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Exklusiv-Partner dieser Ausgabe: ISSN 1867-660X Ausgabe 2/2016 | www.iurratio.de Titelthema Datenschutzrecht Das sogenannte Recht auf Vergessenwerden – Was steckt dahinter und wie müsste es aussehen? Christian Döpke Ausbildung Das Notwehrrecht im deutschen Strafrecht – Inhalt und Tragweite Jan-Gero Alexander Hannemann und Victoria Caillet Vertragsschlüsse über Online-Auktionen im Lichte der Rechtsprechung Anne Paschke und Johannes Liebhaber Fallbearbeitung Schwarz und weiß – (Nicht) immer gleich Konstantin Filbinger und Florian Lebkuecher Praxis & Karriere Berufsspecial: Internetrecht Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Michael Kotulla Prof. Dr. Heribert Prantl Prof. Dr. Friedrich Schade Prof. Dr. Martin Schwab Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski Richter Dr. Dirk Veldhoff Die Zeitschrift für junge Juristen

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Exklusiv-Partner dieser Ausgabe:

ISSN

186

7-66

0X Ausgabe 2/2016 | www.iurratio.de

Titelthema

Datenschutzrecht Das sogenannte Recht auf Vergessenwerden – Was steckt dahinter und wie müsste es aussehen? Christian Döpke

Ausbildung

Das Notwehrrecht im deutschen Strafrecht – Inhalt und Tragweite Jan-Gero Alexander Hannemann und Victoria Caillet

Vertragsschlüsse über Online-Auktionen im Lichte der Rechtsprechung Anne Paschke und Johannes Liebhaber

Fallbearbeitung

Schwarz und weiß – (Nicht) immer gleich Konstantin Filbinger und Florian Lebkuecher

Praxis & Karriere

Berufsspecial: Internetrecht

Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Michael Kotulla Prof. Dr. Heribert Prantl Prof. Dr. Friedrich Schade Prof. Dr. Martin Schwab Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski Richter Dr. Dirk Veldhoff

Die Zeitschrift für junge Juristen

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WISSENKOMPAKT

WISSENKOMPAKT

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IIurratio 2 / 2016

EDiToriAl

Liebe Leser,für alle Jurastudenten und Referendare ist das erfolgreiche Absolvieren des ersten und zweiten Staatsexamens von besonderer Wichtigkeit. Der Weg dorthin ist nicht leicht, insbesondere sieht man sich während des Studiums und des Referendariats von „allen Seiten“ einem stetig wach-senden Druck ausgesetzt, doch unbedingt zu jenen 20 % zu gehören, die ihre Examina mit einem „Prädikat“ absolvieren. Dabei wird zuweilen suggeriert, dass alle anderen keine „Chance“ auf dem juristischen Ar-beitsmarkt mehr haben werden. Hier sei angemerkt, dass die Voraus-setzungen für die Einstellung in den Richterdienst derzeit in NRW kein Prädikatsexamen beinhalten! Seit Bestehen von Iurratio ist es unser Ziel, Nachwuchsjuristen mit kostenloser bzw. kostengünstiger juristi-scher Literatur und unserer Website iurratio.de auf dem beschwerlichen Weg zum (Voll-)Juristen zu unterstützen. In den letzten zwei Jahren ha-ben wir zusammen mit Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski viel Zeit in die Entwicklung einer neuartigen Lernsoftware gesteckt, um Euch dau-erhaft einen besseren und substantielleren Zugang zur „Juristerei“ zu ermöglichen. Unsere neuartige Lernsoftware „IURLEXICO“ verbindet dabei bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse über das zielgerichtete Erlernen von Wissen mit den Besonderheiten der juristischen Welt. Ziel ist, dass Ihr dauerhaft den Umgang mit dem wichtigsten Handwerkzeug der Juristen – den Gesetzen und den darin enthaltenen, für ein erfolgreiches Jurastudium zwingend zu beherrschenden wichtigen und unverzichtbaren Normen – routiniert beherrschen lernt. Die Software und das zugrundliegende Lernkonzept von Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski stellen wir Euch in dieser Ausgabe ausführlich vor. Abschließend möchte ich noch ein paar Worte an Euch, liebe „Erstis“, richten: Ich wünsche Euch einen gelungenen Start in das vor Euch liegende Studium, den notwendigen „Biss“ und die Gelassenheit, Euch nicht von der für die juristische Welt typischen „Panikmache“ anstecken zu lassen. Schaut über den Tellerrand des bloßen Jurastudiums hinaus. Es gibt viele Möglichkeiten, sich neben dem Studium zu engagieren, dabei wertvolle Kontakte und Erfahrungen für das spätere Berufsleben zu sammeln. Lasst Euch weder im Studium noch im Referendariat vorschreiben, was der „richtige“ Weg für Euch ist und versucht stets „Ihr selbst“ zu bleiben. Letzteres ist wohl die größte Herausforderung auf dem Weg zum Volljuristen. Jens-Peter ThiemannHerausgeber „Iurratio – Die Zeitschrift für junge Juristen“

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II Iurratio 2 / 2016

inhAlT / imPrEssum

Impressum Ausgabe 2/2016

Herausgeber (V.i.S.d.P.): Jens-Peter Thiemann [email protected]

Chefredaktion: Luise Warmuth, Pascal Alt, Paul Vogel, Marina Reitz [email protected]

Redaktion: Ressort Öffentliches Recht ([email protected]): Paul VogelRessort Zivilrecht ([email protected]): Maximilian SteffenRessort Strafrecht ([email protected]): Marina ReitzRessort Rechtsprechung: Jakob Leßner (Ltg.), Caroline Dressel (stv. Ltg.), Dr. Dirk Veldhoff, Jan Hendrik LampeLektorat: Benedikt Sander (Ltg.), Susanne Bettendorf, Anika Kölpin, Theresa SchleimerLayout & Satz: Medienregie | Tilo Kemnitz (Leipzig) [email protected]

Wissenschaftlicher Beirat:Prof. Dr. Michael Kotulla (Universität Bielefeld)Prof. Dr. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung/Universität Bielefeld)Prof. Dr. Friedrich Schade (BiTS Iserlohn/Westungarische Universität Sopron) Prof. Dr. Martin Schwab (Freie Universität Berlin)Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski (HU Berlin)Richter Dr. Dirk Veldhoff (Richter am Amtsgericht Bremen)

Mitarbeiterkoordination: Isabelle Jakobi (Ltg.), Benedikt Schwarz [email protected]

Marketing: Janina Schäffer, Isabelle Jakobi, Patrick Brinkmann, Alexander Bangert

Kundenservice: Jens-Peter Thiemann, Dr. Eike Post, Inga Thiemann, Fabian Hille, Isabelle Jakobi [email protected]

Weitere Mitarbeiter: Florian Ruhs, Luise Dietrich, Christian Döpke, Lukas Grundschröttel, Van Hoang, Alexander Bangert, Tobias Runde, Flavia Schadt, Dennis Burgert, Leonid Sagolov, Maurice Temming

Iurratio-Logo: Tobias KunkelIurratio-Deckblatt: Dominic WallensteinFotos und Bildquellen, falls nicht anders angegeben: www.fotolia.com

Trainees: Murat Oktay, Laura Gehle, Klaudia Richter, Sebastian Gerhards, Anna-Katharina Götz, Andrea Dürr, Anna Vollmer, Madeleine Schwall, Michaela Driendl

Unsere Ansprechpartner an den Standorten erreichen Sie unter [email protected], also z.B. die Standortleiterin in Bremen unter [email protected]. In Berlin schreiben Sie bitte fuberlin oder huberlin, in Hamburg bitte blshamburg oder unihamburg.

