die Lösbarkeit
eines Problems als ihm äußerlich, die Determinierbarkeit einer Idee als nur
durch Verstandesbegriffe ermöglicht, verstanden habe (DR 221, 233). Deleuze
fordert, dass die Idee bzw. das Problem nicht wie bei Kant einem Vermögen,
der Vernunft, zugehöre, sondern dass sie das gesamte Denken und somit „alle
Vermögen durchläuft und betrifft “ (DR 249), .
Ein solches Verhältnis von Problem und Lösung sieht Deleuze in der Theorie
der algebraischen Gleichungen, die von Abel und Galois begründet wurde; die
wahre Immanenz des Problems sei erst gegeben, wenn die Lösbarkeit aus der
Form des Problems selbst hervortrete (découle), wenn die Lösung als Aktuali-
sierung der ideellen Verhältnisse, aus denen das Problem als solches besteht,
verstanden wird. Die Neuerung, die Galois gebracht hat, war vor allem, dass
der Blick hin zum Verhältnis der Lösungen untereinander statt auf explizite
Formulierung der Nullstellen eines Polynoms gerichtet wurde.6
Dieser immanente Charakter des Problems erinnert an Simondons Konzept der
Transduktion, als der Dialektik, wie auch der Induktion und der Deduktion
gegenübergestellt. Auch hier ging es um die immanente Lösung eines Problems
von der Mitte aus. Disparate Größenordnungen werden in Kommunikation
gesetzt, indem eine Spannung oder ein Problem als positives Charakteristi-
kum des Systems genutzt wird. Deleuze geht an dieser Stelle allerdings noch
einen Schritt weiter, indem er nicht das Problem mit der Spannung zwischen
zwei Phasen, zwei Größenordnungen und seine Lösung mit der Transduktion
identifiziert, sondern das Problem (oder die Idee) als Mannigfaltigkeit, als wim-
melnden Ameisenhaufen (fourmillement) sieht (DR 220). Und wo bei Simondon
die Potenzialdifferenz, die Relation, methodisch an die Stelle des Negativen
in der Dialektik tritt, setzt Deleuze die abstrakte Differenz, das Differential dx5Vgl. Montebello 2008, S.148.6Für eine Diskussion und weitere Literatur s. Delanda 2002, S. 181-186.
32 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
(DR 221) und bricht damit die Dualität der Dialektik hin zu einer Vielheit der
Pole und Elemente auf.7 Dies nennt Deleuze eine mathesis universalis, Theorie
der Ideen als Mannigfaltigkeiten, charakterisiert durch differentielle Verhält-
nisse und Verteilungen von Singularitäten als Antwort auf eine Universalität
der Dialektik (DR 235). Gewissermaßen hat Deleuze Simondons Theorie von
einem Raum der Individuierung mit einem eindimensionalen Parameter, den
Potenzialen darauf, auf einen viel abstrakteren n-dimensionalen Raum verall-
gemeinert, in dem der paradigmatische Raum nicht mehr der der Physik der
Phasenübergänge mit einem ausgezeichneten Ordnungsparameter ist, sondern
die abstrakten Mannigfaltigkeiten der Differentialgeometrie.8
Die Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit
Als Kernbegriff von Différence et répétition ist die Mannigfaltigkeit Inbegriff des
Vielen, das sich nicht vom Einen ableitet. Statt ein festes Gefüge von Punkten
zu sein, ist sie ein Raum für sich, ein Wimmeln von Differenzen. Die Fragen
der Differenzphilosophie müssen sein: Wieviel? Wie? Für welche Fälle? und
nicht mehr Was? und Zu welchem Zweck?, denn auf der Mannigfaltigkeit ist
alles veränderbar, im Fluss und im Werden begriffen. Ein erstes Hauptmerkmal
der Idee sind die „Differentialverhältnisse zwischen Elementen ohne sinnliche
Form und ohne Funktion“.9 Das Verhältnis von Elementen ist wichtiger als
die Elemente selber, diese existieren sogar nur durch ihre Beziehung zuein-
ander. Ein ideelles Element ist daher nur „in einem Netz von differentiellen
7Bei der Schreibweise verwende ich im Sinne von Deleuzes Konzept der Differen zt ierung
(s. Abschnitt 2 dieses Kapitels) je nach Kontext die Schreibweise „Differential-“, „differentiell“oder „Differenzial-“, „differenziell“.
8Diese Darstellung des Unterschieds zwischen Simondons Transduktion und DeleuzesDifferenzphilosophie ist zum Teil aus Deleuze – L’empirisme Transcendental übernommen. Aller-dings stellt Anne Sauvagnargues dort multiplicité und transduction gegenüber und sieht einenfundamentalen Unterschied darin, dass Simondon das „Viele“ durch Komplikation des „Einen“erhalte indem er die Individuierung als transduktiven Übergang zwischen Phasen verstehe.Nach meiner Ansicht ist diese Darstellung von Simondons System etwas zu vereinfacht. Ichsehe die Entsprechung eher zwischen Deleuze virtueller Mannigfaltigkeit und Simondons me-tastabiler präindividueller Phase. Wenn Simondon die präindividuelle Phase als monophasigund das Lebewesen als polyphasig bezeichnet, ist das mehr als vereinfachende Erklärung desVerhältnisses des Individuierten zum Präindividuellen zu verstehen. Streng genommen hatteSimondon die präindividuelle Phase vor der Identität und vor der Einheit situiert, da sie durchihre Potenziale und Polaritäten durchaus komplexer ist als der heterogene, einheitliche Raum.Einen weiteren Unterschied sieht sie im Begriff der Differenz: „Simondon continue à poserla différence en termes de non-identité“. Dabei ist Simondons Begriff der Potenzialdifferenzgerade als positive Größe, als Reservoir an Energie gedacht und lässt sich außerdem, aufgefasstals ein Feldes aus Potenzialgradienten direkt zu Deleuze weiterdenken. (s. Sauvagnargues2009, S. 256).
9Vgl. Die Methode der Dramatisierung, S.146.
1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 33
Verhältnissen reziprok bestimmbar“ (DR 356). Beispiele hierfür sieht Deleuze
in physikalischen Teilchen und biologischen Genen – Entitäten, die konzeptuell
über ihre ideellen Beziehungen und Wirkungen in einem theoretischen Modell
definiert werden.10
Sie sind untrennbar von einem Potenzial oder einer Virtualität und zeugen
von keiner vorläufigen Identität (identité préalable). In dieser Indeterminiert-
heit haben Begriffe wie „Eines“ oder „Dasselbe“ keine Anwendung. So ist
die Differenz nicht mehr der Unterschied von einer Entität zu einer anderen,
sondern hat schon als bloßes Potenzial eine volle Realität (vgl. DR 237) – dies
war auch Simondons Postulat der Realität der Relation.Ein zweites Merkmal ist
der immanente Charakter der Mannigfaltigkeit. Sie ist „nicht-eingebettet“, ist
Raum für sich, ohne von einem übergeordneten System abzuhängen:
„Mais toujours la multiplicité est définie de manière intrinsèque, sans en
sortir, ni recourir à un espace uniforme dans lequel elle serait plongée.“
(DR 237)
Drittens besteht ein Zusammenhang zwischen Idee, Struktur und Genese. Jedes
Ding, insofern es Inkarnation einer Idee ist, wird selber zur Mannigfaltigkeit.
Die differentiellen Verhältnisse aktualisieren sich in den raum-zeitlichen Be-
ziehungen, die Elemente der virtuellen Mannigfaltigkeit in deren Termen und
Formen. Die Idee kann so als Struktur gesehen werden:
„La structure, l’Idée, c’est le «thème complexe», une multiplicité interne,
c’est-à-dire un système de liaison multiple non localisable entre éléments
différentiels, qui s’incarne dans des relations réelles et des termes actuels.“
(DR 237)
In diesem „Strukturalismus“ sieht Deleuze die Versöhnung von Struktur und
Genese. Die Ontogenese verläuft „vom Virtuellen zu seiner Aktualisierung,
d. h. von der Struktur zur Inkarnation, von den Bedingungen der Probleme zu
den Fällen der Lösung, von differentiellen Elementen und ihren idealen Bindun-
gen zu den aktuellen Termen und zu den verschiedenen realen Relationen“.11
Sie ist nicht in den Termen von Möglichkeit oder Ähnlichkeit zu denken, das
Virtuelle ist wirklich, ohne das Ur- oder Abbild des Wirklichen zu sein.10Die Teilchen des Standardmodells der Physik zum Beispiel, sind lange vor ihrem experi-
mentellen Nachweis aus rein theoretischen Betrachtungen zu Symmetriegruppen „entdeckt“worden.
11„[D]u virtuel à son actualisation, c’est-à-dire de la structure à son incarnation, des conditionsde problème au cas de solution, des éléments différentiels et de leurs liaisons idéales au termesactuels et aux relations réelles diverses “ (DR 238).
34 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
„Le virtuel ne s’oppose pas au réel, mais seulement à l’actuel. Le virtuel
possède une pleine réalité, en tant que virtuel. ( (DR269) “
Zwischen den beiden Stadien, dem virtuellen und dem aktuellen, besteht kein
Verhältnis der Ähnlichkeit (ressemblance), ihr Verhältnis ist das der Entsprechung
(correspondance). Im Gegensatz dazu ähnelt das Wirkliche dem Möglichen, es ist
sein Abbild.12 Die Abbildrelation gilt aber auch in der anderen Richtung, denn
das Mögliche ist ontologisch nicht vom Aktuellen unterscheidbar, es ähnelt
ihm, weil es „après coup“, im Nachhinein, entstanden ist (DR273).
Singularität, Struktur und Determiniertheit
Bisher ist die Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit von Deleuze nur allgemein über
ihre differentiellen Verhältnisse bestimmt worden. Zur ihrer Struktur gehören
aber ebenso sogenannte „singuläre“ Punkte und deren Verteilung.
„[L’idée] subsume la distribution des points remarquables ou singuliers;
toute sa distinction, c’est-à-dire le distinct comme caractère de l’idée, con-
siste précisément à répartir l’ordinaire et le remarquable, le singulier et
le régulier, et à prolonger le singulier sur les points réguliers jusqu’au
voisinage d’une autre singularité.“ (DR 228)13
Deleuze entnimmt den Begriff der Singularität ebenfalls der Mathematik. Ganz
grob kann gesagt werden, dass Singularitäten oder singuläre Punkte, ausge-
zeichnete und ungewöhnliche Punkte, Stellen der Divergenz, der Diskontinuität
in einem Kontinuum sind.
„In general, a singularity is a point at which an equation, surface, etc.,
blows up or becomes DEGENERATE.“14
Anschauliche einfache Fälle für Singularitäten der Mannigfaltigkeit selber wä-
ren dies unter anderem Knicke oder Falten auf Flächen.
Eine genaue Erklärung dessen, was eine Singularität ist, hängt immer vom
Kontext ab: „Singularität von. . . “. Deleuze legt, in dem er von Reihen und
ihren Fortsetzungen spricht, nahe, dass es um die Singularitäten in Beziehung
12Vgl. Bergson, S. 123.13Singularitäten, „[Verteilungen] ausgezeichneter Punkte und gewöhnlicher Punkte, derart,
daß ein ausgezeichneter Punkt eine Reihe erzeugt, die sich über alle gewöhnlichen Punkte biszur Nachbarschaft einer anderen Singularität fortsetzen läßt.“ Die Methode der Dramatisierung,S.147
14CRC Encyclopedia of mathematics, S.3594.
1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 35
auf „Reihen“, bzw. die Entwicklung (oder Annäherung) von Funktionen in
Reihen geht. Funktionen auf einer Mannigfaltigkeit allgemein können sehr
kompliziert sein und werden daher zur Betrachtung lokal durch Reihenent-
wicklungen angenähert. Dabei ist eine Reihe eine besonders einfache Funktion.
Eine Singularität tritt dann in einem Punkt auf, in dem die Reihenentwicklung
abbricht. Die Fortsetzung der Funktion ist nicht mehr möglich. Singularitäten
als Stellen der Divergenz, der Oszillation oder sonstigem nicht wohldefinierten
Verhaltens begrenzen den Bereich der Konvergenz von Reihendarstellungen.
In diesem Sinne spricht Deleuze von Reihen, die von Singularität zu Singularität
fortgesetzt werden. Die Singularität wird als Punkt der Divergenz aufgefasst,
in dem die beliebig kleine Differenz der Differentierung zur beliebig großen
Divergenz wird.
In der Struktur allgemein, d. h. in den differentiellen Verhältnissen und den
Verteilungen von Singularitäten, liegt für Deleuze die Realität des Virtuellen.
Anne Sauvagnargues paraphrasiert dies mit kantischer Terminologie, indem
sie die Struktur die „transzendentale Bedingung des Empirischen“ nennt.15 In
La logique du sens spricht auch Deleuze von einem transzendentalen Feld der
präindividuellen Singularitäten:
„Quand s’ouvre le monde fourmillant des singularités anonymes et noma-
des, impersonnelles, pré-individuelles, nous foulons enfin le champ du
transcendantal.“ (LS 124)
An dieser Passage wird besonders die oben angesprochene „Kreuzung“ von
Kants und Simondons Terminologien deutlich: Sowohl das Transzendentale
als Struktur, die der Erfahrung zu Grunde liegt, ohne, dass sich ihr Verhältnis
auf das von Ursache und Wirkung reduzieren ließe als auch Simondons präin-
dividuelles Milieu finden sich in Deleuzes virtueller Mannigfaltigkeit wieder.
Anne Sauvagnargues identifiziert Simondons potenzielle Energie mit der „tran-
szendentalen Differenz“ und die Individuierung mit der „Aktualisierung in
einer gegebenen empirischen Form“.16 Die Alternative zwischen dem bereits
Individuierten, dem statischen Individuum und dem ungeformten, völlig ho-
mogenen und undifferenzierten Präindividuellen verwirft Deleuze und setzt
ihr die „nomadische“ und „wimmelnde“ Verteilung von Singularitäten entge-
gen. Nomadisch ist hier „gefestigt“ entgegengesetzt und betont den variablen,15Sauvagnargues 2009, S. 186, „La structure s’avère la condition transcendentale de
l’empirique. Immanente et pure, elle coexiste avec l’actualisation empirique sans se réduire àelle.“
16Sauvagnargues 2009, S.291.
36 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
fluiden Charakter der Struktur des Virtuellen. Die nomadischen Singularitäten
befreien sich sowohl von der Opposition zwischen dem undifferenzierten Ab-
grund und den fertigen Individuen (vg. LS 124), als auch von der Opposition
zwischen dem begrenzten, menschlichen und dem unendlichen, göttlichen
Verstand:
„Des singularités nomades qui ne sont plus emprisonnées dans l’individualité
fixe de l’Être infini (la fameuse immuabilité de Dieu) ni dans les bornes
sédentaires du sujet fini (les fameuse limites de la connaissance).“ (LS 130)
Dem Begriff des „Nomadischen“ wird in Mille Plateaux eine zentrale Bedeutung
zukommen.17
Differentierung, Integration und Differenzt ierung
Die Idee ist nicht der „undifferenzierte Abgrund“ (LS 124), oben war sie be-
reits durch ihre Struktur als distinkt bezeichnet worden. Aber distinkt kommt
nicht wie in Descartes’ Meditationen immer gepaart mit „klar“ (einen Sach-
verhalt clare et distincte einsehen), sondern Deleuze sieht zwischen den beiden
einen Wesensunterschied. So kann klar mit verworren (clair-confus) und dun-
kel mit distinkt (distinct-obscur) zusammenkommen.18 Als Beispiel nimmt er
Leibniz’ Bild des Meeresrauschens aus den Nouveaux Essais. Die unbemerkbar
kleinen und unbewussten petites perceptions in einer Monade nennt Deleuze
distinct-obscur. Sie sind dunkel, da noch nicht durch bewusste Wahrnehmung
beleuchtet und ausdifferenziert, aber distinkt, da es sehr wohl eine Struktur
von Einzelbewegungen – in Deleuzes Worten von differentiellen Verhältnissen
und Singularitäten – gibt. Dagegen ist die Apperzeption clair-confus: Sie ist
aktualisierte Wahrnehmung des Meeresrauschens. Zum einen ist sie daher
klar, zum anderen verworren, weil zu viele Verhältnisse und Singularitäten –
Strömungen, Geschwindigkeiten, Teilchen – in der Wahrnehmung aktualisiert
werden, gewissermaßen ans Licht kommen (DR 275-276).
So ist auch die Idee distinct-obscur, als virtuelle ist sie real ohne aktuell zu sein,
differentiert ohne differenziert zu sein („différentiée sans être différenciée“). Diese
subtile Unterscheidung zwischen den zwei Arten von Differenz ist der Schlüssel
zur Beschreibung des Virtuellen in Beziehung zum Aktuellen. Sowohl die Idee
17S. Kapitel III.1 dieser Arbeit.18Das französische „clair“ kann auch mit „hell“ übersetzt werden und ist so „dunkel“ (sombre,
obscur) entgegengesetzt.
1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 37
als auch ihre Inkarnation hat eine Struktur, nur ist die eine klar, die andere
dunkel.
„En elle-même et dans sa virtualité, elle est donc tout à fait indifférenciée.
Pourtant, elle n’est nullement indéterminée: elle est, au contraire, com-
plètement différentiée.“ (DR 358)
Die Idee ist undifferenziert, ohne unbestimmt zu sein. Undifferenziert, weil
ihre Struktur, ihre differentiellen Verhältnisse und Singularitäten sich noch
nicht in aktuellen oder sinnlichen Dingen bzw. in deren Qualitäten und Teilen
inkarniert bzw. verfestigt hat, wie oben zu den „nomadischen Singularitäten“
angemerkt. Es ist, als ob jedes Ding konzeptuell in „ideelle“ (bestehend aus
Differentialverhältnissen und Singularitäten) und „aktuelle“ (bestehend aus
Qualitäten und Teilen) „Hälfte“ geteilt sei, ohne dass sich diese beiden Hälften
ähneln.19
In diesen zwei Hälften der Dinge finden sich Simondons Phasen wieder. Si-
mondon sieht das Individuum als polyphasisches, als Träger von präindivi-
duellen Potenzialen und ausdifferenzierten, individuierten Aspekten. Wie
Simondon spricht auch Deleuze von einer „Verschachtelung“ (emboîtement, DR
358) der Hälften bzw. Phasen, so dass der Übergang weder in räumlicher
noch zeitlicher Hinsicht einfach ist. Das z und das t als zwei „Phasen der
Differenz“20 fasst Deleuze mit einem Bruchstrich zusammen und nennt die
Differen zt ierung ein mathematiko-biologisches System. Differenzierung als bio-
logischer Terminus, über die Spezifizierung und Formung eines Organismus,
und Differentierung als mathematischer, als Struktur einer differentierbaren
Mannigfaltigkeit, die inden Dingen zur Inkarnation kommt.21 Mathematik und
Biologie sind hier technische Modelle um die zwei Hälften der Differenz zu
beleuchten, die dialektische (t), ideelle, virtuelle Realität, und die ästhetische
(z), empirische, aktuelle Realität (DR 285).
Obwohl die Differntierung nur eine „Hälfte“ des Dinges ausmacht, nennt De-
leuze die Idee auf zwei Arten progressiv bestimmbar. Zum einen ist sie über
ihre differentiellen Verhältnisse reziprok bestimmbar, zum anderen vollständig
bestimmbar über die Verteilung der singulären Punkte (DR 227-228). Unvoll-
ständig ist sie nur im Hinblick auf die aktuelle Existenz. Die Idee aktualisiert
sich durch Differenzierung:
19Vgl. Die Methode der Dramatisierung, S.148.20Sauvagnargues 2009, S. 195.21Die biologische Seite wird in Abschnitt 3 dieses Kapitels noch genauer diskutiert werden.
38 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
„Tandis que la différentiation détermine le contenu virtuel de l’idée com-
me problème, la différenciation exprime l’actualisation de ce virtuel et la
constitution des solutions.“ (DR 270)
Die Idee als Problem, als Differentialgleichung kommt in der Aktualisierung
zu ihrer Lösung. Wie im einfachsten Fall Differentialgleichungen durch Inte-
gration gelöst werden (etwa die Bewegungsgleichungen für einfache Systeme
der klassischen Physik), identifiziert Deleuze auch die Differenzierung mit der
Integration.22 So wie das Virtuelle und seine Determination, so hat auch das
Aktuelle und die Differenzierung zwei Aspekte, ist „doublement déterminé“
(DR 285): Zum einen ist es Spezifizierung von Qualitäten oder Arten (espè-
ces), indem es die differentiellen Verhältnisse aktualisiert, zum anderen legt es
Anzahl und Ausdehnung fest.23
2 Individuierung als Ereignis
Bisher wurde der zu Grunde liegende Raum von Individuierungen auf seine
Struktur hin untersucht. Zu diesen theoretischen Betrachtungen muss nun
noch die Erklärung der Individuierung als Ereignis, nämlich des Übergangs
vom Differentierten zum Differenzierten, kommen. Hierzu beruft sich Deleuze
explizit auf Simondon und gebraucht wie dieser physikalische Konzepte wie
Energie, Intensität und Metastabilität, Information, Kommunikation und Reso-
nanz.
Das intensive Feld der Individuierung und die Disparation
Der Individuierungsprozess nach Deleuze lässt sich in etwa so zusammenfassen:
Ausgehend von der Idee als purer Virtualität, entsteht ein Individuierungsfeld,
Spannungen und Resonanzen zwischen den Reihen auf der Mannigfaltigkeit
(vgl. DR 357).
„L’individuation, c’est l’acte de l’intensité qui détermine les rapports
différentiels à s’actualiser, d’après des lignes de différenciation (. . . ). Aussi
bien la notion totale est-elle celle de: indi-différen tc iation (. . . ). (DR 317)“
22Für eine detailierte Diskussion der Integration angewendet auf Trajektorien im Phasenraums. Delanda 2002, S. 33-41 und S.179-188.
23Vgl. DR 271, 281, 285, Die Methode der Dramatisierung, S.146.
2 Individuierung als Ereignis 39
Zu den zwei Momenten der Differenz, Differentierung als Struktur des Virtuel-
len und Differenzierung als Struktur des Aktuellen, tritt nun noch das dritte
Moment, die Individuierung als Bindeglied zwischen Virtuellen und Aktuellem
und somit transzendentales Prinzip.24 Dies bedeutet, dass das Individuie-
rungsfeld Voraussetzung der Differenzierung ist, sie „provoziert“ (DR 318).
Individuieren ist weder organisieren noch aufteilen noch spezifizieren, sondern
der Vorgang, der Partitionen, Organisationen und Spezifikationen erst möglich
macht.
„C’est sous l’action du champ d’individuation que tels rapports différen-
tiels et tels points remarquables (champ pré-individuel), s’actualisent, c’est-
à-dire s’organisent (. . . ) en suivant des lignes différenciées par rapport à
d’autres lignes.“ (DR 318)
Hier findet sich Simondons interne Resonanz wieder. Das Feld der Individu-
ierung entspricht dem metastabilen Zustand oder der übersättigten Lösung.
Auf diesem Feld sind überall Differenzen und Potenziale verteilt. Es ist eine
„informelle und potenzielle Mannigfaltigkeit“ (DR 71) – zum einen informell,
da es im simondonschen Sinne vor der hylemorphistischen Dyade von Form
und Materie liegt, zum anderen potenziell, da die Kräfte, die zum Individuie-
rungsprozess gehören, noch nicht wirken. Wie in Simondons Begriffssystem
das Problematische, die Disparität und die Transduktion an die Stelle des Nega-
tiven in der Dialektik traten, setzt Deleuze die Intensität als „Affirmation“ der
Differenz (DR 302) dem Negativen entgegen, um das Feld der Individuierung
zu erhalten
„Il ne s’agit pas d’abord de résoudre des tensions dans l’identique, mais
de distribuer des disparates dans une mulitplicité.“ (DR71)
Die Illusion des Negativen entstehe, wenn die Differenz von ihrer Aktuali-
sierung her betrachtet wird. Deleuze nimmt Begriff des Disparaten auf – bei
Simondon ein System bestehend aus mehreren heterogenen und inkompatiblen
Größenordnungen – und verbindet ihn mit dem Begriff der Intensität:
„Nous appelons disparité cet état de la différence infiniment dédoublée,
résonnant à l’infini. La disparité, c’est-à-dire la différence ou l’intensité
(différence d’intensité), est la raison suffisante du phénomène, la condition
de ce qui apparaît.“ (DR 287)
24Vgl. Sauvagnargues 2009, S.310.
