die spezielle relativitätstheorie || elementarer aufbau der klassischen raum-zeit

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III Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit Wir wollen von nun an den denkbar einfachsten Weg einschlagen, um die Raum-Zeit- Struktur herauszufinden, indem wir von einer empirischen Bestimmung der Maß- verh¨ altnisse bewegter und ruhender Maßst¨ abe und Uhren in einem zun¨ achst ausgezeich- neten System Σ o ausgehen und f¨ ur die Definition der Gleichzeitigkeit in allen anderen Systemen Σ die elementare Relativit¨ at erf¨ ullen. 9 Die physikalischen Postulate der klassischen Raum-Zeit Die klassische Mechanik war seit jeher stillschweigend auf die Annahme der Un- ver¨ anderlichkeit von L¨ angen und Schwingungsdauern bei einer Bewegung von Maßst¨ aben und Uhren gegr¨ undet und im Rahmen ihrer Messgenauigkeiten darin auch best¨ atigt worden. Wir wollen daher diese Hypothesen hier als Postulate der klassischen Raum-Zeit formulieren. In unserer Prozedur haben wir diese Eigenschaft allein f¨ ur das zun¨ achst ausgezeichnete System Σ o anzunehmen: Die physikalischen Postulate der klassischen Raum-Zeit: Σ o : l v l o = 1 k =1 , Bewegte und ruhende Maßst¨ abe besitzen in Σ o dieselben L¨ angen. (65) Σ o : T v T o = 1 (v)+ q(v) =1 . Bewegte und ruhende Uhren besitzen in Σ o dieselben Schwingungsperioden. (66) Die Erfahrung lehrt uns hier, dass eine f¨ ur die L¨ angen- und Zeitmessungen geltende Reziprozit¨at T v /T o = l o /l v in trivialer Weise erf¨ ullt ist. In Kap. ˙ 8 folgte diese Bezie- hung ganz allgemein aus einem Relativit¨ atspostulat, das in seiner Reichweite zwischen dem Einsteinschen Postulat und der elementaren Relativit¨ at steht, s. Gleichung (61), S. 31. In Kap. 11 werden wir sehen, wie wir bei einem Experiment h¨ oherer Pr¨ azision mit der klassischen Hypothese (65) das erste Mal in Konflikt geraten, vgl. dazu auch Aufg. 3, S. 330. Wir postulieren die Gleichungen (65) und (66) wohlgemerkt allein f¨ ur das als isotrop deklarierte System Σ o . Was wir f¨ ur diese Quotienten aus den bewegten und ruhenden angen bzw. Schwingungsdauern in den anderen Inertialsystemen Σ messen, ist dann eine Folge der dort zu definierenden Synchronisation der Uhren. H. Günther, Die Spezielle Relativitätstheorie, DOI 10.1007/978-3-658-00713-3_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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Page 1: Die Spezielle Relativitätstheorie || Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit

III Elementarer Aufbau derklassischen Raum-Zeit

Wir wollen von nun an den denkbar einfachsten Weg einschlagen, um die Raum-Zeit-Struktur herauszufinden, indem wir von einer empirischen Bestimmung der Maß-verhaltnisse bewegter und ruhender Maßstabe und Uhren in einem zunachst ausgezeich-neten System Σo ausgehen und fur die Definition der Gleichzeitigkeit in allen anderenSystemen Σ′ die elementare Relativitat erfullen.

9 Die physikalischen Postulate derklassischen Raum-Zeit

Die klassische Mechanik war seit jeher stillschweigend auf die Annahme der Un-veranderlichkeit von Langen und Schwingungsdauern bei einer Bewegung von Maßstabenund Uhren gegrundet und im Rahmen ihrer Messgenauigkeiten darin auch bestatigtworden. Wir wollen daher diese Hypothesen hier als Postulate der klassischen Raum-Zeitformulieren. In unserer Prozedur haben wir diese Eigenschaft allein fur das zunachstausgezeichnete System Σo anzunehmen:

Die physikalischen Postulate der klassischen Raum-Zeit:

Σo :lvlo

=1

k= 1 ,

Bewegte und ruhende Maßstabebesitzen in Σo dieselben Langen.