Postanschrift: Iurratio, Salzweg 62, 48431 RheineDruck: GutVerlag, 48477 Hörstel, www.gutverlag.comUrheber- und Verlagsrechte: Alle in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheber-rechtlich geschützt. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen Einrich-tungen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert werden.Ausschluss: Namentlich gekennzeichnete Beiträge repräsentieren nicht unbedingt die Meinung der Redaktion.Autorenhinweise: Ausführliche Autorenhinweise finden Sie auf unserer Homepage www.iurratio.de.

Alle Inhalte aus dieser Zeitschrift und früherer Ausgaben finden Sie auch in der kostenlosen juristi-schen Ausbildungsdatenbank „IurDB“ unter www.iurdb.de.

Titelthema: Das sogenannte Recht auf Vergessenwerden – Was steckt dahinter und wie müsste es aussehen?

Editorial IInhalt / Impressum IIIurratio aktuell / Fachschaftsnews III

Titelthema

DÖPkE Das sogenannte Recht auf Vergessenwerden – Was steckt dahinter und wie müsste es aussehen? 33

lehre & referendariat

AusbildungHANNEmANN & CAILLET Das Notwehrrecht im deutschen Strafrecht – Inhalt und Tragweite 36PASCHkE & LIEBHABER Vertragsschlüsse über Online-Auktionen im Lichte der Rechtsprechung 42BüHLER Der Rechtsweg bei Justizverwaltungsakten, §§ 23ff EGGVG 46BODE Wohnungseinbruchdiebstahl – Möglichkeiten und Grenzen kriminalpräventiver Handhabung 50SCHWINTOWSkI Erfolgreich Jura lernen 53

FallbearbeitungFILBINgER & LEBkuECHER Schwarz und weiß – (Nicht) immer gleich 57

Rechtsprechung 60

Praxis & Karriere

Berufsspecial: Internetrecht VI

WIR HABEN EINEN SCHWARZEN GÜRTELIN FIRMENKOMMUNIKATION

KOMMUNIKATION MIT STRATEGIEWWW.MEDIENREGIE.DE

S. 33

Ausbildung: Wohnungseinbruchdiebstahl – Möglich-keiten und Grenzen kriminalpräventiver Handhabung

S. 50Ausbildung: Vertragsschlüsse über Online- Auktionen im Lichte der Rechtsprechung

S. 42

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IIIIurratio 2 / 2016

iurrATio AKTuEll / FAchschAFTsnEWs

Zusammen mit Prof. Schwintowsksi haben wir von Iurratio ein neues, einzigartiges Lernkonzept mit einer speziellen Lernsoftware erarbeitet. Wir glauben, Jura ist einfach. Jura ist einfach, wenn man mit System lernt und logisch denken kann. Mit IURLEXICO können wir Euch dabei unterstützen.Mit unserem Konzept lernt ihr euch systematisch neue Regelungen zu erschließen, die man bei der Lösung einer Vielzahl von Fällen anwen-den kann. Hierbei lernt ihr unabhängig vom Einzelfall, auch weg von den Karteikarten mit Prüfungsschemata und Definitionen. Häufig be-ginnt man viel zu früh die Probleme, Meinungsstreitigkeiten und Fälle zu lernen ohne eigentlich das Zusammenspiel der einzelnen Normen und deren Anwendungsbereiche zu kennen. Habt ihr schon mal ver-sucht auf Arabisch einen Aufsatz zu schreiben? Wie würdet ihr vorge-hen? Keiner würde wohl versuchen zuerst einen Aufsatz zu schreiben, bevor er die Buchstaben schreiben kann. So wäre das aber, wenn ihr zuerst versucht Meinungsstreitigkeiten oder Fälle zu lösen.Also wie geht man richtig und systematisch vor. Na klar, erstmal müss-tet ihr die Schriftzeichen lernen. Danach lernt ihr die einzelnen Worte zu bilden, dann Sätze und zum Schluss könnt ihr tatsächlich mit der Sprache hantieren und Texte, Aufsätze oder ähnliches verfassen. Seht ihr einen arabischen Buchstaben könnt ihr diesen vielleicht nachma-len, wisst aber noch nicht, welcher Buchstabe sich hinter diesem Zei-chen verbirgt.So verhält es sich auch beim Jurastudium. Analog müsst ihr zunächst wissen welche Regelungen im BGB existieren. Außerdem solltet ihr Euch bei jeder Norm über deren Regelungszwecke Gedanken machen. Der Regelungszweck ergibt sich häufig nicht einfach aus dem Wortlaut der Norm, weshalb es besonders wichtig ist für euer Verständnis der Norm ist. Ihr könnt die Norm (den Buchstaben) richtig anwenden, wenn ihr den Regelungszweck begriffen habt. Allein das Wissen um den Regelungszweck ermöglicht euch mit der Norm bei der Falllösung sinnvoll umzugehen. Der dritte Schritt wäre nun die einzelnen Tatbe-standsmerkmale der Norm zu erkennen. Dies zeigt euch, ob ihr den Zweck der Regelung richtig verstanden habt.Also solltet ihr damit starten, das Alphabet zu lernen. Bei IURLEXICO werdet ihr zu den einzelnen Normen befragt, wobei wir für Euch aus den über 80.000 existierenden Normen eine Auswahl der examensre-levanten Normen getroffen haben, welche absolut unverzichtbar sind.

Auf unseren speziellen Karteikarten, werdet ihr zunächst nach dem jeweiligen Gebietsbezug der Norm befragt. Des Weiteren wird der Re-gelungszweck der Norm aufgezeigt. Und zum Schluss haben wir für euch die wichtigsten Tatbestandsmerkmale der Norm aufgeführt.Mit Hilfe der Software habt ihr mehrere Möglichkeiten: Zunächst könnt ihr mit den Karteikarten lernen, d.h. der Gebietsbezug, Rege-lungszweck und die Tatbestandsmerkmale einer Norm werden Euch angezeigt. Beim Üben könnt ihr Euch dann überlegen, welche der 3 Fragen ihr lösen wollt, d.h. ihr tragt beispielsweise den Regelungs-zweck oder die Tatbestandsmerkmale selbst ein. Danach wird Euch die richtige Lösung angezeigt und ihr könnt entscheiden, ob eure Lösung richtig, falsch oder teilweise richtig war. Beim Test bekommt ihr eine Blankokarteikarte, d.h. ihr müsst alle drei Bereiche selbst eintragen. Auch hier wird wieder die Lösung angezeigt und ihr könnt schauen, ob ihr alles richtig, falsch oder teilweise richtig gelöst habt. Durch ein spezielles Wiederholungssystem vertieft ihr schnell die Inhalte und stellt immer wieder neue Verknüpfungen her. Außerdem steht euch eine Auswertung zur Verfügung, so dass ihr sehen könnt auf welchem Wissensstand ihr aktuell seid.