40 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
Wo Simondon von einfachen Potenzialdifferenzen spricht, versteht Deleuze
die Intensität als unendlich widerhallend. Sie besteht zwischen Reihen, die
wiederum über die Differenzen zwischen ihren Gliedern definiert sind. Dass
z. B. eine Temperatur nicht aus anderen Temperaturen zusammengesetzt ist,
wie das bei extensiven Größen der Fall ist, liegt daran, dass jede Temperatur als
intensive Größe schon Differenz ist:
„[L]es différences ne se composent pas de différences de même ordre, mais
impliquent des séries de termes hétérogènes.“ (DR 306)
Es besteht daher kein additives Verhältnis, sondern eine Verschachtelung von
verschiedenen Ordnungen der Differenz – der zwischen Reihen und der zwi-
schen den Gliedern der Reihen. Intensive Größen erklären und bestimmen die
Aktualisierung von Virtuellem, sie sind ihre Bedingung.
„L’intensité est la forme de la différence comme raison du sensible. Toute
intensité est différentielle, différence en elle-même.“ (DR 287)
Die Phänomene, das Extensive, Entwickelte wird zur Oberfläche, das begrün-
dende Intensive wird die Tiefe (la profondeur ) oder das intensive spatium (DR
307) genannt.
„Les intensités enveloppantes (la profondeur) constituent le champ d’indi-
viduation, les différences individuantes. Les intensités enveloppées (les
distances) constituent les différences individuelles.“ (DR 326)
Die Tiefe oder, wie Deleuze selber übersetzt, der „Ungrund“ (DR 296), ist „Ma-
trix des Ausgedehnten“. Sie enthält in eingewickelter Form die Entfernungen,
die sich in der Erscheinung erklären und im Ausgedehnten entwickeln (DR
296-297).25 Individuierung wird so zur Explikation dessen, was vorher nur
implizit Vorhanden war, und zur Entwicklung der vorher bloß eingewickelten
Entfernungen.
Diese „eingewickelten“ Entfernungen sind keine extensiven Größen, sondern
sind gewissermaßen nicht vermessbar und somit auch nicht teilbar.26 Sie wer-
den insofern asymmetrisch genannt, als sie zwischen inkompatiblen und dispa-
raten Reihen bestehen. Sie entsprechen nicht dem naiven Bild der Strecke als25„[E]nvelopper“ mit „einwickeln“ zu übersetzen klingt weniger schön als das in Joseph
Vogls Übersetzung gewählte „einhüllen“, erhält dafür die auch im französischen bestehendeethymologische Verbingung zwischen einwickeln und entwickeln, envelopper und développer,aufrecht.
26Die Frage nach der Vermessbarkeit wird in Abschnitt III.1 wieder auftreten.
2 Individuierung als Ereignis 41
Entfernung zwischen zwei Punkten im Koordinatensystem.
Insofern versteht Deleuze die intensive Größe als „embryonnée“ (DR 305),
sie ist verschachtelt, schließt die Differenzen ein und enthält Entfernungen in
eingewickelter Form, d. h. als unteilbare und (noch) nicht extensive Größen.
„Différence, distance, inégalité, tels sont les caractères positifs de la profon-
deur comme spatium intensif.“ (DR 298)
Veranschaulicht wird dies durch das von Simondon genutzte Bild der visuel-
len Disparation: Im neuen, zusammengesetzten Bild von rechtem und linkem
Auge sieht Deleuze eine bloße Entwicklung der vorhergehend bereits darin
implizierten oder „eingewickelten“ ursprünglichen Tiefe:
„Partout la profondeur de la différence est première; et il ne sert de rien de
retrouver la profondeur comme troisième dimension, si on ne l’a pas mise
au début comme enveloppant des deux autres, s’enveloppant elle-même
comme troisième.“ (DR72)
Die Tiefe bzw. das intensive Spatium muss als präindividuelles Feld mit seinen
„eingewickelten und einwickelnden Intensitäten“, „individuierenden und indi-
viduierten Differenzen“, die Deleuze die „individuierenden Faktoren“ nennt
(DR 327) immer schon gegeben sein. Während die virtuelle Mannigfaltigkeit
reine Struktur war, kommt mit dem Individuierungs-Feld die Energie hinzu,
die eine Struktur aktualisieren kann. Anne Sauvagnargues spricht von einer
„transzendentalen Physik der Intensität“.27 Wird die Intensität –vereinfachend –
physikalisch als Höhen- bzw. Tiefenprofil, als Gradient, als Gefälle interpretiert,
kann das Intensive als potenzielle Ursache von Prozessen verstanden werden.
Wie z. B. ein Temperaturgefälle einen Fluss von Wärmeenergie verursacht, ist
das Intensive allgemein für Bewegungen und Strömungen verantwortlich.28
Deleuze versteht Energie im simondonschen Sinn, indem er den metastabilen
Zustand privilegiert:
„[N]ous définissons l’énergie par la différence enfouie dans cette intensité
pure. (. . . ) On évitera donc de confondre l’énergie en général avec une
énergie uniforme en repos qui rendrait impossible toute transformation.“
(DR 310)
Wie bei Simondon ist die Energie im Hinblick auf die Individuierung primär
die potenzielle Energie, die noch das präindividuelle birgt, bei Deleuze die27Sauvagnargues 2009, S. 310.28Vgl. Delanda 2002, S.69-70.
42 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
darin „vergrabene“ (enfouie) Differenz. In Zustandsänderungen oder Trans-
formationen, wie die Individuierung eine ist, tendiert diese Differenz dazu,
sich zu annullieren – ähnlich Simondons Konzept der Potenzialdifferenzen, die
ausgeglichen werden.
In Différence et répétition wurde die Aktualisierung als Lösung eines Problems,
Integration einer Differentialgleichung erklärt. In La logique du sens ist der zen-
trale Begriff das Ereignis, das als „Menge von Singularitäten“ (LS67) bezeichnet
wird. Die Individuierung beschreibt Deleuze hier über die Singularitäten:
“En premier lieu, les singularités-événements correspondent à des séries
hétérogènes qui s’organisent en un système ni stable ni instable mais
«métastable», pourvu d’une énergie potentielle où se distribuent les différences
entre séries. (. . . ) En second lieu, les singularités jouissent d’un proces-
sus d’auto-unification, toujours mobile et déplacé dans la mesure où un
élément paradoxal parcourt et fait résonner les séries, enveloppant des
points singuliers correspondants dans un même point aléatoire et toutes
les émissions, tous les coups, dans un même lancer. En troisième lieu,les
singularités ou potentiels hantent la surface. Tout se passe à la surface dans
un cristal qui ne se développe que sur les bords.“ (LS 125)
Der erste Punkt beschreibt die oben besprochene Struktur des Virtuellen zusam-
men mit präindividuellen Potenzialen; das differentierte Virtuelle zusammen
mit den intensiven Differenzen zwischen den Reihen. Der zweite Punkt ist
der entscheidende Schritt in der Individuierung: die Herstellung einer Kom-
munikation oder internen Resonanz. Das Zustandekommen dieser Resonanz
ist allerdings für Deleuze komplizierter als bei Simondon, er führt es auf ein
gewisses „paradoxales Element“ zurück. An dritter Stelle steht die empirische
Realität, die Oberfläche, als dem intensiven Spatium, der Tiefe (le profond), ge-
genüber. Hier beruft sich Deleuze auf Simondons Betrachtungen zur Topologie
des Lebendigen und des Kristalls. Die Individuierung oder das Ereignis finde
immer an der Grenze, an der Oberfläche statt.
Resonanz und Dispars
Eine weitere Gemeinsamkeit mit Simdondon liegt darin, dass Deleuze Reso-
nanz und Kommunikation als konstituierend für die Individuierung, für das
Aufkommen eines Ereignisses ansieht. Die heterogenen Reihen des intensiven
Feldes müssen gekoppelt werden, in Kommunikation oder Resonanz treten,
2 Individuierung als Ereignis 43
damit die Individuierung als Ereignis auftreten kann. Deleuze verwendet
das physikalische Beispiel der erzwungenen Schwingung, indem er die zwei
„Reihen“ mit zwei Schwingern (Pendel und Erreger) vergleicht, die gekoppelt
werden und bei denen es im schlimmsten Fall zur sogenannten Resonanzkata-
strophe kommt.29
Der Unterschied zu Simondon liegt allerdings darin, wie diese Resonanz erklärt
und beschreiben wird. Hier unterscheidet sich Deleuzes Konzept der heteroge-
nen Reihe von Simondons Konzept der heterogenen Größenordnungen. Die
entscheidende Frage ist: Wie ist die Resonanz zwischen heterogenen Systemen
oder Reihen möglich? Die von Simondon betrachteten Systeme befanden sich
in einem übersättigten Zustand, so dass die auslösende Singularität und das
System gewissermaßen zusammen passten, in Deleuzes Worten eine „Ähnlich-
keit“ aufweisen. Die Resonanz zwischen den disparaten Größenordnungen
blieb dem physikalischen Paradigma der Kraftübertragung verhaftet. An dieser
Stelle weicht Deleuze deutlich von Simondon ab, wenn er über ihn schreibt:
„G. Simondon maintient une exigence de ressemblance entre séries, ou de
petitesse des différences mises en jeu.“ (DR 158 Fußnote 1)
Der Vorwurf ist Simondons Nähe zum technischen Paradigma und dem der
Nachrichtenübertragung, die eine Analogie zwischen Sender-und Empfänger-
system fordert.30 An seiner Verwendung des Paradigmas der Nachrichtenüber-
tragung und der Resonanzphänomene wirft Deleuze Simondon vor, dass dieser
die Kategorien vom Selben und der Identität einbringt: Die Erregerfrequenz w
muss nah bei der dem schwingenden System charakteristischen Resonanzfre-
quenz w0 liegen. Delanda betont, dass Deleuzes Erwähnung von gekoppelten
Pendeln und Resonanzphänomenen nicht wörtlich, sondern eher im Sinne
von „positivem Feedback“ oder „wechselseitig stimulierende Kopplung“ zu
verstehen seien.31 Deleuze stellt sich schließlich die Frage, ob ein Zuviel der
Differenz nicht die Kommunikation unmöglich macht. Er verneint dies, indem
er eine Art Operator – agent wie er es nennt – einführt. Diesen nennt er in Lalogique du sens den „quasi-kausalen Operator“, in Différence et répétition den
„dunklen Vorboten“ (précurseur sombre) oder den Dispars. Dispars, als ein aus29Vgl. DR 154.30Deleuze beruft sich auf eine Passage aus dem Kapitel über Information (IGP 254-257).31„The terms “resonance” and “forced movement” should not be taken as mere physical
metaphors. Rather, we should think about resonance as positive feedback, a generic processwhich implies one or other form of mutually stimulating couplings inducing resonances amongheterogenous elements, as well as the amplification of original differences (forced movements).“Delanda 2002, S. 205.
44 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
der Disparation abgeleiteter Neologismus, ist auch im Individuierungsprozess
das konzeptuelle Bindeglied zwischen Disparatem und Individuiertem.
Das System kann nicht „von selbst“ in den Zustand der Resonanz übergehen,
sondern benötigt die Einwirkung eines „dunklen“, da selbst nicht wahrnehmba-
ren Operators, der die Kommunikation herstellt – ein transzendentaler Operator,
der den Übergang von der intensiven Tiefe zur empirischen Oberfläche erst
ermöglicht.32 Deleuze veranschaulicht diesen Vorgang mit dem Bild des Blitzes:
„La foudre éclate entre intensités différentes, mais elle est précédée par
un précurseur sombre, invisible, insensible, qui en détermine en avance le
chemin renversé comme en creux.“ (DR 156)
Hierbei entspricht der dunkle Nachthimmel dem intensiven Spatium und der
helle, sichtbare Blitz dem Ereignis der Individuierung oder dem „Zeichen“
(signe), das zwischen den Disparaten „passiert“ (im doppelten Sinne). Doch der
Blitz, die sichtbare Entladung über die Potenzialdifferenz zwischen verschiede-
nen Niveaus kann erst durch einen zunächst nicht sichtbaren Ionisierungskanal
entstehen. In der Luft als nicht-leitendem Medium muss eine Vorentladung
(preliminary breakdown) passieren, die die Moleküle teilweise ionisiert. Ein Kanal,
daher der Ausdruck „en creux“, ein Hohlraum, eine Rinne, durch die der Strom
fließen kann. Dioes ist was Deleuze den „précurseur“ nennt, English „stepped
leader channel“, wegen seiner gezackten Form. Diese Entladungen sind nicht
stark und daher unsichtbar oder „dunkel“. Sie bereiten nur als Kanal den Weg
für die Hauptentladungen, die dann, nachdem der Kontakt mit dem Boden
hergestellt worden ist, in mehreren Malen hin und zurück laufen.33
In Bezug auf die heterogenen Reihen, die selber über differentielle Verhält-
nisse definiert waren, nennt Deleuze den Dispars das „Differenzierende der
Differenzen“ (DR 157).
„Nous appelons dispars le sombre précurseur, cette différence en soi, au
second degré, qui met en rapport les séries hétérogènes ou disparates
elles-mêmes.“ (DR 157)
Der Dispars ermöglicht die Kommunikation, indem er überhaupt erst die Rei-
hen ins Verhältnis zueinander setzt, eine Differenz zwischen ihnen herausstellt.
Die Kommunikation ist konstituierend für die Individuierung, da sie Differen-
zen zu Differenzen ins Verhältnis setzt, die vorher bloß heterogen und disparat32Anne Sauvagnargues spricht in ihrer kantischen Lesart von einem „Operator des Verhält-
nisses von Sinnlichkeit und Realität“, Sauvagnargues 2009, S. S. 312.33Artikel „lightning“ in McGraw-Hill Encyclopedia of Science and Technology.
2 Individuierung als Ereignis 45
waren. Deleuze nimmt Simondons eigene ontologische Forderungen ernst,
wenn er schreibt, dass es im intensiven präindividuellen Raum keine Differenz
gibt, die „klein“ genannt werden könnte: Der dunkle Vorbote steht ontologisch
vor der als groß oder klein qualifizierten Differenz. Identität und Ähnlichkeit
sind nicht seine Bedingungen, sondern seine Wirkungen. Er ist ein Element, das
insofern paradox ist, als es dem „bon sens", dem gesunden Menschenverstand,
gegenübersteht. Die Herausforderung ist, ein Vermögen an seine Grenzen zu
bringen – das Denken bis ans Undenkbare, die Sinne bis zum „Unsinnlichen“
(insensible, DR 293).
Manuel Delanda stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung ein solcher
Operator angenommen werden darf und welche Indizien es für eine solche An-
nahme gibt. Genauer gehe es um die Erklärung von spontanen Übergängen, ge-
wissermaßen um die Suche nach Spuren des Virtuellen im Aktuellen.34 Er sieht
eine Veranschaulichung für den Dispars in der spontanen Kopplung von Fluk-
tuationen von verschiedenen Größen in der Nähe von Nicht-Gleichgewichts-
Phasenübergängen, wie Ilya Prigogine und Grégoire Nicolis sie beschreiben. In
einem makroskopischen System, das statistischen Gesetzen unterliegt, gibt es
immer Fluktuationen, die normalerweise ungeordnet verlaufen. So gleichen sie
sich global gesehen aus, die Gesamtheit von Fluktuationen und Reaktionen im
System erhält es in einem „dynamischen Gleichgewicht“. Dagegen können in
einem instabilen System, das nicht mehr im Gleichgewicht ist, diese Fluktuatio-
nen so koppeln und verstärkt werden, dass beobachtbare Effekte und eine neue
Struktur entstehen.35
Inwieweit dieses Beispiel Deleuzes Konzept des Dispars erklärt, wird meiner
Meinung nach nicht klar. Hier könnte nämlich die Korrelation, die Kopplung
und Verstärkung der Fluktuationen auch so interpretiert werden, dass sie genau
dem entspricht, was sowohl Simondon, als auch Deleuze Resonanz nennen,
zumal der von für Simondon zentrale Begriff der Verstärkung auftritt. Gesucht
waren die „paradoxalen“ Prozesse, die die Resonanz vorbereiten und ermögli-
chen.
Gleichzeitig scheint Deleuzes Annahme eines „dunklen Vorboten“ als paradoxa-
les Element gerade ein Schritt weg vom physikalischen Paradigma zu sein. Wie
oben bereits angemerkt, handelt es sich um einen entwendeten Begriff, der dann
in andere Bereiche überführt wird. Deleuze führt zur Erklärung des Dispars
34DeLanda 2002, S.85 „But what evidence do we have that there are intensive processes whichcan spontaneously perform information transmission operations?“
35Vgl. Prigogine/Nicolis 1989, S.168-185.
46 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
literarische Beispiele an, z. B. die Resonanz zwischen verschiedenen Reihen
– der gegenwärtigen und der der Kindheit in Marcel Prousts Suche nach derverlorenen Zeit. Es geht um die Erklärung eines Ereignisses, das eigentlich nicht
passieren könnte, das aber, durch ein „Objekt = x“, das irgendwie in der Tiefe –
bei Proust die „singuläre Tiefe“ der Erinnerung – impliziert ist, hervorgerufen
wird (DR 160, Fußnote).36
3 Embryogenese und Organismus
Deleuze teilt das System der Individuierung in sieben Stufen ein37:
1. Die Tiefe, das Spatium, der zu Grunde liegende Raum
2. Disparate und heterogene Reihen und Individuierungs-Felder
3. Der dunkle Vorbote, der die Kommunikation herstellt
4. Kopplungen und Resonanzen
5. Pure raum-zeitliche Dynamiken, passive Ichs und Larvensubjekte
6. Die zwei Aspekte der Differenzierung
7. Präindividuelle Faktoren und „Zentren der Einwicklung“38
Stufe 1 bis 4 wurden in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben. Hier
waren die Konzepte der Mathematik und Physik entliehen bzw. entwendet.
Die Frage ist nun, wie ausgehend von den Ideen als virtuelle Mannigfaltigkeit
und dem präindividuellen Feld der Intensitäten ein Organismus entsteht oder
allgemeiner, wie die Differenzierung genau vor sich geht. Hier soll es nur um
den biologischen Aspekt des Organismus gehen, daher wird der psychologische
Aspekt und die Frage der Subjektivität nicht behandelt.
36Nichtsdestotrotz wäre ein mögliches naturwissenschaftliches bzw. wissenschaftsgeschicht-liches Besipiel zur Erhellung von Deleuzes Annahme des dunklen Vorboten vielleicht PaulisHypothese der Existenz des Neutrinos zur Erklärung der vermeintlichen Verletzung des Ener-gieerhaltungssatzes bei der b-Strahlung. Ein ungeladenes und, so zunächst angenommen,masseloses Teilchen, wird ohne die Möglichkeit eines experimentellen Nachweises (dieserfand erst 30 Jahre später statt) postuliert damit die Bilanz des beschreibenden Modells passt.Ein vorbereitendes, unmerkbares Ereignis, das das eigentliche Ereignis - die Emission einesElektrons - erst ermöglicht. (Spektrum Lexikon der Physik, Heidelberg, 2000).
37Vgl. DR 355-6. Er nennt es eigentlich das System des Ebenbildes simulacre.Da dieser Begriffaber in Différence et répétition keine zentrale Rolle spielt und auch in von Deleuze später selberverworfen wurde, sei dies hier nur am Rande bemerkt (Vgl. Sauvagnargues 2009, S. 314).
38„[C]entres d’enveloppement“.
3 Embryogenese und Organismus 47
Ei, Drama und Larvensubjekt
Larve und Embryo
Deleuze beschreibt die Prozesse, die folgen, wenn die Kommunikation zwischen
den disparaten Reihen hergestellt ist, wie folgt:
„Des dynamismes spatio-temporels remplissent le système, exprimant à la
fois la résonance des séries couplées et l’amplitude du mouvement forcé
qui les débordent.39 Des sujets peuplent le système, à la fois sujets larvaires
et mois passifs.“ (DR155)
Die Dynamik in dieser Phase ist gezeichnet von erzwungenen Schwingungen
und Resonanzkatastrophen.In dem Milieu dieser extremen Bewegungen und
Flüsse sind die „Subjekte“ oder allgemeiner Individuen, die auf den Plan treten,
gewissermaßen provisorisch, da noch nicht ausdifferenziert. Deleuze bezeich-
net sie als Embryonen oder Larven. Sie sind die passivsten und abhängigsten
lebenden Individuen „am äußersten Rand des Lebbaren“ (à la pointe du vivable)
und damit die einzigen, die eine solche Dynamik überhaupt erleiden können.
Jedes gut konstituierte oder organisierte Individuum würde daran sterben.
„La vérité de l’embryologie, déjà, c’est qu’il y a des mouvements vitaux
systématiques, des glissements, des torsions, que seul l’embryon peut
supporter : l’adulte en sortirait déchiré. (...) L’évolution ne se fait pas à
l’air libre et seul l’involué évolue.“ (DR 155-156)
Für die Entwicklung sind die „eingewickelten“ Größen, wie sie im intensiven
Spatium zu finden sind, unerlässlich. Daher ist die intensive Größe auch
als „embryonniert“ (embryonné) charakterisiert worden. Für das Individuum
bedeutet dies, dass die Entwicklung nur im Ei stattfinden kann: Nur ein noch
nicht voll ausdifferenziertes Lebewesen – der Embryo, die Larve – kann sich
entwickeln. Das Feld der Individuierung als Milieu wird unerlässlich. Hier
findet sich das auch von Simondon verwendete Konzept der Neotenie wieder:
Larvenhafte Züge werden konserviert, damit auch Potenziale für Entwicklung,
Wandel und Aktivität konserviert werden können. Wie für Simondon ist für
Deleuze das wahre Individuum genau ein solches, das gerade im Prozess seiner
Individuierung begriffen ist:
„Et l’embryon, c’est l’individu comme tel, directement pris dans le champ
de son individuation.“ (DR 322)
39Es müsste meiner Meinung nach „déborde“ heißen, da es sich auf „l’amplitude“ bezieht.
48 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
Das Ei als Feld der Individuierung. Das differenziertere Individuum wird später
von einem Milieu umgeben sein, das nicht mehr bloß Feld der Individuierung
ist. Dieses Verständnis vom wahren Individuum oder Individuum als solchem
erinnert an Simondons Konzept der „kleinen Gewichte und Residuen“, die
durch jede individuierende Operation im Individuierten zurückbleiben.40
Das Drama
Deleuze bezeichnet diese Dynamischen Prozesse als Dramen. Sie bestimmen die
Aktualisierung der Idee, „dramatisieren“ sie. Das bedeutet: sie räumlich und
zeitlich inszenieren. Das Ei selbst wird zum Theater, indem seinen pluripoten-
ten Bestandteilen gemäß eines „strukturellen Themas“ eine Rolle zukommt (DR
279). So „inkarniert“ sich ein differentielles Verhältnis über die raum-zeitlichen
Dynamiken in Qualitäten und Ausdehnungen. Die Dramatisierung ist so einer-
seits räumlich – eine „Szenographie“, in der die dynamischen Prozesse über
Achsen der Aktualisierung einen der Aktualisierung eigenen Raum erzeugen,
der der virtuellen Struktur entspricht. Über differentielle Geschwindigkeiten
und Rhythmen wird andererseits eine der Aktualisierung eigene Zeitlichkeit
erzeugt (DR 277-280). Auch Simondon spricht an einigen Stellen von einem
„Theater“:
„Le vivant est agent et théâtre d’individuation.“ (IGP12)
Das Lebewesen als Problematisches, das durch einen Prozess gekennzeichnet
ist, der von der Mitte her verstanden wird.
