die spezielle relativitätstheorie || elementareraufbau der relativistischen raum-zeit

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IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit Unter Berufung auf die beiden historischen Schl¨ usselexperimente zur Speziellen Relati- vit¨ atstheorie, das Michelson-Experiment und die Beobachtung der roten H α -Linie in schnellen Kanalstrahlen, wollen wir auch hier von einer empirischen Bestimmung der Maß- verh¨ altnisse bewegter und ruhender Maßst¨ abe und Uhren in dem zun¨ achst ausge-zeichneten System Σ o ausgehen. Wir weisen ausdr¨ ucklich noch einmal darauf hin, dass Einsteins uni- verselle Konstanz der Lichtgeschwindigkeit in unserer Prozedur also nicht postuliert wird, sondern aus der fertig formulierten Theorie folgt, wenn wir f¨ ur die Definition der Gleichzei- tigkeit in allen anderen Systemen Σ allein die elementare Relativit¨ at fordern, vgl. S. 56. ¨ Uber moderne Pr¨ azisionsexperimente zur Relativit¨ atstheorie berichten wir in Kap. 16. 11 Der bewegte Stab ist verk¨ urzt - Das Michelson-Experiment Wir beschreiben hier den schematischen Versuchsaufbau des Michelson-Morley- Experimentes, wie es in Abb. 16 und Abb. 18 dargestellt ist. Eine Lichtquelle L sendet einen Wellenzug mit stabilen Phasenbeziehungen aus, der auf eine halbverspiegelte Platte P trifft. Dort spaltet er sich in zwei koh¨ arente Wellenz¨ uge auf, die sich entlang der beiden Arme l 1 und l 2 des Michelsonschen Interferometers fortpflanzen. An deren Enden werden sie durch Spiegel S 1 und S 2 reflektiert, laufen zur¨ uck und vereinigen sich zu dem bei B beobachteten Interferenzbild. Die Lichtgeschwindigkeit c hat gem¨ aß (2) im ausgezeichneten Bezugssystem Σ o in je- der Richtung ein und denselben Wert gem¨ aß Gleichung (4). Das Bezugssystem Σ habe in Bezug auf Σ o die Geschwindigkeit v . Wir sehen uns zun¨ achst den Fall an, wo das Michelsonsche Interferometer im System Σ o in seiner Ausgangsposition ruht, Abb. 16 a). B S 1 S 2 * Σ o : L l 1 l 2 P a) ; S 1 B S 2 l 2 l 1 * L P b) Abb. 16: Schematische Darstellung eines zun¨ achst im System Σo ruhenden Michelsonschen In- terferometers. a) Ausgangslage. b) Das Interferometer ist um den Winkel π/2 gedreht. H. Günther, Die Spezielle Relativitätstheorie, DOI 10.1007/978-3-658-00713-3_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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Page 1: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

IV Elementarer Aufbau derrelativistischen Raum-Zeit

Unter Berufung auf die beiden historischen Schlusselexperimente zur Speziellen Relati-vitatstheorie, das Michelson-Experiment und die Beobachtung der roten Hα -Linie inschnellen Kanalstrahlen, wollen wir auch hier von einer empirischen Bestimmung der Maß-verhaltnisse bewegter und ruhender Maßstabe und Uhren in dem zunachst ausge-zeichnetenSystem Σo ausgehen. Wir weisen ausdrucklich noch einmal darauf hin, dass Einsteins uni-verselle Konstanz der Lichtgeschwindigkeit in unserer Prozedur also nicht postuliert wird,sondern aus der fertig formulierten Theorie folgt, wenn wir fur die Definition der Gleichzei-tigkeit in allen anderen Systemen Σ′ allein die elementare Relativitat fordern, vgl. S. 56.Uber moderne Prazisionsexperimente zur Relativitatstheorie berichten wir in Kap. 16.

11 Der bewegte Stab ist verkurzt -Das Michelson-Experiment

Wir beschreiben hier den schematischen Versuchsaufbau des Michelson-Morley-Experimentes, wie es in Abb. 16 und Abb. 18 dargestellt ist. Eine Lichtquelle L sendeteinen Wellenzug mit stabilen Phasenbeziehungen aus, der auf eine halbverspiegelte PlatteP trifft. Dort spaltet er sich in zwei koharente Wellenzuge auf, die sich entlang der beidenArme l1 und l2 des Michelsonschen Interferometers fortpflanzen. An deren Enden werdensie durch Spiegel S1 und S2 reflektiert, laufen zuruck und vereinigen sich zu dem bei Bbeobachteten Interferenzbild.Die Lichtgeschwindigkeit c hat gemaß (2) im ausgezeichneten Bezugssystem Σo in je-

der Richtung ein und denselben Wert gemaß Gleichung (4). Das Bezugssystem Σ′ habe inBezug auf Σo die Geschwindigkeit v .Wir sehen uns zunachst den Fall an, wo das Michelsonsche Interferometer im System

Σo in seiner Ausgangsposition ruht, Abb. 16 a).

B ��

�S1

S2

*

Σo :

L

l1

l2

P

a)

;��

S1

B

��

�� �S2l2

l1

* LP��

b)

Abb. 16: Schematische Darstellung eines zunachst im System Σo ruhenden Michelsonschen In-terferometers. a) Ausgangslage. b) Das Interferometer ist um den Winkel π/2 gedreht.

H. Günther, Die Spezielle Relativitätstheorie, DOI 10.1007/978-3-658-00713-3_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Page 2: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

40 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Abb. 17: Albert Abraham Michelson, * Strelno (bei Hohensalza 19.12.1852,† Pasadena 9.5.1931

Page 3: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

11 Der bewegte Stab ist verkurzt - Das Michelson-Experiment 41

Wegen der Isotropie der Lichtausbreitung in Σo ist die Laufzeit to1 des Lichtes auf demHin- und Ruckweg entlang l1 dieselbe, also to1 = 2l1/c , und ebenso betragt entlang l2die Laufzeit to2 = 2l2/c . Das Interferenzbild nach der Vereinigung der beiden Wellenzugebei P wird durch die Laufzeitdifferenz Δto bestimmt,

Δto = to2 − to1 =2l2c

− 2l1c

. (75)

Die auf J. C. Maxwell zuruckgehende Idee des Versuches besteht nun darin, dasInterfero-meter um π/2 zu drehen, Abb. 16 b).15 Wegen der Isotropie der Lichtausbrei-tung in Σo hat sich die Laufzeitdifferenz Δtoπ

2= to2,π2

− to1,π2entlang der beiden Arme l2

und l1 des Interferometers nach dieser Drehung naturlich nicht geandert,

Δtoπ2= to2,π2 − to1,π2 =

2l2c

− 2l1c

= Δto . (76)

Es sei δ := Δtπ2−Δt die Differenz der Laufzeitdifferenzen nach und vor der Drehung.

Diese Große δ ist ein Maß fur die Anderung des Interferenzbildes infolge dieser Drehung.Ruht also das Interferometer im ausgezeichneten Bezugssystem Σo , so gilt

δo = Δtoπ2−Δto = 0 .

RuhendesInterferometer

(77)

Aus Gleichung (77) lesen wir also ab, dass sich das Interferenzbild wahrend der Drehungnicht andert, wenn das Interferometer in Σo ruht.Das Interferometer moge nun im Bezugssystem Σ′ ruhen, welches in Bezug auf das ausge-

zeichnete System Σo die Geschwindigkeit v besitzt. Wir schreiben auf, wie ein Beobach-ter, der im System Σo ruht, dieses Experiment beurteilt, Abb. 18.

a)

��

��

0P

S1

S2S2S2

H

vt2vt22

l2

l1

v

;

���

���

b)

S2��

�v

S1

l2

l1

P

Abb. 18: Das Interferometer hat die Geschwindigkeit v in Bezug auf das ausgezeichnete Be-zugssystem Σo . a) Ausgangslage. b) Das mit der Geschwindigkeit v laufende Interferometerist um den Winkel π/2 gedreht.

Gemaß unserer Gleichung (8) in Kap. 3 nahert sich die Wellenfront dem Spiegel S1 aufdem Weg von O nach S1 mit der Relativgeschwindigkeit c− v , auf dem Ruckweg nahertsie sich ihrem Ausgangspunkt O mit der Relativgeschwindigkeit c+ v .

15Maxwell war zeit seines Lebens der Meinung, dass es ein mechanisches Medium gabe, einen sog.Ather, vgl. S. 45 und S. 111, mit dem man dann die Lichtausbreitung ahnlich beschreiben konnte wie dieAusbreitung von Schallwellen durch die Luft. A. Einstein glaubte wohl bis 1901 an einen solchen Ather.

Page 4: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

42 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Folglich misst der Beobachter in Σo fur die gesamte Laufzeit t1 entlang l1 den Wert

t1 =l1

c− v+

l1c+ v

=l1c

(1

1− v/c+

1

1 + v/c

),

t1 =2l1c

1

1− v2/c2. (78)

Die Laufzeit entlang l2 hat fur den Hin- und Ruckweg denselben Wert t2/2 , Abb. 18a). Die Wellenfront hat die Geschwindigkeit c , das Interferometer die Geschwindigkeit v .Aus dem Dreieck OS2H folgt dann(c t22

)2

=

(v t22

)2

+ l22 −→ t224(c2 − v2) = l22 −→ t22 =

4 l22c2 − v2

=4 l22c2

1

1− v2/c2,

also

t2 =2 l2c

1√1− v2/c2

. (79)

Fur die Differenz Δt der Laufzeiten t1 und t2 erhalten wir damit

Δt = t2 − t1 =2 l2c

1√1− v2/c2

− 2l1c

1

1− v2/c2. (80)

Nun drehen wir das Interferometer wieder um den Winkel π/2 , Abb. 18 b). Die Lauf-zeiten zu den Spiegeln S1 und S2 nennen wir t1,π2 und t2,π2 . Wir brauchen nun in (78)nur l1 durch l2 und in (79) l2 durch l1 zu ersetzen, um t2,π2 bzw. t1,π2 zu erhalten, so dass

Δtπ2= t2,π2 − t1,π2 =

2 l2c

1

1− v2/c2− 2l1

c

1√1− v2/c2

. (81)

Die Differenz δ = Δtπ2−Δt ist ein Maß fur eine mogliche Anderung des Interferenzbildes

infolge der Drehung. Mit (80) und (81) erhalten wir dafur

Δtπ2−Δt =

2l2c

1

1− v2/c2− 2l1

c

1√1− v2/c2

−(2l2c

1√1− v2/c2

− 2l1c

1

1− v2/c2

)

=2l2c

(1

1− v2/c2− 1√

1− v2/c2

)+

2l1c

(1

1− v2/c2− 1√

1− v2/c2

),

also

δ = Δtπ2−Δt =

(2 l1c

+2 l2c

)(1

1− v2/c2− 1√

1− v2/c2

).

BewegtesInterferometer

(82)

Page 5: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

11 Der bewegte Stab ist verkurzt - Das Michelson-Experiment 43

Abb. 19: Hendrik Antoon Lorentz, *Arnheim 18.7.1853, † Haarlem 4.2.1928

Page 6: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

44 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Ist a � 1 , also eine Zahl, die sehr klein gegen 1 ist, dann uberzeugt man sich leichtdurch einfaches Einsetzen von Zahlenwerten, z. B. a = 10−4 , von den Naherungsformeln

1

1− a≈ 1 + a ,

1

1 + a≈ 1− a ,

√1− a ≈ 1− 1

2a ,

1√1− a

≈ 1 +1

2a

⎫⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎭ fur a � 1 . (83)

Diese Formeln folgen aus der sog. Taylor-Entwicklung, worauf wir gelegentlich zuruck-kommen werden. Je kleiner a ist, umso besser ist diese Naherung.Fur a = v2/c2 erhalten wir mit (83) aus (82)

δ ≈ 2

c(l1 + l2)

(1 +

v2

c2− 1− 1

2

v2

c2

)=

2

c(l1 + l2)

1

2

v2

c2

und damit

δ = Δtπ2−Δt ≈ l1 + l2

c

v2

c2.

