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Simon Dreß, Nico Henke ::: MA European Studies
Die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der EU
Dr. Anne Faber ::: Prof. Günter Verheugen
Die Türkei auf dem Weg in die EU
Referat am 11. Juli 2011
Gliederung
1. Vorstellung der Türkei als offizieller EU-Beitrittskandidat
2. Chronologie des Beitrittsprozesses
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
a. Ökonomische Dimension
b. Politische Dimension
c. Geostrategische Dimension
d. Kulturelle Dimension
4. Und jetzt? Bestandsaufnahme und Perspektiven in einer
festgefahrenen Situation
• Fläche von 770.000 km² (doppelte
Fläche von Deutschland, 1/6 der
Fläche der EU)
• Lage: Europa und Asien,
Nachbarländer: Griechenland,
Bulgarien, Georgien, Armenien,
Aserbaidschan, Irak, Syrien
• Einwohnerzahl: 70,5 Mio. (2008); 90,2
Mio. (2025); 98 Mio. (2050)
• Durchschnittsalter: 28,1 Jahre
• Altersstruktur: 25,5% < 15 J., 67,7%
15 - 64 J., 6,8% > 65 J.
1. Vorstellung der Türkei: Geografie und Bevölkerung
• Wichtigste Wirtschaftsbereiche:
Dienstleistungen (60,9%), Industrie
(27,6 %), Landwirtschaft (11,5 %)
• Anteil der Landwirtschaft an
Gesamtzahl der Beschäftigten: 33,9%
• Anteil der EU an Exporten aus der
Türkei: 54,7%
• Anteil der EU an Importen in die Türkei:
46,7 %
• Starke strukturelle Unterschiede
innerhalb der Türkei (West-Ost)
1. Vorstellung der Türkei: Wirtschaft
• Schnelle Erholung von der weltweiten
Wirtschafts- und Finanzkrise
• Nach einem Rückgang um 4,7% im
Jahr 2009 wuchs die Wirtschaft im Jahr
2010 um 8,9%
• Große Industrieunternehmen lassen in
der Türkei produzieren
• Stabiler Bankensektor
1. Vorstellung der Türkei: Wirtschaft
• Parlamentarische Demokratie
• Gewaltenteilung
• Parteien und freie Wahlen
• Einflussreiches Militär
• Menschenrechte gesetzlich
verankert
• Mitglied in UNO, OECD,
Europarat, NATO, G-20 (u.a.)
• EU-Beitrittskandidat seit 2005
1. Vorstellung der Türkei: Politik
• 99,8 % Moslems
• 0,2 % Christen und Juden
• Laizismus, d.h. strenge Trennung von Religion
Staat (in der Türkei trotzdem staatliche
Kontrolle aller Religionsgemeinschaften)
• Verbot der Scharia
• Offiziell Religionsfreiheit, allerdings haben
christliche Kirchen keinen Rechtsstatus,
sie dürfen kein Personal ausbilden und wurden
in der Vergangenheit immer wieder enteignet
1. Vorstellung der Türkei: Religion
• September 1959: Die Türkei bewirbt sich um eine Mitgliedschaft in der
EWG.
• September 1963: In Ankara wird ein Assoziationsabkommen zwischen der
EWG und der Türkei unterzeichnet. Kommissionspräsident Walter
Hallstein unterstreicht, dass die Türkei Teil der Europäischen
Gemeinschaft sei und eine Beitrittsperspektive habe.
• September 1980: Aussetzung des Abkommens nach Militärputsch bis
1986.
• April 1987: Die Türkei übergibt der Europäischen Gemeinschaft ihren
Antrag auf Vollmitgliedschaft.
2. Chronologie des Beitrittsprozesses
• Dezember 1989: Die EG-Kommission lehnt das Beitrittsgesuch wegen der
instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage des Landes ab.