Das Ei
In der Embryogenese findet Deleuze die Veranschaulichung der Indiviuierungs-
und Differenzierungs-Mechanismen, das Ei wird zum Modell der Welt. Die
Vielheit an Polaritäten und Strömen im Ei sind es, die zur Individuierung und
zur Differenzierung führen.
„ Le monde est un œuf. Et l’œuf nous donne, en effet, le modèle de l’ordre
des raisons : différentiation-individuation-dramatisation-différenciation
(spécifique et organique).“ (DR 323)
Aus Albert Dalcqs Arbeiten zur Embryologie, speziell zu den Dynamiken im
Ei, entnimmt Deleuze Begriffe wie das „morphogenetische Potenzial“ und die
40Vgl. IGP 241-242.
3 Embryogenese und Organismus 49
„Feld-Gradienten Schwelle“ und interpretiert sie im Sinne seiner Theorie der
Intensität als Individuierende Größe. Die Struktur der Intensitäten im Ei drückt
zunächst die virtuellen Verhältnisse, die zu aktualisieren sind, aus (das Feld der
Individuierung). Dieses Intensitätsprofil ruft Dynamiken und Flüsse hervor
(die Dramatisierung), die dann zur Formung von Arten und organischen Teilen
führen, die Differenz wird so im Differenzierten manifest und verfestigt.
Embryogenese, Epigenese und Präformismus
Das Ei als Feld der Individuierung wird gegen das Modell der Ähnlichkeit
gestellt, so dass der Opposition von Präformismus und Epigenese eine neue
Bedeutung bekommt. Es ist nach diesem Modell nicht mehr sinnvoll zu fragen,
ob im Ei alles schon als ein „durch Vererbung vorgeschriebenes Programm“
enthalten und festgelegt ist und nur auf seine Aktivierung wartet, wie es der
Präformismus tut.41 Deleuze spricht zwar von „Präformationen“, aber diese
sind „eingewickelt und intensiv“ und verhalten sich zu den „entwickelten,
qualitativen und extensiven Formationen“ so, wie das Virtuelle zum Aktuellen:
Sie ähneln ihnen nicht (DR 324).
Mit diesem sehr schwachen Begriff von Präformismus steht nun Deleuzes epi-
genetischer Standpunkt nicht mehr im Widerspruch. Deleuze ersetzt so die
„genetische“ durch eine „ökologische“ Bestimmung des Lebewesens: Die Pro-
zesse und Bewegungen im Milieu spielen neben der genetischen Information
bei der Entstehung und Formung des Individuums eine ebenso wichtige Rolle
(DR 280). Epigenetische Information ist zum Beispiel die Zell-Polarität, da sie
sich nicht auf die in der DNA enthaltene Information zurückführen lässt. Allge-
mein betont der epigenetische Standpunkt die Wichtigkeit der Wechselwirkung
der Teile des sich entwickelnden Embryos. Er räumt die Möglichkeit ein, dass
Signale von außerhalb der Zelle oder aus dem Cytoplasma die Aktivität von
spezifischen Genen beeinflussen oder steuern können.42
Wie Simondon von „impliziter Information“ spricht (IGP 227), schreibt Deleuze
in Anlehnung an Dalcq, dass der Zellkern und die Gene nur die „differentierte
Materie“ darstellen (DR 323). Hier liegen die differentiellen Verhältnisse, Struk-
tur des prä-individuellen Feldes, die zu aktualisieren ist. Die Aktualisierung
selbst werde dann durch das Zytoplasma, den restlichen Teil der Zelle mit
41Jacob 1971 S.10, „L’organisme devient ainsi la réalisation d’un programme prescrit parl’hérédité.“
42Vgl. Eintrag „Epigenese“, Spektrum Lexikon der Biologie, Band 5.
50 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
seinen Konzentrationsgradienten bestimmt.
Weg von der Metapher des genetischen Codes
Wie nah Deleuzes Theorie hier biologischen Theorien der Selbstorganisation
steht zeigt der informationstheoretische Standpunkt, den Henri Atlan in Levivant post-génomique – Ou qu’est-ce que l’auto-organisation? vertritt. Henri Atlan
wehrt sich gegen das Dogma des genetischen Codes, der den Ablauf eines
finalisierten oder teleologischen Prozesses voraussetzt. Mit seiner provokativen
Formulierung: „Das Genetische ist nicht im Gen“43 betont er, dass das Gen, vom
Dogma der Molekularbiologie gesehen, keinen dynamischen Prozess erklären
kann. Es sei nur ein Stück unbelebte Materie und habe die ursprüngliche
Bedeutung von „genetisch“, d. h. „eine Genese produzierend“, nicht. Inspiriert
von der Theorie der Selbstorganisation, künstlicher Intelligenz und artificial life,
schlägt er die alternative Metapher von Programm und Daten vor:
„[L]es déterminisme génétiques résultant de la structure séquentielle des
ADN fonctionnent donc non pas comme un programme, mais comme des
données mémorisées, traitées et utilisées dans un processus dynamique qui,
lui joue le rôle d’un programme. Ce processus est produit par l’ensemble
des réactions biochimiques couplées du métabolisme cellulaire.“44
Der gesamte Stoffwechsel der Zelle wird als Programm gesehen, die Gene, oder
die in der DNA enthaltenen genetische Information als Daten, die von diesem
„Programm“ verarbeitet werden.45 Die Zelle wird inspiriert von von Neumanns
cellular automaton zum „epigenetischen Automaten“.46 Schon die extrem einfa-
chen „Spielzeugmodelle“ der Zellautomaten zeigen, wie ein immer gleiches,
extrem einfaches Programm aus minimal voneinander abweichenden, sehr ein-
fachen Anfangszuständen variable und komplexe Endzustände hervorbringen
kann. Der Anfangszustand als Keim (germe) entspricht den Daten, wird durch
die Regeln weiterverarbeitet. Eine „wenig spezifische zelluläre Maschinerie“
43Im Original „le génétique n’est pas dans le gène“, Atlan 2011, S. 55-56.44S.Atlan 2011, S.67.45Wieners Ansatz das Gehirn als Maschine zu sehen ging auch schon in diese Richtung:
Vergleich mit der Rechenmaschine: „it is not the empty physical structure of the computingmachine that corresponds to the brain (...) but the combination of this structure with theinstructions given it at the beginning of a chain of operations and with all the additionalinformation stored and gained from outside in the course of this chain.“ Wiener 1954, S.171.
46Atlan 2011, S. 99.
3 Embryogenese und Organismus 51
spielt die Rolle eines „parallel laufenden Programmes“.47 Angewendet auf die
Embryogenese kommt auch Henri Atlan zu einer „ökologischen“ Bestimmtheit
des Lebewesens: Der Entwicklungsprozess läuft nach und nach ab. Das Pro-
gramm der Entwicklung ist völlig delokalisiert und kommt der Gesamtheit der
physiko-chemischen Zwangsbedingungen, der die Prozesse des Austauschs
mit anderen Teilen und Zellen unterliegen, gleich.48
Differenzierung und Strukturalismus in der Biologie
(Geoffroy Saint-Hilaire)
Strukturalismus in der Biologie bevorzugt allgemeine Form- und Strukturge-
setze vor Betrachtungen zu Funktionen.49 Einer der frühen Vertreter dieser
Theorie ist Etienne Geoffroy Saint-Hilaire.50 Deleuze zieht Geoffroy und den
Streit zwischen Geoffroy und Cuvier heran, um seine Auffassung von Struk-
turalismus – dass die Individuierung und Differenzierung nicht von einem
aktuellen Term zum nächsten, sondern von einer virtuellen Struktur zu ihrer
Aktualisierung gehen – am Organismus als biologische Idee zu veranschauli-
chen und beschreibt, wie genau eine virtuelle Struktur in einem Organismus
aktualisiert ist.
„Un organisme est un ensemble de termes et de relations réelles (dimensi-
on, position, nombre) qui actualise pour son compte, à tel ou tel degré de
développement, les rapports entre éléments différentiels (. . . ). La genèse ou
le développement des organismes doivent donc être conçus comme actuali-
sation de l’essence, suivant des vitesses et des raisons variées déterminées
par le milieu, suivant des accélérations ou des arrêts, mais indépendam-
ment de tout passage transformiste d’un terme actuel à un autre terme
actuel.“ (DR 239-240)
In dieser Beschreibung des Organismus finden sich sowohl Simondons Konzept
der Realität der Relation, in dem der Organismus als Aktualisierung seiner vir-47Im Original „programme distribué“, „machinerie cellulaire peu spécifique“, Atlan 2011
S.171-172.48Atlan 2011, S. 118-122.49Vgl. Spektrum Lexikon der Biologie, Band 13.50„Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844) versuchte den Körperbau der Wirbeltiere und Wirbello-
sen zu analogisieren und gelangte so zu einer Theorie der „Einheit des Bauplans“ (unité deplan), zu einer „Theorie von den Analogien“ (heute als Homologien bezeichnet), woraus erschloß, daß die Entwicklung der Lebewesen von einem einzigen Bauplan hergeleitet werdenkönne; geriet hierüber mit G. de Cuvier (1769-1832), der eine Aufspaltung in vier unabhängigeZweige mit unabhängigen Bauplänen postulierte, in Streit („Pariser Akademiestreit“, 1830-32(. . . )).“ aus: Spektrum Lexikon der Biologie, Band 6. S. auch Kapitel III.3 dieser Arbeit für eineweitere Diskussion.
52 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
tuellen Struktur definiert wird, als auch das der Neotenie wieder. Der Prozess
dieser Aktualisierung ist wesentlich dynamisch, hängt von Wechselwirkungen
mit dem Milieu ab und wird je nach Ablaufgeschwindigkeit ein anderes Er-
gebnis hervorbringen. Dies ist das Konzept der Neotenie, das bei Simondon
der Übergang von einer Art der Individuierung zu einer anderen war und
ebenso bei Geoffroy eine Rolle spielt. Wenn die Entwicklung auf einer gewissen
Stufe anhält, werden die Unterschiede der Strukturen durch unterschiedliche
Entwickungsdauern, nicht durch unterschiedliche Pläne, erreicht.
„Même l’arrêt prend l’aspect d’une actualisation créatrice dans la néoténie.“
(DR 279)
Es ist Geoffroys Konzept von Homologie (Entsprechung der Strukturen) bzw.
der Isomorphie, das gewährleisten soll, dass zwischen den Arten ein (zumin-
dest konzeptueller Übergang) durch Faltung (pliage) möglich ist. Deshalb sieht
Deleuze in Geoffroy gewissermaßen einen Vorläufer der „Bio-Topologie“ und
der Gene als virtuelle Träger von biologischer Information. Alles hängt von
differentiellen Verhältnissen ab, die Chromosomen als Loci, nicht kartesische
Koordinaten, sondern „Komplexe von Nachbarschaftsverhältnissen“.51 Die
Gene drücken differentielle Elemente aus, ihre Gesamtheit bildet ein Virtuelles,
ein Potenzielles, das sich in aktuellen Organismen inkarniert (vgl. DR 240).
Das Gen bestimmt verschiedene Charakteristika (Singularitäten) und operiert
immer in Verhältnis zu anderen Genen (differentielle Verhältnissse), inkarniert
sich in der Spezifiizerung der Arten und in der Organisation und dem Zusam-
menspiel der Teile eines ausdifferenzierten Individuums. Die Differenzierung
hat so allgemein immer zwei Aspekte, so, wie die virtuelle Mannigfaltigkeit
die beiden Aspekte der differentiellen Verhältnisse und der Singularitäten,
Reziproke und Vollständige Bestimmtheit hatte:
„La différenciation est toujours simultanément différenciaiton d’espèces et
de parties, de qualités et d’étendues: qualification ou spécificaiton, mais
aussi partition ou organisation.“ (DR 271)52
Für das biologische System bedeutet dies Organisation und Spezifizierung, für
das physikalische System Aufteilung und qualitative Bestimmung.
51Im Original „des complexes de rapport de voisinage“.52Dies war der sechste Punkt der „ontologischen Liste“ am Anfang dieses Abschnittes.
3 Embryogenese und Organismus 53
Die Komplexität in biologischen Systemen
Auch Deleuze kommt zu einer allgemeinen Unterscheidung von physikalischen
und biologischen Systemen, entsprechend den verschiedenen Ebenen, die er
eingeführt hat. Zunächst unterscheiden sich physikalische und biologische Sys-
teme auf der Ebene der Ideen, der virtuellen Struktur. Deleuze schreibt: „par
l’ordre des idées qu’ils incarnent ou actualisent: différentiels de tel ou tel ordre.“
(DR 328). Diese „Ordnung der Differentierung“ entspricht Simondons Verständ-
nis der komplexen Organismen als hierarchisiert, insofern sie die Transduktion
immer auf verschiedenen Ebenen als Komplexes Verhältnis von Integration und
Differenzierung vollziehen. Im Sinne von Deleuzes mathematischen Konzepten
könnte „von höherer Ordnung“ als „beschreibbar durch eine größere Zahl von
Parametern“ interpretiert werden.53
Ein zweites Kriterium liegt auf der Ebene der individuierenden Dynamiken und
ist direkt von Simondons topologischem Kriterium übernommen. Die Prozesse
im Lebendigen sind überall von relativen Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten
durchzogen, während im Kristall nur ein Inneres und ein Äußeres bestehen.
Schließlich unterscheiden sich physikalische und biologische Systeme auf der
Ebene des Aktuellen, die „Figuren der Differenzierung“ betreffend: Während
im biologischen Spezifizierung und Organisation vorliegen, seien es im physi-
kalischen bloß Qualifikation und Partition.
Alle Kriterien haben eine Unterscheidung von komplexen und weniger kom-
plexen Systemen gemeinsam. So kommt Deleuze zur Beschreibung eines kom-
plexen Systems:
„Plus un système est complexe, plus y apparaissent des valeurs propres
d’implication. C’est la présence de ces valeurs qui permet de juger de
la complexité ou de la complication d’un système, et qui détermine les
caractères précédents du système biologique. Les valeurs d’implication
sont les centres d’enveloppement. Ces facteurs ne sont pas les facteurs
intensifs individuants eux-mêmes; mais ils en sont les représentants dans
un ensemble complexe, en voie d’explication.“ (DR 329)
Diese „Zentren der Einwicklung“ werden als kleine Inseln der Negentropie,
die dem komplexen System (meist dem lebenden System) erlauben gegen die
allgemeine Degradierung und Gleichmachung der Potenziale anzugehen. Sie53Anhand des Bildes der Entwicklung einer Funktion in Potenzreihen, wäre das System der
niedrigsten Ordnung eine konstante Funktion, ausgedrückt durch eine Reihen die nach der„null-ten Ordnung“ abbricht. Dann der lineare Fall, der bis zur ersten Ordnung geht, bis hin zuden Funktionen, deren Reihendarstellung unendlich viele Terme hat.
54 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“
verhalten sich zu den individuierenden Faktoren des präindividuellen Feldes
wie das Phänomen zum Noumenon, wie die Erscheinung zu den an sich nicht
wahrnehmbaren Intensitäten. In diesem Sinne nennt Deleuze die Intensitäten
„interiorisiert“:
„[L]es systèmes complexes tendent de plus en plus d’intérioriser leurs
différences constituantes.“ (DR 329)
Wie bei Simondon der komplexe Organismus zwischen seinen verschiedenen
hierarchischen Niveaus differenzierende und integrierende Operationen aus-
führt und dazu immer auch präindividuelle metastabile Potenziale aufrecht
erhalten muss, enthält bei Deleuze das komplexe System – nicht unbedingt in
Form des Organismus – immer noch eine Disparität.
Was Deleuze hier beschreibt, könnte eine Metaphysik der Selbstorganisation ge-
nannt werden. Es geht um die Eigenschaften eines Systems, das komplexes
Verhalten und emergente Strukturen und Funktionen aufweist. H. Atlan de-
finiert die Selbstorganisation als „émergence de structures globales à partir
d’interactions locales“.54 Wird „lokal“ mit „mikroskopisch“ und „global“ mit
„makroskopisch“ identifiziert, läuft das Ganze auf Simondons Begriff der Indi-
viduierung hinaus. Emergenz von Strukturen ließe sich aber auch auf Deleuzes
Aktualisierung virtueller Strukturen über die „eingewickelten“ intensiven Grö-
ßen übertragen.
Sowohl Deleuze als auch Simondon nehmen mit der Betonung des Prozesses
der Individuierung und der epigenetischen Faktoren eine Tendenz in der moder-
nen Biologie gewissermaßen vorweg.55 Die Tendenz geht fort von funktionellen
und energetischen Betrachtungen hin zu geometrischen und topologischen –
allgemein strukturellen – Betrachtungen, die auch die dynamischen Relationen
zwischen Objekten und deren Kontrollparameter mit einbezieht:
„[L]es propriétés de la matière vivante se manifestent comme le maintient,
l’auto-entretien de certaines situations topologiques bien plus que comme
des conditions énergétiques et fonctionnelles pures.“56
Gegen die genetische Determiniertheit und die mechanistische Auffassung der
Molekularbiologie gewinnen mathematische Ausdrücke wie Stabilität, Äquiva-
54Atlan 2011, S.9.55S. auch Ansell-Pearson 1999 S.145f. für eine Diskussion der Selbstorganisation in der
modernen Biologie.56Boï 2003, S.163.
3 Embryogenese und Organismus 55
lenzklasse, Deformation an Bedeutung. Die Wichtigkeit von „nanoskopischen“
Faltungen und Immersionen von Räumen veranschaulicht dies. 57
Henri Atlan spricht von einer „post-genomischen Ära“: Es gehe darum, die den
biologischen Funktionen unterliegenden Mechanismen zu verstehen und nicht
mehr dreidimensionale Proteinstrukturen auf lineare DNA-Sequenzen zu redu-
zieren. So, wie er das System „Zelle“ als komplexen Automaten mit hunderten
von chemischen Prozessen versteht, bemerkt er, dass es Variationen in der DNA
geben kann, auch wenn die Moleküle die gleiche chemische Natur haben, dass
Proteine je nachdem, wie sie sich im Raum falten, unterschiedliche Funktionen
im Prozess haben, und dass ein einzelnes Molekül oder Fragment der DNA
schon durch seine An-oder Abwesenheit beobachtbare Effekte auf makroskopi-
schem Niveau hervorrufen kann.58 All dies sind Beispiele für die Komplexität
in der Biologie: Kleine strukturelle Variationen rufen große Wirkungen her-
vor. Henri Atlan bemerkt ganz allgemein, dass nach einigen Jahrzehnten des
molekularbiologischen Dogmas vom genetischen Programm „die Differenzen
in den Vordergrund zurückgekehrt sind“.59 Hier ist die Parallele zu Deleuzes
„vergrabenen Differenzen“ oder „Zentren der Einwicklung“ offensichtlich.
57Vgl. Boï 2003, S.167-170. Manuel Delanda diskutiert Migration und Faltung anhand vonGerald M. Edelmanns „Topobiology“ (s. Delanda 2002, S.62-67).
58Atlan 2011, S. 29-30, 146.59„[L]es différences sont revenues sur le devant de la scène“, Atlan 2011, S.148.
Kapitel III
Deleuze und Guattari zum
Organischen und
Nicht-Organischen
Vorbemerkung
„En aucun cas nous prétendons au titre d’une science. Nous ne connaissons
pas plus de scientificité que de l’idéologie, mais seulement des agence-
ments.“ (MP 33)
Es ist schwierig, über ein Buch zu schreiben, das von „einer Menge Leute“ („be-
aucoup de monde“, MP9) als ein Rhizom – ein Wurzelgefüge – geschrieben ist,
und das an Stelle von Kapiteln Plateaus hat. Anstatt sich in feste Definitionen
einzufügen, „fließen“ die Konzepte von Plateau zu Plateau und durchsetzen
sich dabei gegenseitig. Wie bei den im vorherigen Kapitel angesprochenen
Karten auf der Mannigfaltigkeit ist es sinnlos, globale Betrachtungen anzu-
stellen, die über einen lokalen Bereich, ein Plateau hinausgehen. So soll es
hier vorrangig um die „biologische“ Dimension – unter Ausklammerung der
psychologischen, der politischen, der literarischen soweit wie möglich – gehen.
Und zwar entlang der Linien, Zusammenhänge, Ähnlichkeiten und Unterschie-
de zu Différence et répétition und Simondons Theorie der Ontogenese.1
Zu den schon in Différence et répétition zentralen Konzepten wie der Mannigfal-
tigkeit, des Virtuellen und des Prä-Individuellen oder Prä-Organischen gesellen
sich neue, die von Guattari oder von der Zusammenarbeit mit Guattari stam-
1Somit findet auch der erste Band von Capitalisme et schizophrénie, L’Anti-Œdipe hier nuram Rande Beachtung, da es dort vorrangig um die psychologischen und sozialen Aspekte derMaschine geht.
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 57
men: Die Maschine oder das maschinische Gefüge, die Deterritorialisierung
und das Ritornell.
Ein besonders wichtiger Warnhinweis zur Vermeidung der Dualismus-Falle ist,
dass alle Antagonismen und Gegenüberstellungen, von denen Mille Plateauxbuchstäblich wimmelt, nichts als „abstrakte Pole“ (MP 331), Grenzwerte von
fließenden Linien und von Prozessen sind. Was daher wirklich auftritt sind
Mischfälle und keine Dualismen von festen Dingen. Hierzu der gute Rat von
Mark Bonta und John Protevi: „As good Deleuzoguattarians we should not
stay on the level of products.“2
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux
Was in Différence et répétition die Mannigfaltigkeit (multiplicité) als virtuelle
Struktur war, spaltet sich in Mille Plateaux vielfältig auf. Das Rhizom, der glatte
Raum und die Immanenzebene führen zu einem allgemeineren oder besser
„aufgelösten“ Verständnis von Struktur und Raum.
Das Rhizom, auch gleichzeitig Titel der Einleitung, wird zum methodischen
Modell von Mille Plateaux und dem Denken der Vielheiten oder Populationen.
Der glatte Raum, im ständigen Widerstreit mit dem gekerbten Raum, ist sowohl
mathematisch als auch geographisch inspiriert. Er bildet die geographische oder
geometrische Grundlage für die nachfolgenden Theorien von der Organisation
und dem Aufbrechen von Organisiertem.
Die spinozistische Immanenzebene ist schließlich ein metaphysisches Konzept,
das sich durch alle anderen durchzieht und sie umfasst.
Das Rhizom als Modell
„L’arbre impose le verbe «être», mais le rhizome a pour tissu la conjonction
«et. . . et. . . et. . . ».“ (MP 31)
Gemäß Simondons methodischem Postulat, wird der Relation vor den Termen,
zwischen denen sie besteht, der Vorzug gewährt, d. h. Dynamiken und Netzen
vor Statik und Hierarchie. Das Bild hierfür wird das Rhizom, eine Wurzelart, die
nicht einen zentralen Strang hat, der sich nach unten binär verzweigt, sondern
von einem Zentrum aus Seitenarme bildet.3 Dieses System haben Deleuze und
2Vgl. Bonta/Protevi 2004, S.151.3Ein anschauliches Beispiel ist der Ingwer.
58 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Guattari in Mille Plateaux als Paradigma für die Vielheit und als Modell für das
Buch selbst gewählt.
Deleuze und Guattari geben Prinzipien des Rhizoms an:
1. und 2. Das Prinzip der Verbundenheit oder Zusammenhang (connexion)
und der Heterogenität: Jeder Punkt kann von jedem anderen aus erreicht wer-
den. In einem rhizomatischen System verbinden sich Ketten (chaînons) von
sehr verschiedener Art. Sie können semiotischer, biologischer, politischer, öko-
nomischer oder anderer Natur sein. Eine rhizomatische Methode ist daher
interdisziplinär und muss immer diese verschiedenen „Register“ oder „Dimen-
sionen“ gemeinsam betrachten.