BewegtesInterferometer

(84)

Diese Große δ bestimmt die Verschiebung der Interferenzstreifen infolge der Drehungdes Interferometers um π/2 .Zur Versuchsauswertung nehmen wir an, dass das Interferometer in einem Laborato-

rium auf der Erde fest installiert ist. Die Erde sei unser Bezugssystem Σ′ . Ihre Bahn-geschwindigkeit betragt ca. v = 30 000m/s . Das ist die Geschwindigkeit von Σ′ inBezug auf das ausgezeichnete Bezugssystem Σo . Das Ruhsystem der Sonne realisierenaherungsweise dieses Bezugssystem Σo .In dem historischen Experiment von A. A. Michelson in einem Keller des Astrophysika-

lischen Observatoriums in Potsdam-Babelsberg im Jahre 1881 , vgl. U. Bleyer[1], wurdedie Summe l1 + l2 der Lichtwege durch Mehrfachreflexionen zu l1 + l2 = 30m bestimmt.Nimmt man fur die Interferenz das Licht der gelben Natriumlinie mit λ = 6 · 10−7 m , soerhalten wir mit c = 3 · 108 m/s eine Schwingungsdauer von

τ =λ

c=

6 · 10−7

3 · 108 s = 2 · 10−15 s .

Andererseits erhalten wir aus (84) fur die Anderung δ der Laufzeitdifferenzen derinterferierenden Wellenzuge durch die Drehung des Interferometers

δ ≈ 30

3 · 108

(3 · 1043 · 108

)2

s = 10−15 s ,

also

δ = Δtπ2−Δt ≈ 1

2τ .

BewegtesInterferometer

(85)

Infolge der Drehung sollte sich also die Große δ um die Laufzeit τ/2 einer halbenWellenlange andern! Demnach musste auf dem Interferenzbild im Verlauf der Drehung eineVerschiebung um einen halben Streifen zu beobachten sein. Die dunklen Stellen hatten hellwerden mussen und umgekehrt.

Page 7: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

11 Der bewegte Stab ist verkurzt - Das Michelson-Experiment 45

Tatsachlich wurde jedoch nicht die geringste Anderung des Interferenzbildes beobachtet,weder 1881 in Potsdam noch bei irgendeinem der vielen in der Folgezeit durchgefuhrtenMichelson-Experimente und auch nicht bei deren modernen Weiterentwicklungen,s. Kap. 16.Bei der Berechnung der Laufzeiten sind wir stillschweigend von der Annahme ausgegan-

gen, dass die in Σo gemessenen Langen l1 und l2 der Interferometerarme unabhangig vonihrer Geschwindigkeit in Σo sind. Darin liegt der Fehler.Bereits 1889 hatte G. F. FitzGerald[1] fur die Erklarung der Michelson-Morley-

Experimente die Hypothese”einer Langenanderung materieller Korper“ aufgestellt,

”die

sich durch den Ather bewegen, wobei die Langenanderung vom Quadrat des Verhaltnissesder Geschwindigkeit zur Lichtgeschwindigkeit abhangt“ . H. A. Lorentz[1] stellte 1892unabhangig davon eine ebensolche Hypothese auf. Lorentz’ Bemuhungen konzentriertensich daruber hinaus auf einen quantitativen Ausdruck fur diese Kontraktion. 1904 findetLorentz[2] dann, er werde

”zu der Annahme gefuhrt, dass der Einfluss einer Translation auf

Große und Gestalt (eines einzelnen Elektrons und eines ponderablen Korpers als Ganzes)auf die Dimension in der Bewegungsrichtung beschrankt bleibt, und zwar werde diese k

mal kleiner als im Ruhezustand.“ Hierbei ist k =√

1− v2/c2 , und”ponderabel“ ist ein

alterer Sprachgebrauch fur wagbar.Fur den interessierten Leser verweisen wir auf den Abdruck der wichtigsten Arbeiten zur

Entstehung der Relativitatstheorie in dem Buch,”Das Relativitatsprinzip“ , Lorentz[3].

Die Anderung bewegter Langen zur Erklarung des Michelson-Experimentes wird danachheute als FitzGerald-Lorentz-Kontraktion oder kurz Lorentz-Kontraktion bezeichnet,vgl. auch Abb. 24:

Wenn im ausgezeichneten System Σo fur einen dort ruhenden Stab die Lange lobeobachtet wird, dann wird fur denselben Stab, wenn er sich relativ zu Σo mit derGeschwindigkeit v bewegt, in Σo die verkurzte Lange lv gemessen:

Σo : lv = lo

√1− v2

c2. Lorentz-Kontraktion (86)

In der Tat, ersetzen wir in (80) die Lange l1 des in Bewegungsrichtung liegenden Inter-ferometerarmes durch die bewegte Lange l1

√1− v2/c2 und nach der Drehung um π/2 in

(81) die Lange des nun in Bewegungsrichtung liegenden Armes l2 durch die bewegte Lange

l2√

1− v2/c2 , dann folgt Δt = Δtπ2

und also gemaß (85) δ = 0 , d. h. derselbe Wert wie

in (77). Dabei setzen wir in Ubereinstimmung mit Lorentz unsere Hypothese (13) voraus,dass ein quer zur Bewegungsrichtung liegender Stab keine Langenanderung erfahrt.Die Differenz δ der Laufzeitdifferenzen wird also durch die Drehung nicht geandert, wenn

wir die Lorentz-Kontraktion (86) bewegter Langen beachten, so dass auch keine Anderungdes Interferenzbildes erwartet werden kann, vgl. auch Aufg. 3, S. 330.

Page 8: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

46 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

12 Die bewegte Uhr geht nach -Einsteins experimentum crucis der SpeziellenRelativitatstheorie

Damit ist ein Experiment gemeint, welches die Periode Tv einer bewegten Uhr mit derEigenperiode To von bauidentischen ruhenden Uhren vergleicht.

Bei der historischen Messung der Periode einer bewegten Uhr ist das schwingen-de System ein Wasserstoffatom, das in seinem eigenen Ruhsystem die rote Spektralli-nie Hα mit der Eigenperiode To = 2, 1876 · 10−15 s erzeugt. Werden die H-Atomein Kanalstrahlen bei einer hohen Geschwindigkeit v beobachtet, so wird stattdessenals eine Konsequenz aus Einsteins Spezieller Relativitatstheorie eine Schwingungsdauer

Tv = To

/√1− v2/c2 wirksam. Die entsprechende Frequenzanderung ergibt eine rela-

tivistische Korrektur zur klassischen Theorie des Doppler-Effektes, s. Kap. 28. Mit denzum ersten Mal in den Jahren 1938/39 durchgefuhrten Prazisionsexperimenten konntedie Zunahme der Periodendauer durch eine Rotverschiebung der Spektrallinie bestatigtwerden. Einstein hatte diesen Effekt als das

”experimentum crucis“ der Speziellen Relati-

vitatstheorie betrachtet, s. in dem Lehrbuch von A. Sommerfeld[1] auf S. 213, als das ent-scheidende Testexperiment fur sein Postulat einer universellen Konstanz der Lichtgeschwin-digkeit, mit dem er diesen Effekt vorhergesagt hatte. Uber neuere Prazisionsexperimentezur Zeitdilatation berichten wir in Kap. 35.

Anders als in Einsteins theoretischem Aufbau seiner Speziellen Relativitatstheorie, beidem es galt, die Konsequenzen aus seinem Postulat von der universellen Konstanz derLichtgeschwindigkeit quantitativ zu prufen, hier die Periodenanderung einer bewegten Uhr

gemaß seiner Vorhersage Tv = To

/√1− v2/c2 , verfugen wir bei unserem Herangehen

an die Theorie bisher uber keinerlei Vermutung hinsichtlich der Perioden von bewegtenUhren.16 Hier hilft uns das auf R. Feynman zuruckgehende Gedankenexperiment mit dersog. Lichtuhr weiter.

12.1 Die LichtuhrZwischen zwei Spiegeln S1 und S2 , die sich in einem fixierten Abstand lo zueinanderbefinden, lauft ein Lichtsignal hin und her. Die Anzahl der an dem Spiegel S1 eintref-fenden Lichtsignale wird gezahlt und durch die Stellung eines Zeigers dargestellt. DieseAnordnung heißt Lichtuhr, und wir betrachten zunachst den Fall, dass diese Uhr imSystem Σo ruht, s. Abb. 20. Die Zeit zwischen zwei bei S1 eintreffenden Signalen sei dieSchwingungsdauer To , also mit der Lichtgeschwindigkeit c in Σo

To =2loc

.Schwingungsdauer einer in Σo

ruhenden Lichtuhr(87)

Im Teil a) von Abb. 20 lauft das Lichtsignal in der x-Richtung. Im Teil b) von Abb. 20betrachten wir zusatzlich die ursprunglich von Feynman diskutierte Lichtuhr, bei welcherdas Lichtsignal in der y-Richtung hin und her lauft, was erst dann ins Gewicht fallen wird,wenn wir beide Uhren in der x-Richtung in Bewegung setzen werden.

16In Kap. 8, gewinnen wir allerdings die Zeitdilatation (97) sogar als Konsequenz aus der Lorentz-Kontraktion (86), wenn wir ein etwas starkeres Relativitatsprinzip postulieren als das elementare, alsoetwas mehr postulieren, als nur uber die Definition der Gleichzeitigkeit zu verfugen.

Page 9: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

12 Die bewegte Uhr geht nach 47

a)

�Σo

x

���������� ������ �

lo

� �c −c

S1 S2

Uo t

b)

�Σo

x

���������� ������ �

lo

c

−c

S1

S2

UFo t

Abb. 20: a) Die Lichtuhr Uo mit dem Abstand lo zwischen den Spiegeln S1 und S2 ruht imSystem Σo . Die Lichtausbreitung erfolgt entlang der x-Richtung. Die Periode betragt To = 2lo/c .b) Fur Feynmans Lichtuhr UF

o mit der Lichtausbreitung entlang der y-Richtung wird wegender Isotropie der Lichtausbreitung in Σo dieselbe Periode TF

o = 2lo/c gemessen, wenn die Uhrebenfalls im System Σo ruht.

Wir betrachten nun nacheinander die Bewegung der beiden Lichtuhren in x-Richtung.Zunacht soll sich die in Abb. 20 a) dargestellte Uhr Uo in x-Richtung bewegen.

Die Uhr Uo ruht also in einem System Σ′ , das in Bezug auf Σo die Geschwindigkeitv in x-Richtung besitzt, s. Abb. 21. Wir berechnen die Schwingungsdauer Tv der nun inBezug auf Σo bewegten Lichtuhr.Dazu lassen wir hier die prinzipielle Moglichkeit zu, dass der Beobachter in Σo fur die

bewegte Anordnung einen Abstand lv zwischen den Spiegeln feststellt, von dem wirnicht von vornherein annehmen, dass er mit dem Abstand lo derselben, in Σo ruhendenAnordnung, identisch ist. Wir berufen uns aber auch nicht auf das Ergebnis der Lorentz-Kontraktion von Kap. 10.Gemaß der Addition von Geschwindigkeiten in einem einzigen Bezugssystem (8)

uberwindet das Licht die Entfernung lv auf dem Hinweg von S1 nach S2 mit derRelativgeschwindigkeit c − v und zuruck von S1 nach S2 mit c + v . Fur die insgesamtdabei benotigte Zeit, die Schwingungsdauer Tv der bewegten Uhr, finden wir also,

Tv =lv

c− v+

lvc+ v

= lvc+ v + c− v

(c− v)(c+ v)

= 2 lvc

c2 − v2

=2 lvc

c2

c2 − v2,

Page 10: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

48 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

��� � � ������ ������ � t

′1

t′2

x′

Uv

x′+ lo

� �

� v

� v

lo

S1 S2

c −c

x′�

Σo Σ′

x

Abb. 21: Die bewegte Lichtuhr Uv . Der eingerahmte Bereich, die Strecke lo mit den SpiegelnS1 und S2 , ruht nun im System Σ′ , das in Bezug auf Σo die Geschwindigkeit v in x-Richtungbesitzt. Die Zeigerstellung t′ zahlt die zwischen S1 und S2 hin und her reflektierten Lichtsignale.Im Text haben wir diese Zeigerstellung zunachst tv genannt. Als Zeitkoordinate in Σ′ schreibenwir wieder t′ = tv .

so dass

Tv =2lvc

1

1− v2/c2.