• Juni 1993: EU- Gipfel in Kopenhagen und Kriterien für die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen (Stabilität der Institutionen, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Schutz von
Minderheiten, funktionierende Marktwirtschaft).
• Januar 1996: In-Kraft-Treten der Zollunion mit der EU.
• Dezember 1997: Auf ihrem Luxemburger Gipfel bekundet die EU im
Zusammenhang mit der Osterweiterung, dass die Türkei für einen Beitritt
in Frage kommt.
• Dezember 1999: Auf dem EU- Gipfel in Helsinki wird der Türkei der Status
als Beitrittskandidat zuerkannt.
• August 2002: Das türkische Parlament bringt umfassende Reformen auf
den Weg.
• November 2002: Wahlsieg der AKP unter Erdogan und Bekenntnis zur
westlichen Ausrichtung und beschleunigtem EU-Beitritt.
• Dezember 2002: EU- Gipfel in Kopenhagen: Bericht bis 2004 ob
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
• Juli 2003: Türkisches Parlament verabschiedet weiteres EU-Reformpaket,
das den politischen Einfluss des Militärs deutlich einschränkt.
• 26. September 2004: Parlament in Ankara beschließt Strafrechtsreform.
• 6. Oktober 2004: Die EU-Kommission empfiehlt die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
Ökonomische Dimension
• Verschuldung 45,4 % des BIP (BRD: 83,2 %)
• BIP / Kopf 8.723 $, entspricht 48% des EU Durchschnitts
• Immer noch stark landwirtschaftlich geprägte Wirtschaft - > Subventionen
• Beitritt würde die EU pro Jahr zwischen 16 & 28Mrd € kosten
• Wirtschaftskraft entspricht 4,5% der EU (BRD: 20,4 %)
• Wirtschaftliche Integration durch Zollunion schon teilweise abgeschlossen
• Bei gleichbleibenden Wachstum wäre die Türkei mittelfristig Nettozahler
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
Politische Dimension: Demokratie
• „Auf dem Papier“ hat die Türkei alles, was eine moderne Demokratie
ausmacht > Parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung, Parteien
• Probleme der Modernisierung durch erstarrten Kemalismus
• Ideologie des „Türkentums“ schränkt Meinungsfreiheit stark ein
• Obrigkeitsstaatliche Tradition hemmt zivilgesellsch. Entwicklung
• Türkischer Nationalismus diffamiert Minderheiten > Kurden
• Seit der EU-Beitrittsperspektive beginnt sich das Bild langsam zu
wandeln
• In einer EU-fähigen Türkei müsste auch eine Diskussion über Atatürk
möglich sein
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
Politische Dimension: Menschenrechte
• Menschenrechte sind in der Verfassung und in Gesetzen verankert
• Mitglied im Europarat > Türkei muss sich an die Urteile des EGMR in
Straßburg halten
• EGMR 2007: 9150 anhängige Verfahren und 319 Verurteilungen
• Folter und Misshandlung durch die Polizei nach wie vor verbreitet
• Niederschlagungen von Demonstrationen, Einschränkungen der
Meinungsfreiheit, Minderheiten genießen nicht ausreichend Schutz
• Kontrolle durch Justiz ist noch immer mangelhaft
• Schulungen für Staatsanwälte und Richter, wachsender Einfluss von
Menschenrechtsorganisationen (IHD, TIHV), Studiengänge zu
Menschenrechten > Wandel im öffentlichen Bewusstsein
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
Politische Dimension: Militär
• Verlässliches NATO-Mitglied (seit 1952) > Sehr guter Ruf in der intern.