3. Das Prinzip der Mannigfaltigkeit oder Vielheit (multiplicité): Gemäß der
Definition der Mannigfaltigkeit in Différence et répétition 4 braucht das Viele
das Eine nicht für seine Formulierung, weder als Subjekt noch als Objekt. So
wie die Mannigfaltigkeit in Différence et répétition singuläre Punkte und Reihen
von Punkten, die sich durch ihre differentiellen Verhältnisse bestimmten, als
Struktur hatte, hat das Rhizom „nichts als Linien.“ (MP 15).5
„Le rhizome (. . . ) n’est pas fait d’unités mais de dimensions, ou plutôt de
directions mouvantes.“ (MP 31)
Diesen Dimensionen oder Richtungen werden die Linien zugeordnet.6 Dabei
kann eine Linie, je nach Art des Rhizoms oder der Mannigfaltigkeit alles mögli-
che sein: ein Stratum (geologische Schicht), eine Fluchtlinie (ligne de fuite), die
solche Schichten durchbricht, eine Kette von Molekülen, der Konvergenzkreis
einer Reihe, oder andere Systeme. Es gibt kein transzendentes Prinzip, keinen
einbettenden Raum, keinen globalen Code (surcodage). Die Anzahl der Linien
ist die Dimension, darüber hinaus gibt es keine weitere Dimension. In diesem
Sinne nennen Deleuze und Guattari die Mannigfaltigkeiten „platt“ oder „flach“
(MP 15).7 Rhizomatische Mannigfaltigkeiten können untereinander Gefüge
bilden, d. h. Verbindungen eingehen. Dabei ändern sie ihre „Natur“, da die
Anzahl der Linien sich ändert: Linien werden zusammengefügt oder existieren
nebeneinander, es gibt Verbindungen, die in den Einzelsystemen vorher nicht
enthalten waren.4DR 236.5„Il n’y a que des lignes.“6Deleuze und Guattari gebrauchen das Wort „attaché“, das sowohl „angeklebt“, „festge-
macht“ als auch „beigeordnet“ bedeuten kann.7Dies wird päter ander Gegenüberstellung von Konsistenzebene und Organisationsplan
noch deutlicher werden.
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 59
4. Das Prinzip des „asignifikanten Bruches“: Im Gegensatz zu einem Kristall,
der feste Achsen als für seine Struktur „signifikante Schnitte“ aufweist, entlang
derer er zerbrechen kann, gibt es beim rhizomatischem System verschiedene
Linien, die mehr oder weniger in Bewegung sind. Zwar gibt es die Linien
der Organisation8, die eine Struktur herstellen, es gibt aber auch immer die
„Linien der Deterritorialisation“, die die ersteren durch- und zersetzen und der
Struktur als „Fluchtlinien“ entkommen (MP 16). Deleuze und Guattari spre-
chen von der „Explosion heterogener Reihen in der Fluchtlinie“. Hier liegt ein
wichtiger Schritt weg vom Individuum und vom Organismus.9 In Différence etrépétition und bei Simondon wurden Individuierung und Differenzierung durch
die Verbindung der disparaten Reihen bzw. die individuierende Resonanz
erklärt. Die hier angesprochene „Explosion“ dagegen fügt sich dem Schema als
zersetzende an – Strukturen und Individuen werden zu einem gewissen Grad
aufgelöst. Als Beispiel führen Deleuze und Guattari einen Virus an, der im
Übergang von einer Art zur nächsten genetische Information überträgt. Dieser
Prozess ist nicht mehr individuierend in Simondons Sinn. Entlang oder bes-
ser durch der Fluchtlinie brechen Kristall, Organismus und Gesellschaft – die
Individuen, die Simondon betrachtet hatte – auf, um offenere Verbindungen, so-
genannte Gefüge (agencements) einzugehen. In dem von Deleuze und Guattari
angeführten Beispiel das „Pavian-Virus-Katze-Gefüge“, in dem der Virus „von
einer bereits differenzierten Linie zur nächsten springt“ (MP 17).10 Das Rhi-
zom ist ein dynamisches Modell gegenüber dem statischen der kristallisierten
Organisationen.
5. und 6. Das Prinzip der Kartographie und der “Dekalkomanie“: Wie das Aktu-
elle keine Kopie, kein Abgepaustes (calque11) – in Différence et répétition benutzte
Deleuze eher die Wörter Bild oder Repräsentation – des Virtuellen war, wird
auch das rhizomatische System, wenn es sich ausbreitet und verändert, keine
Kopie seiner vorherigen Struktur. Die Fortpflanzung des Rhizoms ist nicht Re-
produktion, sondern „Variation, Expansion, Eroberung, Gefangennahme“ (MP
32). Statt eines unveränderlichen Entwurfs oder einer universellen Blaupause
gibt es für das Rhizom als sich verändernde Mannigfaltigkeit nur eine Samm-
8Allgemeiner als Linien der Stratifikation bezeichnet, dies wird in Abschnitt 2 dieses Kapitelserläutert werden.
9Diesem Aspekt ist Abschnitt 3 dieses Kapitels gewidmet.10„Nos virus nous font faire rhizome avec d’autres bêtes.“ ebd.11Hat auch die pejorative Bedeutung von „Abklatsch“.
60 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
lung von Karten, einen Atlas, der sich immer mit verändern muss.12 Die Kopie
ist ein sehr begrenzter Spezialfall der Karte, die einfachste Abbildungsrelation:
„Il faut toujours reporter la calque sur la carte.“ (MP 21)
Auch der euklidische Raum ist eine differenzierbare Mannigfaltigkeit, wenn
auch ein triviales Beispiel: Sein Atlas besteht aus nur einer Karte, abgebildet
durch die Identität, und alle Karten-„Wechsel“ sind nichts als Identität. Selbst
für die Projektion einer Sphäre aus dem dreidimensionalen Raum auf den zwei-
dimensionalen werden immer mindestens zwei Karten benötigt – auf einer
Karte fehlt immer mindestens ein Punkt.
Mark Bonta und John Protevi sehen die „Dekalkomanie“ als Folge eines „rigi-
den Strukturalismus“, oder der Meinung, dass Codes zwischen verschiedenen
Medien oder Systemen transferiert werden können, ohne sich dabei zu verän-
dern. Ein Beispiel aus der Biologie wäre der Gentransfer durch Klonen, erstellen
einer genetischen Kopie, im Gegensatz zur viralen Informationsübertragung
durch Transduktion.13
Der glatte und der gekerbte Raum
Die zwei antagonistischen Modelle des Raums – oder Pole der Beschreibung
von Räumen – in Mille Plateaux erklären sich weniger aus einer Wissenschaft
als aus einem Gefüge von Disziplinen. In den Plateaus 12 Traité de nomadologieund 14 Le lisse et le strié durchlaufen die Konzepte von glattem und gekerbten
Raum sehr vielfältige Bereiche oder Ebenen: politisch, ethnologisch, wissen-
schaftstheoretisch, philosophisch (oder „noologisch“, die Lehre vom Denken
betreffend), technologisch, musikalisch, geo- und ozeanographisch, differential-
geometrisch, physikalisch, ästhetisch – und wird schließlich eine wichtige Rolle
bei der Gegenüberstellung von Organismus und Körper ohne Organe spielen.14
Mathematik
Zunächst hat der Begriff „lisse“, glatt, smooth auch eine mathematische Anwen-
dung als „hinreichend oft differenzierbare Funktion“15. Die differenzierbare
Mannigfaltigkeit ist in diesem Sinne „glatt“, d. h. ein Raum, der so in Karten
12Vgl. Abschnitt II.1 dieser Arbeit.13Vgl. Bonta/Protevi 2004, S. 75.14S. Abschnitt 2 dieses Kapitels.15Spektrum Lexikon der Mathematik.
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 61
dargestellt werden kann, dass zwischen zwei Karten desselben Bereiches immer
ein „glatter“ Übergang möglich ist.
Was Deleuze und Guattari über den Filz bzw. mit einem Zitat von Albert
Lautmann als glatten Raum sagen lässt sich in diese Richtung interpretieren:
„C’est une collection amorphe de morceaux juxtaposés, dont le racorde-
ment peut se faire d’une infinité de manières.“ (MP 595 und 606)
Mit dieser amorphen Sammlung ist der Atlas der Mannigfaltigkeit gemeint.16
Dagegen ist „gekerbt“ (strié) kein mathematischer Ausdruck. Es liegt aber
nahe, das Gekerbte als charakteristische Eigenschaft des euklidischen Raums
zu interpretieren. Dieser trägt sein eindeutiges Koordinatensystem fest in sich
und sein Atlas besteht nur aus einer einzigen trivialen Karte, der Identität.
In diesem Sinne ist nicht, wie es vielleicht zunächst wegen der Bezeichnung
scheinen könnte, der glatte Raum der homogene Raum, sondern der gekerbte
(MP 595).17
Nomadische und königliche Wissenschaft
Der Raum wird erst durch eine vollständige Kerbung homogen und damit
geeignet, die Phänomene der „königlichen“ Wissenschaft in sich aufzunehmen:
„Il est strié par la chute des corps, les verticales de pesanteur, la distribution
de la matière en tranches parallèles, l’écoulement lamellaire ou laminaire
de ce qui est flux.“ (MP 458)
16Im Allgemeinen lässt sich „glatt“ allerdings in Deleuze und Guattaris Sinn nicht auf denmathematischen Terminus beschränken, sondern ist je nach Kontext und Anwendungsgebietzu verstehen. Im Gegensatz zu Différence et répétition spielen die Differentierung und dieDifferenzen keine zentrale Rolle mehr.
17„Homogen“ ist hier im Sinne von „überall gleich strukturiert in Bezug auf die Phänomene,die darin stattfinden“ zu verstehen. Am Rande soll hier angemerkt werden, dass die Gleich-setzung von „glatt“ und „nicht-metrisch“, die Deleuze und Guattari gelegentlich nahelegenirreführend ist (z. B. MP 605). Das Missverständnis ist die Gleichsetzung von „metrischen“und Räumen mit euklidischer Metrik. Die riemannschen Mannigfaltigkeiten, die im Plateau14 als „lisse ou non metrique“ bezeichnet werden, sind nun aber auch metrische Räume. DerUnterschied liegt darin, dass die „Abstände“ dort ortsabhängig und nicht mehr wie im eu-klidischen Raum überall von der gleichen Form sind, der Raum ist in Beziehung auf seineMetrik nicht homogen. Das Problem ist wahrscheinlich nur ein begriffliches Missverständnis,die Verwechslung von Metrik und Koordinatensystem. In diesem Sinne wäre die Verwirrungzu beheben, wenn an dieser Stelle „nicht-metrischer Raum“ durch „Raum ohne globales Koor-dinatensystem“ ersetzt würde. Die Sekundärliteratur ist in diesen Punkten auch oft ungenau.So legt Delanda in Intensive Science and virtual philosophy auch meist eine ausschließende Gegen-überstellung von glatt und metrisch nahe (z. B. Delanda 2002, S.62-63) und in Daniel W. Smithsbezeichnet in Mathematics and the Theory of Multiplicities sogar den Riemannschen Raum als„non-metric“ (Smith, D. W. (2003), Mathematics and the Theory of Multiplicities: Badiou andDeleuze Revisited. The Southern Journal of Philosophy, 41: 411–449).
62 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Newton wird hier zur Schlüsselfigur der königlichen Physik. Gerade und be-
rechenbare Linien kerben den Raum und zeichnen den Weg der Phänomene
vor - den Fall der Körper im (newtonschen) Gravitationsfeld oder das Ge-
schwindigkeitsspektrum in einer laminar strömenden Flüssigkeit. Die new-
tonsche Gravitationstheorie ist im euklidischen Ruam verankert, die exakte
Fluiddynamik braucht die idealisierte Näherung der geordneten oder lamina-
ren Strömung, d. h. eine Strömung, die in voneinander konzeptuell trennbaren
Schichten strömt und in der keine Wirbel entstehen.
Die allgemeine Fluiddynamik (z. B. nach Navier-Stokes) ist dagegen ein Beispiel
der sogenannten nomadischen Wissenschaft. Für den Fall der turbulenten Strö-
mung sind allgemeine analytische Lösungen der das System beschreibenden
Differentialgleichung nicht mehr möglich, so dass sich die Berechnung nur auf
numerische Approximationen und empirische Parameter stützen kann.18
Die königliche Wissenschaft wird als hylemorphistisch bezeichnet, beherrscht
vom „statischen Verhältnis Form-Materie“ (MP 451). Der homogene oder ge-
kerbte Raum verhält sich zu den unveränderlichen und idealisierten Gesetzen
wie die amorphe Materie zur Form im hylemorphistischen Modell. Dagegen
legen Deleuze und Guattari der nomadischen Wissenschaft – unter Berufung
aus Simondons Hylemorphismuskritik – das „dynamische Verhältnis Material
– Kräfte“ (MP 451) zu Grunde. Der Raum wird inhomogen, die Gesetze nicht
mehr universal anwendbar. Hier tritt die Singularität im simondonschen Sinn
als „Keim der Individuierung“ und Struktur einer nicht mehr bloß passiven
Materie auf. Wie in Simondons Kritik des hylemorphistischen Modells des
Ziegels und des Tons betonen Deleuze und Guattari :
„[P]our la science nomade la matière n’est jamais une matière préparée,
donc homogénéisée, mais essentiellement porteuse de singularités.“ (MP
457)
Die Materie, oder der Raum, der der Materie zu Grunde liegt, ist nicht gekerbt
und somit überschaubar strukturiert, sondern birgt Singularitäten, die sich a
priori nicht absehen oder vermessen lassen. Der glatte Raum gehöre zu einer
gewissen Art von Mannigfaltigkeit, die einen Raum einnehmen ohne ihn zu
zählen (occuper sans compter), und die nur durch Abschreiten zu erkunden sei.19
Unter „compter“ kann „global vermessen“ oder „mit einem global-einheitlichen18Vgl. McGraw Hill Encyclopedia of Science and Technology, Artikel „Navier-Stokes Equa-
tion“: „A significant limitation of Navier-Stokes theory is the lack of any proof regardinguniqueness or existence of solutions (. . . ) for given boundary and initial conditions.“
19Im Original „explorer en cheminant sur elles“, (MP 460).
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 63
Koordinatensystem versehen“ verstanden werden. Der gekerbte Raum als ge-
zählter hat somit eine a priori global bekannte Struktur oder eine Karte, die
überall gültig und einheitlich ist. Der glatte Raum dagegen muss Bereich für
Bereich „abgeschritten“ werden. Dabei weist die Materie als mit Singularitäten
strukturiert der Form den Weg, statt dass die Formen die Materie organisie-
ren.20
An dieser Stelle lässt sich eine Verbindung zu den Singularitäten als Diskon-
tinuitäten im Virtuellen aus Différence et répétition oder als „nomadischen
Singularitäten“ (LS 124) im transzendentalen Feld aus La logique du sens ziehen.
Um die Struktur der virtuellen Mannigfaltigkeit – die Eigenschaften von Funk-
tionen – herauszufinden, muss die Mannigfaltigkeit erst durch Reihenentwick-
lungen der Funktionen in kleinen Bereichen, von Singularität zu Singularität
der Reihenentwicklung „entlang gewandert“ werden – dies waren die Reihen,
die sich von Singularität zu Singularität fortsetzen, die in Différence et répétitionzur Struktur des Virtuellen gehörten. Hierbei richtet sich der Weg, die Form des
Weges nicht nach im Voraus bekannten Zielen, sondern wird durch die Singula-
ritäten als lokale Eigenschaften der Funktionen und somit auch als intrinsische
Eigenschaften des Raumes bestimmt.
Indem das Abschreiten eines Raumes nicht mehr auf einen Punkt als Ziel
gerichtet ist, gewinnt der Weg selbst vor den Endpunkten an Bedeutung:
„Or, dans l’espace strié, les trajets sont subordonnés aux points : on va d’un
point à un autre. Dans le lisse, c’est l’inverse : les points sont subordonnés
au trajet.“ (MP 597)
Im gekerbten Raum mit seinem globalen Koordinatensystem ist durch die Koor-
dinaten von zwei Punkten auch direkt ihre Entfernung mit gegeben. Außerdem
ändert sich diese nicht, wenn man die beiden Punkte, ohne sie relativ zueinan-
der zu bewegen, verschiebt (Homogenität).
Auf der riemannschen Mannigfaltigkeit dagegen hängt die Form und Länge
der kürzesten Verbindungsstrecke zwischen zwei Punkten, die Geodäte, immer
von der Krümmung des Raumes ab. Um eine Geodäte zu bestimmen wird die
volle geometrische Struktur des Raumes benötigt. So ist es zu verstehen, wenn
Deleuze und Guattari schreiben:
„Un trajet est toujours entre deux points, mais l’entre-deux a pris toute la
consistance, et jouit d’une autonomie comme d’une direction propre.“ (MP
471)20Vgl. MP 598.
64 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
An dieser Stelle kommt das intensive Spatium aus Différence et répétition wieder:
Es gibt Entfernungen, aber keinen universellen Maßstab dafür. Der glatte Raum
ist so, im Sinne der Verwendung des Begriffs in Différence et répétition , intensiv,
die Entfernungen sind „eingewickelt“ („enveloppées“, MP 598). In Bezug auf
das Beispiel der riemannschen Mannigfaltigkeit bedeutet dies, dass dass die
Geodäten gewissermaßen in der Krümmung verborgen sind, sie müssen erst,
unter Kenntnis der geometrischen Struktur ausgerechnet werden. Diese Berech-
nung kann außerdem immer nur lokal erfolgen, denn die geometrische Struktur
des Raumes ist ortsabhängig: „[L]a situation même de deux déterminations
exclut leur comparaison.“ (MP 606)
Das darauf folgende Zitat aus einem Text von Albert Lautmann legt nahe, dass
mit „déterminations“ „Entfernung“ gemeint ist. Deutlicher wird dies durch
ein Beispiel der physikalischen Anwendung von riemannscher Geometrie in
Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Die „Geschwindigkeit“, in der die
Zeit verstreicht (Größe eines Zeitintervalls) hängt von der Verteilung der Masse
im Raum ab, da die Masse den Raum und somit den Weg des Lichts deformiert
– die Masse krümmt die Linien des Lichts.21
Bislang wurde meist die riemannsche Mannigfaltigkeit als Beispiel für den glat-
ten Raum genannt. Dies könnte den Eindruck entstehen lassen, dass sich glatter
und gekerbter Raum als Kontrahenten immer ausschließen. Bei einem anderen
Aspekt des Gegensatzes von glatt und gekerbt, nämlich dem Paar topologischer
und metrischer Raum ist dies gerade nicht der Fall. Der metrische Raum ist ein
topologischer Raum mit einer zusätzlichen Struktur. So kann das Hinzufügen
einer Metrik auf einem topologischen Raum als Kerbung betrachtet werden.
Wie Simondon in seiner Analyse über die Topologie des Lebendigen eine Be-
schreibung in einem euklidischen Raum von der in einem topologischen ab-
grenzte22, ist auch in Mille Plateaux , wenn es um Biologie geht, das Paar
glatt-gekerbt das von topologischem und euklidischem Raum.
Wie schon im Kapitel zu Simondon ist die Verwendung von „topologisch“
hier nicht streng mathematisch zu verstehen. Deleuze und Guattari auf die
im vorhergehenden Kapitel angesprochene Kontroverse zwischen Geoffroy
21Hier lässt sich am Rande die Frage stellen, warum Deleuze und Guattari der Opposition„Riemann – Euklid“ nicht die von „Einstein – Newton“ zur Seite stellen. Interessanter alsderen Beantwortung ist aber vielleicht die Bemerkung, dass die allgemeine Relativitätstheorieden hylemorphistischen Aspekt der nomadischen Wissenschaft veranschaulicht: das Feld (alsForm), das in einem homogenen Raum (als amorphe Materie) auftritt wird durch das Konzepteines intrinsisch gekrümmten Raums (riemannsche Mannigfaltigkeit als glatter Raum) abgelöst.(Vgl. McGraw Hill Encyclopedia of Scienceand Technology, Artikel „Relativity“).
22Vgl. IGP 259.
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 65
und Cuvier zurück. Cuvier wird der königlichen, Geoffroy der nomadischen
Wissenschaft zugeordnet. Der eine erkläre die Organisation der Lebewesen in
rigiden Funktionen und denkt in euklidischen Strukturen, der andere nehme
einen einzigen Bauplan der Lebewesen als topologischen Raum an, in dem der
Übergang von einer Art zu einer anderen durch Transformationen23 geschieht.
Wie bei Simondon geht es um den Standpunkt, dass die Frage nach Bereichen,
Rändern, Innen und Außen wichtiger ist, als die Form, die geometrische Struk-
tur und die Funktion. In diesem Sinn ist auch die Assoziation von Cuvier mit
dem euklidischen Raum zu verstehen. Das in populärwissenschaftlichen Dar-
stellungen zur Topologie beliebte Beispiel von der Tasse und vom Doughnut
veranschaulicht diese Unterschiede im Denken: im Hinblick auf ihre topologischeStruktur sind die Oberfläche einer Tasse und der eines Doughnuts äquivalent24,
auch wenn sich die Abstände zwischen Punkten und mit ihnen Form und
Funktion des Objekts bei dem Übergang ändern.25
Geographie
Das ständige Zusammenspiel von glatten und gekerbten Räumen wird in der
„Geo-Philosophie“ am deutlichsten: Verschiedene Formen von Räumen durch-
setzen und widerstreiten sich.26 Daher ist eigentlich weniger die Rede von demglatten und dem gekerbten Raum, sondern von kerbenden und glättenden Kräf-
ten, die in Räumen agieren.27 Dies sind zum Beispiel die Steppe die Wüste der
Nomaden, in der nur Pfade (Linien) der nomadischen Wanderung existieren
(sogar die Linien der Dünen wandern) im Gegensatz zu den Räumen der Sess-
haften – zum einen Wald und Acker, gekerbt durch zur Oberfläche senkrechte
Linien der Bäume und die Linien der Ackergrenzen auf der Oberfläche (MP
477), zum anderen die Stadt, als Raum gekerbt durch feste Gebäude Mauern
und Zäune (MP 472).
Das Meer dagegen ist das prinzipielle Beispiel oder der Archetyp des glatten
23Sogenannte Isomorphismen, s. nächster Abschnitt.24Die von beiden Flächen berandeten Körper haben ein Loch, ein kontinuierlicher Übergang,
bei dem keine weiteren Löcher entstehen, ist möglich.25Die Kontroverse zwischen Geoffroy und Cuvier und die Frage der Einheit des Bauplans
und die Organisation allgemein wird im nächsten Abschnitt diskutiert.26In Qu’est-ce que la philosophie? widmen Deleuze und Guattari diesem Begriff ein ganzes
Kapitel und schreiben ganz allgemein: „Penser se fait plutôt dans le rapport du territoire etde la terre.“(QP 82 f.). In diesem Sinne ist auch Mille Plateaux im Grunde genommen schongeophilosophisch. S. auch Bonta/Protevi 2004 zum Begriff der Geophilosophie in Mille Plateaux .
27Vgl. Bonta/Protevi 2004, S.151.
66 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Raums, da es gleichzeitig auch ein Bild für die ständigen Bestrebungen ist, den
glatten Raum zu kerben.
„Car la mer est l’espace lisse pas excéllence, et pourtant celui qui s’est
trouvé le plus tôt confronté aux exigences d’un striage de plus en plus
stricte.“ (MP 598)
Die geometrischen und astronomischen Errungenschaften der königlichen
Wissenschaft haben zur allgemeinen Navigation, der Erstellung von präzi-
sen Karten und somit zur Kerbung des Meeres durch die Erfassung in einem
exakten Koordinatensystem beigetragen. Dagegen war die nomadische Na-
vigation zunächst nur empirisch und immer im Einzelfall anwendbar, dann
„prä-astronomisch“, die Linien und Richtungen benutzte, aber in Ermangelung
keines übergeordneten Referenz-Systems keine Orte angeben und daher auch
keine präzisen und allgemeinen Karten erstellen konnte.
Konsistenz- oder Immanenzebene
Die Konsistenzebene (plan de consistance) nennen Deleuze und Guattari manch-
mal auch Kompositionsebene, Ebene der Univozität, der Natur, des Lebens
oder, nach Spinoza, Immanenzebene. Das französische „plan“ hat die drei Be-
deutungen: „Plan“ – sowohl als „Absicht“ als auch als „Karte“ – und „Ebene“.