Schwingungsdauer der in Σo

bewegten Lichtuhr Uv(88)

Den Zusammenhang zwischen der Schwingungsdauer To einer in Σo ruhenden Lichtuhrund ihrer Schwingungsdauer Tv bei ihrer Bewegung mit der Geschwindigkeit v in Bezugauf Σo finden wir aus der Diskussion der von Feynman diskutierte Lichtuhr, bei welcherdas Lichtsignal in der y-Richtung hin und her geschickt wird. Zur Berechnung der PeriodeTFv von Feynmans Lichtuhr UF

v , die nun wie die Uhr Uv in einem System Σ′ ruht,betrachten wir Abb. 22.

Aus dem rechtwinkligen Dreieck OS2H finden wir(c TF

v

2

)2

=

(v TF

v

2

)2

+ l2o ,

(TFv

)24

(c2 − v2) = l2o ,

(TFv

)2=

4 l2oc2 − v2

=4 l2oc2

1

1− v2/c2,

also

Page 11: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

12 Die bewegte Uhr geht nach 49

0S1 S1

S2S2S2

H

x=vTFv

12cT

Fv lo

v

����

����

Abb. 22: Schematische Darstellung zur Berechnung der Schwingungsdauer von Feynmansbewegter Lichtuhr UF

v .

TFv =

2 loc

1√1− v2/c2

. (89)

Beachten wir hier Gleichung (87), dann machen wir die bemerkenswerte Beobachtung,dass die Schwingungsdauer TF

v der bewegten Feynmanschen Lichtuhr in Abhangigkeitvon ihrer Geschwindigkeit großer ist als ihre Schwingungsdauer To im Ruhezustand,

TFv =

To√1− v2/c2

. (90)

Gilt ein solches Verhalten fur alle Uhren? Mit unserem physikalischen Weltbild ware esunvereinbar, wenn wir verschiedene Gesetze fur verschiedene Uhren hatten. Diesen Effektwerden wir dann Zeitdilatation nennen.Wir machen also die Annahme, dass sich die Uhren Uo und Uv ebenso verhalten wie

die Feynmanschen Uhren. Fur die Periode Tv muss dann Tv = TFv gelten, also mit (88)

und (89)

2lvc

1

1− v2/c2=

2loc

1√1− v2/c2

.

Hieraus folgt dann sofort eine zweite bemerkenswerte Konsequenz, namlich,17

lv = lo√1− v2/c2 . (91)

Der Abstand zwischen den Spiegeln, die z. B. auf einer Eisenstange fest montiert sind, hatalso im Fall der Bewegung mit der Geschwindigkeit v im Bezugssystem Σo eine kleinereLange lv , verglichen mit diesem Abstand lo im Ruhezustand. Auch hier mussen wir derFrage nachgehen, ob wir die Eigenschaft (91), die sog. Langenkontraktion, fur alle Langenfinden werden.

17Man konnte auf den Gedanken kommen, das ganze Experiment ebenso mit Schallwellen durchzufuhren.Solange eine solche

”Schalluhr“ wie in Abb. 20 im System Σo ruht, ist auch nichts dagegen einzuwenden. Zu

der Schalluhr gehort aber ein Tragermedium, Luft oder Wasser z. B. Bei der bewegten Schalluhr mussen wirdieses Tragermedium mitbewegen. Im Unterschied zu der Situation mit dem Licht gemaß Abb. 21 kennenwir dann ohne Zusatzhypothesen die von Σo aus beobachtete Geschwindigkeit der Schallwellen nicht mehr,die sich nun aus der Geschwindigkeit v des Tragermediums und der Geschwindigkeit der Schallwellen inBezug auf dieses Medium zusammensetzt.

Page 12: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

50 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

In Kap. 11 haben wir die Langenkontraktion (91) mit dem historischen Schlussel-experiment zur SRT, dem Michelson-Versuch, bereits diskutiert. Auf die Zeitdilatation(90) gehen wir am Ende dieses Kapitels ein.

Wir zeigen wir noch, dass sowohl die Zeitdilatation (90) als auch die die Langen-kontraktion (91) allein aus dem Verhalten der einen Lichtuhr mit paralleler Signalaus-breitung zur Bewegungsrichtung schließen konnen, wenn wir uns auf die Symmetrie in derNatur berufen.

Unser Ausgangspunkt sind die Formeln (87) und (88) fur die Schwingungsdauern derruhenden bzw. bewegten der Lichtuhr mit dem Lichtweg parallel zur Bewegungsrichtung.

Um einen Zusammenhang zwischen der Schwingungsdauer To der in Σo ruhendenLichtuhr Uo und ihrer Schwingungsdauer Tv bei ihrer Bewegung mit der Geschwindigkeitv in Bezug auf Σo herzustellen, mussen wir nun eine Annahme daruber machen, ob bzw.wie sich die Lange lv eines in Σo bewegten Stabes von der Lange lo desselben Stabesunterscheidet, wenn er in Σo ruht.1. Annahme: Die in Σo bewegte Lange lv des Abstandes zwischen des Spiegeln unter-scheidet sich nicht von ihrem Abstand lo im Ruhezustand. Setzen wir lv = lo in (88) einund beachten (87) dann folgt:

1. Annahme Σo : lv = lo −→ Tv = To1

1− v2/c2. (92)

2. Annahme: Wir beobachten, dass der Abstand lv zwischen den beiden Spiegeln der inΣo mit der Geschwindigkeit v bewegten Lichtuhr kurzer ist als deren Abstand lo imRuhezustand, und zwar sei lv = lo (1− v2/c2) . Setzen wir diese Annahme in (88) ein undbeachten (87), dann folgt nun:

2. Annahme Σo : lv = lo (1− v2/c2) −→ Tv = To . (93)

Im ersten Fall bleibt die Stablange unverandert und die Schwingungsdauer andert sich. Imzweiten Fall ist es umgekehrt. Die Lange des Stabes andert sich, und die Schwingungsdauerbleibt unverandert.Beide Falle sind rein logisch moglich, ebenso alle anderen Falle, die dazwischen liegen. Da essich nur um ein Gedankenexperiment handelt, lass sich damit nicht feststellen, was zutref-fend ist. Es ist aber sehr wichtig, von einer moglichst richtigen Annahme auszugehen, dawir nur dann auch eine Chance zu deren experimenteller Bestatigung haben.

Hier kommen wir nun mit einer allgemeinen Erfahrung uber die Naturgesetze wei-ter. Prinzipiell spielen in der Physik Symmetrien eine fundamentale Rolle. Nach Vor-arbeiten und noch unvollstandigen Einsichten von A. Einstein und D. Hilbert gelangE. Noether 1918 der entscheidende Durchbruch. Gemaß dem ihr zu Ehren alsNoethersches Theorem bezeichneten Lehrsatz, der in der Physik eine herausragende Be-deutung erlangt hat, sind die Erhaltungssatze eine Folge von Symmetrien, die in den Glei-chungen bestehen. Z. B. ist der Energie-Impuls-Erhaltungssatz eine Konsequenz der Trans-lationsinvarianz unserer Raum-Zeit, vgl. hierzu Pais[1], s. auch Gunther[7].

Wir bemerken, dass es eine merkwurdige Unsymmetrie in der mathematischen Beschrei-bung der Induktionserscheinungen der Elektrodynamik war, die A. Einstein nicht akzeptie-ren konnte, und die ihm den entscheidenden Impuls zu seiner Formulierung der SpeziellenRelativitatstheorie gegeben hat, s. Kap. 31 mit dem dort eingangs gegebenen Zitat aufS. 178.

Page 13: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

12 Die bewegte Uhr geht nach 51

Abb. 23: Amalie Emmy Noether, *Erlangen 23.3.1882,† Bryn Mawr (Pennsylvania) 14.4.1935

Page 14: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

52 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Es passt nicht in unsere Vorstellungen von symmetrischen Zusammenhangen in der Na-tur, dass sich die Schwingungsdauer bei einer Bewegung andern soll, die Lange eine Stabesaber nicht oder umgekehrt.Unser Bestreben, Symmetrien in der Natur aufzudecken, drangt uns also zu der Annah-

me, dass sich sowohl die Lange eines Stabes als auch die Schwingungsdauer einer Uhr beiihrer Bewegung andern. Wir zeigen: Die Zusammenhange zwischen Tv und To einerseitssowie lv und lo andererseits erhalten eine symmetrische Form, wenn wir annehmen,

lv = lo√1− v2/c2 ,

Langenanderung eines in Σo

bewegten Stabes(94)

denn damit erhalten wir aus (88)

Tv =2loc

√1− v2/c2

1− v2/c2,

also mit (87)

Tv = To1√

1− v2/c2.

Schwingungsdauer einer in Σo

bewegten Lichtuhr(95)

Bauen wir eine Uhr mit der Schwingungsdauer T , dann andert dich die von demZeiger der Uhr angezeigte Zeit t reziprok zu einert Anderung von T , s. Gleichung (32).Nennen wir die Zeigerstellungen der bewegten Lichtuhr tv , dann folgt aus (95) fur dieZeigerstellungen tv und to der bewegten und ruhenden Lichtuhren

tv = to√1− v2/c2 .

Zeigerstellungen einer in Σo

bewegten Lichtuhr(96)

Die Formeln (94) und (96) weisen die gesuchte Symmetrie auf, und wir haben mit diesenFormeln sowohl die Zeitdilatation (90) als auch die die Langenkontraktion (91) gefunden.Nun werden wir nicht versuchen, zur Kontrolle unserer Formeln Lichtuhren zu bauen.

Aber wir haben damit eine Erwartung an die Ergebnisse unserer Experimente, die wir imFalle der Langenkontraktion mit dem Michelson-Versuch bereits bestatigen konnten.

12.2 Das allgemeine Gesetz der ZeitdilatationWir formulieren nun die Verallgemeinerung unserer Resultate mit den Lichtuhren:Die Anderung der Periodendauer (95) muss fur jedes schwingungsfahige System gelten

und lasst sich heute tatsachlich mit faszinierender Genauigkeit an Casium-Atomuhren di-rekt nachweisen, s. Aufg. 4, S. 330.Fur die Zeigerstellungen der bewegten Lichtuhr mit der Schwingungsdauer Tv verwen-

den wir nun anstelle von tv die Bezeichnung t′ = tv , wie wir das bereits in Abb. 21 getanhaben, da (x′, t′) die Raum- und Zeitkoordinaten in Σ′ sind.Wir schematisieren den Vorgang der bewegten und ruhenden Uhren noch einmal in

Abb. 25: Die in Σo an den Positionen x ruhenden Uhren bezeichnen wir mit Uxo . Einer

Normaluhr, sagen wir Uv , erteilen wir die Geschwindigkeit v , so dass die Positionen vonUv durch x = v t beschrieben werden. Die Zeigerstellungen auf dieser Uhr bezeichnen wirmit t′ . Zur Zeit t = 0 in Σo stehe auch der Zeiger von Uv auf t′ = 0 . Die Uhr Uv

befinde sich dann gerade bei x = 0 , hat dort also dieselbe Zeigerstellung wie die in Σo amKoordinatenursprung O ruhende Uhr U0

o . Wenn die Uhr Uv bei der in Σo ruhenden UhrUxo am Ort x = v t angekommen ist, welche die Zeigerstellung t hat, steht der Zeiger von

Uv auf einer Stellung t′ .

Page 15: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

12 Die bewegte Uhr geht nach 53

Beide Zeigerstellungen sind verschieden.Die Zeigerstellung t′ einer bewegten Uhr bleibt hinter den Zeigerstellungen t der

ruhenden Uhren zuruck. Wir formulieren diesen Effekt wie bei der Lorentz-Kontraktion(86) bewegter Langen hier nur fur das zunachst ausgezeichnete Bezugssystem Σo . Jedebewegte Uhr in Σo geht nach,

Σo : t′ = t

√1− v2

c2. Zeitdilatation (97)

Der Zeiger der Uhr zahlt die Schwingungen. Die Schwingungsdauer Tv einer in Bezugauf Σo bewegten Uhr ist gedehnt, d. h. großer als die Schwingungsdauer To der inΣo ruhenden Uhren. Daher nennt man diesen Effekt Zeitdilatation [spatlat. dilatatio =Erweiterung ].