Gemeinschaft > Auslandseinsätze in Afghanistan und im Irak
• Jedoch: Politische und gesellschaftliche Rolle des Militärs problematisch
• „Republikgründerin“ (Atatürk) und „Hüterin der Republik“
> Staat im Staat
• Große Beliebtheit und starkes Vertrauen seitens der Bevölkerung
• Seit 2003 Reformen zur Einschränkung der Machtfülle des Militärs
> Ziel hinsichtlich eines EU-Beitritts ist die zivile Kontrolle des Militärs
• Problem: Nicht nur gesetzliche Änderungen sind notwendig, sondern
das historisch gewachsene Selbstverständnis muss sich wandeln
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
Politische Dimension (Außenpolitik)
• Seit Geburt der Republik im Jahr 1923 ist die Politik auf das Ziel Europa
ausgerichtet
• In jüngerer Zeit gibt es Bestrebungen die Rolle einer eigenständigen
Regionalmacht zwischen Ost und West zu spielen
• Zypern-Problem: Im Hinblick auf einen EU-Beitritt zeigte sich die Türkei
seit 2002 kompromissbereit > 2004 wurde der Annan-Plan von den
türkischen, nicht aber von den griechischen Zyprioten angenommen >
Konflikt ist seither festgefahren
• Lösung ist für eine EU-Vollmitgliedschaft zwingend notwendig
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
Geostrategische Dimension
• Die Aufnahme der Türkei in die EU würde
die Region Irak/Iran usw. stabilisieren
• Durch die Aufnahme der Türkei hätte die
EU eine Stimme die auch für die Muslime
in der Welt spricht.
• EU als starker Vermittler im nahen Osten
• Durch einen Beitritt der Türkei würde die Europäische Union in die
Konfliktherde des Nahen Ostens hineingezogen
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
Kulturelle Dimension
• Kulturelle Faktoren werden offiziell nicht als Hindernis im Beitrittsprozess
genannt, spielen aber unterbewusst eine zentrale Rolle
• Muslimisch geprägtes Land, jedoch Trennung von Staat u. Religion
• Moderne Werte wie Gleichheit, Säkularismus, Rechtsstaatlichkeit treffen
auf traditionelle Werte wie Ehre, Achtung, Respekt, Reinheit und
Frömmigkeit
• Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit der Türkei zu Europa kann
objektiv nicht beantwortet werden > Wo endet Europa? Was ist Europa?
• Im Kern der Debatte geht es um eine Identität des europäischen
Konstrukts > Christlich-Jüdisch-Römisch? Renaissance? Aufklärung?
3. Dimensionen der Debatte um einen möglichen Beitritt zur EU
Fakten
• Beitrittsverhandlungen werden seit 2005 mit offenem Ausgang geführt >
Fortschritte im Angleichungsprozess sind erkennbar > Verhandlungen
verlaufen insgesamt jedoch langsam
• Von insgesamt 35 Verhandlungskapiteln ist bei 33 Kapiteln das
Screening abgeschlossen, 20 Kapitel wurden zur Verhandlung geöffnet
> Davon 7 Kapitel suspendiert und 1 Kapitel ist (erst) abgeschlossen
• Seit Juli 2011 neues Europaministerium in der Türkei und mit
Egemen Bagis ein entschiedener EU-Anhänger als Europaminister
4. Und jetzt? Bestandsaufnahme und Perspektiven in einer
festgefahrenen Situation
Standpunkte der europäischen Regierungen
Land Für den Beitritt:
Deutschland Nein
Frankreich Nein
Italien Ja
Großbritannien Ja
Spanien Ja
Dänemark Ja
Griechenland Ja
Österreich Nein
Portugal Ja
Niederlande Nein
4. Und jetzt? Bestandsaufnahme und Perspektiven in einer
festgefahrenen Situation
Stimmung in der Bevölkerung für den Beitritt
Türkei EU-27
2004 71%
2006 44% 39%
2008 42%
Eigene Bewertung