Beispielkarteikarte anzeigen → Karteikarte §275 BGB, §273 BGB und §243 BGB

IURLEXICO überall nutzen (Internetverbindung vorausgesetzt) – dank des Responsive-Designs könnt Ihr IURLEXICO sowohl am PC als auch auf dem Handy oder auf dem Tablett nutzen.IURLEXICO ist besonders kostengünstig und ohne Abozwang: Für gerade einmal 9,99 € pro Monat könnt Ihr IURLEXICO mit allen dar-in enthalten Gesetzen (Normen) vollumfänglich nutzen. IURLEXICO gibt es in der Monats- und in der Jahresbuchung. Nach Ablauf des Bu-chungszeitraums müsst Ihr IURLEXICO erneut buchen, wenn ihr es weiter benutzen wollt.Die Monatsbuchung kostet 9,99 €, die Jahresbuchung 99 € (Ersparnis knapp 20 €) 19,98. Wir legen Wert auf ein verbraucherfreundliches und transparentes Bezahlsystem: Die Bezahlung erfolgt allein über PayPal.Wer sich bis zum 01.05.2016 für die Jahresbuchung entscheidet, spart weitere 33 %: der Preis beträgt bis zum 01.05.2016 lediglich 66 €.

Jura leicht gemacht – mit der Lernsoftware IURLEXICO

Der Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften

Nahezu jede juristische Fakultät in Deutschland hat sie- eine Fach-schaft. Die Strukturen weichen je nach Universität voneinander ab. Teilweise besteht sie aus gewählten Vertretern, teilweise aus freiwilli-gen Mitarbeitern, teilweise ist sie eine Mischung aus beidem. Das Ziel all dieser Fachschaften ist jedoch identisch- sie bilden das Bindeglied zwischen Fakultät und Studierendem und sollen dem Studierenden das Studium erleichtern, Probleme aufdecken und im Optimalfall lö-sen. Bei der Arbeit der Fachschaften fallen allerdings auch Mankos in der juristischen Ausbildung auf, die auf Universitätsebene nicht zu beheben sind. Hierfür ist der Austausch mit anderen Fakultäten und Fachschaften nicht nur sinnvoll, sondern auch äußerst hilfreich. Zu diesem Zweck hat sich im Jahre 2012 ein Zusammenschluss der juristischen Fachschaften aus ganz Deutschland gebildet - der BRF. In jährlichen Treffen wird im Laufe eines arbeitsintensiven Wochenen-des in Workshops über Stärken und Schwächen der juristischen Aus-bildung beraten, der Vergleich der einzelnen Fakultäten und Bundes-

länder inspiriert zur Problemlösung auf Fakultätsebene und neuen Ansätzen. Zudem wird das Ziel der Vergleichbarkeit der Abschlüsse der einzelnen Bundesländer angestrebt. Auf den jährlichen Treffen wird der Vorstand gewählt, sowie verschiedene Ausschüsse besetzt, die sich das Jahr über mit wichtigen Fragen befassen. Mittlerweile hat sich neben dem BRF auch bereits eine landesweite Vertretung gegründet, für NRW die LFS NRW, weitere Bundesländer wollen diesem Beispiel folgen und so die Studienbedingungen im jeweiligen Bundesland verbessern. Der BRF ist mittlerweile eine Plattform für mehr als 110.000 Jurastudierende und 44 Fachschaften bundesweit. Regelmäßig werden neue Fachschaften aufgenommen, sodass der Verein immer weiter zu einer überregionalen Vertretung wird. Von der Arbeit des BRF wollen wir euch in Zukunft regelmäßig berich-ten, zum Einstieg gibt es zunächst einen aktuellen Bericht in Zusam-menarbeit mit Janwillem van de Loo, dem Vorstandsvorsitzenden des Bundesverband Rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. (BRF).

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IV Iurratio 2 / 2016

iurrATio AKTuEll

Die Arbeit des BRF- Vernetzung:Zu den Hauptaufgaben des Vorstandes gehört es, Kontakt zu den Be-rufsverbänden wie der Bundesrechtsanwaltskammer, dem Deutschen Anwaltsverein, dem Deutschen Richterbund und zu Institutionen wie dem Deutschen Juristen-Fakultätentag zu pflegen. Weiterhin besteht eine enge Zusammenarbeit mit den Landesjustizprüfungsämtern. Es werden außerdem Kontakte zu rechtspolitischen Initiativen wie etwa Amnesty International aufgebaut.

Die Arbeit des BRF- Austausch:Herzstück des BRF ist das jährliche Treffen auf der sogenannten Bu-FaTa (Bundesfachschaftentagung). Hier werden – an einem Wochen-ende Ende Mai- von Freitag bis Sonntag in zuvor vorbereiteten Work-shops intensiv Problemschwerpunkte behandelt und Beschlüsse im Plenum getroffen. Am Ende des Wochenendes stellen alle Workshops ihre Ergebnisse vor, welche Grundlage für Beschlussvorlagen sind und das weitere Handeln des Vorstandes im neuen Vorstandsjahr maßgeb-lich bestimmen. Auf der fünften BuFaTa im Mai 2015 in Kiel konnten gut 150 Studierendenvertreter aus über 30 Fachschaften begrüßt wer-den. Abschluss fand der Kongress im Landtag von Schleswig-Holstein, in welchem folgende maßgebliche Entscheidungen getroffen wurden: → Der Wunsch, dem Berufsrecht eine Rolle im Studium einzuräumen und beispielsweise das anwaltliche Berufsrecht als Schwerpunktbe-reich zu stärken.→ Die Förderung moderner fachdidaktischer Ansätze und Schlüssel-qualifikationen.→ Dem Wildwuchs der Prüfungsordnungen zur 1. Juristischen Prü-fung wiederum soll durch eine Angleichung entgegengewirkt werden, um sie langfristig zu verschlanken.

Die Arbeit des BRF- Leitmotive:1. Selbstbestimmung im Studium: Ein Fokus des BRF liegt darauf, die Selbstbestimmung im Studium zu stärken. Nicht in jedem Bundesland ist die Reihenfolge von staatlichem Pflichtfachteil und Schwerpunkt-studium Entscheidungsprärogative des Studierenden.2. Anpassung der BAFöG-Regelungen: Auch wird eine Anpassung der BAFöG-Regelungen angestrebt, die Förderung soll damit nicht mehr zum Ende der Regelstudienzeit, sondern erst mit Ende der Prüfungs-zeit eingestellt werden.3. Reformierung der praktischen Studienzeit: Nachdem der Verband 2014 mit dem Kompetenzzentrum für juristisches Lernen und Leh-ren in Köln eine Tagung „Praktikumsausbildung im Jurastudium – Wie zeitgemäß ist das Juristenausbildungsgesetz?“ organisiert hat-te, verfolgt er nun weiterhin eine Reformierung der diesbezüglichen Regelungen. Zum einen soll die in § 5a Abs. 3 S. 2 DRiG festgeleg-

te Beschränkung der praktischen Studienzeit auf die vorlesungsfreie Zeit abgeschafft werden. Dadurch soll dem Studierenden eine flexib-lere Zeiteinteilung möglich gemacht werden. Auch sollen Studierende künftig mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten bei der Absolvierung ihrer Pflichtpraktika haben. Schließlich geht es hierbei maßgeblich um die Vorbereitung auf den Beruf und ein erstes Bild von möglichen Ar-beitsstellen. Dies macht eine Orientierung an studentischen und indi-viduellen Interessen unabdingbar.