Wenn im ausgezeichneten System Σo fur eine dort ruhende Uhr die Eigenperiode To

gemessen wird, dann wird fur dieselbe Uhr, wenn sie sich relativ zu Σo mit derGeschwindigkeit v bewegt, in Σo die gedehnte Periode Tv gemessen:

Σo : Tv =To√

1− v2/c2. Zeitdilatation (98)

Page 16: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

54 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

13 Die physikalischen Postulate derrelativistischen Raum-Zeit

Mit den beiden folgenden Abbildungen skizzieren wir noch einmal die Sachverhalte zurLorentz-Kontraktion und Zeitdilatation. Dabei gelte stets die Anfangsbedingung (11),d. h., fur (x = 0, t = 0) ist auch (x′ = 0, t′ = 0) .

�x

Σo

� �

Σ′

x′� v

����� ������ �

����� ������ �t = 0 t = 0

x1= 0 x2= lv x2= lolo� �

��

��

�� �

��

��

�� �

Abb. 24: Schematische Darstellung der im ausgezeichneten System Σo beobachteten Lorentz-Kontraktion. Fur den im bewegten System Σ′ ruhenden Stab werden zur Zeit t = 0 in Σo dieKoordinaten x1 = 0 bzw. x2 = lv seiner Endpunkte festgestellt. Wenn derselbe Stab in Σo ruht,messen wir fur die Koordinaten seiner Endpunkte x1 = 0 und x2 = lo . Strichpunktierte Linienverbinden Punkte im Bild, die dasselbe Ereignis darstellen.

Σo

U0o

Uxo

Σ′

Uv

Σ′

Uv

����� ������ �

����� ������ �

t′

t = 0

t′ = 0

t

x′ = 0 x′ = 0

x=0 x=vt

x′ = 0 x′ = 0

x

x′ x′

��� �v v

����� ������ �

����� ������ �

��

��

��

�� �

��

��

��

�� �

Abb. 25: Schematische Darstellung der im ausgezeichneten System Σo beobachtetenEinsteinschen Zeitdilatation. Die Zeigerstellung t′ der bewegten Uhr Uv bleibt hinter den Zei-gerstellungen t der in Σo ruhenden Uhren zuruck, an denen Uv vorbeigleitet. StrichpunktierteLinien verbinden wieder Punkte im Bild, die dasselbe Ereignis darstellen.

Page 17: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

13 Die physikalischen Postulate der relativistischen Raum-Zeit 55

Der hohere Standard an Messgenauigkeit zwingt uns, die der klassischen Raum-Zeitzugrundeliegenden Hypothesen von einer Unveranderlichkeit bewegter Langen und Schwin-gungsperioden aufzugeben. Anstelle der Gleichungen (65) und (66) fur die klassischeRaum-Zeit erhalten wir also auf Grund der Messergebnisse (86) und (98) in unseremausgezeichneten System Σo ”

den von Konventionen freien physikalischen Inhalt“ ,Einstein[3], der relativistischen Raum-Zeit18:

Die physikalischen Postulate der relativistischen Raum-Zeit :

Σo :lvlo

=1

k=

√1− v2

c2,

In Σo ist der bewegteMaßstab verkurzt.

(99)

Σo :Tv

To=

1

v θ(v) + q(v)=

1√1− v2/c2

. (100)

Drucken wir (100) durch die Zeigerstellungen der Uhren aus und schreiben noch tv furt′ und to fur t , dann muss es heißen

Σo :tvto

=

√1− v2

c2.

In Σo geht diebewegte Uhr nach.

(101)

Die unmittelbare Erfahrung lehrt also auch hier eine fur die Langen- und Zeitmessungengeltende Reziprozitat Tv/To = lo/lv . Ein im Anhang formuliertes, sog. metrischesRelativitatsprinzip, das in seiner Reichweite zwischen dem Einsteinschen Postulat undder elementaren Relativitat steht, zeigt die theoretische Einordnung dieser Beziehung,Kap. 32, S. 31.Wie im Fall der klassischen Raum-Zeit gilt auch fur die relativistische Raum-Zeit:Wir postulieren die Gleichungen (99) und (100) wohlgemerkt allein fur das als isotrop

deklarierte System Σo . Was wir fur diese Quotienten aus den bewegten und ruhendenLangen und Schwingungsdauern in den anderen Inertialsystemen Σ′ messen, ist danneine Folge der dort zu definierenden Synchronisation der Uhren.

Fur spatere Anwendungen fuhren wir noch folgende Bezeichnungen ein:

γ :=

√1− v2

c2, β :=

v

c, also γ =

√1− β2

und zur Unterscheidung

γu :=

√1− u2

c2, γv :=

√1− v2

c2, γ1 :=

√1− v21

c2.

⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭(102)

18Fur denjenigen, der es partout nicht fassen kann, dass wir die Moglichkeit von Langenanderungenbewegter Maßstabe und Periodenanderungen bewegter Uhren rein logisch einraumen mussen, fur den haltdie Natur ein Extra bereit, eine Miniaturausgabe der Speziellen Relativitatstheorie im Festkorper. Wirgehen darauf in Abschnitt XII, S. 301 ff., Kap. 46 und 47 ein, vgl. auch Gunther[2].

Page 18: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

56 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

14 Elementare Relativitat -Die Lorentz-Transformation

Wie in Kap. 10 verlangen wir nun fur die Synchronisation der Uhren in den SystemenΣ′ wieder das Prinzip der elementaren Relativitat (43) mit q = k gemaß (44). Aus denphysikalischen Postulaten (99) und (100) fur das ausgezeichnete System Σo folgt danngemaß (46)

θ =To/Tv − lo/lv

v=

√1− v2/c2 − 1

/√1− v2/c2

v=

1− v2/c2 − 1

v√

1− v2/c2.

Im Unterschied zur klassischen Raum-Zeit mit einer absoluten Gleichzeitigkeit alsKonsequenz aus dem elementaren Relativitatsprinzip erzwingt nun eine konventio-nelle Synchronisation nach demselben Prinzip fur die relativistische Raum-Zeit denLorentzschen Synchronparameter θL und damit die Einsteinsche Definition der Gleich-zeitigkeit,

θ = θL =−v/c2√1− v2/c2

.LorentzscherSynchronparameter

(103)

Diesen Synchronisationsvorgang illustrieren wir in Abb. 26. Wir fassen zusammen:

Die physikalischen Postulateder relativistischen Raum-Zeit

k =1√

1− v2/c2,

q =1√

1− v2/c2,

+

Elementares Relativitatsprinzip θL(v) =−v/c2√1− v2/c2

.LorentzscherSynchronparameter

(104)

Mit (104) erhalten wir fur die spezielle Koordinaten-Transformation (22) die beruhmtespezielle Lorentz-Transformation

x′ =x− v t√1− v2/c2

,

t′ =t− xv/c2√1− v2/c2

,

←→

x =x′ + v t′√1− v2/c2

,

t =t′ + x′v/c2√1− v2/c2

.

⎫⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎭SpezielleLorentz-Transformation

(105)

Fur θ = θL = −v/(c2 γ) und k = q = 1/γ wird aus dem Additionstheorem (23) das

beruhmte Einsteinsche Additionstheorem der Geschwindigkeiten, s. auch Abb. 27,

u′ =u− v

1− u v/c2←→ u =

u′ + v

1 + u′ v/c2.

Einsteinsches Additionstheoremder Geschwindigkeiten

(106)

Page 19: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

14 Elementare Relativitat - Die Lorentz-Transformation 57

� � � �

����� ������ �

����

Σo

� ������ �

����� ������ �

����� ������ �t = 0 t = 0 t = 0 t = 0

x1= 0x

x2 x3=2x2x=−x2

Uo

�� �

��� ���

� � � �v v v v

����� ������ �

����� ������ �

t′E

t′ = 0t′B

t′F

Σ′

+ − −

����� ������ �

����� ������ �

E O B F

x′1 = 0 x′

2 x′3x′

Ux′v Uo

v

��

��

��

�� �

��

��

��

�� �

��

��

��

�� �

��

��

��

�� � x′

Abb. 26: Die Realisierung des elementaren Relativitatsprinzips in der relativistischen Raum-Zeitmit Hilfe der Lorentzschen Synchronfunktion τL(x, v) = −v x/(c2γ) . Zur Zeit t = 0 in Σo

werden die Zeigerstellungen der Σ′-Uhren gemaß t′ = −v x/(c2γ) berechnet. Im Bild habenwir v = 0, 8 c , also γ =

√1− v2/c2 = 0, 6 gewahlt und die Uhren so geeicht, dass die Zeit

Δto := 2x2/c einer Zeigerstellung”Viertel“ entspricht, also 2x2/c = 15 bei 60 Skalenteilen auf

dem Zifferblatt. Damit folgen die eingezeichneten Zeigerstellungen t′E = t′(x, 0) = −x v/c2γ =x2 · 0, 8 c/c2 0, 6 = 15 · 2/3 = 10 , t′B = t′(x2, 0) = −10 , t′F = t′(x3, 0) = −20 . Die strichpunktier-ten Linien verbinden wieder Punkte im Bild, die dasselbe Ereignis darstellen, hier E , O , B , F .

Die vom System Σ′ aus gemessene Geschwindigkeit u′ eines Objektes L ist nun ver-schieden von der in Gleichung (8) stehenden Relativgeschwindigkeit w , welche nur diezeitliche Anderung der in Σo gemessenen Koordinatendifferenzen der Korper L und Kbedeutet. Das System Σ′ wird durch das Ruhsystem des Korpers K realisiert, Abb. 27.Den Fall einer beliebig gerichteten Geschwindigkeit u betrachten wir im Anhang,

Kap. 34. Von Σo aus gemessen, hat die Front einer Lichtwelle die Geschwindigkeitu = c . Die Geschwindigkeit des Inertialsystems Σ′ sei v . Die von Σ′ aus gemesseneGeschwindigkeit der Lichtwellenfront sei u′ = c ′. Diese drei Geschwindigkeiten c , c ′ undv hangen dann uber das Einsteinsche Additionstheorem der Geschwindigkeiten (106)zusammen, also

c ′ =c− v

1− c v/c2=

c− v

1− v/c=

c(1− v/c)

1− v/c

und damit

c ′ = c . (107)

Die Front einer Lichtwelle hat in jedem Inertialsystem ein und denselben Wert,

c = 299 792 458 ms−1 .(108)

Das ist Einsteins beruhmtes Prinzip von der universellen Konstanz der Lichtge-schwindigkeit. Einsteins Relativitatspostulat ist reproduziert, s. auch Aufg. 5 und 7,S. 334 und S. 338.

Page 20: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

58 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Σo

x=0

����

����

��

�����

����

����

��

�����

Σ′′ Σ′

u′

x(t) x1(t)��w

� �

� �� �x′(t′) x′=0

x′

x

L Ku v

Abb. 27: Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten. Der in Bezug auf Σo mit der Ge-schwindigkeit v bewegte Korper K sei das Bezugssystem Σ′ . Der auf dem Korper K sitzendeBeobachter ortet einen Korper bzw. irgendein Objekt L an den Positionen x′ = x′(t′) , welchessich ihm folglich mit der Geschwindigkeit u′ = dx′/dt′ nahert. Das Objekt L besitzt im Bezugs-system Σo die Geschwindigkeit u = dx/dt , wahrend der Korper K (das Bezugssystem Σ′ ) inBezug auf Σo die Geschwindigkeit v = dx1/dt besitzt. Der Beobachter in Σo stellt fest, dasssich L mit der Relativgeschwindigkeit w = u− v dem Korper K nahert. Diese Geschwindigkeitw ist nun verschieden von der Geschwindigkeit u′ , mit der sich nach Aussage des Beobachtersin Σ′ das Objekt L dem Korper K nahert. Wir wahlen als Beispiel wieder v = 0, 8c . Fernermoge in Σo eine Geschwindigkeit u = 0, 9c fur das Objekt L gemessen werden, so dass sich L ,von Σo aus beobachtet, wieder mit der Relativgeschwindigkeit w = u − v = 0, 1c dem KorperK nahert. Fur die Geschwindigkeit u′ berechnet man dagegen mit dem Additionstheorem (106)u′ = (u− v)

/(1− (uv/c2)

)= (0, 9c− 0, 8c)

/(1− (0, 9c · 0, 8c/c2)) = 0, 36 c . Also nahert sich der

Punkt x′(t′) auf der x′-Achse mit der Geschwindigkeit u′ = 0, 36 c dem Punkt x′ = 0 , und derPunkt x(t) nahert sich auf der x-Achse mit der Geschwindigkeit w = 0, 1c dem Punkt x1(t) .Die strichpunktierten Linien verbinden wieder Punkte im Bild, die dasselbe Ereignis darstellen.