• Türkei noch nicht auf europäischem Niveau > Wirtschaft, Demokratische
Kultur, Zivile Kontrolle über das Militär, Menschenrechte
• Anstrengungen und deren Früchte in allen Dimensionen erkennbar (bis
auf Zypern, doch das liegt wohl auch an den griechischen Zyprioten)
• EU-Begeisterung sicherlich größer als in vielen „Alt-Ländern“, aber fallend
• Perspektive 1: Beitrittsverhandlungen nehmen nun richtig Fahrt auf, alle
Beteiligten zeigen guten Willen und der Beitritt könnte bis 2020 über die
Bühne gehen
• Perspektive 2: Beitrittsverhandlungen werden absichtlich über
Jahrzehnte „gestreckt“, sodass die Türkei frustriert von sich aus die
Verhandlungen abbricht
4. Und jetzt? Bestandsaufnahme und Perspektiven in einer
festgefahrenen Situation
Konsequenzen nach möglichem Beitritt
• Erstes muslimisches Land in der EU mit heute schon mehr Einwohnern
als Frankreich oder Italien > Zukünftig der bevölkerungsreichste Staat
der EU
• Außengrenzen der EU am Kaukasus und am Nahen Osten
• Die meisten Abgeordneten im EP kommen aus der Türkei
• Türkisch wird die mit am meisten gesprochene Sprache in der EU
• Wirtschaftlich muss zunächst kräftig investiert werden, mittelfristig
profitiert aber die EU von der Türkei auch in finanzieller Hinsicht
• Minderheiten werden geschützt, persönliche und politische Rechte
werden selbstverständlich > Diskussion auch über Atatürk möglich
4. Und jetzt? Bestandsaufnahme und Perspektiven in einer
festgefahrenen Situation
Konsequenzen nach möglichem Scheitern
• Verhältnis zwischen EU und Türkei schwer belastet
• Türkei wird eigenständige Regionalmacht mit weitreichenden
wirtschaftlichen Netzwerken sowohl in die EU als auch in den Nahen
Osten
4. Und jetzt? Bestandsaufnahme und Perspektiven in einer
festgefahrenen Situation
Bürgin, Alexander: EU-Beitrittsperspektive auf der Kippe? Istanbul: 2006.
Frech, Siegfried/Öcal, Mehmet (Hrsg.): Europa und die Türkei. Schwalbach: 2006.
Güsten, Susanne/Seibert, Thomas: Was stimmt? Türkei. Bonn: 2008.
Kramer, Heinz: Die Türkei im EU-Beitrittsprozess: Mehr Krisen als Fortschritte. Berlin: 2007.
Kramer, Heinz/Reinkowski, Maurus: Die Türkei und Europa. Eine wechselhafte
Beziehungsgeschichte. Stuttgart: 2008:
Leggewie, Claus (Hrsg.): Die Türkei und Europa. Die Positionen. Frankfurt a.M.: 2004.
Malhan, Tanja: Die Türkei auf dem Wege der Integration in die Europäische Union. Tönning:
2006.
Uygun, Yasemin: Auf dem Weg nach Europa? Zu Chancen und Grenzen der Integration der
Türkei in die Europäische Union. Nordhausen: 2010.
Wehling, Dr. Hans Georg (Hrsg.): Die Türkei vor den Toren Europas. Stuttgart: 2000.
Literatur
Politische Dimension
Das ursprüngliche Ziel einer „immer enger werdenden Union“ wird mit einem Beitritt
der Türkei ad absurdum geführt, da nicht damit gerechnet werden kann, dass die
politische Vertiefung dadurch zunehmen wird.
Wirtschaftliche Dimension
Die Türkei hat sich inzwischen zu einem „Tigerstaat“ mit beachtlichem
Wirtschaftswachstum entwickelt, sodass sie mittelfristig sogar ein Nettozahler in der
EU werden würde.
Kulturelle Dimension
Die politische Instrumentalisierung einer „christlichen Identität“ Europas mit dem Ziel
der Ausgrenzung einer mehrheitlich muslimischen Türkei ist fehlgeleitet, da sie
weder eine historische Berechtigung hat noch im eigentlichen Sinne christlich ist.
Thesen als Grundlage für eine anschließende Diskussion