Die erste ist teleologisch oder theologisch, die zweite geographisch, die dritte
geometrisch, wobei die zweite und dritte, wie im vorigen Abschnitt angedeu-
tet wurde, auch zusammengenommen werden können. Im Falle des plan deconsistance ist es die dritte (bzw. zweite) Bedeutung. In Spinoza et nous28 nennt
Deleuze die Immanenzebene (plan d’immanence) „eine Ebene im geometrischen
Sinn, Schnitt, Schnittmenge, Diagramm“.29 In diesem Sinne werden auch Bau-
plan (plan d’organisation) und Konsistenzebene gegenübergestellt, worum es im
nächsten Abschnitt gehen wird.
Um zu zeigen, was es heißt, Körper – und zwar „im allgemeinsten Sinne des
Wortes“ (MP 102), das kann auch ein Gesellschaftsköprer oder sogar eine Seele
sein – auf der Immanenzebene zu beschreiben, geht Deleuze vom ersten Prinzip
Spinozas aus: eine einzige Substanz für alle Attribute. Hierauf werden Körper
auf zwei Arten definiert, kinetisch und dynamisch. So ist ein Körper weder über28Aufsatz erschienen in Revue de synthèse, Jan-Sept. 1978, S.271-277, teilweise wieder aufge-
nommen in den beiden Abschnitten „Souvenirs d’un Spinoziste im Plateau 10, Devenir-intense,devenir-animal, devenir-imperceptible. Im Folgenden als Spinoza et nous zitiert.
29Im Original „un plan au sens géométrique, section, intersection, diagramme“, in Spinoza etnous, S.271.
1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 67
Formen, Funktionen oder Organe noch als Subjekt definiert, sondern zum Einen
über die differentiellen Verhältnisse von Ruhe und Bewegung zwischen seinen
unendlich vielen Teilchen, zum Anderen durch das Vermögen, einen anderen
Körper zu affizieren.30
Diese zwei Aspekte der Bestimmung von „Körpern“ führen zu einer spinozisti-
schen Kartographie, nach Längen- und Breitengrad.
„Nous appelons longitude d’un corps quelconque l’ensemble des rapports
de vitesse et de lenteur, de repos et de mouvements entre particules qui
le composent de ce point de vue. Nous appelons latitude d’un corps
l’ensemble des affects qui remplissent un corps à chaque moment, sous le
double aspect de son pouvoir d’affecter et d’être affecté.“31
Die zwei Arten von Koordinaten oder Dimensionen der Immanenzebene als
„Karte“ (die zweite Bedeutung von plan) sind die differentiellen Bewegungs-
größen und die dynamischen Verhältnisse zwischen verschiedenen Körpern.
Dieses Bild ist komplex: Diese „Karte“ eines Körpers ist nicht zweidimensional
und unveränderlich wie eine Weltkarte, sondern ihr „Längengrad“ hat für sich
schon so viele Dimensionen, wie die Teile und Teilchen des Körpers untereinan-
der relative Geschwindigkeiten haben und ändern sich wie diese mit der Zeit.
Ihr Breitengrad dagegen ist so vielfältig wie die Wechselwirkungen zwischen
den „Körpern“, und dies sowohl in ihrer Art (und damit sind alle Affekte,
nicht nur materielle, gemeint) als auch in ihrer Anzahl und Intensität.32 In
Mille Plateaux wird die Latitüde auch „die Gesamtheit der intensiven Affekte“33
genannt.
Uexkülls Milieutheorie gibt ein Beispiel für eine solche Karte der Affekte – die
Zecke als bestimmt durch drei Affekte: das Licht, um auf einen Baum zu klet-
tern, der Geruchssinn, um vorbeigehende Säugetiere auszumachen und der
Wärmesinn, um die Stelle, an der sie sich festsetzt, zu finden.34
Zusammengenommen bilden die Bestimmungen nach differentiellen Geschwin-
digkeiten und intensiven Affekten ein Gefüge (agencement).Die „Dinge“ auf der Konsistenzebene haben daher eine sehr eigene Weise der
Individuierung, radikal verschieden von der Einheit stiftenden Individualität30Vgl. Spinoza et nous, S.272-274.31Ebd., S.274, wieder aufgenommen in MP 318.32Ein einfacheres Beispiel für eine solche Art von Raum wäre der physikalischen Phasenraums
eines Ensembles von n Teilchen: auf beiden Achsen gibt es 3n Variablen, jeweils 3 für Orts- und3 für den Impulsvektor jedes Teilchens. Betrachtungen hierzu stellt Delanda in Deleuze in phasespace an, auch wenn er dort nicht auf die spinozistische Kartographie eingeht.
33„[L]’ensemble des affects intensifs“, MP 318.34Vgl. Spinoza et nous, S.273, auch MP 67-68.
68 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
eines Subjektes, das „Ich“ sagt oder von einer über ihren Zweck oder auch nur
über ihre selbst-erhaltende Organisation definierten Maschine:
„Il y a un mode d’individuation très différent de celui d’une personne,
d’un sujet, d’une chose ou d’une substance. Nous lui réservons le nom
d’heccéité.“ (MP 318)
Statt ein System zu sein, das individuiert ist, insofern es sich von seiner Umge-
bung als geschlossene Einheit abgrenzt, sind diese Haecceitäten immer Gefüge
von sich kreuzenden Linien. Die Haecceitäten sind individuiert insofern sie
„agencés“, ein Zusammengefügtes sind. Sie haben aber kein vereinheitlichen-
des Prinzip wie die Substanz eine Essenz, wie ein Subjekt ein Bewusstsein hat.
Die Haecceität hat rhizomatsiche Struktur, denn sie besteht aus Linien, die
Geschwindigkeiten und Wechselwirkungen markieren.35
Ihre Individualität ist immer durch Prozesse, relativ zu den anderen Haecceitä-
ten als offenes System auf der Konsistenzebene bestimmt.
In der Bestimmung der Körper über differentielle Geschwindigkeiten kehrt der
differentielle Aspekt aus Différence et répétition zurück. Die intensiven Größen
als „eingewickelte“, Differenzen von Differenzen finden sich in den Affekten als
Wechselwirkungen zwischen den Körpern wieder. Allerdings befindet sich die
konzeptuelle Trennlinie nicht mehr zwischen virtuell und aktuell; das kantische
Verhältnis vom Virtuellen als transzendental zum Aktuellen wird zu einer
spinozistischen Immanenzebene, als einer Ebene, aus der sich dynamisch die
Strukturen erst herausbilden.
2 Die Organisation
Der Immanenz- oder Konsistenzebene setzen sich verschiedene Formen oder
Prozesse der Organisation entgegen. Zum einen ist das der Organisations- oder
Bauplan, der als transzendentes oder teleologisches Prinzip über oder jenseits
der Immanenzebene liegt. Zum anderen sind es die nach dem geologischen
Term benannten Prozesse der Stratifizierung, die aber ganz allgemein in der
Bildung von mehr oder weniger rigiden Strukturen ausgehend von der Konsis-
tenzebene bestehen. Schließlich werden das Ei oder der sogenannte Körper ohneOrgane Veranschaulichungen für diesen Widerstreit.
35Vgl. MP 321.
2 Die Organisation 69
„Les deux plans“ oder Konsistenzebene und Bauplan
In dem Abschnitt Souvenirs d’un planificateur im Plateau Devenir-intense, devenir-animal, devenir-imperceptible wird die Immanenzebene dem Organisations- oder
Bauplan (plan d’organisation) gegenübergestellt. Dieser ist ein verstecktes Prin-
zip, das bewirkt, dass das Gegebene gegeben ist, kann aber selber nur durch
Schlüsse ausgehend von dem Gegebenen gefolgert oder erraten werden.
„Un tel plan, il est structural ou génétique et les deux à la fois, struc-
ture et genèse, plan structural des organisations formées avec leurs dé-
veloppements, plan génétique des développements évolutifs avec leurs
organisaitons.“ (MP 325)
Er ist nicht gegeben, sondern „lebt“ in einer höheren Dimension zum Gegebe-
nen (immer n+1 zu n) und ist so ein Plan der Transzendenz oder der Analogie.
Er ist teleologisch oder theologisch und enthält eine Absicht oder ein mentales
Prinzip. Der Präformismus stützt sich auf einen solchen versteckten Organi-
sationsplan, selbst wenn dieser als dem System immanent bezeichnet wird
(z. B. der Baum im Keim). Eine Form oder eine Struktur wird aus einem solchen
Plan heraus auf eine Funktion hin „entwickelt“.
Die Immanenzebene dagegen hat keine zusätzliche Dimension, sie ist immer
immanent mit dem, was sie enthält, gegeben. Die Immanenzebene heißt auch
Kompositionsebene, da sie immer schon mit dem, was sie enthält mitgegeben
ist. Die Komposition in der Ebene geschieht durch Gruppierungen oder Zu-
sammenfügungen von Dingen auf der Ebene, und dies nicht indem sie eine
übercodierende Struktur verwirklicht.
„[L]e processus de composition doit être entendu pour lui-même, marqué
dans ce qu’il donne, immanent à ce qu’il donne (. . . ) c’est un plan qui se
construit morceau par morceau.“ 36
Was oben über die Karten des glatten Raums, die Linien des Rhizoms gesagt
wurde gilt auch hier: auf der Immanenzebene gibt es keinen globalen Organisa-
tionsplan, alles wird Stück für Stück erschlossen.
Als Beispiele aus der Komposition im Wortsinn, nennen Deleuze und Guattari
einige Komponisten ihrer Zeit – Pierre Boulez, John Cage und die minimal musicvon Steve Reich und Philip Glass, die alle, anstatt sich in eine vor-pulsierte Zeit
als Tempo einzugliedern, die Komposition selbst frei in einer „dahin treibende
Zeit“ (temps flottant, „Aiôn“) ihre eigene Zeit markieren lassen.36Spinoza et nous, S.275.
70 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Zurück zu Geoffroy Saint-Hilaire und Cuvier
Im Abschnitt über den glatten und den gekerbten Raum wurden Geoffroy
und Cuvier der nomadischen und der königlichen Wissenschaft bzw. dem
euklidischen und dem topologischen Raum zugeordnet. In Geoffroys Theorie –
oder genauer gesagt, in der Theorie, die Deleuze und Guattari ihm über den
fiktiven Vortrag von Professor Challenger im Plateau La géologie de la moralein den Mund legen – wird die Natur als Konsistenzebene gesehen, auf der
sich die Übergänge zwischen den Arten entlang der Linien eines Rhizoms als
Isomorphismen oder Homologien vollziehen.
„L’important, c’était le principe de l’unité et de la variété: isomorphisme
des formes sans correspondance, identités des éléments ou composants
sans identité des substances composées.“ (MP 61)
In diesem Modell ist die Einheit des „Materials“ für alle Arten zentral. Auf
dieser Ebene, dieser einzigen Mannigfaltigkeit oder Varietät, kann zwischen
beliebigen Lebewesen ein Übergang bzw. eine Transformation durch einen Iso-
morphismus stattfinden, ohne dass eine Entsprechung zwischen den Formen
erkennbar sein muss. So sind sie Seinsweisen oder „Modi“ (frz. modes) die-
ses einzigen „abstrakten Tieres“ und unterscheiden sich durch den Grad ihrer
Entwicklung. Das französische mode erlaubt auch die deutsche Übersetzung
„Mode“, so dass sich die Ausführung des abstrakten Tieres mit der Obertonreihe
zu einem Grundton veranschaulichen lässt. In einem beliebigen Ton schwingt
immer schon seine Obertonreihe, deren Spektrum – oder auf „deleuzoguatta-
risch“ Oberton-Gefüge – den Klang des Tons bestimmt, mit.
Die Frage nach den Variationen der Arten und den Funktionen der verschiede-
nen Organe ist daher eine Frage der Komposition und des Gefüges ausgehend
von einer einheitlichen Konsistenzebene, und keine Frage nach der Organisa-
tion nach Funktionen oder Prinzipien. Es geht dabei nicht um Entwicklung
oder Differenzierung, sondern um Zusammen- oder Auseinanderlaufen von
Bestandteilen in Verhältnissen, die durch relative Geschwindigkeit oder Ruhe
gekennzeichnet sind.37 Wie oben in der spinozistischen Kartographie, sind
alle Variationen und Unterschiede auf Geschwindigkeiten und Wechselwirkun-
gen auf der Konsistenzebene, wo die ungeformten Elemente und Materialien
„tanzen“, zurückführbar. Dies ist die Rolle der Umgebung und des Milieus.38
37Vgl. MP 312.38Vgl. MP 62 und MP 312.
2 Die Organisation 71
Die verschiedenen Arten und Differenzierungen in verschiedene Organe mit
verschiedenen Funktionen, die durch diese Variationen entstehen werden als
„Ausführungen“ desselben abstrakten Tieres verstanden.39 Es ist Geoffroys
Konzept der Isomorphie (MP 61), das gewährleisten soll, dass zwischen den
Arten ein (zumindest konzeptueller) Übergang durch Faltung (pliage) möglich
ist. Ein Isomorphismus ist in der Mathematik eine Abbildung, welche die
Verknüpfung zwischen Elementen beim Übergang vom Urbild zum Bild erhält
(Homomorphimus), und außerdem eindeutig jedem Element des Urbildes ein
Element im Bild zuordnet und umkehrbar ist.40 In Bezug auf Geoffroys Theorie
handelt es sich um einen Übergang von einer Struktur zu einer anderen, ohne
dass Formen oder Funktionen erhalten bleiben.
„Quels que soient les changements de forme, de volume, de position que
subit une pièce anatomique, elle conserve toujours les mêmes relations de
voisinage.“41
Es geht nur um Nachbarschaftsrelationen, oder genauer, um die Erhaltung einer
gewissen Erreichbarkeit zwischen Punkten.42
Cuvier dagegen – oder die Marionette, die Professor Challenger Cuvier spielen
lässt – muss zur Erklärung auf Funktionen zurückgreifen, die, ob theologisch,
teleologisch oder teleonomisch43, in jedem Fall transzendent zur Ebene der
materiellen Vorgänge auf der organischen Ebene der Lebewesen sind – die
Immanenzebene der Natur muss verlassen werden. Entscheidend sind hier
Analogien (Entsprechung von Funktionen) zwischen den Arten:
„C’est leur organisation fonctionnelle qui sous-tend les classes, qui rappro-
che certains organismes et en éloigne d’autres.“44
Bei der Klassifikation der Arten nach funktionellen Organisationen (auf einer
Organisationsebene) werden daher automatisch einige Gebiete oder „Äste“ von
anderen abgetrennt und sind nicht mehr erreichbar – hier verortet sich auch in
39„Un seul Animal abstrait pour tout les agencements qui l’effectuent.“ (MP 312).40Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim 1989.41Jacob 1970, S.117.42Wie beim obigen Beispiel von der Tasse und dem Doughnut – Wahrscheinlich waren es
daher die Mathematiker, die noch am längsten Professor Challengers fiktivem Vortrag in Lagéologie de la Morale zuhörten – „gewöhnt an ganz andere Verrücktheiten“ (MP 74) als denÜbergang vom Elefant zur Qualle, den die Marionette, die Cuvier in diesem Stück spielt,erwähnt.
43Der Unterschied zwischen teleologisch und teleonomisch wird in Abschnitt 3 dieses Kapi-tels genauer erläutert.
44Jacob 1970, S.121.
72 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Baers Annahme der vier Grundtypen von Embryonen, deren Entwicklungen
nicht aufeinander zurückführbar sind.45
„Selon [Cuvier], l’unité du plan ne peut être qu’une unité d’analogie, donc
transcendante, qui ne se réalise qu’en se fragmentant dans des embranche-
ments distincts, suivant des compositions hétérogènes, infranchissables,
irréductibles.“ (MP 311)
In diesem festen Schema verläuft die Einteilung nach „Ähnlichkeitsrelationen
zwischen Organen und Analogien der Formen“46
Vom Blickwinkel der Einteilung in königliche und nomadische, über- und
unter-geordnete, voll- und minderwertige, Haupt- und Neben- Wissenschaft47,
hylemorphistische Konzepte und solche von Energie und Geschwindigkeit,
ist Cuviers Typ fest und übergeordnet, externe Formgebung (moule), während
Geoffroys kontinuierliche Übergänge aus den Variationen der Geschwindigkeit
und Intensität immanent entstehen.48 Auch in Différence et répétition war die
Rede von Geschwindigkeiten der Entwicklung, von einer Genese von virtuell
zu aktuell statt von einem aktuellen Term zu einem anderen. Cuviers Organe
und Funktionen sind solche aktuellen Terme, daher entsteht auch der Streit,
da unter der Voraussetzung von Übergängen zwischen aktuellen Termen und
einem Primat der Ähnlichkeit, Geoffroys universeller Bauplan nicht vorstellbar
ist. Geoffroys Kompositionsebene der Natur dagegen mit ihren ungeformten
Materialien und Elementen entspricht dem Virtuellen.49
Von Simondon zur Geologie – Die Stratifizierung
Stratifizierung und doppelte Artikulation
Wie in Différence et répétition die Aktualisierung der virtuellen Mannigfal-
tigkeiten erklärt werden musste, muss in Mille Plateaux nun die Frage, wie
Organisation und Struktur auf der einen und die Konsistenzebene auf der
45Karl Ernst von Baer (1792-1819), „Begründer der modernen Embryologie, Entdecker desSäugetier-Eies (1826) und der Chorda dorsalis in der Entwicklung der Wirbeltiere; Anhängerder Typenlehre von G. de Cuvier (. . . ) wies so auf die später von F. Müller und E. Haeckelaufgestellte biogenetische Grundregel hin („Gesetz der Embryonenähnlichkeit“)“, SpektrumLexikon der Biologie, Band 2.
46„[D]es ressemblances d’organes et des analogies de formes“ (MP 61).47Das französische Begriffspaar majeure et mineure hat im Deutschen zu viele Bedeutungen,
als dass hier wirklich von einer Übersetzung zu sprechen wäre.48Diese Betonung auf den hylemorphistischen Aspekt findet sich auch in Sauvagnargues
2004, S.141-143.49Vgl. DR 239.
2 Die Organisation 73
anderen Seite zusammen spielen. Wie glatter und gekerbter Raum können
Organisationsplan und Konsistenzebene eine gewisse Zeit lang wie bisher als
abstrakte Pole gegenübergestellt und voneinander abgegrenzt werden. Deleuze
und Guattari nennen dies eine „wohlbegründete Abstraktion“. Andererseits
sind die beiden aber immer in Wechselwirkung:
„Si bien que le plan d’organisation ne cesse de travailler sur le plan de
consistance, en essayant toujours de boucher les lignes de fuite, de stopper
ou d’interrompre les mouvements de déterritorialisation, de les lester, de
les restratifier, de reconstituer des sujets et des formes en profondeur. Et,
inversement, le plan de consistance ne cesse pas de s’extraire du plan
d’organisation, de faire filer des particules hors strates, de brouiller les
formes à coup de vitesse ou de lenteur, de casser les fonctions à force
d’agencements, de micro-agencements.“ (MP 330)
Nachdem bisher eher von Geographie-Philosophie die Rede war – Fragen der Kar-
tographie, der Ebene der Beschreibung – kommt nun der Geologie-philosophischeAspekt hinzu. Den Konzepten der „Strata“ (Schichten), der „Stratifizierung“
und „Destratifizierung“, der „Territorialisierung“ und der „Deterritorialisie-
rung“ – Geologie der Dinge ist das Plateau La géologie de la morale gewidmet. Wie
oben bereits angemerkt, ist dieses Plateau als fiktiver Vortrag von Conan Doyles
Professor Challenger geschrieben.50 Dieser eröffnet mit der Gegenüberstellung
der Welt als Konsistenzebene – „mit instabiler und ungeformter Materie, Ströme
in alle Richtungen, freie Intensitäten oder nomadische Singularitäten“– und
dem „sehr wichtigen, unvermeidlichen, in gewisser Hinsicht gutartigen, in
vielerlei Hinsicht bedauerlichen“ Phänomen der Stratifizierung.51 Was geht bei
der Stratifizierung vor sich, was „tun“ die Strata?
„Les strates (. . . ) consistaient à former des matières, à emprisonner des
intensités ou à fixer des singularités dans des systèmes de résonance et de
redondance, à constituer des molécules plus ou moins grandes sur le corps
de la terre, et à faire entrer ces molécules dans des ensembles molaires.“
(MP 54)
An dieser Passage wird Simondons Einfluss deutlich. Die Stratifizierung ist
ein Resonanzphänomen zwischen Größenordnungen. Aus dem Mikroskopi-50Vielleicht ist es auch deshalb eins der kryptischsten. Hier besonders bemerkenswert
die ausführliche, klare und verständliche Darstellung von Pierre Montebello in Deleueze, s.Montebello 2008, Kapitel IV, Le paradoxe de la nature.
51Im Original „un phénomène très important, inévitable, bénéfique à certains égards, regret-table à beaucoup d’autres: la stratification“.
74 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
schen – bei Deleuze und Guattari das Molekulare genannt – entsteht durch
Verstärkung eine globale oder makroskopische Struktur, Deleuze und Guattari
nennen sie „molar“. Diese Struktur wird insofern „redundant“ genannt, als sie
geordnet und codiert d. h. zu einem gewissen Grad repetitiv oder regelmäßig
ist und dem prä-individuellen oder prä-stratifizierten Chaos entgegensteht.
Der Unterschied zu Simondon und auch zu Différence et répétition liegt in der
Betonung des „territorialen“ Aspekts. In der ordnenden Strukturierung von
Strömen und Teilchen der Konsistenzebene durch Resonanz geschieht auch
eine „Gefangennahme“ (capture, emprisonnement) des deterritorialisierten in ei-
nem Territorium. Hier dominiert das Bild der Resonanz von Schwingungen in
einem Hohlraum – durch die „Einsperrung“ einer Welle tritt die Struktur der
diskreten Eigenschwingungen des Raumes auf.
„Elles opéraient par codage et par territorialisation sur la terre, elles
procédaient simultanément par code et par territorialité.“ (MP 54)
Die Haecceitäten der Immanenzebene werden bei der Stratifizierung in zwei
Hinsichten oder in zwei Dimensionen – der Oberfläche und der Tiefe – einge-
fangen: Die differentiellen Geschwindigkeiten oder Flüsse von unorganisierten
Teilchen werden „territorialisiert“ und die Affekte oder Flüsse von Intensitäten
werden in festen Schichten „versteinert“ oder codiert.
Die geologische Ausdrucksweise weist nicht auf Metaphern, sondern auf die
Verwendung eines Paradigmas im simondonschen Sinn hin – Stratifizierung
als Paradigma für die Formung von Organismen und anderen Formen der
Organisation. Eine der Hauptfragen dieses Plateaus ist die Organisation des
Lebendigen („stratification organique“) oder das Problem, wie ein Organismus
aus dem Körper „gemacht“ wird.52 Die Frage ist auch, inwiefern dieser Vorgang
und sein Ergebnis „gutartig“ und inwiefern sie „bedauerlich“ („bénéfique“ und
“regrettable“) sind.
Zunächst geht es darum, den Vorgang der Stratifizierung genauer zu fassen.
Deleuze und Guattari beschreiben ihn durch das Konzept der doppelten Arti-
kulation – maßgeblich beeinflusst vom indie Linguisten Louis Hjelmslev und
Simondons Hylemorphismuskritik.
Das Plateau beginnt mit dem Bild eines Hummers mit der Unterschrift „doublearticulation“, was in Bezug auf die beiden Zangen des Hummers soviel wie „Ge-
lenk“ bedeutet. Dann aber bezieht sich die articulation bald – frei inspiriert von
52Vgl. MP 55.
2 Die Organisation 75
Hjelmslevs Theorie – auf Inhalt und Ausdruck, so dass die andere Bedeutung,
Artikulation als Explizit-Machen von etwas Impliziten oder als Strukturierung
von Unstrukturiertem es besser auf den Punkt trifft.53
Das Paar Inhalt und Ausdruck wurde in Abgrenzung vom Paar „Bedeutendes –
Zeichen“ (signifiant – signe) gewählt.