Die gewaltige Bedeutung dieser Aussage gibt Anlass zu immer neuen Prazisions-experimenten, die zu ihrer Uberprufung angestrengt werden, s. Kap. 16, S. 63 ff.

Wir sind am Ziel.

Das System Σo ist durch nichts mehr von anderen Inertialsystemen zu unterscheiden.Die Lorentz-Transformation (105) gilt zwischen zwei beliebigen Inertialsystemen.

Also mussen nun zwei beliebige Inertialsysteme Σ′ und Σ′′ uber eine Lorentz-Transformation zusammenhangen. Sind v und u die Geschwindigkeiten von Σ′(x′, t′) undΣ′′(x′′, t′′) in x-Richtung von Σo(x, t) , dann finden wir aus den Lorentz-Transformationenzwischen Σo und Σ′ sowie zwischen Σo und Σ′′ , dass tatsachlich Σ′ und Σ′′ uber eineLorentz-Transformation zusammenhangen, wenn wir das Einsteinsche Additionstheoremder Geschwindigkeiten berucksichtigen:

Page 21: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

14 Elementare Relativitat - Die Lorentz-Transformation 59

x′′ =x− u t

γu,

t′′ =t− xu/c2

γu,

x′ =x− v t

γv,

t′ =t− xu/c2

γv,

−→x′′ =

x′ − u′ t′

γ′u

,

t′′ =t′ − x′ u′/c2

γ′u

,

u′ =u− v

1− u v/c2,

⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭(109)

und in der Transformation zwischen Σ′ und Σ′′ ist u′ auch der ”richtige” Parameter,namlich die von Σ′ aus gemessene Geschwindigkeit u′ = (u − v)/(1 − u v/c2) von Σ′′ .Wir werden (109) in Aufg. 6, S. 336, explizit nachrechnen.

Fur zwei Ereignisse E1(x1, t1) und E2(x2, t1) , die in einem System Σo(x, t) gleichzeitigsind und dort an verschiedenen Positionen (x2 �= x1) stattfinden, liest man aus derLorentz-Transformation (105) sofort ab, dass sie in jedem anderen, zu Σo bewegtenSystem Σ′(x′, t′) nicht mehr gleichzeitig stattfinden,

t′1 =1

γ(t1 −

v x1

c2) �= 1

γ(t1 −

v x2

c2) = t′2 fur x1 �= x2 .

Die elementare Relativitat erzwingt in der relativistischen Raum-Zeit Einsteinsberuhmte Relativitat der Gleichzeitigkeit :

Σo : t1 = t2 und x1 �= x2 −→ Σ′ : t′1 �= t′2 .Relativitat derGleichzeitigkeit

(110)

Den Zusammenhang zwischen der zeitlichen Reihenfolge zweier Ereignisse in verschiede-nen Inertialsystemen mit der Kausalitat behandeln wir in Aufg. 7, S. 338.

Wir halten fest:

Mit der Lorentz-Transformation wird uber den Lorentzschen SynchronparameterθL die konventionelle Gleichzeitigkeit der relativistischen Raum-Zeit realisiert.

(111)

Alle Inertialsysteme hangen gemaß (109) uber die gleiche Form der Koordinaten-Transformation miteinander zusammen. Mathematisch werden die speziellen Lorentz-Transformationen dadurch als eine Gruppe ausgewiesen. Mit den mathematischen Eigen-schaften der Lorentz-Transformationen werden wir uns in den Kapiteln 33 und 37 einge-hend auseinandersetzen. Hier genugt es uns festzustellen, dass wir mit (105) die mathema-tisch einfachste Form gefunden haben, die Aquivalenz aller Inertialsysteme zum Ausdruckzu bringen. Insbesondere liest man aus (105) oder (109) sofort ab, dass die Umkehrung derLorentz-Transformation wieder eine Lorentz-Transformation darstellt und zwar mit derGeschwindigkeit −v , wie es nach dem elementaren Relativitatsprinzip sein muss.

Uber jedes Inertialsystem Σ sind nun dieselben Parameter k , q und θ definiert.

Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten (106) gilt folglich zwischen zweibeliebigen Inertialsystemen.

Page 22: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

60 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Ebenso wird die Kontraktion bewegter Maßstabe und die Zeitdilatation bewegterUhren in jedem System Σ gemessen, da die Gleichungen (29) und (35) jetzt fur jedesInertialsystem gelten:

lv = lo

√1− v2

c2.

In einem beliebigen System Σist der bewegte Stab verkurzt.

(112)

tv = to

√1− v2

c2.

In einem beliebigen System Σgeht die bewegte Uhr nach.

(113)

Das ist durchaus nicht selbstverstandlich. Wenn wir auf die elementare Relativitat ver-zichten und die Uhren in Σ′ nach einer von (103) abweichenden Definition, einer nichtkon-ventionellen Gleichzeitigkeit, in Gang setzen, z. B. gemaß θ = 0 , dann wurden, von Σ′ ausbeurteilt, die Lange eines bewegten Stabes und die Schwingungsdauer einer bewegten Uhrdefinitionsgemaß nach anderen Formeln von deren Geschwindigkeit in Σ′ abhangen, alsdies durch (112) und (113) beschrieben wird. In Kap. 17 werden wir zwangslaufig auf einProblem gefuhrt, dessen Losung am besten unter Verwendung einer nichtkonventionellenGleichzeitigkeit gelingt, vgl. auch Aufg. 11, S. 357.In Einsteins Axiomatik ist der Gang der Uberlegungen ein ganz anderer. Gemaß Ein-

steins Relativitatsprinzip, S. 21, ist die konventionelle Definition der Gleichzeitigkeit mitHilfe der Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen von vornherein in den axioma-tischen Ausgangspunkt der Theorie eingebunden. Die Relativitat der Gleichzeitigkeit istdamit von Anfang an per definitionem fur die relativistische Raum-Zeit festgeschrieben.Eine davon abweichende Definition der Synchronisation ist dann nicht mehr moglich. Diesstellt eine begriffliche Schwierigkeit dar, die haufig unterschatzt wird und dann u. U. zuendlosen Diskussionen bei der Auflosung der relativistischen Paradoxa fuhrt.Unsere Axiomatik verfugt erst am Ende uber die Synchronisation, so dass es uns im

Grunde freisteht, auf welchen Zeigerstellungen wir die Uhren in den Systemen Σ′ inGang setzen. Die Definition einer nichtkonventionellen Gleichzeitigkeit hat aber denPreis einer asymmetrischen Beschreibung unserer Raum-Zeit, aus der die tatsachlichephysikalische Aquivalenz der Inertialsysteme viel schwerer zu erkennen ist. Wir behandelnin Kap. 32 zwei Beispiele zur nichtkonventionellen Definition der Gleichzeitigkeit in derrelativistischen Raum-Zeit, vgl. hierzu auch W. Thirring[1] und H. Gunther[2].

Page 23: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

15 Einsteins Additionstheorem fur beliebig gerichtete Geschwindigkeiten 61

15 Einsteins Additionstheorem fur beliebiggerichtete Geschwindigkeiten

Das Einsteinsche Additionstheorem der Geschwindigkeiten ist fur die Erklarung relati-vistischer Effekte unerlasslich, Abschnitt VIII. Wir betrachten daher noch den Fall einesObjektes, das sich in Σo mit einer beliebig gerichteten Geschwindigkeit u = (ux, uy, uz)bewegt,

Σo : u = (ux, uy, uz) =( dx

dt,dy

dt,dz

dt

), (114)

und berechnen die Geschwindigket u′ = (u′x′ , u′

y′ , u′z′) , die fur dieses Objekt im System

Σ′ beobachtet wird,

Σ′ : u′ = (u′x′ , u′

y′ , u′z′) =

( dx′

dt′,dy′

dt′.dz′

dt′). (115)

Dabei nehmen wir zunachst wieder an, dass Σ′ in Bezug auf Σo die Geschwindigkeit

v = (v1, 0, 0) besitzt, und wir schreiben γ1 =√1− v21/c

2 . Die Bewegung

x = x(t), y = y(t), z = z(t) in Σo bzw. x′ = x′(t′), y′ = y′(t′), z′ = z′(t′) in Σ′

setzen wir in die Lorentz-Transformation (105) ein,

x′ =x− v1 t

γ1,

y′ = y,

z′ = z ,

t′ =t− y v1/c

2

γ1,

←→

x =x′ + v1 t

γ1,

y = y′ ,

z = z′ ,

t =t′ + x′ v2/c2

γ1,

⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭Bewegung in x-RichtungSpezielleLorentz-Transformation

(116)

und finden

u′x′ =

dx′

dt′=

dx′

dt

[dt′

dt

]−1

=1

γ1

(ux − v1

) [ 1

γ1

(1− uxv1

c2

)]−1

,

u′y′ =

dy′

dt′=

dy

dt

[dt′

dt

]−1

= uy

[1

γ1

(1− uxv1

c2

)]−1

,

u′z′ =

dz′

dt′=

dz

dt

[dt′

dt

]−1

= uz

[1

γ1

(1− uxv1

c2

)]−1

.

Daraus folgt fur die allgemeine Form des Einsteinschen Additionstheorems

Page 24: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

62 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

u′x′ =

ux − v11− ux v1/c2

,

u′y′ =

uy γ11− ux v1/c2

,

u′z′ =

uz γ11− ux v1/c2

,

←→

ux =u′x′ + v1

1 + u′x′ v1/c2

,

uy =u′y′ γ1

1 + u′x′ v1/c2

,

uz =u′z′ γ1

1 + u′x′ v1/c2

.

⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭

Additionstheorem bei der

Geschwindigkeit (v1, 0, 0)

von Σ′ in Bezug auf Σo ,

γ1 =√1− β2

1 , β1 = v1c

(117)

Wir betrachten nun noch den Fall , dass sich das System Σ′ entlang der y-Achse von

Σo bewegt, also v = (0, v2, 0) . Mit γ2 =√1− v22/c

2 lautet die spezielle Lorentz-Transformation dann

x′ = x ,

y′ =y − v2 t

γ2,

z′ = z ,

t′ =t− y v2/c

2

γ2,

←→

x = x′ ,

y =y′ + v2 t

γ2,

z = z′ ,

t =t′ + y′ v2/c2

γ2.

⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭Bewegung in y-RichtungSpezielleLorentz-Transformation

(118)

Die beliebig gerichtete Bewegung eines Objektes werde wieder von Σo bzw. Σ′ gemaß(114) bzw. (115) beschrieben. Es folgt nun

u′x′ =

dx′

dt′=

dx′

dt

[dt′

dt

]−1

= ux

[1

γ2

(1− uyv2

c2

)]−1

,

u′y′ =

dy′

dt′=

dy

dt

[dt′

dt

]−1

=1

γ2

(uy − v2

) [ 1

γ2

(1− uyv2

c2

)]−1

,

u′z′ =

dz′

dt′=

dz

dt

[dt′

dt

]−1

= uz

[1

γ2

(1− uyv2

c2

)]−1

und damit das folgende Additionstheorem,

u′x′ =

ux γ21− uy v2/c2

,

u′y′ =

uy − v21− uy v2/c2

,

u′z′ =

uz γ21− uy v2/c2

,

←→

ux =u′x′γ2

1 + u′y′ v2/c2

,

uy =u′y′ + v2

1 + u′y′ v2/c2

,

uz =u′z′ γ2

1 + u′y′ v2/c2

.

⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭

Additionstheorem bei der

Geschwindigkeit (0, v2, 0)

von Σ′ in Bezug auf Σo ,

γ2 =√1− β2

2 , β2 = v2c

(119)

Page 25: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

16 Testexperimente zur Speziellen Relativitatstheorie 63

16 Testexperimente zur Speziellen Relativitatstheorie

Eine physikalische Theorie kann niemals verifiziert, sondern immer nur falsifiziert werden.Wir konnen nie beweisen, dass eine physikalische Theorie richtig ist. Wir konnen hochstenszeigen, wo sie falsch wird, nicht mehr zutrifft.In ihrem axiomatischen Aufbau ist die Spezielle Relativitatstheorie ebenso widerspruchs-

frei wie es die Gesetze der Geometrie sind. Dies ist von D.-E. Liebscher[2] explizit vor-gefuhrt worden. Zu uberprufen gilt es, ob denn auch die axiomatischen Grundannahmender Speziellen Relativitatstheorie bzw. alle ihre Konsequenzen mit unseren Erfahrungenubereinstimmen. Bis zu welchem Grad der Genauigkeit decken sich die Aussagen der Ex-perimente mit den theoretischen Vorhersagen? Hier ist folgendes zu beachten:Die Vorhersagen der Speziellen Relativitatstheorie uber Raum und Zeit konnen nur

so lange aufrechterhalten werden, wie wir den Einfluss der gravitierenden Massen ver-nachlassigen durfen. Wie A. Einstein[3] 1915 gezeigt hat, fuhrt die Berucksichtigung derGravitation zu einer ubergeordneten Theorie, seiner Allgemeinen Relativitatstheorie. Allespeziellrelativistischen Effekte, Zeitdilatation, Langenkontraktion, Konstanz der Lichtge-schwindigkeit, . . . erfahren durch die universelle Eigenschaft aller tragen Massen, in dem-selben Maße auch schwere Massen zu sein und daher stets auch gravitativ zu wirken, ei-ne Modifikation. Physikalisch wird die Spezielle Relativitatstheorie durch die permanentePrasenz der Gravitation bereits falsifiziert. Fur die Theorie ist das aber unproblematisch,weil wir die bessere Theorie, die diese Falsifikation uberwindet, bereits kennen, die Allge-meine Relativitatstheorie. Auf die Bedeutung der schweren Massen fur die Zeitdilatationwird in Aufg. 4, S. 330, hingewiesen.Die eigentlichen Testexperimente auf die Spezielle Relativitatstheorie fragen also

nach den experimentellen Konsequenzen der Theorie unter der Bedingung einer ver-nachlassigbaren Schwere oder bei einem entsprechenden Herausrechnen der gravitativenEinflusse. Und hier ist das experimentelle Feld gewaltig, da mit der einzigen Ausnahmeder Gravitation das gesamte Gebaude der theoretischen Physik auf der Speziellen Re-lativitatstheorie aufbaut. Zu prufen sind also nicht nur die Aussagen zur Lichtausbrei-tung und das Verhalten von bewegten Maßstaben und Uhren, sondern auch die sog. se-kundarrelativistischen Effekte, wie sie z. B. in der Paarerzeugung und der Vakuumpola-risation durch die relativistische Quantentheorie vorhergesagt werden, s. G. Gabrielse[1]

et al. Wir wollen hier nur auf einige Experimente aufmerksam machen und verweisen imubrigen auf die Spezialliteratur, z. B. M. P. Haughan[1] & C. M. Will. Auch die eigentli-che Analyse der Versuchsanordnungen und ihrer Ergebnisse geht uber den Rahmen diesesBuches hinaus.Die beiden Elementareffekte, welche

”den von Konventionen freien physikalischen Inhalt

der Lorentz-Transformation“ bilden, Einstein[3], S. 39, sind die Lorentz-Kontraktion unddie Zeitdilatation. In Kap. 14 haben wir gezeigt: Die Spezielle Relativitatstheorie ist ge-nau dann richtig, bzw. experimentell gesprochen, so genau erfullt, wie wir diese beidenEffekte in einem einzigen Bezugssystem nachweisen konnen. Die experimentelle Genauig-keit, mit der diese beiden Effekte gemessen werden, bestimmt daher die Genauigkeit, mitder wir die Nichtexistenz eines

”Atherwindes“ und damit die universelle Konstanz der

Lichtgeschwindigkeit behaupten konnen. Der Experimentator wird unabhangig davon jedeeinzelne Konsequenz der Relativitatstheorie immer wieder aufs neue fur sich prufen.Das traditionelle Michelson-Morley-Experiment haben wir vom schematischen Auf-

bau her in Kap. 11 besprochen. Dieses Experiment wurde von 1881 bis 1930 an ver-schiedenen Orten der Welt immer wieder aufs neue mit stets raffinierteren Versuchstech-

Page 26: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

64 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

niken durchgefuhrt (Potsdam-Babelsberg, Cleveland, Mt. Wilson, Heidelberg, Pasadena,Mt. Rigi, Jena). Zu dem vermeintlichen Nachweis eines Atherwindes im April 1921 durchD. C. Miller[1] am Mt. Wilson Observatory ist Einsteins Kommentar beruhmt geworden,

”Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht“ , dem er spater die wunderbareBemerkung hinzugefugt hat,

”Die Natur verbirgt ihr Geheimnis durch die Erhabenheit ih-

res Wesens, aber nicht durch List“ . R. S. Shankland[1] et al. publizieren 1955 noch einmaleine eingehende Analyse aller Messdaten mit dem bekannten Nullresultat, das durch dieFitzGerald-Lorentzsche Kontraktionshypothese erklart wird, Kap. 11. Wir erwahnen dieWeiterentwicklung dieser Experimente durch R. J. Kennedy[1] & E. M. Thorndike sowiespater unter Verwendung der modernen Lasertechnik durch A. Brillet[1] & J. L. Hall

sowie D. Hils[1] & J. L. Hall.Wie wir in Kap. 28 gesehen haben, ist der transversale Doppler-Effekt gemaß Gleichung

(243), S. 115, ν = ν√1− v2/c2 , ein unmittelbarer Ausdruck der Zeitdilatation. Es

entbehrt aus heutiger Sicht nicht einer gewissen Kuriositat, dass die ersten Testversu-che von H. J. Ives[1] und G. J. Stillvell 1938/39 immer noch mit dem Ziel unternom-men wurden, die Nichtexistenz des transversalen Doppler-Effektes, d. h. die Nichtexistenzder relativistischen Rotverschiebung der Spektrallinien, zu demonstrieren, freilich nichtmit dem gewunschten Ergebnis. Dagegen waren 1939 die erfolgreichen Experimente vonG. Otting[1] von vornherein auf den Nachweis dieses Effektes ausgerichtet.Indem wir die Zeitdilatation uber den transversalen Doppler-Effekt prufen, ist unsere

Messgenauigkeit an die Genauigkeit von Frequenzmessungen gebunden. Hierbei spielendie von angeregten Atomkernen emittierten γ-Quanten eine wichtige Rolle. Die EnergieEγ = hν der emittierten Quanten darf jedoch der Anregungsenergie Eo des Atomkernsnicht einfach gleichgesetzt werden.Zunachst ist zu bemerken, dass wir niemals eine streng monochromatische, unendlich

lange Welle, sondern immer einen endlichen Wellenzug beobachten, der aus rein mathe-matischen Grunden nur aus einem kontinuierlichen Frequenzband aufgebaut werden kann.Man spricht dabei von der naturlichen Linienbreite mit einer sog. Halbwertsbreite Δν :Die maximale Intensitat Io bei der Frequenz νo ist fur die Frequenzen νo ± Δν aufIo/2 abgesunken. Quantentheoretisch wird die naturliche Linienbreite durch die endli-che Lebensdauer der an der Emission oder Absorption beteiligten Quantenzustande er-klart. Die naturliche Linienverbreiterung ist eine prinzipielle Unscharfe in der Frequenzder emittierten Quanten, die nicht unterschritten werden kann. Die relative LinienbreiteΔν/νo kann allerdings extrem klein sein. Fur die Anregungsenergie Eo

Fe = 14, 4 keV im57Fe-Atom ist beispielsweise Δν/νFe = 3 · 10−13 . 19

Die tatsachliche Energie Eγ eines emittierten (oder absorbierten) Quants unterliegt aberweiteren Einflussen. Die Emission (oder Absorption) eines γ-Quants kann als Stoßvorgangbetrachtet werden, der den Erhaltungssatzen von Energie und Impuls unterliegt. Der Kernerfahrt durch die Aussendung des γ-Quants eine Anderung seiner Geschwindigkeit, welchei. Allg. jedoch in einem Bereich bleibt, der es uns erlaubt, die klassische Form des Ener-giesatzes anzuwenden.Der Kern moge vor der Emission des γ-Quants den i. Allg. von Null verschiedenen Impuls

pK = mvK und also die kinetische Energie E1 = p2K/(2m) besitzen. Die Richtung desemittierten γ-Quants mit dem Impuls p = �k liegt i. Allg. nicht in der Richtung von pK ,so dass in den Erhaltungssatzen die Impulse vektoriell addiert werden mussen.

19Durchlauft eine Elementarladung die Potentialdifferenz von einem Volt, dann nimmt es eine Energievon 1 eV = 1, 602 · e−19 J auf.

Page 27: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

16 Testexperimente zur Speziellen Relativitatstheorie 65

Die Energie des emittierten Quants nennen wir Eγ = h ν = h c/λ = � c 2π/λ = � k c = p cmit p = |p| , k = |k| . Der Kern erhalt durch die Emission den Ruckstoßimpuls pr .Die Erhaltungssatze von Impuls und Energie bei diesem Stoßvorgang verlangen dann

pK = �k+(pK + pr

),

Eo +p2K

2m= Eγ +

(pK + pr)2

2m.

⎫⎪⎬⎪⎭ (120)

Aus der ersten Gleichung lesen wir fur den Ruckstoßimpuls pr = −�k ab und findeneine Energieverschiebung ΔE = Eo − Eγ zwischen der Anregungsenergie Eo des Kernsund der Energie Eγ des emittierten γ-Quants gemaß,

ΔE = Eo − Eγ =�2 k2

2m− �k · pK

m=

E2γ

2mc2− pK � k cosΘ

m=

E2γ

2mc2− Eγ

pK cosΘ

mc,

wobei Θ der Winkel zwischen den Vektoren pK und k sein soll, also

ΔE =E2

γ

2mc2− Eγ vK cosΘ

c(121)

Die Energieverschiebung ΔE ist also gleich der Differenz aus der bei diesem Prozess vomKern aufgenommenen Ruckstoßenergie Er = E2

γ/(2mc2) und einem uber den Doppler-Effekt zustande kommenden Beitrag prvK cosΘ = −EγvK cosΘ/c . Fur die hier ange-nommenen frei beweglichen Kerne mit einer thermisch verteilten Geschwindigkeit wirddie Energie des emittierten γ-Quants in den allermeisten Fallen derart verschoben sein,dass es auf Grund der geringen naturlichen Linienbreite nicht auf einen Kern trifft, derdann genau diese Energie wieder absorbieren kann. Es tritt daher fur die uberwiegendeZahl der Emissionsakte keine Resonanzabsorption ein, wie man sagt, obwohl dies inseltenen Einzelfallen moglich ist.Anders liegen die Verhaltnisse in einem Kristallgitter. Frei beweglich ist hier nur der

Kristall als Ganzes. Die Große vK ist die Geschwindigkeit des Kristalls. Wegen der imVergleich zu den Atomen als unendlich groß anzusehenden Masse des Kristalls kann dieserkeine Ruckstoßenergie Er aufnehmen, m −→ ∞ , also Er = E2

γ/(2mc2) −→ 0 . DieEnergie Er verbleibt bei dem emittierten γ-Quant, wenn sie nicht von den Phononen derGitterschwingungen aufgenommen werden kann, die sich aus Vielfachen einer Grundenergie�ω zusammensetzen. Dies geht aber nur, wenn Er > �ω .20 Man sucht daher nach solchenKristallgittern, bei denen Er < �ω ist. Die Ruckstoßenergie Er kann dann von den γ-Quanten nicht abgegeben werden. Dieser Fall liegt bei dem oben erwahnten 57Fe schon beiZimmertemperatur vor. Die γ-Quanten der Eo = Eo

Fe = 14, 4 keV-Linie werden zu uber90% ruckstoßfrei emittiert und ebenso wieder absorbiert. Bei anderen Elementen erreichtman dies durch Abkuhlung. Die durch den fehlenden Ruckstoß ermoglichte Resonanzab-sorption heißt Moßbauer-Effekt, der 1957 von R. L. Moßbauer gefunden wurde. Mit derfrei verfugbaren Geschwindigkeit vK des Kristalls kann man uber den zweiten Term inGleichung (121) die Emissionslinie gegen die Absorptionslinie verschieben, was wegen dergeringen Linienbreite eine Resonanzabsorption sofort verhindert. Darin liegt die messtech-nische Bedeutung des Moßbauer-Effektes mit einer bis dahin ungekannten Prazision.