4. Der Schwerpunkt: Auch im Mai 2015 war das Schwerpunktstudium im Fokus der Tagung.Insbesondere die Vielfalt und Selbstbestimmung, die sie den Universitäten ermöglichen, die sich im Dialog zeigte, sollte unbedingt erhalten bleiben. Als Schwäche stellte sich jedoch teilweise heraus, dass die Leistungsabfrage stellenweise im Ungleichgewicht ist. Die zum Teil ausgeprägte „Klausurenfixierung“ soll zugunsten eines sogenannten „Dreiklangs“ aus mündlichen, schriftlichen und wissen-schaftlichen Prüfungsformen aufgelöst werden.

Die Arbeit des BRF – Empirie:Dem BRF ist es wichtig, seine Reformvorschläge und Ansätze empi-risch zu untermauern. In seiner Verantwortung als studentische In-teressenvertretung der Jurastudierenden aus Deutschland ist es ihm wichtig, Reformvorschläge nicht auf das Empfinden einzelner zurück-zuführen. Aus diesem Grund führt der Verband regelmäßig repräsen-tative Umfragen durch. Hervorzuheben ist hier vor Allem die Abso-ventenbefragung, die Schwachstellen der juristischen Staatsprüfung und der universitären Ausbildung aus Studierendensicht aufdecken soll. Weitere Umfragen befassten sich mit einem Kompetenzkatalog zur juristischen Ausbildung, zu Law Clinics und der Praktikumsaus-bildung.

Die Arbeit des BRF- Ausblick:In Passau findet vom 27. bis zum 29. Mai 2016 die nächste BuFaTa statt. Die Tagung ist grundsätzlich öffentlich und alle Interessierten sind herzlich eingeladen. Als voraussichtliche Schwerpunkte zeichne-ten sich vor Allem soziale Aspekte des Studiums und die Examens-vorbereitung ab. Die Anmeldung der Studierenden erfolgt über ihre jeweiligen Fachschaften.Die Arbeit des Bundesverbandes rechtswissenschaftlicher Fachschaf-ten erfolgt auf rein ehrenamtlicher Ebene und ist damit maßgeblich vom Engagement der Studierenden abhängig, die sich in ihrer Freizeit gerne mit dem juristischen Studium an sich und Verbesserungsmög-lichkeiten befassen. Dieses ehrenamtliche Engagement kann dauerhaft einen spürbaren Mehrwert für jeden Jurastudierenden in Deutschland schaffen.

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33Iurratio 2 / 2016

TiTElThEmA

A. EinleitungWenn es darum geht, staatliche Überwachungspraktiken kritisch zu hin-terfragen, wird gerne ein Vergleich zum Roman 1984 von George Orwell gezogen. Der folgende Beitrag soll weniger die staatliche Überwachung, sondern das viel diskutierte Recht auf Vergessenwerden behandeln. Wer will, findet aber auch zum Vergessen, respektive zum Verändern der Vergan-genheit eine Aussage bei Orwell: „Wenn die Partei in die Vergangenheit eingreifen und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, es hat nie stattgefunden – dann war das doch gewiss erschreckender als Folter und Tod?“1

Nun gibt es in Deutschland und Europa nicht die „eine Partei“, die ohne jede Grundlage die Ereignisse der Vergangenheit nach ihren Vorstellun-gen umgestalten kann. Aber inwiefern ein konsequent durchgesetztes Recht auf Vergessenwerden des Einzelnen mit den Interessen der All-gemeinheit in Einklang zu bringen ist, bedarf trotzdem einer genaueren Betrachtung.

B. Das Recht auf VergessenwerdenBeachtung findet das Recht auf Vergessenwerden spätestens seit der An-kündigung der ehemaligen EU-Justizkommissarin Viviane Reding aus dem Jahr 2010, jedem EU-Bürger solle ein Recht auf Vergessenwerden zustehen, wenn dessen Daten nicht länger gebraucht würden oder er die-se gelöscht haben wolle.2 Bevor die beiden Meilensteine auf dem Weg zu diesem Recht, das Goog-le Spain-Urteil des EuGH (II.) und die Einigung des sogenannten Trilogs auf eine gemeinsame Textfassung zur Datenschutzgrundverordnung (III.) betrachtet und analysiert werden, soll aber untersucht werden, ob ein Recht auf Vergessenwerden nach geltendem deutschen Recht über-haupt etwas revolutionär Neues ist (I.). Anschließend wird der Frage nachgegangen, in welchem Interessenge-flecht sich das Recht auf Vergessenwerden bewegt (IV.) und wie es sich effektiv durchsetzen lassen könnte (V.), ehe die gefundenen Ergebnisse einem Fazit zugeführt werden (C.).

I. Die aktuelle Rechtslage in DeutschlandZweck eines Rechts auf Vergessenwerden kann nur der Schutz vor Beein-trächtigungen des Persönlichkeitsrechts des Einzelnen sein. Über dessen verfassungsrechtliche Ausprägung in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gelangt man in das Datenschutzrecht, dessen zentralen Regelungen im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) zu finden sind.

1. Anwendungsbereich und Grundprinzipien des BDSGGem. § 1 Abs. 2 BDSG beschränkt sich dessen sachlicher Anwendungs-bereich auf die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezo-gener Daten durch öffentliche und nicht-öffentliche Stellen. Nach der

1 Orwell, 1984, 45.2 Pressemitteilung, abrufbar unter europa.eu/rapid/press-release_IP-10-1462_de.htm.

Legaldefinition in § 3 Abs. 4 BDSG ist unter einer Verarbeitung das „Speichern, Verändern, Übermitteln, Sperren und Löschen personenbe-zogener Daten“ zu verstehen, die nach § 3 Abs. 1 BDSG „Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder be-stimmbaren natürlichen Person (Betroffener)“ sind.Für die Anwendbarkeit des BDSG macht es also keinen Unterschied, ob eine Person bestimmt oder bloß bestimmbar ist. Wesentlich entschei-dender ist dagegen die Abgrenzung von bestimmbaren und nicht be-stimmbaren Personen.3 Es besteht ein lebhafter Streit darüber, ob diesem Merkmal ein relativer4 oder ein absoluter5 Ansatz zugrunde zu legen ist. Nach dem absoluten Ansatz kann die Bestimmbarkeit nur dann verneint werden, wenn die Herstellung von Personenbezug auch theoretisch aus-geschlossen, also gewissermaßen objektiv unmöglich ist.6 Die besseren Argumente sprechen jedoch dafür, von einem relativen Ansatz auszu-gehen. So sieht etwa § 30 BDSG die Übermittlung von anonymisierten Daten vor, obwohl der verantwortlichen Stelle die Mittel zur Zusammen-führung dieser Daten mit Identifizierungsdaten zur Verfügungen ste-hen.7 Auch § 13 Abs. 6 TMG sieht eine anonyme Nutzung von Diensten ausdrücklich vor.8 Die Frage des Personenbezugs von Daten ist daher einzelfallabhängig. Fallgruppen können (müssen aber nicht zwangsläufig) sein: Namen, Identifikationsnummern, E-Mail-Adressen, IP-Adressen,9 Cookies oder Pseudonyme.10