„Une forme de contenu n’est pas du signifié, pas plus qu’une forme
d’expression n’est du signifiant.“ (MP 85)54
Es geht nicht um eine übergeordnete Bedeutung, die wie eine transzendente
Absicht über den Strata schwebt, sondern nur um das Verhältnis der Strata
zur Immanenzebene. Die erste Beschreibung der doppelten Artikulation ist in
folgendem Schema dargestellt.55
Inhalt (molekular/mikroskopisch) Ausdruck (molar/makroskopisch)V
1V
2Substanz1 & Form1 Substanz2 & Form2
in- oder metastabile Ströme oder Moleküle molare, zusammengesetzte Dinge& ihre statistische Verteilung & ihre stabile und funktionale Struktur
Dabei unterscheiden sich die beiden Artikulationen (^) dadurch, dass die erste
den Inhalt und die zweite den Ausdruck betrifft. Das Ergebnis sind zwei
Mannigfaltigkeiten, eine des Inhalts, eine des Ausdrucks. Im einfachsten Fall ist
der Inhalt molekular und der Ausdruck molar. Bei der ersten Artikulation mit
ihrer bloß statistischen Ordnung gibt es keinen globalen Code, der Code muss
so lang sein wie die Liste der molekularen Bestandteile und ihrer Interaktionen.
Bei der zweiten Artikulation dagegen, als durchstrukturiert und organisiert,
gibt es einen „Übercode“, surcodage. Der ersten entspricht eine Mannigfaltigkeit,
die „biegsam, eher molekular und bloß geordnet“ ist, der zweiten eine „festere,
molare und organisierte“.56
Deleuze und Guattari geben mehrere Beispiele auf verschiedenen Ebenen –
Moleküle und Makromoleküle, Nukleinsäuren und Proteine. Hierbei wird
deutlich, dass es Artikulationen von Inhalt und Ausdruck auf vielfältigen
53Deleuze und Guattari betonen: „évidamment, réduire la relation articulaire aux os n’étaitqu’une manière de parler.“ (MP 56).
54Für eine Diskussion des linguistischen und gesellschaftlichen Aspekts s. Montebello 2008,S.157-169.
55Vgl. MP 55.56Im Original „souple et seulement ordonné“, „plus dur, molaire et organisé“, (MP 55).
Hier ist nicht klar, warum das erste Ensemble als geordnet bezeichnet wird, wo eigentlichalle Erklärungen eine maximale, molekulare Unordnung nahelegen. Wahrscheinlich ist unter„Ordnung“ hier „Struktur“ in einem minimalen Sinn zu verstehen.
76 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Ebenen, die auch ineinander verschachtelt sind, gibt: die molekulare Ebene,
die makromolekulare Ebene, die Unterscheidung in DNA und Proteine und
schließlich die funktionale Unterscheidung der Proteine je nachdem, wie sie
gefaltet sind. 57
Hier wird nur die Ebene der Zellchemie, in deren Darstellung sich Deleuze
und Guattari eng an François Jacob orientieren und deshalb verhältnismäßig
verständlich sind, zur Veranschaulichung erwähnt.58 Die Doppelartikulation
der Zellchemie besteht aus zwei Vorgängen. Der erste liefert die chemischen
Motive („Buchstaben“ der chemischen Sequenz eines Proteins/DNA Makro-
moleküls), der zweite ist die Polymerisierung und liefert die Makromoleküle
selber.59
In Bezug zu Simondons Hylemorphismuskritik gesetzt entspricht der Inhalt
(contenu) der mit Singularitäten und Haecceitäten (in Simondons Sinn, IGP
58) versehenen Materie (übersättigte Lösung oder formbarer Lehm) und der
Ausdruck (expression) der individuierten Struktur (Kristall oder Ziegel) – auf
beiden Ebenen gibt es Form und Substanz. Simondons präindividueller Phase
entspricht hier die Konsistenzebene,
„c’est-à-dire le corps non formé, non-organisé, non stratifié ou déstratifié,
et tout ce qui coulait sur un tel corps, particules submoléculaires et suba-
tomiques, intensités pures, singularités libres préphysiques et prévitales“
(MP 58).
Diese umfasst all die Materialien, die in Bezug auf das betrachtete Stratum
noch nicht zur Substanz oder gefestigt worden sind. Der Raum für Geoffroys
Isomorphien ist eigentlich das organische Stratum. Die Arten als Ausführung
desselben abstrakten Tieres sind alle Teil des organischen Stratums, gebildet
durch Stratifizierung der Konsistenzebene.
„Ainsi la strate organique n’avait aucune matière vitale spécifique, puisque
la matière était la même pour toutes les strates, mais elle avait une unité
spécifique de composition, un seul et même Animal abstrait, une seule
57Was den genetischen Code angeht, sind die Erklärungen von Deleuze und Guattari aller-dings sehr kryptisch und wenig hilfreich. So ist nicht klar, warum die Proteine dem Inhalt unddie DNA dem Ausdruck entsprechen sollten, da es die DNA ist, die Ursprung der Codierungder Proteine ist. Proteine könnten als Ausdruck der in der DNA enthaltenen genetischenInformation bezeichnet werden (s. MP 57 und MP 59 f.). Hier ist aber gleichzeitig ein gewissesMaß an Selbstironie zu erkennen, Deleuze und Guattari nennen Challengers Vortrag im selbenAtemzug „vermasselt“ (loupé) oder „stupide Popularisierung“ (vulgarisation stupide).
58S. Bonta/Protevi 2004, S.152-153 für eine tabellarische Übersicht zur Klassifizierung derverschiedenen Niveaus und Arten von Strata.
59Deleuze und Guattari zitieren Jacob 1970, S.289-290.
2 Die Organisation 77
et même machine abstraite prise dans la strate, et présentait les mêmes
matériaux moléculaires, les mêmes éléments ou composants anatomiques
d’organes, les mêmes connexions formelles .“ (MP 61)
Dies war auch Simondons Ansatz: Das Lebendige besteht nicht aus einer beson-
deren Sorte von Stoff oder Materie und zeichnet sich nicht durch verborgene
vitalistische Kräfte oder Energien aus, sondern der Unterschied von Leben-
digem zu Nicht-belebtem entscheidet sich allein aufgrund der Vorgänge und
Operationen, die zwischen den Bestandteilen ablaufen.60
So erklärt sich Geoffroys „animal abstrait“ als eine auf dem organischen Stratum
gefangene abstrakte Maschine, die aber dennoch von der allgemeinen Konsisten-
zebene als Ebene der Dinge herrührt.61
Die Dynamik der Strata – Der Einfluss Simondons Betrachtungen zu Milieu
und Transduktion
Oben war zum Inhalt gesagt worden, dass er wie eine mit Haecceitäten (im
simondonschen Sinn) versehene Materie ist – in Bezug auf die Dynamik in-
nerhalb des Stratums heißt dies dann „Substratum“62 – Produkt einer ersten
Stratifizierung, Ausgang von weiteren.
„Les matériaux n’étaient pas la matière non formée du plan de consistance,
ils étaient déjà stratifiés et venaient des «substrates».“ (MP 65)
Diese Materie sei zwar einfacher als die in den molaren Strukturen organisierte
des Ausdrucks, aber ihre Organisation sei nicht weniger komplex als der mo-
laren Organisation auf dem eigentlichen Stratum. Diese Bemerkung soll die
Bevorzugung des Organisierten und Strukturierten vor den bloß statistischen
Ensembles der Substrata vermeiden. Die Differenzierung und die Organisation
wird ausdrücklich nicht mehr als evolutives Fortschreiten angesehen. Diese
Substrata werden in Anlehnung an Simondons Betrachtungen zur Kristallisie-
rung auch „äußeres Milieu“ (milieu extérieur) genannt. Bei Simondon war die
amorphe, übersättigte Lösung das Milieu, in dem sich die kristalline Struktur
bilden konnte. So war die Struktur „das Innere“ und das Milieu „das Äuße-
re“, die Kristallisaiton wird als Interiorisierung des äußeren Milieus verstanden.60„Vie et matière non vivante peuvent en un certain sens être traitées comme deux vitesse
d’évolution du réel.“ (IGP 279).61Der Begriff der abstrakten Maschine wie auch ihr Zusammenhang mit den Strata, der
Konsistenzebene und den virtuellen Mannigfaltigkeiten aus Différence et répétition wird inAbschnitt 3 dieses Kapitels betrachtet werden.
62Nicht zu verwechseln mit einem Substrat – la substrate und nicht le substrat.
78 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
In Bezug auf die Ontogenese des Organismus wäre dieses äußere Milieu die
„berühmte prä-biotische Suppe“ („la fameuse soupe prébiotique, MP 67), aus
der die Einzeller als die ersten primitiven Organisationsformen hervorgehen.
Die Gesamtheit des ontogenetischen Vorgangs besteht daher immer aus Milieu
(relativ außen), geformten oder individuierten Bereichen (relativ innen) und
zwischen ihnen die Grenze oder die Membran (Relation). So nennen auch
Deleuze und Guattari dieses Tripel „zentrale Schicht“ („couche centrale“) oder
„zentralen Ring“ („anneau central“) eines Stratums.63
„Bref, l’intérieur et l’extérieur sont l’un comme l’autre intérieur à la strate.“
(MP 65)
Dies ist aber nur die einfachste Einheit, gewissermaßen als isolierte Moment-
aufnahme des Stratums, oder genauer nur eine Schicht des Stratums. Um das
Voranschreiten des Kristalls oder die Prozesse an der Membran zu beschrei-
ben wird gewissermaßen eine Kinetik benötigt. Dies sind Bewegungen von
der zentralen Schicht hin zur Peripherie, gemäß Simondons Bemerkung, dass
das Lebewesen an seiner Grenze lebt, der Kristall zu sich selbst exzentriert ist.
Diese intermediären Milieus, gekennzeichnet durch ihre Übergangs-Zustände,
nennen Deleuze und Guattari „Epistrata“ („épistrates“). Dazu gehört alles, was
in der Peripherie der zentralen Schichten „passiert“ und fließt (Prozesse und
Ströme), so wie differentielle Intensitätsverhältnisse und die Entwicklung des
Systems an seiner Grenze.64 Das zentrale Stratum fragmentiert sich durch diese
Übergänge.
All diese Flüsse vom Zentrum zur Peripherie sind relative Deterritorialisierun-
gen, d. h. Verschiebungen und Transformationen auf dem Stratum. Wenn sich
das zentrale Stratum in intensiven Prozessen durch Ströme hin zu den Epistrata
ausbreitet, bewegt es sich in dieser Transformation doch auf ein neues Zentrum
zu, in dem dann die Reterritorialisierung geschieht.
„Il faut penser la déterritorialisation comme une puissance parfaitement
positive, qui possède ses degrés et ses seuils (épistrates), et toujours relative,
ayant un envers, ayant une complémentarité dans la reterritorialisation.“
(MP 71)
63Was bei Simondon die Arten der Individuierung (physikalisch, lebendig, inter-individuell)waren, sind bei Deleuze und Guattari verschiedene Strata der Natur (physikalisch, organisch,„alloplastisch“). Die „zentrale Schicht“ entspricht dem einzelnen Individuum bzw. der Zelle alsder primitivsten Einheit eines Organismus.
64Im Original „des taux, des rapports différentiels“, MP 69
2 Die Organisation 79
Außer den Epistrata, dem intermediären Milieu, gibt es noch die Parastrata,
auch als assoziiertes oder annektiertes Milieu bezeichnet. Hier findet durch
Energieaufnahme, Wahrnehmung und Reaktion der Austausch mit anderen
Systemen statt.
„Le Milieu associé de définissait ainsi par des captures de sources d’énergie
(. . . ), par le discernement des matériaux (. . . ) et par la fabrication ou non
des éléments ou composés correspondants.“ (MP 67)
So sind die assoziierten Milieus der Zecke zum Beispiel das des Baumes, das
des vorüberziehenden Säugetiers, mit denen sie durch Wahrnehmung und
Energieaustausch in Wechselwirkung steht. Alle Formen mit denen der Orga-
nismus in Wechselwirkung steht – das Beispiel des Spinnennetzes – sind auch
morphogenetisch, entstehen aus Wechselwirkungen zwischen Milieus. Dies
ist eine Sicht auf die Natur als spinozistische Konsistenzebene. Dieses Netz
von dynamischen Prozessen zwischen offenen Systemen (den Haecceitäten)
hat keine Struktur im Sinne eines Präformismus, sondern ist ständig in seiner
Strukturierung begriffen.65
Statt die Erhaltung einer homöostatischen Einheit zu betonen, sprechen Deleuze
und Guattari von einer Fragmentierung oder Decodierung hin zu den asso-
ziierten Milieus. Das zentrale Stratum als sogenanntes „Ökumen“ – d. h. die
im Stratum gefangene abstrakte Maschine – ist hin zu den Para- und Epistrata
fragmentiert.
„La ceinture, l’anneau idéalement continu de lastrate, l’Œcumène, défini
par l’identité des matériaux moléculaires, des éléments substantiels et les
relations formelles, n’existait que comme brisé fragmenté en épistrates et
parastrates (. . . ).“ (MP 69)
Diese Fragmentierung ist entweder eine Deterritorialisierung hin zu den inter-
mediären Milieus oder eine Dekodierung zu den assoziierten Milieus. Da diese
aber nicht einfach eine statische Struktur, sondern ein Netz von Prozessen auf
dem umfassenden Stratum sind, ist der Blickwinkel, aus dem die Para- und
Epistrata selber in Bewegung sind, ebenso möglich.
„Bref, sur l’Œcumène ou l’unité de composition d’une strate, les épistra-
tes et les parastrates ne cessent de bouger, de glisser, de se déplacer, de
changer, les unes emportées par des lignes de fuite et des mouvements de
65Vgl. MP 68.
80 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
déterritorialisation, les autres par des processus de décodage ou de dérive,
les unes et les autres communiquant au croisement des Milieux.“ (MP 72)
So entsteht das Bild des allgemeinen Stratums, als dynamisches Gefüge, in
dem die zentrale Schicht, Epi- und Parastrata durch Deterritorialisierung, Re-
territorialisierung, Codierung und Decodierung in ständiger Wechselwirkung
sind.
Der Körper ohne Organe als Bild des Nicht-Organisierten
Der Begriff des Körpers ohne Organe (Corps sans organes, CsO) stammt von
Antonin Artaud:
„L’homme est malade parce qu’il est mal construit. (. . . ) il n’y a rien de
plus inutile qu’un organe. Lorsque vous l’avez fait un corps sans organes,
alors vous l’avez délivré de tous ses automatismes et rendu sa véritable
liberté.“66
Wie im Titel von Artauds Radiosendung Pour en finir avec le jugement de Dieu,67
geht es um die Befreiung von Hierarchien, Funktionen und Automatismen, in
denen das Urteil Gottes als transzendentaler Plan bestehe. Die Organisation ist
nicht mehr die „eigentliche“ oder die „gute“ Form eines Körpers, sondern eine
Prozedur, die erlitten wird.
Der Körper ohne Organe als Konsistenzebene
Der Körper ohne Organe ist so gewissermaßen der allgemeinere Körper, der
Organismus wird erst durch Organisation oder Stratifizierung aus ihm gemacht:
„L’organisme n’est pas du tout le corps, le CsO, mais une strate sur le
CsO, c’est-à-dire un phénomène d’acculmulation, de coagulation, de sé-
dimentaiton qui lui impose des formes, des fonctions, des liaisons, des
organisations dominantes et hiérarchisées, des transcendances organisées
pour en extraire un travail utile. Les strates sont des liens, des pinces“(MP
197)
So erklärt sich das Bild des Hummers zur Veranschaulichung der doppelten
Artikulation – die Stratifizierung ist wie ein Ergreifen von Intensitäten, die dann
zu Form und Substanz werden, mit Zangen.66Artaud 2003, S.61.67Gesendet auf Radio France am 1.Februar 1948.
2 Die Organisation 81
Die Stratifizierung oder das Hinzufügen eines übergeordneten Planes auf den
Körper ohne Organe transformiert ihn vom intensiven Spatium, mit Flüssen
und differentiellen Geschwindigkeiten von Teilchen, zu einer funktionalen,
bedeutsamen und subjektiven Struktur.
„Le jugement de Dieu l’arrache à son immanence, et lui fait un organisme,
une signification, un sujet.“ (MP 197)
Im Plateau Le géologie de la morale wurde die Immanenzebene oder die unge-
formte, der doppelten Artikulation und den Strata vorausgehende Materie auch
der Körper ohne Organe genannt. Deleuze und Guattari setzen den Körper
ohne Organe mit der Immanenzebene gleich:
„Le plan de consistance est le corps sans organes.“ (MP 330)
Insofern widersetzt sich der Körper ohne Organe nicht nur dem organischen
Stratum, sondern auch dem der Bedeutung und dem der Subjektivierung –
als Anti-Organisation. Er „desartikuliert“ die doppelte Artikulation, die das
Stratum ermöglicht hatte.68
Wenn sich dagegen ein Organismus deterritorialisiert und zum Körper ohne
Organe wird, heißt das nicht, dass er alle Organe verliert. Was sich verändert,
ist ihre Anordnung. Das Organ liegt auf dem Körper ohne Organe als Maschine,
statt ein in seine Funktionalität eingebundenes organon, ein Werkzeug zu sein.
„Un corps sans organes n’est pas un corps vide et dénué d’organes, mais
un corps sur lequel ce qui sert d’organes (. . . ) se distribuent d’après des
phénomènes de foule, suivant des mouvements brownoides, sous forme
de multiplicités moléculaires.“ (MP 43)69
In diesem Sinne ist auch oft vom „vollen Körper ohne Organe“ die Rede, um
zu betonen, dass dieser zwar nicht-organisiert ist, aber dennoch von relativ
zueinander bewegten Teilen und Teilchen und Intensitäten in statistischen
Bewegungen wimmelt, statt eine durch einen Plan oder eine Funktion vorge-
zeichneten Trajektorie zu folgen.70 Deleuze sieht eine Veranschaulichung dieser
beiden Aspekte in Francis Bacons Malerei. In Francis Bacon ou la logique de lasensation beschreibt er die Deformationen, die die Körper in Bacons Bildern
durchlaufen, wie folgt:68Vgl.MP 197.69Vgl. „C’est que les machines organes ont beau s’accrocher sur le corps sans organes, celui-ci
n’en reste pas moins sans organes et ne redevient pas un organisme au sens habituel du mot. Ilgarde son caractère fluide et glissant.“ (AO 22).
70Um den Aspekt der Intensität wird es im folgenden Abschnitt gehen.
82 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
„Et les déformations de Bacon sont rarement contraintes ou forcées, ce ne
sont pas des tortures, quoi qu’on dise: au contraire ce sont les postures les
plus naturelles d’un corps qui se regroupe en fonction de la force simple
qui s’excerce sur lui, envie de dormir, de vomir, de se retourner, de tenir
assis le plus longtemps possible etc.“ (FB 60)
So hänge alles von Verhältnissen von Kräften ab und lasse sich weder auf eine
Transformation der Form noch auf eine Auflösung in Bestandteile zurückführen.
Insofern folgt der Körper seiner „wahren“ Natur, wenn er diesen Kräften folgt,
statt durch strukturierte Organisation dagegen zu halten.
Der Aspekt des vollen Körpers ohne Organe wird an der Gegenüberstellung von
Kopf und Gesicht deutlich. Deleuze schreibt, dass Bacon in seiner Malerei das
Gesicht als „räumliche und strukturierte Organisation, die den Kopf bedeckt“71,
desorganisiert, so dass der Kopf als ein voller „Block von festem Fleisch“ (FB
31), von den Knochen als Gerüst der Organisation befreit („désossé“), sichtbar
wird.
Bisher wurde der Körper ohne Organe in seiner extremen Form als abstrak-
ter Pol betrachtet. In dem „Experiment“, sich einen Körper ohne Organe zu
machen72, darf dagegen auf keinen Fall zu voreilig alles aufgelöst werden:
„L’organisme, il faut en garder assez pour qu’il se reforme à chauqe aube.“
(MP 199)
Wie die Wechselwirkung von Immanenzebene und Bauplan oder Stratifizier-
tem, bei dem die Konsistenzebene immer auch Reservoir von Intensitäten vor
den Strata ist und die Strata der Konsistenzebene Variablen liefern, muss der
Körper ohne Organe, wenn er bestehen will, ein gewisses Maß an Organisation
aufrecht erhalten, um nicht mit einem „suizidären Einsturz“ zu enden.73 So
darf unter dem Körper ohne Organe als Projekt eher ein Akt als ein Produkt
verstanden werden, kein „mythischer Ort“, an dem eine Befreiung von allen
Strata und Strukturen erreicht ist, sondern „eine Wertschätzung der intensiven
und virtuellen Seite des Reellen“.74 Somit nimmt er die Rolle ein, die das Ei in
Différence et répétition spielte.71„[U]ne organisation spatiale structurée qui recouvre la tête“ (FB 27).72Für eine genaue Darstellung der „Funktion“ des Konzepts für Mille Plateaux und Deleuzes
Philosophie allgemein ist hier kein Platz. Eine übersichtliche Darstellung findetsich in KapitelV von Montebello 2008.
73„[E]ffondrement suicidaire“ – dieser würde wahrscheinlich so aussehen, wie das Ende, dasDeleuze und Guattari Professor Challenger zuteil werden lassen, vgl. MP 93-94.
74„Il ne s’impose pas comme un lieu mythique où nous serions enfin délivrés des strates, maiscomme un acte, valorisant la face intensive, virtuelle, en devenir de la réalité.“, Sauvagnargues2005, S. 181.
2 Die Organisation 83
Der Körper ohne Organe und das Ei
Der Körper ohne Organe wurde bereits als intensives Spatium bezeichnet. Nach
den Betrachtungen zum glatten und gekerbten Raum bekommt dies noch eine
weitere Bedeutung in:
„Il n’est pas espace, ni dans l’espace, il est matière qui occupera l’espace à
tel ou tel degré — au degré qui correspond aux intensités produites.“ (MP
189)
Ein Spatium als glatter Raum, für das es nur eine Karte der Intensitäten und der
Flüsse gibt, keine Formen und Positionen. Dies entspricht der Beschreibung,
die Deleuze auch in Différence et répétition für das Ei gewählt hatte.75 Insofern,
als Stratifizierung bereits mit der Differenzierung in Différence et répétitionverglichen wurde, kann auch der Körper ohne Organe mit dem Ei verglichen
werden. Deleuze und Guattari nehmen sogar eine eine Identifizierung vor:
„Le CsO est l’œuf. Mais l’œuf n’est pas regressif: au contraire, il est
contemporain par excellence, on l’emporte toujours avec soi comme son
propre Milieu d’expérimentation, son Milieu associé. L’œuf est le Milieu
d’intensité pure, le spatium, et non l’extensio, l’intensité Zéro comme prin-
cipe de production. (. . . ) [L]’œuf désigne toujours cette réalité intensive,
non pas indifférenciée, mais où les choses, les organes se distinguent uni-
quement par des gradients, des migrations, des zones de voisinage. L’œuf
est le CsO. Le CsO n’est pas «avant» l’organisme, il y est adjacent, et ne
cesse pas de se faire.“ (MP 202)76
Diese Identifizierung ist allerdings mit Einschränkungen gültig, da das Ver-
ständnis von „Ei“ in Mille Plateaux nicht deckungsgleich mit dem in Différenceet répétition ist. In Différence et répétition wurde durch den Prozess der „Indi-
Drama-Differen zt iation“ ein gewisses Fortschreiten von virtuell zu aktuell mit
den intensiven Dynamiken im Ei als intermediär beschrieben. Hier hatte die
Metapher des Eis für die Welt noch die biologische Richtung der Entwicklung.77
In Mille Plateaux betonen Deleuze und Guattari nun die mythische Bedeutung
75Vgl. MP 189 und DR 155.76Der Ausdruck „non pas indifférencié“ wäre in Différence et répétition wahrscheinlich mit t
geschrieben worden.77Vgl. DR 323. Auch das „Larvensubjekt“ wurde gemäß des biologischen Ursprungs des Wor-
tes als Vorstufe zum differnezierten Erwachsenen gesehen: „Il y a donc bien des acteurs, maisce sont des larves, parce qu’elles sont seules capables de supporter les tracés, les glissementsetrotations. C’est trop tard ensuite.“ (DR 283).