20Nimmt das Gitter die Ruckstoßenergie Er auf, so kann das um diesen Betrag energiearmere γ-Quantdanach vom Gitter nicht mehr absorbiert werden, weil es dafur nun eine um Er großere Energie als Eo

mitbringen musste.

Page 28: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

66 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Das Isotop 57Co hat die Eigenschaft, in den angeregten Zustand des 57Fe-Atomsuberzugehen, welches dann die oben erwahnten 14, 4 keV γ-Quanten emittiert. Die57Co-Atome sind in ein Kristallgitter eingebunden, in eine Matrix, wie man sagt. Dieemittierten γ-Quanten sollen nun von 57Fe-Atomen im Grundzustand, die in eine andereMatrix, ein anderes Kristallgitter eingebunden sind, absorbiert werden. Die Einbettungin ein Kristallgitter bewirkt eine geringfugige Verschiebung der Energieniveaus, hier alsoder 14, 4 keV -Linie. Dieser Unterschied in den Energieniveaus von Quelle und Absorber,der durch die Einbettung in verschiedene Kristallgitter entsteht, ist außerordentlich klein.Seine Messung gelingt seit der Entdeckung des Moßbauer-Effektes mit dem klassischen,longitudinalen Doppler-Effekt.Mit den Frequenzen νCo und νFe im Ruhezustand von Quelle bzw. Absorber ist also

ein Frequenzunterschied δν definiert, der wegen der geringen Linienbreite eine Resonanzsofort verhindert,

δν := νFe − νCo . (122)

Wir bewegen den Absorber mit einer Geschwindigkeit v � c von der Quelle weg,also weg von der Matrix mit den 57Co-Atomen. Nach dem klassischen, longitudinalenDoppler-Effekt (233), wo sich Quelle und Absorber aufeinander zu bewegen, wir nun also vdurch −v ersetzen mussen, kann der Absorber dann eine Frequenz νFe

′ absorbieren gemaß

νFe′ = νFe(1− v/c) . (123)

Wir schreiben νFe′ = νFe − δν′ = νFe(1− v/c) , so dass

δν′/νFe = v/c . (124)

Variiert man die Geschwindigkeit v so lange, bis δν′ = δν , dann konnen die von der57Co-Matrix ausgesandten γ-Quanten von dem Absorber aufgenommen werden, d. h. Quel-le und Absorber kommen durch die klassische Doppler-Verschiebung zur Resonanz. Diedafur erforderlichen Geschwindigkeiten v des Absorbers bewegen sich im Bereich von Mil-limetern pro Sekunde. Die Bestimmung der Frequenzverschiebung aus dem Doppler-Effektgemaß Gleichung (124) kann nun fur einen Test auf die Zeitdilatation ausgenutzt werden.Dies gelingt mit den Rotorexperimenten von D. C. Champeney[1,2], G. R. Isaak und A. M.

Khan.Bei einer Versuchsanordnung von D. C. Champeney[1] et al. zeigt sich Resonanz bei

v = 1, 88 · 10−4 ms−1 , also knapp zwei zehntel Millimeter pro Sekunde, so dass wir fur dierelative Frequenzverschiebung (124) einen extrem kleinen Wert erhalten, namlich

δν′/νFe = δν/νFe = v/c ≈ 6 · 10−13 . (125)

Wie in Abb. 28 skizziert, wird auf einem Rotor die Quelle im Zentrum angebracht, sodass fur deren Geschwindigkeit mit dem Wert Null gerechnet werden kann, wahrend sichder Absorber bei R = 4 cm befindet, sich also mit der Geschwindigkeit vFe = RΩ reintransversal zu den eintreffenden γ-Quanten bewegt; der Term mit der Geschwindigkeit vKaus Gleichung (121) ist also wegen des Winkels Θ = π/2 dann Null.Um nun wieder Resonanzabsorption wie bei der longitudinalen Messung zu erhalten,

ermittelten die Autoren in diesem Fall eine Geschwindigkeit des Rotors von 1313 Umdre-hungen pro Sekunde, so dass Ω = 2π · 1313 ≈ 8250 s−1 , Abb. 28.Wegen des transversalen Doppler-Effektes (243) konnen wir fur die Frequenz der trans-

versal zu den ankommenden Wellen sich bewegenden Absorberatome νFeT′ auf dem Rand

des Rotors schreiben21

21Die Bedingung (234) zur Anwendung des rein transversalen Doppler-Effektes ist hier erfullt. In

Page 29: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

16 Testexperimente zur Speziellen Relativitatstheorie 67

Ω

• R57Fe

•57Co � x

�Σo

��

Abb. 28: Schematische Darstellung eines Versuches von D. C. Champeney et al. zum Nachweisder Zeitdilatation mit Hilfe eines Hochgeschwindigkeitsrotors. Die Quelle der γ-Quanten ist imZentrum angeordnet und der Absorber in der Nahe des Randes. Die Rotationsgeschwindigkeit Ωfuhrt auf Grund des transversalen Doppler-Effektes zu einer Reduzierung der Absorberfrequenz.

νFeT′ = νFe

√1− v2Fe

c2= νFe

√1− R2 Ω2

c2≈ νFe

(1− 1

2

R2Ω2

c2). (126)

Mit νFeT′ = νFe − δνT folgt daraus (man beachte R = 4 · 10−2 m)

δνTνFe

=1

2

82502 · 42 · 10−4

32 · 1016 ≈ 6 · 10−13 , (127)

also mit (125) δνT = δν′ = δν . Auf diesem Wege erfolgt eine Bestatigung der Formel(243) fur den transversalen Doppler-Effekt und damit fur die Zeitdilatation. Lassen dieIves-Stillvell-Experimente noch 1% Abweichung von der Formel (243) zu, dann wirddas durch Moßbauer-Experimente auf 0, 001% und spateren Angaben zufolge sogar auf0, 00001% reduziert, vgl. R. Grieser[2] et al.Ein weiterer Test auf die Zeitdilatation besteht in der Beobachtung der Lebensdauer

instabiler Teilchen bei hohen Geschwindigkeiten, wie wir dies in Aufg. 16, S. 367, be-rechnen, vgl. die Messungen von R. P. Durbin[1] et al. an π+-Mesonen und von H. G.

Burrowes[1] et al. an K-Mesonen. Uberpruft wird die im Laborsystem gemessene Lebens-dauer To der ruhenden Mesonen mit der Lebensdauer T bei hohen Geschwindigkeiten,

d. h. die Gleichung T = To

√1− v2/c2 . Die Mesonen zerfallen nach dem Gesetz

unserem Fall schreiben wir fur (234) ΩR/c � Rν/c , also Ω � ν . Ω bewegt sich in der Großenordnungvon 1000Hz , wahrend die 14, 4 keV γ-Quanten einer Frequenz von 3, 5 · 1018 Hz entsprechen. Dies folgtaus h ν = 14, 4 keV mit h = 4, 14 · 10−15 eV s .

Page 30: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

68 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

N = No exp[−t/T ] . Durchlaufen sie eine Teststrecke L mit einer Geschwindigkeit v ,also N = No exp[−L/(vT )] , so zahlt man sie am Anfang und am Ende der Strecke und ge-winnt dadurch die Lebensdauer T , die nun mit der bekannten Lebensdauer To verglichenwird.Eine sehr hohe Messgenauigkeit bei der Uberprufung der Zeitdilatation erreicht man

auch mit Hilfe der sog. Speicherring-Experimente. Dabei werden geladene Teilchen in einenhochevakuierten, kreisformigen Torus geschossen, wo sie durch Magnetspulen, die diesenTorus umfassen, auf einer Kreisbahn gehalten werden.F. J. M. Farley[1,2] et al. lassen schnelle μ−-Mesonen eine solche Anordnung durchlaufen,

die dort zerfallen, und messen ihre Lebensdauer T im Speicherring, die dann wieder mitder bekannten Lebensdauer To ruhender μ−-Mesonen verglichen werden kann.R. Grieser[1,2] et al. bringen Li+-Ionen in einem Speicherring auf eine hohe Ge-

schwindigkeit, um nun mit Hilfe der Laser-Spektroskopie eine genaue Bestimmung ih-rer Spektrallinien durchzufuhren, die dann mit den im Ruhezustand gemessenen Li-nien verglichen werden. Wie bei den historischen Ives-Stillvell-Otting-Experimenten

wird hier also uber den transversalen Doppler-Effekt ν = ν√1− v2/c2 die in den Fre-

quenzen ausgedruckte Zeitdilatation getestet. Die alte Genauigkeit von 1% denkbarerAbweichungen fur die Zeitdilatation wurde durch diese Experimente bis auf beachtliche0, 00008% Abweichung reduziert.Ein Schwerpunkt der experimentellen Fragestellung war seit jeher, die Existenz eines

Athers auszuschließen - oder eben auch nachzuweisen, dessen Ruhezustand in einem aus-gezeichneten System jedes Prinzip einer Relativitat brechen wurde. Das A und O der Spe-ziellen Relativitatstheorie ist die universelle Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und alsodie Nichtexistenz eines Athers. Zur experimentellen Prufung dieser Aussage werden zweiverschiedene Fragen gestellt:

1. Treffen Protonen mit einer Energie von 19, 2 · 109 eV auf ein Beryllium-Target, so ent-stehen πo-Mesonen, die sich mit der extrem hohen Geschwindigkeit von v = 0, 999 75 c inBezug i aborsystem bewegen und dann in zwei γ-Quanten zerfallen, πo −→ γ→ + γ← . ImRuhsystem des Pions laufen diese Photonen in entgegengesetzter Richtung mit der Lichtge-schwindigkeit c auseinander. Gemessen wird nun die Geschwindigkeit c′ dieser Photonenim Laborsystem, d. h., es wird das Additionstheorem der Geschwindigkeiten getestet. Gibtes eine Abweichung vom Einsteinschen Theorem (106), d. h. nach (107) von c′ = c , dannware das ein Hinweis auf ein ausgezeichnetes System, das Ruhsystem eines vermeintlichenAthers. Denkbare Abweichungen von der Gleichung c′ = c konnten durch diese Experi-mente auf unter 0, 013% reduziert werden, vgl. T. Alvanger[1] et al.

2. Gepruft wird die Dispersion, die Abhangigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Fre-quenz. Unterstellt man, dass die Ruhmasse der Photonen exakt Null ist, dann konnte dieUrsache fur eine solche Dispersion in einer diskreten Struktur unseres physikalischen Va-kuums liegen, vgl. Kap. 36. Durch astronomische Messungen an Pulsaren wurde bis zuFrequenzen von 2, 5 · 1020 Hz, das sind 1 MeV- γ-Quanten, gefunden, dass die relative Ab-weichung von der Lichtgeschwindigkeit Δc/c < 10−14 sein muss, vgl. J. M. Rawls[1]. Interrestrischen Messungen wurde bis zu einer Energie der γ-Quanten von 7 GeV uber eineGenauigkeit von Δc/c < 10−5 berichtet, vgl. B. C. Brown[1] et al.Wir kommen zu dem Schluss:

Mit der bis heute erreichbaren Messgenauigkeit bleibt die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit ceine universelle Konstante, in jedem Inertialsystem und fur jede Frequenz.

Page 31: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

17 Die lineare Naherung der Speziellen Relativitatstheorie 69

17 Die lineare Naherung derSpeziellen Relativitatstheorie

Das Inertialsystem Σ′ bewege sich in Bezug auf Σo mit der Geschwindigkeit v . Wirwollen ein und dasselbe physikalische Phanomen sowohl von Σo als auch von Σ′ ausbeschreiben. Unter der linearen Naherung der SRT verstehen wir, dass die Geschwindigkeitv , verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit c , sehr klein bleibt,

v

c� 1 −→ v2

c2≈ 0 .