(65)

Σo :Tv

To=

1

v θ(v) + q(v)= 1 .

Bewegte und ruhende Uhrenbesitzen in Σo dieselben Schwingungsperioden.

(66)

Die Erfahrung lehrt uns hier, dass eine fur die Langen- und Zeitmessungen geltendeReziprozitat Tv/To = lo/lv in trivialer Weise erfullt ist. In Kap. 8 folgte diese Bezie-hung ganz allgemein aus einem Relativitatspostulat, das in seiner Reichweite zwischen demEinsteinschen Postulat und der elementaren Relativitat steht, s. Gleichung (61), S. 31.In Kap. 11 werden wir sehen, wie wir bei einem Experiment hoherer Prazision mit derklassischen Hypothese (65) das erste Mal in Konflikt geraten, vgl. dazu auch Aufg. 3,S. 330.Wir postulieren die Gleichungen (65) und (66) wohlgemerkt allein fur das als isotrop

deklarierte System Σo . Was wir fur diese Quotienten aus den bewegten und ruhendenLangen bzw. Schwingungsdauern in den anderen Inertialsystemen Σ′ messen, ist danneine Folge der dort zu definierenden Synchronisation der Uhren.

H. Günther, Die Spezielle Relativitätstheorie, DOI 10.1007/978-3-658-00713-3_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Page 2: Die Spezielle Relativitätstheorie || Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit

34 III Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit

10 Elementare Relativitat -Die Galilei-Transformation

Wir nehmen jetzt die Gultigkeit des elementaren Relativitatsprinzips gemaß (43) bzw. (44)an, Kap. 7. In den Systemen Σ′ sollen die Uhren also nach diesem Prinzip in Gang gesetztwerden. Unsere physikalischen Postulate (65) und (66) fur das ausgezeichnete BezugssystemΣo erzwingen dann nach (46) fur eine konventionelle Synchronisation einen sog. absolutenSynchronparameter θa gemaß

θa =To/Tv − lo/lv

v=

1− 1

v= 0 .

AbsoluterSynchronparameter

(67)

Diesen Synchronisationsvorgang illustrieren wir in Abb. 15. Wir fassen zusammen:

Die physikalischen Postulateder klassischen Raum-Zeit

k = 1 ,q = 1 ,

+

Elementares Relativitatsprinzip θa(v) = 0 .AbsoluterSynchronparameter

(68)

� � � �

����� ������ �

����

Σo

� ������ �

����� ������ �

����� ������ �t = 0 t = 0 t = 0 t = 0

x1 = 0x

x2 x3x

Uo

� � � �� � � �v v v v

����� ������ �

����� ������ �t′ = 0 t′ = 0 t′ = 0 t′ = 0

Σ′

����� ������ �

����� ������ �

E O B F

x′1 = 0 x′

2 x′3x′

Ux′v

��

��

��

�� �

��

��

��

�� �

��

��

��

�� �

��

��

��

�� � x′

Abb. 15: Realisierung des elementaren Relativitatsprinzips in der klassischen Raum-Zeit durcheine Synchronisation in den Systemen Σ′ mit dem Parameter θa(v) = 0 , der eine absolute Gleich-zeitigkeit einfuhrt. Zur Zeit t = 0 in Σo werden in allen Inertialsystemen alle Σ′-Uhren auf derStellung t′ = 0 in Gang gesetzt. Die strichpunktierten Linien verbinden Punkte im Bild, die einund dasselbe Ereignis darstellen, hier die Ereignisse E , O , B und F .

Page 3: Die Spezielle Relativitätstheorie || Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit

10 Elementare Relativitat - Die Galilei-Transformation 35

Mit (68) erhalten wir fur die spezielle Koordinaten-Transformation (22) die beruhmteGalilei-Transformation der klassischen Raum-Zeit,

x′ = x− v t ,

t′ = t ,←→

x = x′ + v t′ ,

t = t′ .