84 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
des Eis als „kosmisches oder psychisches“, als ein umgebendes Milieu der Po-
tenziale, aus denen noch Werden hervorgehen kann, und zwar ganz besonders
ohne eine virtuelle Struktur zu aktualisieren, wie das Beispiel des Gewebes der
Tumore, des Krebsbefalls zeigt:
„[I]l y a aussi un CsO de l’organisme, appartenant à cette strate-là.“ (MP
201)
In diesem Fall besteht der Körper ohne Organe in dem degenerierten Wachstum
des Tumors auf dem Organ bzw. in dem Organismus. Dieser intrinsische
Körper ohne Organe verfolgt ein intensives Werden jenseits der bestehenden
Funktionalität, er zersetzt sie sogar.78 Der Körper ohne Organe als „kosmisches
Ei“79 hat die Möglichkeit einer Entwicklung in zwei Richtungen und das, ohne
dass die „Rückrichtung“, vom Organisierten zum Unorganisierten als Regress
verstanden würde. In diesem Punkt ist der Begriff des Körpers ohne Organe
passender als der des Eis, da er a priori keine Richtung hat. Er kann als Ei (im
biologischen Sinn) gesehen werden, als Konsistenzebene vor der Stratifizierung,
aber auch als Produkt einer Destratifizierung, keine der beiden Richtungen ist
ausgezeichnet.
„Il n’y a pas du tout organes morcelés par rapport à une unité perdue, ni
retour à l’indifférencié par rapport à une totalité différenciable.“ (MP 203)
Das intensive, nicht differenzierte da nicht in einer organischen Repräsentation
gefasste intensive Germen ist der intensive „Grund“ (raison) der Organe mit
ihren „unbestimmten und positiven“ Artikeln und der Gefüge, die sie eingehen,
ohne jede Spur von Präformismus.
Da es bloß intensiv ist, im Sinne von Différence et répétition „eingewickelt“, gibt
es keine Evolution, Entwicklung eines Plans, sondern nur intensive Vorgänge
der Involution.
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische
Vitalität
Auf die Diskussion der durch Stratifizierung und der Dynamiken auf den Strata
folgt die der Zersetzung und des Aufbrechens der Strata hin zur Konsistenze-
bene. Die abstrakte Maschine ist hier der Schlüsselbegriff, der gewissermaßen78Ein ähnliches Beispiel sind von Viren befallene Bakterien, die infolge dessen anstatt ihres-
gleichen zu reproduzieren (organisch) die Viren als „contre nature“ produzieren.79Vgl. AO 334.
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 85
den der Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit aus Différence et répétition ablöst.
Dieser Maschinismus wird schließlich dazu führen, dass das Leben nicht mehr
im organischen Stratum „gefangen“ bleibt. Die Sphäre des Organischen und
des Nicht-Organischen wird zu einem Teil der alles umfassenden Mechanosphäre,
auf der nicht-organische Vitalität möglich wird.
Weder Struktur noch Genese
In dem Kapitel La machine contre la structure seines Buches Gilles Deleuze et FélixGuattari, Biographie croisée beschreibt François Dosse die Positionen von Deleuze
und Guattari zum Strukturalismus vor bzw. zu Beginn ihrer Zusammenarbeit.
Deleuze macht vom Prinzip der Struktur in Différence et répétition und La logiquedu sens als virtuelles oder transzendentales Feld der Singularitäten Gebrauch
und sieht darin eine „Wertschätzung der Immanenzebene“.80 Er bezeichnet in
La logique du sens sogar die Struktur als Maschine: „La structure est vraiment
une machine à produire le sens incorporel.“ (LS 88)
Guattari schreibt dagegen 1969 einen Artikel mit dem Titel Machine et structure81
als Kritik zu Différence et répétition und La logique du sens, in dem er vorschlägt,
den Begriff der Struktur teilweise durch den der Maschine zu ersetzen.
Guattari zitiert drei fundamentale Eigenschaften der Struktur aus La logiquedu sens.82 In Bezug auf die Terminologie aus Différence et répétition , die im
vorigen Kapitel diskutiert wurde, sind dies die heterogene Reihen, die erstens
von Singularität zu Singularität fortgesetzt werden, und zweitens wesentlich
über die differentiellen Verhältnisse zwischen ihren Termen definiert werden.
Den dritten Punkt, nämlich, dass diese Reihen durch den Dispars als paradoxes
Element in Resonanz versetzt werden, sei keine Bestimmung der Struktur, son-
dern komme allein der Maschine zu.
In einem Artikel aus der Zeitschrift Chimères, L’an 01 des machines abstraites,
erklärt Guattari die Einführung des Begriff der abstrakten Maschine, der „in
80François Dosse schreibt „Deleuze voit dans cette orientation une libération de la transcen-dance, une valorisation du plan d’immanence et y repère la possible machinerie productivede sens qu’il souhaite voir se déployer dans une prolifération libre pour faire émerger lessingularités préindividuelles.“, Dosse 2007, S.275.
81Erschienen in Revue Change Nr.12, Seuil 1972.82„Of Deleuze’s three minimum conditions determining structure in general, I shall retain
only the first two: (1)There must be at least two heterogeneous series, one of which is definedas the signifier and the other as the signifed. (2) Each of these series is made up of terms thatexist on, through their relationship with one another. His third condition, ’two heterogeneousseries converging upon a paradoxical element that acts so as to differentiate them’, relates, onthe contrary, exclusively to the order of the machine (LS 63 )“, aus der englischen Übersetzungvon Machine et structure, in Félix Guattari, Molecular Revolution, New York 1984, S.111.
86 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Ermangelung eines Besseren“, wie er selber schreibt, so genannt wurde.83 Ziel
sei es, das semiotische Feld der Zeichen oder der „Maschinen der Zeichen“ und
das der „Maschinen der materiellen Flüsse“84 (z. B. Gleichungen in Chemie und
Physik und die materielle Wirklichkeit, die sie beschreiben) zu verbinden, ohne
auf Bedeutungen und Über-Codes zurückgreifen zu müssen.
Die Wahl des Begriffs „Maschine“, mit dem betonten Verzicht auf teleologi-
sche Konnotationen, erklärt sich daraus, dass ein gewisses Ding, ein gewisser
Operator, der gewisse Operationen vollzieht, gebraucht wird, um alle Begriffe,
die nicht rein immanent sind – und hierzu zählt Guattari auch die Begriffe der
Form und der Struktur – zur Erklärung zu umgehen.
Während also in Différence et répétition noch die differentiellen Verhältnisse und
die Singularitäten als Struktur des Virtuellen bezeichnet wurden, wird in MillePlateaux der Immanenzebene eine Struktur abgesprochen:
„Il n’y a pas plus structure que genèse.“ (MP 326)
In Différence et répétition wurden Struktur und Genese gerade durch den Pro-
zess der „Indi-Drama-Differen zt ierung“ versöhnt.85, indem ein resonanter oder
intensiver Übergang von der virtuellen Struktur zum aktuellen Individuum
stattfand. Auf der Immanenzebene gibt es dagegen keine Resonanzen und
Einheit-stiftenden Individuierungen mehr, sondern nur noch abstrakte Maschi-nen und maschinische Gefüge, die nun die Rolle der „schöpferischen“ Struktur
der virtuellen Mannigfaltigkeit übernehmen. Dies ist es, was Guattari mit
dem Begriff der maschinischen Heterogenese betonen will. Zum maschinischen
Gefüge schreibt er
„C’est un agencement de champ de possibles, de virtuels autant que
d’éléments constitués, sans notion de rapport générique ou d’espèce.“86
Die Gefüge gehen durch alle Bereiche, und es gibt keine ausgezeichnete Rich-
tung mehr von virtuell nach aktuell.
83Félix Guattari, L’an 01 des machines abstraites, aus Chimères, No. 23, 1994, S.10-11.84„Elles sont aussi bien dans le champ des signes, des machines sémiotiques que dans le
champ des machines fonctionnant sur des flux matériels.“85Vgl. DR 323.86L’hétérogenèse machinique, S.3.
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 87
Kritik des klassischen Maschinenbegriffs: Autopoietische Ma-
schinen
Die Kritik des klassischen Verständnisses von „Maschine“ als gleichgesetzt
mit „intentionell hergestelltes Artefakt“ teilen Deleuze und Guattari mit der
sogenannten „zweiten Welle der Kybernetik“ oder „zweiten Kybernetik“.87
Während die „erste“ Kybernetik sich mit der Funktionsweise und Selbstregu-
lierung Feedback-Mechanismen von Maschinen und Organismen auseinan-
dersetzte, befasst sich die „zweite“ Kybernetik mit Selbstorganisations- und
Selbstreproduktionsprozessen. Hierzu werden vor allem von Neumanns Arbei-
ten zu selbst-reproduzierenden Automaten (1966) und Maturana und Varelas
Theorie der Autopoiese gezählt.
Diese zweite Variante geht mit einer radikalen Veränderung des Maschinen-
Bildes, das die klassische Polemik zwischen Mechanismus und Vitalismus
hervorruft, einher. Deleuze und Guattari benennen dies wie folgt:
„Une machine fonctionne suivant les liaisons préalables de sa structure et
de l’ordre de positions de ses pièces, mais ne se met pas en place elle-même
pas plus qu’elle ne se forme ou se produit.“ (AO 337)
Es ist der Ansatzpunkt von Maturana und Varela, genau diese „Unfähigkeit der
Maschine, die Formung des Organismus zu erklären“, anzuzweifeln.88
„Maschinen werden im Allgemeinen als von Menschen gemachte Artefak-
te mit vollständigen deterministischen Eigenschaften betrachtet, die sie
zumindest theoretisch völlig vorhersehbar machen.“89
Sie verfolgen ausdrücklich einen mechanistischen Ansatz, „es werden keinerlei
Kräfte oder Prinzipien herangezogen, die sich nicht im physikalischen Univer-
sum finden.“90 Genau in diesem Sinn schreiben sie:
„Wir behaupten, daß lebende Wesen Maschinen sind.“91
Wie bei Simondons Ansatz zur „universellen Kybernetik“, mit der Betonung
des Verhältnisses zwischen Operation und zwischen Operationen und Struktu-
ren, geht es Maturana und Varela nicht darum, Strukturen zu analysieren und87Vgl. Atlan 2011, S.24, Johnston 2008, S.167.88„[L]inaptitude foncière [de la machine] à rendre compte des formaitons [de l’organisme]“,
AO 337.89Maturana/Varela 1982, S.188.90Ebd. S.181.91Ebd., S.182.
88 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
die Eigenschaften von Bestandteilen zu beschreiben, sondern um die Untersu-
chung der Struktur dieser „lebendigen Maschinen“ auf ihre Organisation hin,
d. h. „[d]ie Relationen, die eine Maschine als Einheit definieren, und die die
Dynamik ihrer möglichen Interaktionen und Transformationen bestimmen“.92
Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Lebewesen autopoietische Maschinen sind,
d. h. Maschinen, bei denen die Prozesse zwischen den Bestandteilen folgende
Bedingungen erfüllen:
„Eine autopoietische Maschine ist eine Maschine, die als ein Netzwerk von
Prozessen der Produktion (Transformation und Destruktion) von Bestand-
teilen organisiert (als Einheit definiert) ist, das die Bestandteile erzeugt,
welche 1. aufgrund ihrer Interaktionen und Transformationen kontinuier-
lich eben dieses Netzwerk an Prozessen (Relationen), das sie erzeugte, neu
generieren und verwirklichen, und 2. dieses Netzwerk (die Maschine) als
eine konkrete Einheit in dem Raum, in dem diese Bestandteile existieren,
konstituieren, indem sie den topologischen Bereich seiner Verwirklichung
als Netzwerk bestimmen.“93
Statt Forderungen an ein Netzwerk von Bestandteilen zu fordern, wird ge-
fordert, dass ein Netzwerk aus Prozessen zwischen bereits bestehenden oder
entstehenden Bestandteilen ein gewisses Verhalten aufweist, das dazu führt,
dass sich das Netzwerk nicht nur als Einheit erhält, sondern auch beständig
erneuert. Zu dieser Definition des Lebewesens gehört weder eine übergeordne-
te Absicht (Teleologie), noch ein ihm einbeschriebenes genetisches Programm
(Teleonomie) – es wird nicht gefordert, dass das System in einer wie auchimmer
gearteten Form darauf aus- oder abgerichtet ist, sich so zu verhalten.94 Teleolo-
gie und Teleonomie gehen nach Maturana und Varela über das „System lebende
Maschine“ hinaus und sind bloß relativ zu einem Beobachter eine Eigenschaft
der Beschreibung.
Besonders wichtig an dieser Definition des Lebewesens ist, dass es als ge-
schlossenes System „seine eigenen Grenzen im Prozeß seiner Selbsterzeugung“
erzeugt.95 Es hat weder Input noch Output in dem Sinne, dass ihm durch eine
Operation, die nicht Teil seiner eigenen Organisation ist, Energie, Information
92Ebd.93Ebd. S.184.94Der Begriff der Teleonomie ist in Monods Le hasard et la necéssité von zentraler Bedeutung.
Henri Atlan sieht ihn als die mechanistische Variante von Claude Bernards vitalistischer „idéedirectrice“ und zitiert Ernst Mayrs Definition der Teleonomie als „nonpurposeful end-seekingprocess“, im Gegensatz zur intentionellen Teleologie (vgl. Atlan 2011, S.49).
95Ebd. S.187.
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 89
oder Materie zugeführt werden müsste.96 Hier liegt nun der Unterschied zwi-
schen Mechanismus und Maschinismus: Maturana und Varela befreien zwar die
Maschine von einer teleologischen und teleonomischen Beschreibung, aber ihre
Beschreibung bleibt – mit Deleuze und Guattaris Worten – auf einem kleinen
Bereich des organischen Stratums „territorialisiert“.
„For a machinic thinking autopoiesis fails to appreciate the extent to which
all living systems and their boundaries are caught up in machinic assembla-
ges that involve modes of transversal becoming. Although autopoiesis
grants a high degree of autonomy to a living system it ultimately posits
systems that are entropically and informationally closed.“ 97
Das Denken wird demnach erst maschinisch statt nur mechanisch, wenn genau
diese durch Organisation definierte Einheit aufgebrochen wird, und zwar hin
zur spinozistischen Konsistenzebene, auf der Maschinen mit anderen Maschi-
nen Gefüge bilden. Dem abstrakten Mechanismus mit seinen Maschinen als
„organisierten und strukturellen Einheiten“ und dem Vitalismus mit seinem
Lebewesen als „individuellen und spezifischen Einheiten“ (AO 337) setzten sie
die abstrakte Maschine und das maschinische Gefüge als offene Systeme entgegen.
Guattari schreibt, das Ziel dieses von der Einheit abgewendeten Maschinis-
mus sei es, „die Grenzen der Maschine stricto sensu hin zu der funktionellen
Gesamtheit, die sie mit dem Menschen verbindet, zu erweitern“.98
Maschinismus statt Mechanismus – Die abstrakte Maschine und
das maschinische Gefüge
Wie am Anfang dieses Abschnitts bemerkt, nimmt die abstrakte Maschine in
Mille Plateaux gewissermaßen die Rolle des Dispars aus Différence et répétitionein, d. h. die Herstellung einer Verbindung zwischen disparaten Reihen. Die ab-
strakte Maschine hatte weiter oben bei der Diskussion der Organisation bereits
kurz Erwähnung gefunden, als Geoffroys abstraktes Tier oder allgemeiner als
Ökumen, das auf dem Stratum „eingewickelt“ ist.
96Nahrungsaufnahme des Lebewesens gegenüber der Treibstoffzufuhr der „allopoietischenMaschine“.
97Ansell-Pearson 1999, S.169.98Im Original „d’élargir les limites de la machine, stricto sensu, à l’ensemble fonctionnel qui
l’associe à l’homme", L’Hétérogenèse machinique, S.3.
90 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
„On pouvait même dire que les machines abstraites, qui émettaient et
combinaient les particules, avaient comme deux modes d’existence très
différents: l’œcumène et le planomène.“ (MP 73)99
Als Ökumen garantiert sie die (relative) Einheit eines Stratums durch die re-
lative Deterritorialisierung in der Verschiebung der verschiedenen Milieus
ineinander, durch die Fragmentierung des zentralen Schicht hin zu ihren Para-
und Epistrata hindurch. So wie das allen Arten gemeinsame „abstrakte Tier“
den Übergang zwischen Arten durch Isomorphismen ermöglicht, stellt die
abstrakte Maschine auf einem Stratum dessen Programm dar. Als Planomenvollzieht oder „steuert“ sie dagegen die absolute Deterritorialisierung, durch
alle verschiedenen Strata hindurch.
„Tantôt la machine abstraite traversait toutes les stratifications, se déve-
loppait unique et pour elle-même sur le plan de consistance dont elle
constituait le diagramme (. . . ).“ (MP 73, vgl. auch MP 91)
Nur in diesem Modus als Planomen auf der Konsistenzebene ist die abstrakte
Maschine entwickelt und hat ihre volle Reichweite, indem sie alle Strata, die sich
auf der Konsistenzebene formen – egal von welcher Art und von welcher Grö-
ßenordnung – durchläuft. In diesem Sinne ist von der „eigentlichen“ (véritable)
abstrakten Maschine die Rede:
„Une véritable machine abstraite n’a aucun moyen de distinguer pour
elle-même un plan d’expression et un plan de contenu, parce qu’elle trace
un seul et même plan de consistance, qui va formaliser les contenus et les
expressions d’après les strates ou les reterritorialisations.“ (MP 176)
Weiter oben war gesagt worden, dass sich die abstrakte Maschine „auf“ der
Konsistenzebene entwickelt, nun heißt es, dass sie die Konsistenzebene „zeich-
net“. Dies sind die zwei Aspekte oder Richtungen der abstrakten Maschine:
Zum Einen geht sie den Strata voraus und zeichnet erst die Ebene, auf der sich
die Strata formen werden, zum Anderen durchquert die die geformten Strata in
einer transversalen Bewegung. Indem sie als Planomen in jedem Fall außerhalb
davon liegt, operiert sie auch außerhalb der Möglichkeit von Bestimmungen
der Form, der Substanz, dem Inhalt und dem Ausdruck. Dieser Aspekt begrün-
det die Wortwahl der abstrakten Maschine. In dieser Hinsicht erinnert sie an
Simondons präindividuelle Phase oder das Virtuelle aus Différence et répétition .
99Passage im Origninal kursiv.
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 91
Nur ist sie noch radikaler prä-individuell, da sie außerhalb jeder Struktur aus
Form und Inhalt agiert. Daher wird sie auch nicht mehr das Programm zur
Formung von Strukturen und Strata auf der Konsistenzebene genannt, sondern
konstituiert das Diagramm der Konsistenzebene. Mit dem eigentlichen Wort-
sinn von Diagramm hat diese Verwendung sehr wenig zu tun. Die Wortwahl
lässt sich vielleicht erklären, indem das Programm, die abstrakte Maschine fürein Stratum war, während das Diagramm formlos und informell alle Strata
durchläuft, sie transversal schneidet.
„[L]e diagramme n’est pas un métalangage inexpressif et sans synta-
xe, mais une expressivité-mouvement qui comporte toujours une langue
étrangère dans la langue, das catégories non linguistiques dans le langage
(. . . ).“ (MP 638)
Die Hylemorphismus-Kritik in Bezug auf die Strata stützte sich auf die Kon-
zepte von Ausdruck und Inhalt. Jenseits der Strata ist das Diagramm nicht
Ausdruck sondern „Ausdrücklichkeit“ in Bewegung, eine deterritorialisierende
Funktion oder besser ein „Deterritorialisierungs-Operator“, der die verschie-
denen und heterogenen Strata zueinander hin öffnet. In Francis Bacon – Lalogique de la sensation ist das Diagramm ein zentraler Term, was Bacon darunter
verstehe, ist eine Deterritorialisierung von Bereichen des Bildes:
„[C]’est comme si l’on changeait d’unité de mesure, et substituait aux
unités figuratives des unités micrométriques, ou au contraire, cosmiques.“
(FB 93-94)
Weg von der Repräsentaiton eines Kopfes mit Gesicht, werden dort, wo in einer
organischen Darstellung das Gesicht mit seinen vertrauten Abständen und
Formen war, andere Bereiche eingefügt, die aus ganz anderen Strata und auch
ganz anderen Größenordnungen stammen können – z. B. eine „Sahara-Zone“
oder eine mikroskopische Vergrößerung eines Stück Rhinozeros-Haut. Die
verschiedensten Größenordnungen sind so in diesem Diagramm eingewickelt.
In Mille Plateaux verwenden Deleuze und Guattari den Begriff „virtuell“ nicht.
Es liegt aber nahe, die abstrakte Maschine bzw. das Diagramm und das Phylum
dem Bereich des Virtuellen zuzuordnen. In L’hétérogenèse machinique nennt Guat-
tari das Diagramm „machine abstraite désincarnée“, die (eigentliche) abstrakte
Maschine „diagrammatische Virtualität“.100 Die aktualisierte Maschine nennt
100L’ hétérogenèse machinique, S.9.
92 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
er hier „manifestiert in energetischen, raum-zeitlichen Koordinaten“, während
die abstrakte Maschine sich als virtuelles Diagramm in „zahlreicheren und de-
territorialiserteren Koordinaten entwickelt“ – d. h. auf der Konsistenzebene.101
In Différence et répétition war von „Inkarnation“ die Rede, was den Beiklang hat,
dass eine eindeutige Beziehung mit einem festen Ergebnis besteht, während
das „Manifest-Werden“ flüchtiger ist. So kann die abstrakte Maschine in einem
gewissen maschinischen Gefüge manifest werden, es aber ebenso gut wieder
auflösen.
Die abstrakte Maschine entspricht aber nicht nur dem virtuellen „Vorgänger“
einer im Gefüge aktualisierten Maschine, sie ist gleichzeitig auch der Operator,
der diese Aktualisierung als Diagramm vorzeichnet.
„Elle a plutôt un rôle pilote. C‘est qu’une machine abstraite ou diagram-
matique ne fonctionne pas pour représenter même quelque chose de réel,
mais construit un réel à venir, un nouveau type de réalité.“ (MP 177)
Demnach ist sie eine Art Operator, Johnston nennt sie „the assemblage’s piloting
function“102, auf der Konsistenzebene. Sie konstruiert, zeichnet etwas, ein
„Reales, das noch kommt“, also ein Virtuelles, aber ohne Struktur.
Die Stratifizierung ist das, was passiert, das maschinische Gefüge die abstrakte
Maschine ausführt: Formen, Subjekte, Organe und Funktionen sind auch Strata
oder Beziehungen zwischen Strata.103 Hier ist eine Gegenüberstellung der
Terminologien aus Différence et répétition und Mille Plateaux möglich. Mit der
Bildung des Gefüges entlang des unsichtbaren oder unterirdischen Weges, den
der Dispars oder die abstrakte Maschine vorgezeichnet hat, wird eine Resonanz
vollzogen. Diese „errichtet das stratifizierte System“104 oder setzt verschiedene
Strata in Verbindung miteinander – „il fallait un agencement pour que se fasse
le rapport entre deux strates.“ (MP 91). In der letzteren Funktion wird das
Gefüge Interstratum genannt (MP 93).
In der anderen Funktion des Gefüges, in der es als Metastratum (MP 93) die Stra-
ta mit der Konsistenzebene in Verbindung erhält und destratifiziert, zeigt sich
ein Unterschied zu Différence et répétition . Eine Bewegung, die vom Aktuellen
zurück zum Virtuellen geht, eine Auflösung, die oben bereits mit der „Explo-
sion heterogener Reihen in der Fluchtlinie“ oder Auflösung des Organismus101„[L]a machine manifestée dans les coordonnées énergético-spatio-temporelles“,
L’hétérogenèse machinique, S.9.102Johnston 2008, S.119.103Vgl. MP 330.104Im Original „instaure le systéme stratifié“ (MP 75).