Lineare Naherung derSpeziellen Relativitatstheorie

(128)

Gleichung (128) kann man so lesen, dass wir nur die linearen Terme in v/c mitnehmenund hohere Potenzen vernachlassigen. Oder aber man nimmt an, dass unsere Messgenau-igkeit nicht ausreicht, um Glieder hoherer Ordnung in v/c uberhaupt nachzuweisen.22

Wir betrachten die folgenden Taylor-Entwicklungen, wobei mit den Punkten Termehoherer Ordnung in v/c angedeutet sind,√

1− v2

c2= 1− 1

2

v2

c2+ . . . ,

1√1− v2/c2

= 1 +1

2

v2

c2+ . . . ,

1

1− v/c= 1 +

v

c+ . . . .

⎫⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎬⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎪⎭(129)

Aus einem Vergleich der physikalischen Postulate (65) und (66) der klassischen Raum-Zeit mit den entsprechenden relativistischen Formeln (99) und (100) folgt sofort, dass dierelativistische Raum-Zeit in der linearen Naherung in die klassische Raum-Zeit ubergeht:

Die in v/c lineare Naherung der relativistischen Raum-Zeit ist physikalischmit der klassischen Raum-Zeit identisch.

Alle in v/c linearen Effekte konnen grundsatzlich im Rahmen der klassischenRaum-Zeit erklart werden.

(130)

Fur die klassischen, in v/c linearen Effekte liefert die Berucksichtigung der Speziel-len Relativitatstheorie nichtlineare Korrekturen, wie wir dies z. B. beim Doppler-Effektund bei der Aberration sehen werden, Kap. 29 und 30. Außerdem gibt es rein relativisti-sche Effekte, die erst in der Ordnung v2/c2 einsetzen und in der klassischen Betrach-tung uberhaupt fehlen. Hier muss man entweder sehr genau messen oder die Geschwindig-keit v moglichst hoch treiben. Die Thomas-Prazession, Kap. 26, und der sog. transversaleDoppler-Effekt, Kap. 28, sind Beispiele dafur.

22Man beachte, dass die Linearitat in den Koordinaten x und t , auf die wir uns ab Kap. 4 generellgeeinigt hatten, mit der hier betrachteten Linearisierung in v/c nichts zu tun hat.

Page 32: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

70 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Die Situation sieht anscheinend anders aus, wenn wir bei der Linearisierung in v/cvon der Koordinaten-Transformation ausgehen. Mit (128) und (129) folgt fur die lineareNaherung der Lorentz-Transformation (105)

x′ = x− v t ,

t′ = t− v

c

x

c,

←→x = x′ + v t′ ,

t = t′ +v

c

x′

c.

⎫⎪⎬⎪⎭ Lineare Naherung derLorentz-Transformation

(131)

Die Transformation (131) ist nun aber von der Galilei-Transformation (69) durchausverschieden. Dieser Unterschied bleibt unklar, wenn man sich nicht an den definitorischenCharakter der Gleichzeitigkeit erinnert.Die klassische und die relativistische Raum-Zeit sind durch die Ergebnisse von Messungen

ausgewiesen, namlich durch (65) und (66) im klassischen sowie durch (99) und (100) imrelativistischen Fall.Verzichten wir einmal auf die durch das elementare Relativitatsprinzip erzeugte und fur

das Verstandnis der physikalischen Zusammenhange so wichtige symmetrische mathemati-sche Struktur der Koordinaten-Transformationen, dann steht es uns frei, einen beliebigenSynchronparameter fur die Einstellung der Uhren in den Systemen Σ′ zu verwenden, alsoz. B. θL fur die klassische Raum-Zeit und θa fur die relativistische.Wir halten fest:

Der Lorentzsche Synchronparameter θL = −v/(c2γ) erzeugt die konventionelleGleichzeitigkeit in der relativistischen Raum-Zeit und eine nichtkonventionelleGleichzeitigkeit fur die klassische Raum-Zeit.

Ebenso erzeugt der absolute Synchronparameter θa = 0 die konventionelleGleichzeitigkeit in der klassischen Raum-Zeit und eine nichtkonventionelleGleichzeitigkeit fur die relativistische Raum-Zeit.

(132)

Mit der Wahl θL = −v/(c2γ) fur die klassische Raum-Zeit folgt aus (66), dassq = 1 − v θL = 1 + v2/(c2γ) . Zusammen mit k = 1 gemaß (65) folgt dann aus derKoordinaten-Transformation (22) anstelle der Galilei-Transformation (69) zunachst

x′ = x− v t , t′ = −v/c2

γx+

(1 +

v2/c2

γ

)t .

Klassische Raum-Zeit mit einernichtkonventionellen Gleichzeitigkeit

(133)

Die zweite Formel in (133) enthalt mit den v2/c2-Gliedern im Rahmen der klassischenGenauigkeit nicht nachprufbare Aussagen. Vernachlassigen wir folgerichtig in (133) diein v/c nichtlinearen Glieder, ersetzen also auch den Faktor γ durch 1 , dann erhaltenwir anstelle der Gleichungen (133) fur die klassische Raum-Zeit die Transformationsformeln

x′ = x− v t , t′ = t− v

c

x

c.

Klassische Raum-Zeit mit einernichtkonventionellen Gleichzeitigkeit

(134)

Page 33: Die Spezielle Relativitätstheorie || ElementarerAufbau der relativistischen Raum-Zeit

17 Die lineare Naherung der Speziellen Relativitatstheorie 71

Ein Vergleich von (134) mit (131) zeigt nun:

Die in v/c linearisierte Lorentz-Transformation ergibt eine Beschreibung der klassischenRaum-Zeit mit einer nichtkonventionellen Gleichzeitigkeit, namlich unter Verwendungdes Synchronparameters θL = −v/(c2γ) anstelle von θa = 0 und einer anschließendenLinearisierung in v/c .

Die linearisierte Lorentz-Transformation und die Galilei-Transformation unterscheidensich also nur in der Definition der Gleichzeitigkeit.Dafur gibt es durchaus Anwendungen, s. Liebscher[1], Gunther[3]. Inbesondere bei Ex-

perimenten mit dem Licht kann es sogar mathematisch vorteilhaft sein, zunachst relativis-tisch zu rechnen, um daraus den Effekt der klassischen Raum-Zeit durch eine anschließendeLinearisierung in v/c zu erhalten, vgl. Kap. 24 und Kap. 29.Genauso, wie sich in der relativistischen Raum-Zeit aus der Lorentz-Transformation

(105) die Relativitat der Gleichzeitigkeit (110) ergibt, folgt nun auch fur die klassischeRaum-Zeit die Relativitat der Gleichzeitigkeit aus der in v/c linearisierten Lorentz-Transformation (134) bzw. (131). Das liegt einfach daran, dass nun fur die klassischeRaum-Zeit die Uhren nicht gemaß Abb. 15 in Gang gesetzt werden, sondern vereinba-rungsgemaß entsprechend Abb. 26 bzw. gemaß einer daraus gebildeten linearen Naherungin v/c . In Aufg. 12, S. 358 rechnen wir dies explizit durch.Wir machen hier darauf aufmerksam, dass alle Experimente in der Physik bis-

her ausnahmslos mit einer konventionellen Regulierung der Uhren durchgefuhrt wer-den: die Experimente der klassischen Physik mit der absoluten Gleichzeitigkeit undPrazisionsexperimente, die uns in den relativistischen Bereich fuhren, mit einer Synchro-nisation, welche uber die per definitionem konstante Lichtgeschwindigkeit realisiert wird.Die experimentelle Uberprufung von Formeln, die auf einer nichtkonventionellen Definitionder Gleichzeitigkeit beruhen, verlangt daher eine sorgfaltige Prufung einer entsprechendenEinstellung der Uhren.Alle physikalisch messbaren Effekte sind aber von einer Anderung in der Definition der

Gleichzeitigkeit nur dann betroffen, wenn wir zur Bestimmung der experimentellen Großenzwei Uhren an zwei verschiedenen Orten benotigen, so dass die Synchronisation dieserbeiden Uhren unmittelbar in die Messung eingeht, wie wir dies bei der Messung einerGeschwindigkeit in Kap. 1 diskutiert haben, s. Satz (1), S. 6.Wir zeigen dies noch einmal an der Lichtgeschwindigkeit.Es sei c′ = c die in Σ′ und Σo gemessene Lichtgeschwindigkeit in der relativistischen

Raum-Zeit bei konventioneller, also Einsteinscher Definition der Gleichzeitigkeit. Das Sys-tem Σ′ soll sich mit der Geschwindigkeit v in der x-Richtung von Σo bewegen.Betrachten wir nun die klassische Raum-Zeit mit konventioneller Definition der Gleich-

zeitigkeit, und es sei c die Lichtgeschwindigkeit in Σo . Mit dem Additionstheorem (70)der Galilei-Transformation (69) erhalten wir dann fur den klassischen Wert c′kl derLichtgeschwindigkeit in Σ′

c′kl = c− v = c(1− v

c

). (135)

Also unterscheidet sich doch der klassische Wert fur c′kl ganz eindeutig um einen Effekterster Ordnung in v/c von dem relativistischen Wert c , wahrend doch die Unterschiedezwischen klassischer und relativistischer Messung von zweiter Ordnung in v/c sein sollten!

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72 IV Elementarer Aufbau der relativistischen Raum-Zeit

Im System Σ′ gemessene Geschwindigkeiten kann man naturlich nur miteinander verglei-chen, wenn man dabei dieselbe Synchronisation der Uhren verwendet hat, Kap. 3, Satz (1),S. 6.Ein bei x′

1 = 0 zur Zeit t′1 = 0 ausgesandtes Lichtsignal erreiche die Σ′-Uhr bei x′2 zur

Zeit t′2 . Die daraus in Σ′ berechnete Lichtgeschwindigkeit c′ ,

c′ =x′2 − x′

1

t′2 − t′1=

x′2

t′2,

hangt naturlich davon ab, ob die Σ′-Uhr bei x′2 auf der Stellung gemaß Abb. 15 oder

gemaß Abb. 26 in Gang gesetzt wurde.Um den klassischen Wert der Lichtgeschwindigkeit mit dem relativistischen vergleichen

zu konnen, mussen wir also fur die klassische Raum-Zeit dieselbe Synchronisation furdie Σ′-Uhren verwenden wie fur die relativistische. Rechnen wir in der relativistischenRaum-Zeit mit konventioneller Gleichzeitigkeit, benutzen also den SynchronparameterθL = −v/(c2γ) , dann mussen wir diesen Parameter θL auch fur die klassische Rechnungeinsetzen.Wie wir oben ausgefuhrt haben, ist bei θ = θL = −v/(c2γ) in der klassischen Raum-Zeit

q = 1 + v2/(c2γ) sowie k = 1 .Aus dem Additionstheorem (23) mit u = c in Σo folgt damit fur die klassisch gemessene

Lichtgeschwindigkeit ein Wert u′ = c ′kl in Σ′ , wobei wir die aus einer nichtkonventionellen

Einstellung der Uhren resultierenden Großen durch eine Tilde kennzeichnen,

c ′kl =

c− v

1 + v2/(c2γ) − v/(cγ)≈ c

(1− v

c

)(1 +

v

cγ− 1

2

v2

c2γ2− v2

c2γ

),

so dass

c ′kl ≈ c (1− v

c) (1 +

v

c) ,

c ′kl ≈ c (1− v2

c2) ,

c ′kl ≈ c

(1 +O

(v2c2

)). (136)

Diese Gleichung kann man so lesen, dass wir fur den klassischen Wert der Lichtgeschwin-digkeit c ′

kl in Σ′ bei der angenommenen nichtkonventionellen Synchronisation einfach cerhalten, da die v/c nichtlinearen Terme klassisch nicht messbar sind.Dieser klassische Wert der Lichtgeschwindigkeit c ′

kl in Σ′ unterscheidet sich also vondem relativistischen Wert c in Ubereinstimmung mit (130) nur durch nichtlineare Termein v/c , was wir mit der Schreibweise O

(v2/c2

)angedeutet haben. In Aufg. 11, S. 357,

rechnen wir dasselbe Problem mit der absoluten Gleichzeitigkeit, also konventionell fur dieklassische Raum-Zeit und nichtkonventionell fur den relativistischen Fall.Wir merken noch an:Naturlich kann die Galilei-Transformation auch als ein Grenzfall der Lorentz-

Transformation betrachtet werden, namlich unter der Annahme c −→ ∞ .