Daneben liegen dem BDSG einige Prinzipien zugrunde, deren Auswir-kungen auch bei einem möglichen Recht auf Vergessenwerden spürbar werden. Das Leitprinzip ergibt sich aus § 4 Abs. 1 BDSG, wonach die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterliegt. Die öffentlichen und nicht-öffentlichen Stellen dürfen also personen-bezogene Daten nur auf der Basis einer gesetzlichen Erlaubnis oder der Einwilligung des Betroffenen im Sinne von § 4a BDSG erheben, verar-beiten und nutzen. Besondere Berücksichtigung muss auch der sogenannte Zweckbin-dungsgrundsatz finden. Schon im Volkszählungsurteil des Bundesver-fassungsgerichts11 wurde ausgeführt, dass Daten nicht auf Vorrat zu un-bestimmten Zwecken gespeichert werden dürfen. Auch aus Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der EU-Datenschutz-Richtlinie12 folgt, dass personenbezogene Daten nur für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nur für diese Zwecke weiterverarbeitet werden dürfen.

2. Ein Recht auf Vergessenwerden im BDSG?Im Zusammenhang mit dem Recht auf Vergessenwerden im Internet interessiert primär die Frage, wie ursprünglich rechtmäßig gespeicherte Daten wieder aus dem Internet entfernt werden können.13

Konzentriert man sich auf die Ansprüche der Betroffenen gegenüber den nicht-öffentlichen Stellen, folgen aus § 35 BDSG die Rechte auf Berich-

3 Dammann, in: Simitis, Bundesdatenschutz Kommentar, 8. Auflage, § 3 Rn. 23.4 Anstatt vieler Eckhart, in: K&R 2007, 602 (602).5 Anstatt vieler Pahlen-Brandt in: DuD 2008, 34 (38).6 Vgl. Dammann, in: Simitis, Bundesdatenschutz Kommentar, 8. Auflage, § 3 Rn. 23. 7 Meyerdierks, in: MMR 2009, 8 (10).8 Sachs, in: CR 2010, 547 (550). 9 Vgl. zum Vorabentscheidungsersuchen des BGH curia.europa.eu/juris/document/ document.jsf?text=&docid=162555&pageIndex=0&doclang=DE.10 Beispiele entnommen bei Dammann, in: Simitis, Bundesdatenschutz Kommentar, 8. Auflage, § 3 Rn. 61 ff.11 BVerfGE 65, 1. 12 95/46/EG.13 Nolte, in: ZRP 2011, 236 (238).

Das sogenannte Recht auf Vergessenwerden – Was steckt dahinter und wie müsste es aussehen?

von Ass. iur. Christian F. Döpke, LL.M., LL.M.

Christian Döpke, Jahrgang 1984 absolvierte seine juristische Ausbildung an den Universitäten in Osnabrück, Hannover und Oslo sowie am OLG Oldenburg. Momentan arbeitet und promo-viert er am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (Zivilrechtliche Abteilung) in Münster. Dort gehört er dem ABIDA-Projekt an, das sich interdisziplinär mit den gesell-schaftlichen Auswirkungen von Big Data beschäftigt.

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34 Iurratio 2 / 2016

TiTElThEmA

tigung, Löschung oder Sperrung, bzw. auf Widerspruch gegen die Erhe-bung, Verarbeitung und Nutzung ihrer Daten.Diese Rechte ermöglichen es dem Betroffenen, eine rechtswidrige – ver-einzelt sogar rechtmäßige – Verarbeitung personenbezogener Daten zu unterbinden oder einzuschränken.14

Da die Ähnlichkeit eines Rechts auf Datenlöschung und eines Rechts auf Vergessenwerden auf der Hand liegt, soll hierauf der Fokus gerichtet werden.Nach der Legaldefinition des § 3 Abs. 4 Satz 2 Nr. 5 BDSG handelt es sich beim Löschen um das „Unkenntlichmachen gespeicherter personenbe-zogener Daten“. Die Voraussetzungen, unter denen gelöscht werden darf, werden von § 35 Abs. 2 Satz 1 BDSG festgelegt. Für konkret ausgestaltete Löschungs-verpflichtungen findet hingegen § 35 Abs. 2 Satz 2 BDSG Anwendung. Liegt eine der dort genannten alternativen Voraussetzungen (Nr. 1 bis 4) vor, besteht eine Löschungspflicht auch unabhängig von einem entspre-chenden Ersuchen oder einer Anweisung der betroffenen Person; wobei die Verpflichtung natürlich mit einem entsprechenden Anspruch der be-troffenen Person korrespondiert.15

Vor allem im Bereich der sozialen Netzwerke ließe sich auf § 35 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 BDSG zurückgreifen. Dort werden Daten geschäftsmäßig von Dienstleistern zum Abruf und damit zur Übermittlung verarbeitet. Außerdem entfällt die Erforderlichkeit der fortwährenden Speicherung jedenfalls dann, wenn der Betroffene vom jeweiligen Dienstleister die Löschung seiner Daten verlangt.16

Außerdem folgt aus § 35 Abs. 5 Satz 1 BDSG, dass personenbezogene Daten nicht für eine automatisierte Verarbeitung erhoben, verarbeitet oder genutzt werden dürfen, soweit der Betroffene bei der verantwort-lichen Stelle widerspricht und sein schutzwürdiges Interesse dem der verantwortlichen Stelle überwiegt. Trotz des insoweit strengen Maßstabs wird eine schutzwürdige besondere persönliche Situation jedenfalls dann vorliegen, wenn ein Betroffener Daten zu seiner Person, die ein Dritter eingestellt hat, nach einem gewissen Zeitablauf nicht mehr im sozialen Netzwerk gefunden wissen möchte.17

3. ZwischenergebnisExpressis verbis sieht das BDSG also kein Recht auf Vergessenwerden vor. Gleichwohl kommen zumindest einige bestehende Regelungen dem dahinterstehenden Schutzgedanken doch so nahe, dass die Einführung eines Rechts auf Vergessenwerden jedenfalls keine Revolution darstellt.Allein die Durchsetzung der Rechte bei Sachverhalten mit Internetbezug stellt das Recht vor Schwierigkeiten. § 35 BDSG verpflichtet zunächst nur die verantwortliche Stelle, die beanstandete Datenverarbeitung einzustel-len. Selbst wenn man über § 35 Abs. 7 BDSG eine an Dritte gerichtete Benachrichtigungspflicht über die Löschung begründet, bleibt die Frage ungeklärt, unter welchen Voraussetzungen dieser Dritte seinerseits zur Löschung verpflichtet werden kann.18 Zusätzlich erschwert wird eine vollständige Löschung noch durch die Struktur und Funktionsweise des Internets.19

II. Das Urteil des EuGHAm 13. Mai 2014 fällte der EuGH ein Urteil, mit dem ein Mann, der ei-gentlich unbedingt vergessen werden wollte, zu einem Mann wurde, der für immer in Erinnerung bleiben wird.