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 93
zum Körper ohne Organe angesprochen wurde, wurde in Différence et répétitionso nicht thematisiert.
So extrahiert die abstrakte Maschine immer aus den Strata. In diesem Sinne
schreibt Guattari, dass statt “abstrahiert“ auch „extrahiert“ für die abstrakte
Maschine gilt:
„Lorsque nous parlons de machines abstraites, par « abstrait » nous pouv-
ons aussi bien entendre « extrait » au sens d’extraire. Ce sont des montages
susceptibles de mettre en relation tous les niveaux hétérogènes qu’ils tra-
versent et que nous venons d’énumérer.“105
Die abstrakte Maschine ist demnach sowohl begründend als auch extrahiert und
extrahierend. Die heterogenen Niveaus, die sie verbindet, sind das materielle
(Materie und Energie), das organisierte (Organe und Organismen), das soziale
oder inter-individuelle (das oben erwähnte „alloplastische Stratum“).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die abstrakte Maschine und die Strata
in zwei Weisen zusammenhängen. Zum Einen geht die Immanenzebene und
die abstrakte Maschine den Strata immer schon voraus:
„Les strates sont des retombées, des épaississements sur un plan de consi-
stance partout présent, partout premier, toujours immanent.“ (MP 90)
Andererseits wirkt die Konsistenzebene, operiert die abstrakte Maschine auch
auf den bestehenden Strata in den relativen Deterritorialisierungen noch weiter.
„Mais, sous les formes et les substances des strates, le plan de consistance
(ou la machine abstraite) construit des continuums d’intensité: il crée une
continuité pour des intensités qu’il extrait de formes et de substances
distinctes.“ (MP 90)
Diese abstrakte Maschine als Diagramm aller Strata, als eine Karte der intensiven
Größen kommt so in den relativen Deterritorialisierungen immer wieder durch,
etwa wie das Lebendige bei Simondon immer metastabile Bereiche aufrecht
erhalten muss und in Différence et répétition die Zentren der eingewickelten
Intensitäten auch im Differenzierten weiter fortbestehen.
Auf der Mechanosphäre
Außer dem Diagramm als „nicht-formelle“ Funktion besteht die abstrakte
Maschine noch aus dem sogenannten Phylum als eine ungeformte Materie im105L’hétérogenèse machinique, S.3.
94 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Fluss, die allen Strata zu Grunde liegt. Dieses Phylum ist nicht einfach Inhalt
oder Materie, sondern Materialität im Sinne einer völlig abstrakten Materie:
„[L]e phylum machinique, c’est la matérialité, naturelle ou artificielle, et les
deux à la fois, la matière en mouvement, en flux, en variation, en tant que
porteuse de singularités et de traits d’expression.“ (MP 509)
Indem es die allen Strata gemeinsame abstrakte Materialität ist, stiftet das
Phylum zwischen den verschiedensten Formen und Ebenen eine Einheit.
„Ce flux opératoire et expressif est aussi bien naturel qu’artificiel: il est
comme l’unité de l’homme et de la nature.“ (MP 506)
Dieser Fluss verzweigt und differenziert sich allerdings in den konkreten Gegen-
ständen, wie sich das Virtuelle in Différence et répétition im Aktuellen inkarniert.
Diese Differenzierung der abstrakten Materie ist die „selektive Aktion der
Gefüge“:
„On appellera agencement tout ensemble de singularités et de traits prélevés
sur le flux – sélectionnés, organisés, stratifiés – de manière à converger
(consistance) artificiellement et naturellement (. . . ).“ (MP 506)
Die Gefüge werden durch Stratifizierung oder Organisation, Strukturierung
aus diesem gemeinsamen Stamm entnommen und zerschneiden ihn so gewis-
sermaßen in diskontinuierliche Strata oder Nachkommenschaften (lignées). Das
Phylum durchzieht sie dennoch alle – ob natürlich oder künstlich – verbindend
als „unterirdischer Faden“ und zeichnet so auf der Konsistenzebene die Wege
für Transcodierung und Deterritorialisierung zwischen ihnen vor.
Das, was von der abstrakten Maschine durchzogen wird, durch das maschini-
sche Phylum als Fluss oder das Diagramm als intensive Karte, ist nicht mehr
die Sphäre der Technik, der Physik, der Organismen oder der gesellschaftlich
vernetzten Individuen, sondern eine universelle Mechanosphäre:
„Il n’y a pas de biosphère, de noosphère, il n’y a partout qu’une seule et
même Mécanoshpère“(MP89)
Alle Ebenen oder Strata sind gleichermaßen von der abstrakten Maschine als
Planomen durchzogen, keine hat Vorrang vor einer anderen – es gibt keine
Hierarchie oder feste Ordnung zwischen den Strata.
„Ce que nous appelons mécanosphère, c’est l’ensemble des machines
abstraites et des agencements machiniques, à la fois hors strates, sur les
strates et interstratiques.“ (MP91)
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 95
Die Mechanosphäre umfasst alle maschinischen Gefüge und alle abstrakten
Maschinen, ob auf den Strata oder außerhalb der Strata. So finden alle Vorgänge
darauf statt, solche auf der Immanenzebene, auf den Strata und auch stratifizie-
rende oder destratifizierende Vorgänge dazwischen. Insofern geht der Begriff
der Maschine weit über den der technischen Maschine hinaus. Die Frage an
eine konkrete Maschine als Inkarnation der abstrakten Maschine sind daher
nicht „was ist sie?“, „wofür ist sie gut?“, sondern „was tut sie?“, „in welchen
Gefügen besteht sie, welche Gefüge geht sie ein?“
„Ce n’est pas de l’animisme, pas plus que du mécanisme, mais un machi-
nisme universel: un plan de consistance occupé par une immense machine
abstraite aux agencements infinis.“ (MP 313)
Deleuze und Guattari schreiben, dass die Kinder, in dem sie solche „Maschinen-
Fragen“ stellen, eigentlich spinozistisch denken und die Dinge auf einer Kon-
sistenzebene sehen, auf der sie Gefüge miteinander eingehen. Dies ähnelt auch
der Herangehensweise der „ersten“ Kybernetik, die die vermeintliche Lücke
zwischen Organismen und Maschinen im klassischen Verständnis mit einer
ebenso pragmatischen Herangehensweise zu überbrücken versuchte:
„Cybernetics (. . . ) is a “theory of machines,” but it treats, not things but
ways of behaving. It does not ask “what is this thing?” but “what does it
do?”(. . . ) It takes as its subject-matter the domain of “all possible machines”
and is only secondarily interested if informed that some of them have not
yet been made, either by Man or by Nature. What cybernetics offers is the
framework on which all individual machines may be ordered, related and
understood.“106
Übersetzt in Deleuze und Guattaris Terminologie wären die „Arten des Verhal-
tens“ die spinozistische Koordinaten eines Dings, der „Bereich aller möglichen
Maschinen“ die Mechanosphäre der Kybernetik. Die Ordnung und Verbindung
von „individuellen“ Maschinen wäre die abstrakte Maschine, die von konkreten
maschinischen Gefügen ausgeführt wird, oder erst noch ausgeführt werden
kann. Hier muss allerdings direkt hinzugefügt werden, dass der Maschinen-
begriff der Kybernetik, wenn auch allgemeiner unf offener als der klassische,
doch noch enger und konkreter als der von Deleuze und Guattaris abstrakter
Maschine, die als zusamemngesetzt aus Phylum und Diagramm keine Struktur
hat. Was die Kybernetik liefern will ist ein Programm für alle Maschinen, ihre106Ashby 1956, S.1-2.
96 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
virtuelle Maschine ähnelt den aktuellen in ihrer Struktur, während Deleuze
und Guattari betonen, dass die abstrakte Maschine ein bloßes Diagramm ohne
Struktur ist.
Die Maschine als universelles Konzept umfasst so in der einen oder anderen Art
alles Seiende. In Chaosmose spricht Guattari von „eixstenziellen Maschinen“:
„Les machines existentielles sont de plain-pied avec l’être dans sa multipli-
cité intrinsèque.“107
Diese „intrinsische Mannigfaltigkeit“ verweist auf die Konsistenzebene. Die
Konsistenzebene der Natur108 als Mechanosphäre macht keine Unterschiede
zwischen den verschiedenen Formen der Organisation, zwischen den verschie-
denen Strata. So wird sie auch Ebene der Univozität genannt.109
„Il y a donc unité d’un plan de nature, qui vaut aussi bien pour les inanimés
que pour les animés, pour les artificiels et pour les naturels. (. . . ) L’Un se
dit en un seul et même sens de tout ce qui diffère. Nous ne parlons pas
ici de l’unité de la substance, mais de l’infinité des modifications qui font
partie les unes des autres sur ce seul et même plan de vie.“ (MP 311)
Diese Definition von Dingen über ihre Affektverteilungen und Geschwindigkei-
ten auf der Immanenzebene bricht die konzeptuelle Unterscheidung zwischen
natürlichen Dingen und Artefakten auf. Die Dinge werden nur noch als Gefüge,
Ausführungen ein und derselben abstrakten Maschine, die somit wie ein Schnitt
durch alle Strata ist, gesehen.
Der „Platz des Lebens“?
Auf die Frage nach der Grenze des Belebten beginnen Deleuze und Guattari
mit der Gegenüberstellung von stratifizierten Systemen und Gesamtheiten der
Konsistenz (ensembles de consistance).
Das System der Stratifizierung erinnert teils an einen Kristall, teils an einen Or-
ganismus. Erstens gebe es nur „lineare Kausalitäten zwischen den Elementen“.
Dies verweist auf die Eigenschaft des Kristalls, die Simondon „Individuierung
in dünnen Schichten“ (individuation pelliculaire) genannt hat. Die Stratifizierung
107Chaosmose, Galilée, Paris, 1992, S.78-79.108„Natur“ wird hier auch im Original groß geschrieben.109Die Univozität ist für das gesamte Werk von Deleuze ein wichtigre Begriff. Hier wird nur
der Aspekt der Gleichberechtigung von Naturdingen und Artefakten betrachtet. Zur Univozitätallgemein s. S. 49 f. in Friedrich Balkes Einführung zu Deleuze wie auch die Aufsätze vonPierre Montebello, (Montebello 2003, 2006).
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 97
geht so immer nur einer Schicht zu einer benachbarten Schicht vor sich und es
gibt keine Wechselwirkungen mit weiter entfernten Schichten, da das struktu-
rierte Zentrum nicht mehr teilnimmt und das außen liegende amorphe Milieu
noch nicht. Zweitens gibt es Hierarchien zwischen Anordnungen verschiede-
ner Stufen. Dies wird veranschaulicht durch den hierarchischen Aufbau eines
komplexen Organismus: von der Zelle, zum Organ, zum Gesamten. Drittens
das fortschreitende „Informieren“ der Substanzen, das Simondon allgemein
mit Transduktion bezeichnet hatte.
Die Gesamtheit der Konsistenz bricht mit all diesen Ordnungen – es gibt Kausa-
litäten, die nicht mehr linear und nicht mehr zwischen benachbarten Elementen
von der gleichen Art stattfinden, oder bei denen die Verursachung in die andere
Richtung, nämlich die eines zersetzenden Prozesses, geht. Es findet keine Struk-
turierung statt, sondern Kräfte werden freigesetzt. All diese Prozesse bleiben
nicht auf einem Stratum, sondern sind destratifizierend, transversal zu den
Strata, von denen sie ausgehen:
„[C]omme si un phylum machinique, une transversalité déstratifiante passait à
travers les éléments, les ordres, les formes et les substances, le molaire et le
moléculaire, pour libérer une matière et capter des forces.“(MP 414)
Diese Gesamtheit zeichnet sich nicht durch eine Ordnung aus, sondern durch
das maschinische Phylum als Fluss von abstrakte Materie, der die Strata durch-
setzt. Die Frage, die sich nun stellt ist: „Quelle est la «place de la vie» dans cette
distinction?“ (MP 414)
Ist das Leben ein Stratum oder in einem Stratum eingefangen, vielleicht sogar
ausschließlich im organischen? Oder muss gerade der abstrakten Maschine die
Eigenschaft, „lebendig“ zu sein, zukommen?
„[E]lle est les deux à la fois: un système de stratificaiotn particulièrement
complexe, et un ensemble de consistance bouleversant les ordres, les for-
mes et les substances.“ (MP 414)
Zum Einen zeichnen sich die Organismen eben durch ihre komplexe Organisa-
tion vom Typ „stratifiziertes System“ aus, zum Anderen könnten sie ohne die
relativen Deterritorialisierungen und Decodierungen zwischen den verschiede-
nen Milieus oder Systemen von Epi-und Parastrata nicht als lebendig betrachtet
werden. In dieser Deterritorialisierung besteht ein Zugewinn an Konsistenz, an
Destratifikation. Dieser Begriff von Leben entfernt sich von der Holistischen,
organischen Repräsentation.
98 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Deleuze und Guattaris Verständnis der Transduktion
Auch Deleuze und Guattari bezeichnen gewisse Prozesse im Lebendigen mit
„Transduktion“. Sie tun dies allerdings nur teilweise in Anlehnung an Si-
mondon, denn andererseits stützen sie sich auf die biologische Bedeutung des
Terms.
Eben weil der Kristall, wie Simondon festgestellt hatte, exzentriert und pure
Grenze ist, da seine Individuierung bloß linear, in dünnen Schichten vor sich
geht, nennen Deleuze und Guattari seine Formung nicht mehr Transduktion
sondern Induktion. Der Kristall habe durch seine globale geometrische Struk-
tur einen hohen „Index der Territorialität“ und sei somit immer nur an der
äußersten Schicht „deterritorialisierbar“ – d. h. nur dort wächst er und kann
auch in diesem Prozess auf Hindernisse reagieren (MP 78). In diesem Sinne hat
der Kristall eigentlich gar keine assoziierten Milieus – er besteht nur aus der
zentralen Schicht und der übersättigten Lösung als intermediärem Milieu.
Beim Organischen Stratum hingegen wurde bereits angemerkt, dass die Milieus
sich ständig gegeneinander verschieben. Wenn ein Lebewesen so zwischen
Milieus wechselt, oder sich Milieus ineinander schieben, mischen oder transfe-
rieren sich auch die zu dem jeweiligen Milieu gehörigen Codes – Deleuze und
Guattari identifizieren Transduktion und Transcodierung:
„Le transcodage ou transduction, c’est la manière dont un Milieu sert de
base à un autre, ou au contraire s’établit sur un autre, se dissipe ou se
constitue dans l’autre.“ (MP 384-385)
So führen Deleuze und Guattari Simondons Analyse zu dem eigenlichen Sinn
des Begriffs der Transduktion in der Biologie als Übertragung von genetischer
Information zwischen Bakterien oder anderer Einzeller durch Viren zurück,
indem sie darunter den Austausch von Materie und Information zwischen der
zentralen Schicht und ihren Para- und Epistrata verstehen.110 Mit diesem Ver-
ständnis von Natur im Sinne der Konsistenz- oder Univozitätsebene schreiben
sie:
„Les participations contre nature sont la vraie Nature qui traverse les
règnes.“ (MP 295)
110„A mechanism for the transfer of genetic matieral between cells. The material is transferredby virus particles called bacteriophages (in the case of bacteria) or phages.“ (Mc Graw HillEncyclopedia of Science & Technology).
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 99
Diese transversale Fortpflanzung, „abscheuliche Liebschaften“ („amours abo-
minables“) oder monströse Kopplungen sind genau das deterritorialisierte
Leben, das sich hin zur Konsistenzebene öffnet. Im Vergleich zum linearen
Code des üblichen Milieus ist das, was bei einer solchen Transduktion oder
Transcodierung herauskommt, ein „Mehrwert des Codes“. Dieser äußert sich in
Kreuzungen und Mutationen; es entsteht ein neues Gefüge entlang einer Linie
des „unterirdischen Werdens“.111 Statt einer Linie der Evolution gibt es nur
noch „Blöcke des Werdens“, entstanden aus Kopplungen zwischen heterogenen
Elementen und durch „wider-natürliche“ Fortpflanzung durch Ansteckung
oder Mutation.112
„Participation contre nature, mais justement le plan de composition, le plan
de Nature, est pour de telles participations, qui ne cessent de faire et défaire
leurs agencements en employant tous les artifices.“ (MP 315)
So muss „contre nature“ eigentlich als „wider die Organisation“, „wider das
Stratifizierte“ verstanden werden und nicht als „wider die Natur“. Wird unter
„Natur“ nämlich die Konsistenzebene verstanden, so sind diese transversalen
Werdensprozesse gerade Entfaltungen der Natur in diesem Sinne.
Nicht-organischer Vitalismus
Eine abstrakte oder nomadische Linie als Fluchtlinie oder der Weg des ma-
schinischen Phylums oder des Diagramms auf der Konsistenzebene zeichnen
Übergänge zwischen den Strata und setzen so vormals in Strata gefangene
Kräfte frei – Deleuze und Guattari bezeichnen dies als „Macht des Lebens“.
Hier wandelt der Begriff „Leben“ in einer ähnlichen Weise seine Bedeutung wie
oben der der „Natur“ – von der nature eines Dinges als einem festen Gefüge
oder auf einem Stratum zur Ebene der Natur (Nature) als der Immanenzebene
aller Dinge, ob „natürlich“ (der nature) oder künstlich.
„[L]es strates organiques n’épuisent pas la Vie: l’organisme est plutôt ce
que la vie s’oppose pour se limiter, et il y a une vie d’autant plus intense,
d’autant plus puissante qu’elle est anorganique.“ (MP 628)
111Vgl. Ansell-Pearson 1999, S.105: „In A Thousand Plateaus Deleuze and Guattari do notplace the emphasis on complexification through more or less differenciation, but on forms ofcreative involution and modes of transversal communication that produce an ‘anti-nuptialnature’ (‘monstrous’ couplings) that involve subterranean becomings.“.
112Vgl. MP 292.
100 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische
Das Leben (la Vie) ist wie die abstrakte Maschine auch nur auf der Konsisten-
zebene voll entwickelt. Auf den Strata ist es begrenzt, eingesperrt, gelähmt
oder verdickt und somit weniger mächtig. Ganz allgemein hatten Deleuze und
Guattari schon in der Einleitung bemerkt, dass eine feste Strukturierung das
Wachstum einschränkt.
„[C]haque fois qu’une multiplicité se trouve prise dans une structure, sa
croissance est compensée par une réduction des lois de combinaison.“ (MP
12)
In dieser Hinsicht ist auch der Organismus eine Abwendung oder Verzerrung
(détournement) des Lebens, da er es in einer Struktur einsperrt, mit dem Ergebnis,
dass diese einerseits leistungsfähiger und funktionaler ist als die unorganisierte
abstrakte Materie der Konsistenzebene oder des Körpers ohne Organe, ande-
rerseits deren Wandlungsfähigkeit stark einschränkt ist. Diese Einschränkung
ist umso stärker je besser oder fester die Organisation aufgebaut ist. Diese
Sichtweise erinnert an Simondons Bemerkungen zum Tod, indem er einen
Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung bei Lebewesen und deren
Tod herstellte:
„[L]a mort comme événement final n’est que la consommation d’un proces-
sus d’amortissement qui est contemporain de chaque opération vitale en
tant qu’opération d’individuation; toute opération d’individuation dépose
de la mort dans l’être individué“ (IGP 242)
Jede Individuierung oder Differenzierung – in Deleuze und Guattaris Worten
Stratifizierung des maschinischen Phylums – nimmt dem eigentlichen, dem
nicht-organischen Leben (la Vie) etwas von seiner Kraft, und je mehr davon
genommen wird, je schwieriger die relative Deterritorialisierung für das Lebe-
wesen wird, desto näher kommt das System dem Unbelebten.
Der entscheidende Unterschied in Bezug auf Simondons Theorie der Indivi-
duierung des Lebendigen liegt in Deleuze und Guattaris Konzept der Imma-
nenzebene. Auf den Strata werden alle Formen und Strukturen noch von dem
maschinischen Phylum durchzogen und die Stratifizierung ist nie absolut, die
Destratifizierung wird – absolut gesehen – nie unmöglich. Wenn dsa Leben
über den Organismus hinausgeht, genügt auch der Tod eines Organismus nicht,
um dieses Leben zu zerstören. In diesem Sinne sagt Deleuze in Pourparlers über
das Leben und den Vitalismus:
3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 101
„Ce sont les organismes qui meurent, pas la Vie.“113
So wird die sich durch alle Strata ziehende Linie des maschinischen Phylums
nicht abbrechen, wenn ein Organismus sich zersetzt.
113Pourparlers, S.196.
Konklusion und Ausblick
Simondon untersucht das Werden von Systemen statt das Sein von Substanzen.
Mit seinem analogistischen Parallelismus betrachtet er verschiedene Grade der
Individuierung unter der Prämisse, dass all diese Prozesse von der gleichen Art
sind. Die Unterscheidung liegt allein bei den Operationen und Prozessen, und
in der Art, wie sie im Raum ablaufen, nicht in einem Wesen oder einer Essenz.
In Différence et répétition tritt für Deleuze die Frage „Was?“ hinter die anderen
Fragen zurück – mit einer Terminologie, die von der Mathematik und auch
von Simondons physikalischen Paradigmen beeinflusst ist, bildet sich so seine
Differenzphilosophie heraus, welche die von Simondon beschriebenen Vor-
gänge durch den komplexen Begriff der „Indi-Drama-Differen zt ierung“ noch
weiter aufspaltet und detaillierter erklärt. In dem Fall, der hier betrachtet
wurde, war dies die intensive Dramatisierung von mathematisch-virtuellen
Mannigfaltigkeiten hin zu aktuellen biologischen Organismen, mit der wichti-
gen Zwischenstufe des Eis.
Sowohl für Simondons L’individu et sa genèse physico-biologique als auch für
das Modell aus Différence et répétition verläuft die konzeptuelle Grenze noch
zwischen physikalisch und biologisch. Das vormals biologisch motivierte Ei
bricht dann in Mille Plateaux zum Körper ohne Organe als „kosmisches Ei“
auf, die Differenzierung des Organismus wird zur geologischen Stratifizierung,
Fluchtlinien oder nicht-organische Linien brechen setzen die eingewickelten
Zentren der Intensität und die Macht eines nicht-organischen Lebens frei. In
der abstrakten Maschine und dem maschinischen Phylum lässt sich so eine
Neuformulierung des Problems der Artiicial Life-Theorien sehen:
„Within the frame of published ALife research, other researchers have
questioned whether life can be abstracted from one material substrate and
instantiated in another.“114
114Johnston 2008, S.200.
Konklusion und Ausblick 103
Wenn das Phylum als abstrakte Materialität die verschiedenen „materiellen
Substrate“ durchläuft und verbindet, ermöglicht es gerade diese Substrat-
Unabhängigkeit, die für die Theorien von Artificial Life benötigt wird – die
technischen Maschinen werden zu unkörperlichen Systemen, um mit den Wor-
ten von Guattari zu schließen:
„Il convient ici de se dégager d’une référence unique aux machines techno-
logiques et d’élargir le concept de machine pour positionner cette adjacence
de la machine aux Univers de référence incorporels.“115
115Chaosmose, S.51.
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Danksagung
Zunächst möchte ich mich bei Prof. Dr. Friedrich Balke für seine Unterstützung
bei der Vorbereitung und der Strukturierung der Arbeit bedanken.
Weiterer Dank gilt Johannes Schmidt für ausgiebige Durchsicht und Diskussion
der mathematischen Inhalte, Dr. François Legoux für Erläuterungen zur Mole-
kularbiologie, Hannes Glück fürs Korrekturlesen und Anmerkungen und ganz
besonders Sven Willner sowohl für inhaltliche Diskussionen als auch für seine
große und selbstlose Hilfe bei der Formatierung der Arbeit.
108
Eigenständigkeitserklärung
Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich die vorliegende Magisterarbeit selbst-
ständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Quellen und Hilfs-
mittel erstellt habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich
entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.