}Galilei-

Transformation(69)

Fur θ = 0 und k = q = 1 wird aus dem Additionstheorem (23)

u′ = u− v ←→ u = u′ + v .Galileisches Additionstheoremder Geschwindigkeiten

(70)

Danach genugt u′ derselben Gleichung wie die Relativgeschwindigkeit w in Kap. 3,Gleichung (8), was aber an der begrifflichen Verschiedenheit dieser beiden Großen nichtsandert.Gleichung (70) finden wir auch leicht unmittelbar aus der Galilei-Transformation (69):

Nehmen wir gleich etwas allgemeiner an, ein Korper L bewege sich in Σo gemaß

x(t) =(x(t), y(t), z(t)

)mit der Geschwindigkeit

u =(dxdt

,dy

dt,dz

dt

)= (ux, uy, uz) .

Fur dessen Bewegung in Σ′

x′(t′) =(x′(t′), y′(t′), z′(t′)

)mit der Geschwindigkeit

u′ =(dx′

dt′,dy′

dt′,dz′

dt′)= (u′

x, u′y, u

′z)

folgt dann wegen t′ = t , x′ = x− vt sowie y′ = y, z′ = z gemaß (69) und (22), also

d

dt′=

d

dt, so dass

dx′

dt′=

dx′

dt=

dx

dt− v ,

dy′

dt′=

dy

dt,

dz′

dt′=

dz

dt

und damit wieder das Theorem (70) unter Mitnahme der anderen beiden Geschwindigkeits-komponenten,

u′x = ux − v , u′

y = uy , u′z = uz . (71)

Page 4: Die Spezielle Relativitätstheorie || Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit

36 III Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit

Im Unterschied zu der formal gleichlautenden Beziehung (8) hat das Theorem (70) bzw.(71) aber nun weitreichende physikalische Konsequenzen. Betrachten wir ein Beispiel:

Ein Raumschiff, das ein System Σ′ reprasentiert, sei in Bezug auf die Erde, dasSystem Σo , auf die Geschwindigkeit v = 200 000 km s−1 gebracht worden. Von demRaumschiff aus werde ein zweites gestartet und abermals auf eine solche Geschwindig-keit, nun aber in Bezug auf das System Σ′ gebracht, also auf u′

1 = 200 000 km s−1 .Gemaß (70) wird dann fur dieses zweite Raumschiff von der Erde aus die Geschwindig-keit u1 = u′

1 + v = 400 000 km s−1 gemessen. Diesen Prozess konnen wir fortsetzen, vondem zweiten Raumschiff ein drittes starten, dann ein viertes, usw. Von der Erde aus mes-sen wir dann die Geschwindigkeiten u2 = u′

2 + u′1 = 600 000 km s−1 , u3 = 800 000 km s−1 ,

usw. Das Additionstheorem (70) lasst also beliebig hohe Geschwindigkeiten zu.

Nachrichten mit Hilfe von Raumschiffen oder Signalen konnten danach also mit belie-big hoher Geschwindigkeit uberbracht werden. In Ubereinstimmung damit hat Newton

seine Theorie der Gravitation in der Annahme einer instantanen, d. h. verzogerungsfreienWechselwirkung formuliert. Man spricht hier von einer Fernwirkungstheorie. Fur die gra-vitative Wirkung einer Masse wird dabei angenommen, dass sie sich mit unendlich großerGeschwindigkeit im Raum ausbreitet. Jede Veranderung der Position der Masse ist danachinstantan, also ohne Zeitverlust im ganzen Weltall prasent. Eine wichtige Konsequenz ausdem Theorem (70) werden wir in Aufg. 14, S. 363, gewinnen. Wir werden dort zeigen,dass in der Newtonschen Mechanik die trage Masse eines Korpers eine vom Inertialsystemunabhangige Konstante sein muss, d. h., die Masse eines Korpers kann nicht von seinerGeschwindigkeit abhangen.

Sind v und u die Geschwindigkeiten von Σ′(x′, t′) und Σ′′(x′′, t′′) in x-Richtung vonΣo(x, t) , dann finden wir aus den entsprechenden Galilei-Transformationen

x′′ = x− u t ,

t′′ = t ,

x′ = x− v t ,

t′ = t .