14 Dix, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz Kommentar, 8. Auflage, § 35 Rn. 2.15 Dix, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz Kommentar, 8. Auflage, § 35 Rn. 24.16 Nolte, in: ZRP 2011, 236 (238).17 Nolte, in: ZRP 2011, 236 (239).18 Buchholz, in: ZD 2015, 570 (571).19 Lösungsansätze bei Kieselmann/Kopal/Wacker, in: DuD 2015, 31 (33 ff.).

1. SachverhaltDer Spanier Mario Costeja González war in der Vergangenheit seinen Pflichten zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen nicht nachge-kommen. Daher sollte sein Haus zwangsversteigert werden – ein Um-stand, der auch mittels rechtmäßiger amtlicher Bekanntmachung in den örtlichen Tageszeitungen publiziert wurde.Elf Jahre später – im Jahr 2009 – fiel Costeja auf, dass, wann immer er seinen Namen googelte, die lange zurückliegende Zwangsversteigerung unter den ersten Suchergebnissen zu finden war. Eine zunächst an die Zeitung, dann an Google Spain gerichtete Bitte, die Information bzw. die Links zu löschen, brachte keinen Erfolg. Erst die spanische Datenschutz-behörde entschied, dass zwar nicht die Zeitungen die Information selbst, wohl aber Google (als Gesamtkonzern) die Links zu der Information zu entfernen habe. Das von Google Spain und Google Inc. daraufhin ange-strengte Gerichtsverfahren wurde ausgesetzt und nach Art. 267 AEUV dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, um Fragen des räumlichen Anwendungsbereichs europäischen Datenschutzrechts, der Verantwort-lichkeit von Google für die angezeigten Suchergebnisse und der Tragweite eines möglichen Rechts auf Vergessenwerden beantworten zu lassen.

2. UrteilsgründeEntgegen der üblichen Spruchpraxis20 – damit nicht dem Schlussantrag des Generalanwalts21 folgend – entschied der EuGH, dass die Tätigkeit von Suchmaschinen eine Verarbeitung personenbezogener Daten dar-stelle und diese als der für die Verarbeitung Verantwortliche dazu ver-pflichtet seien, unter bestimmten Voraussetzungen Links zu von Dritten veröffentlichten Internetseiten mit Informationen zu einer Person zu ent-fernen. Das gelte selbst dann, wenn die Information auf diesen Internet-seiten nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht werde und ggf. auch dann, wenn ihre Veröffentlichung auf den Internetseiten als solche rechtmäßig sei. Ein Schaden müsse der betroffenen Person durch die Einbeziehung der betreffenden Information in die Ergebnisliste einer Suchmaschine gerade nicht entstanden sein. Im Einzelnen führte der Gerichtshof aus, dass die von einem Suchma-schinenbetreiber ausgeführte Verarbeitung personenbezogener Daten das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens erheblich beeinträchtigen könne, da die Ergebnisliste zu einer namentlich gesuchten Person einen strukturierten Überblick und eine mehr oder weniger detaillierte Profil-bildung ermögliche. Diese Wirkung werde durch die bedeutende Rolle der Suchmaschinen in der modernen Gesellschaft noch verstärkt.22 Auch wenn ein angemessener Ausgleich zwischen den jeweiligen In-teressen zu schaffen sei, würden die Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Interesse der Internetnutzer und den wirt-schaftlichen Interessen der Suchmaschinen überwiegen.Als insoweit zu beachtende Abwägungskriterien stellt der EuGH die Art der Information, deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und das Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Informa-tion in den Raum.23 Auch sei die Rolle der betroffenen Person im öffent-lichen Leben zu berücksichtigen.24

Einschränkend stellt der EuGH zwar fest, dass sich die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Suchmaschinen von der Tätigkeit von Webseiten-Herausgebern unterscheide,25 gleichwohl könne eine anfäng-lich rechtmäßige Verarbeitung wahrheitsgemäßer Informationen mit der Zeit unrechtmäßig werden, wenn sie nicht mehr deren Zweck ent-spreche.26

20 Luch/Schulz, in: EuR 2014, 698 (700).21 GA Jääskinen, abrufbar unter curia.europa.eu/juris/document/ document.jsf?docid=138782&doclang=DE. 22 EuGH, Rs. C-131/12, Rn. 80. 23 EuGH, Rs. C-131/12, Rn. 81.24 EuGH, Rs. C-131/12, Rn. 97.25 EuGH, Rs. C-131/12, Rn. 35.26 EuGH, Rs. C-131/12, Rn. 93 f..

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3. Bewertung und Rezeption Die Entscheidung des EuGH wurde u.a. als Paukenschlag27 (im negati-ven Sinne) oder als eines der wichtigsten Urteile des EuGH überhaupt28 bezeichnet. Auch wenn man geneigt ist dem Urteil im Ergebnis zuzustimmen, ist die Kritik daran insoweit begründet, als die Richter es verpasst haben, eine ausreichende Würdigung der überragenden Bedeutung der Goog-le-Suche für den täglichen Informationsbedarf der EU-Bürger vorzuneh-men.29

Mindestens ebenso kritikwürdig ist es, dass der EuGH eine zumindest denkbare Anwendung des datenschutzrechtlichen Medienprivilegs auf Suchmaschinen mit dem nicht einmal begründeten Satz „außerdem kann die vom Herausgeber einer Website in Form der Veröffentlichung von Informationen zu einer natürlichen Person ausgeführte Verarbei-tung gegebenenfalls allein zu journalistischen Zwecken erfolgen, […] während dies bei einer vom Betreiber einer Suchmaschine ausgeführten Verarbeitung nicht der Fall ist“ abgelehnt hat.30 Nicht überzeugen kann die – vor allem von der Tagespresse vorgenom-mene – Einschätzung, das Urteil stelle die erste echte Begründung eines Rechts auf Vergessenwerden dar. Weder spricht der EuGH selbst von einem Recht auf Vergessenwerden, noch verlangt er in seiner Entschei-dung, dass eine Information als solche aus dem Internet zu entfernen sei. Da einzig die Suchmaschinenanbieter verpflichtet werden, den Hinweis, also den Link, zu einer Information zu entfernen, ist es überzeugender, von einem „Recht auf Nichtindexierung“31 oder einem „Recht auf Ver-stecktsein“32 zu sprechen. Spürbare Auswirkungen hat das Urteil dennoch. Zwischenzeitlich entschied der Oberste Spanische Gerichtshof, dass Betreiber von Online-Nachrichtenarchiven unter bestimmten Voraus-setzungen dazu verpflichtet werden können, die Auffindbarkeit von Archivbeiträgen als Ergebnis einer Namenssuche bei Suchmaschinen zu erschweren und stützte seine Urteilsgründe im Wesentlichen auf das EuGH-Urteil.33 In einem ähnlich gelagerten Fall stützte sich auch das OLG Hamburg mit einem argumentum a fortiori auf die Entscheidung des EuGH.34 Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Trend durch die bevorstehende Da-tenschutzgrundverordnung noch verstärkt. III. Die DatenschutzgrundverordnungEs war ein langer Weg, bis sich die Verhandlungsführer des EU-Parla-ments und des EU-Rates im Dezember letzten Jahres auf eine gemein-same Textfassung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) einigen konnten.35 Sie wird zwar (vorbehaltlich der Zustimmung des EU-Par-laments) aller Voraussicht nach erst Anfang 2018 in Kraft treten,36 aber bereits jetzt von Kritikern als regulatorisches Monstrum und Angriff auf das Internet und die Meinungsfreiheit bewertet.37

In der DSGVO wurde erstmals ausdrücklich ein Recht auf Vergessen-werden kodifiziert, womit nach einer anderen Einschätzung dem Indi-viduum mehr Kontrolle über seine persönlichen Daten gegeben werde.38 Was öffentlichkeitswirksam verpackt wurde, entpuppt sich bei näherer

27 Härting, in: BB, Die erste Seite, 2014, Nr. 22.28 Forst, in: BB 2014, 2293 (2293).29 Härting, aaO. 30 EuGH, Rs. C-131/12, Rdnr. 85; Hervorhebung durch den Verfasser.31 Nolte, in: NJW 2014, 2238 (2240).32 Leutheusser-Schnarrenberger, in: DuD 2015, 586 (587).33 MMR-Aktuell 2015, 374257.34 OLG Hamburg, AfP 2015, 447. 35 Eine offizielle deutsche Übersetzung liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vor. Eine inoffizielle (teilweise) Übersetzung ist abrufbar unter www.gdd.de/aktuelles/startseite/ deutsche-uebersetzung-der-datenschutz-grundverordnung-ds-gvo. 36 Biselli, in: Netzpolitik.org, 08.09.2015, abrufbar unter netzpolitik.org/2015/ eu-datenschutzgrundverordnung-wird-fruehestens-2018-in-kraft-treten-doch-wie-aktuell-ist- sie-dann-noch. 37 Veil, in: CRonline Blog, 14.12.2015, abrufbar unter www.cr-online.de/blog/2015/12/14/ angriff-auf-internet-und-meinungsfreiheit-teil-i.38 Gasper, in: CR 2016, R3 (R4).

Betrachtung des Art. 17 Abs. 1 DSGVO schlicht als das Recht der be-troffenen Person, von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen die Löschung von sie betreffenden personenbezogenen Daten zu verlangen. In Abs. 2a heißt es noch, dass ein zur Löschung verpflichteter Verant-wortlicher, der die betreffenden Daten öffentlich gemacht hat, alle ver-tretbaren Schritte zu unternehmen hat, um für die Datenverarbeitung Verantwortliche, die die Daten verarbeiten, darüber zu informieren, dass die Löschung auch aller Querverweise und Kopien oder Replikationen dieser Daten verlangt wird. Die interessanten Fragen in diesem Zusammenhang betreffen natürlich die Durchsetzung des Rechts und die Berücksichtigung des öffentlichen Informationsinteresses.Während die DSGVO zu erstem Punkt keine Hilfestellung bietet, ist zu letzterem Art. 17 Abs. 3 und Art. 80 DSGVO heranzuziehen.Art. 17 Abs. 3 Buchst. a DSGVO bestimmt, dass besagtes Recht dann nicht besteht, soweit die Verarbeitung personenbezogener Daten zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information erforderlich ist. In Art. 80 Abs. 1, 2 DSGVO wird den Mitgliedsstaaten die weitreichende Befugnis an die Hand gegeben, das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit dem Schutz der Meinungsfreiheit und der Informationsfreiheit durch eigene Regelungen in Einklang zu bringen. Insbesondere für journalistische Zwecke sollen Ausnahmetat-bestände formuliert werden. Indem eine so bedeutsame Entscheidung an die Mitgliedsaaten abgege-ben wird, wurde aber auch die einmalige Chance vertan, endlich uni-onsweit gültige Regelungen zu definieren, die das Verhältnis vom Schutz personenbezogener Daten und der Achtung des Privatlebens einerseits und der Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit sowie von wirtschaftlichen Interessen von Internetkonzernen andererseits beinhal-ten.

IV. Interessengeflecht beim Recht auf VergessenwerdenIn Einklang zu bringen sind je nach Einzelfall das vitale Interesse des Be-troffenen an der Wahrung seines Persönlichkeitsrechts, Geschäftsinter-essen von Suchmaschinenanbietern oder anderen Internetunternehmen, die Meinungsäußerungsfreiheit von Autoren oder gar die Presse- und Informationsfreiheit.39 Während der EuGH grundsätzlich ein überwiegendes Schutzinteresse des Betroffenen formuliert hat, geht die deutsche Rechtsprechung bei ursprünglich rechtmäßigen Veröffentlichungen zumeist von einem Vor-rang des Informationsinteresses aus.40

Bereits vor einer eigentlichen Abwägung macht es Sinn, danach zu dif-ferenzieren, ob der Anspruch gegenüber einem Suchmaschinenanbieter, einem Medienprivilegierten oder „Sonstigen“ geltend gemacht wird.In die Abwägung selbst müssen dann verschiedene Kriterien einfließen, wobei hierfür sowohl die Urteilsgründe des EuGH als auch die Vor-schläge des von Google eingerichteten Lösch-Beirats und des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet41 fruchtbar gemacht werden können. Die Kriterien sind dabei nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern stehen in Wechselwirkung zueinander. Zunächst ist die Rolle des Betroffenen im öffentlichen Leben zu beleuch-ten. Je kleiner diese ist, desto größer ist der Anspruch auf Privatheit.42 Wenig problematisch ist dabei die Einordnung von Personen, die ent-weder permanente oder keinerlei Bedeutung für das öffentliche Leben haben. Wirkliche Abwägungsprobleme entstehen daher nur bei Perso-nen, die kontextbezogen in der Öffentlichkeit stehen, etwa Teilnehmer von Castingshows.

39 Vgl. Koreng, in: AfP 2015, 514 (514).40 Jandt, in: MMR-Aktuell 2914, 358242.41 DIVSI, Das Recht auf Vergessenwerden, abrufbar unter www.divsi.de/wp-content/ uploads/2015/01/Das-Recht-auf-Vergessenwerden.pdf. 42 DIVSI, Das Recht auf Vergessenwerden, S. 64.