}−→

x′′ = x′ − u′ t′ ,

t′′ = t′ ,u′ = u− v . (72)

D. h., auch Σ′′(x′′, t′′) und Σ′(x′, t′) hangen uber eine Galilei-Transformation zusam-men, in der jetzt u′ = u− v die von Σ′ aus gemessene Geschwindigkeit von Σ′′ ist.Gemaß der Galilei-Transformation (69) sind in der klassischen Raum-Zeit zwei EreignisseE1(x1, t) und E2(x2, t) , die in einem System Σo(x, t) gleichzeitig sind, auch in jedemanderen System Σ′(x′, t′) gleichzeitig. Mehr noch, nach (69) gilt nicht nur Δt = 0 genaudann, wenn Δt′ = 0 ist, sondern die Zeiten selbst stimmen uberein.

Das ist Newtons beruhmte absolute Zeit:

t′ = t . Newtons absolute Zeit (73)

Indem wir also die Synchronisation der Uhren in den Systemen Σ′ dem Prinzip derelementaren Relativitat unterwerfen, werden zwei Ereignisse entweder in allen Inertial-systemen als gleichzeitig festgestellt oder in gar keinem.

Den Zeitbegriff unserer Alltagserfahrungen grunden wir auf diese Konstruktion, vgl.hierzu auch die Diskussion zu I. Kant auf S. 283 Mit (46), (47) und (67) halten wir fest:

Mit der Galilei-Transformation wird uber den absoluten Synchronparameter θadie konventionelle Gleichzeitigkeit der klassischen Raum-Zeit realisiert.

(74)

Page 5: Die Spezielle Relativitätstheorie || Elementarer Aufbau der klassischen Raum-Zeit

10 Elementare Relativitat - Die Galilei-Transformation 37

Offensichtlich folgt nun aus der Galilei-Transformation wieder die Unveranderlichkeitbewegter Maßstabe und Uhren:Ein in Σ′ ruhender Stab hat dort die Lange lo , die durch die Koordinatendifferenz

seiner Endpunkte gegeben ist,

lo = x′2 − x′

1 .

Der in Σo mit der Geschwindigkeit v bewegte Stab hat dort die Lange lv , die ebenfallsdurch die Koordinatendifferenz seiner Endpunkte gegeben ist und zwar zur selben Zeit t ,also mit (69),

lv = x2(t)− x1(t) = x′2(t

′)− v t′ − x′1(t

′) + v t′ = x′2 − x′

1 = lo .

Und trivialerweise folgt fur die bewegte Uhr wegen t′ = t dieselbe Zeitangabe wie furdie ruhenden Uhren.Die Gleichungen (72) zeigen uns, dass alle Inertialsysteme uber die gleiche Form der

Koordinaten-Transformation miteinander zusammenhangen.Mathematisch sind die Galilei-Transformationen dadurch als eine Gruppe ausgewiesen.

Damit haben wir die mathematisch einfachste Form gefunden, die Aquivalenz aller In-ertialsysteme zum Ausdruck zu bringen. Es folgt, dass die Unveranderlichkeit bewegterMaßstabe und Uhren (65) und (66) in gleicher Weise von allen Inertialsystemen aus ge-messen wird. Wir weisen darauf hin, dass dies durchaus nicht selbstverstandlich und an diekonventionelle Definition der Gleichzeitigkeit gebunden ist.Wie es dazu kommen kann, dass man in der Beschreibung der klassischen Raum-Zeit

tatsachlich auch von der Definition einer nichtkonventionellen Gleichzeitigkeit Gebrauchmacht und damit von der Galilei-Transformation abweicht, werden wir in Kap. 17 mit derin v/c linearisierten Lorentz-Transformation kennenlernen, vgl. auch Aufg. 12, S. 358.Wir fassen es noch einmal zusammen:

Das Galileische Relativitatsprinzip, die physikalische Gleichberechtigung allerInertialsysteme, lasst sich am einfachsten uber die konventionelle Gleichzeitigkeitder klassischen Raum-Zeit in der Galilei-Transformation mathematisch formulieren.