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Als zweites Kriterium kann auf die Natur der Information abgestellt wer-den. Zu hinterfragen ist daher, wie sensibel für die betroffene Person und wie relevant für das öffentliche Interesse sie ist. Dabei ist auch der Wahr-heitsgehalt der Information zu berücksichtigen.43 Arbeiten lässt sich hier auch mit der Sphärentheorie,44 wobei die betroffe-ne Intimsphäre grundsätzlich für und die betroffene Sozialsphäre grund-sätzlich gegen eine Löschung sprechen würde.Hinsichtlich der Informationsquelle muss gelten: Je unseriöser eine Quelle ist, desto eher sprechen Gründe für eine Löschung.45

Beim Faktor Zeit schließlich muss älteren Informationen ggü. jüngeren ein geringeres Schutzbedürfnis eingeräumt werden.46

V. Die Durchsetzung des Rechts auf VergessenwerdenUm negative Begleiterscheinungen, wie etwa den Streisand-Effekt,47 zu vermeiden, müssen Anträge auf Löschung vertraulich behandelt werden. Auch muss das zugrundeliegende Verfahren aus Gründen der Rechtssi-cherheit formalisiert sein. Insofern bietet es sich schon an, dass der Gesetzgeber Muster-Antrags-formulare nach dem Vorbild der Widerrufsbelehrung entwickelt, mit denen sich der Betroffene an den Verantwortlichen wenden und um Lö-schung einer Information ersuchen kann.Da dieser über grundrechtsrelevante Sachverhalte zu entscheiden hat, kann ihm keine Letztentscheidungsbefugnis zustehen. Denkbar wäre es insofern, direkt im Anschluss den ordentlichen Gerichtsweg zu be-schreiten. Berücksichtigt man aber, dass allein in Deutschland seit dem EuGH-Urteil 65.700 Löschgesuche an Google gerichtet wurden, von de-

43 DIVSI, Das Recht auf Vergessenwerden, S. 29.44 Begründet durch BGH NJW 1957, 1146.45 DIVSI, Das Recht auf Vergessenwerden, S. 64. 46 DIVSI, aaO. 47 Phänomen, wonach der Versuch, eine unliebsame Information zu unterdrücken oder entfernen zu lassen, öffentliche Aufmerksamkeit nach sich zieht und das Gegenteil erreicht wird, de.wikipedia.org/wiki/Streisand-Effekt.

nen wiederum 52% abgelehnt wurden,48 könnte das die Gerichte vor eine nicht zu rechtfertigende Mehrbelastung stellen. Interessengerecht ist es daher, eine Zwischeninstanz zu schaffen, etwa in Form von deutschen oder europäischen Schieds- oder Schlichtungsstel-len.49 Erst wenn hier keine Einigung erzielt werden kann, stünde der Weg zu den ordentlichen Gerichten offen.

C. FazitDie konträren Persönlichkeits- und Informationsinteressen im Internet miteinander in Einklang zu bringen, ist die gemeinsame Aufgabe von Politik, Justiz und Gesellschaft. Dazu müssen Mittel und Wege gefunden werden, die weder das eine noch das andere Interesse per se bevorrech-tigen.Insofern müssen zunächst eine Reihe von offenen Fragen geklärt werden, welche die Abwägung und Durchsetzung im Einzelfall betreffen und die in diesem Beitrag nicht annähernd abschließend behandelt werden konnten. Über all dem schwebt jedoch die Metafrage, wie wir als Gesellschaft mit dem Internet und dem Vergessen(werden) darin umgehen möchten. Um es überhaupt nicht soweit kommen zu lassen, dass der Einzelne von seinem nunmehr (bald) kodifizierten Recht auf Vergessenwerden Gebrauch machen muss, wäre ein erster – wenn auch nichtjuristischer – Ansatz, intensiv darüber aufzuklären, dass der sorglose Umgang mit den eigenen Daten mit einer Fehleinschätzung über die Dimension der Grundrechtsverletzung des Einzelnen einhergeht.50 Wer weniger perso-nenbezogene Daten von sich in das Internet stellt, muss später nicht um-ständlich um deren Löschung ringen.

48 Stand vom 31.01.2016, Google Transparenzbericht, abrufbar unter www.google.com/ transparencyreport/removals/europeprivacy/?hl=de. 49 DIVSI, Das Recht auf Vergessenwerden, S. 85.50 Vgl. Leutheusser-Schnarrenberger, in: DuD 2015, 586 (586).

Das Notwehrrecht im deutschen Strafrecht – Inhalt und Tragweitevon Jan-Gero Alexander Hannemann und Victoria Caillet

Victoria Caillet studiert Rechtswissenschaft an der Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg.

Jan-Gero Alexander Hannemann studiert Rechtswissenschaften an der NUS - National University of Singapore (vormals Genf & Oxford & Göttingen).

Das Notwehrrecht gem. § 32 StGB ist in der Praxis wie in der Aus-bildung von erheblicher Relevanz. Der folgende Beitrag richtet sich vornehmlich an Studierende, um die Notwehr i.S.v. § 32 StGB anhand gängiger Fallkonstellationen methodisch zu veranschaulichen und zu vertiefen.

A. Einleitung Die Notwehr gem. § 32 StGB ist der einschlägigste und schneidigste

Rechtfertigungsgrund des deutschen Strafrechts.1

Einschlägig, da er schon bei geringfügigen Abwehrhandlungen he-rangezogen werden kann. Schneidig, weil dem Notwehrenden sehr weitgehende Möglichkeiten zur Verteidigung eingeräumt werden.Er erlaubt dem Beeinträchtigten bei nicht anders abwehrbaren An-griffen bis zum Ultima Ratio der Selbstverteidigung gehen, der Tö-tung eines anderen Menschen.2 Dabei gilt der Grundsatz: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.3 Zum Beispiel, wenn ein Gehbehinderter, dem ein wertvoller Gegenstand entwendet wird, den flüchtenden Dieb nach Warnung bei der Flucht erschießt.4

Dem Notwehrecht liegen zwei tragende Prinzipien zugrunde. Das in-dividualrechtlichen Selbstschutzprinzip, wonach der Angegriffene im Notfall seine eigenen Rechtsgüter schützen darf5 und das sozialrecht-liche Rechtsbewährungsprinzip, das den Notwehrübenden als Vertei-diger der Rechtsordnung gegen das Unrecht sieht6.

1 Stemler, ZJS 2010, 347; Kaspar, JuS 2014, 769.2 BGH, NStZ 2001, 530f.3 Nicht bei Bagatellangriffen vgl. BGH, NJW 2003, 1955, 1975; Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetze, 63. Aufl., 2016, München, § 32 Rn. 20.4 Vgl. grds. auch BGH Urt. v. 27.10.2015 - 3 StR 199/15, hier versagte der BGH die Notwehr jedoch mangels Gegenwärtigkeit des Angriffs.5 BGH, JZ 2000, 96f.6 BGH, JZ 2000, aaO.

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Bei der Prüfung des § 32 StGB empfiehlt sich folgende Vorgehens-weise: Zuerst ist zu prüfen, ob eine Notwehrlage vorliegt. Danach ist zu fragen, ob die Notwehrhandlung erforderlich und geeignet war. 7 Zuletzt muss der Notwehrübende auch mit Verteidigungswillen ge-handelt haben.8

B. Die Voraussetzungen der Notwehr gem. § 32 StGB I. Die NotwehrlageUm gerechtfertigt zu sein muss zunächst eine Notwehrlage bestehen. Dazu ist gem. § 32 II StGB ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf die Rechtsgüter des Notwehrübenden nötig.9

1. AngriffZunächst ist festzustellen, ob ein Angriff i.S.v. § 32 I StGB vorliegt. Ein Angriff ist jeder unmittelbar, vom menschlichen Willen getrage-ne Übergriff auf rechtlich geschützte Interessen und Rechtsgüter des Betroffenen.10

Ein klassisches Beispiel für einen Angriff liegt vor, wenn jemand ei-nen anderen schlagen möchte oder einem anderen mit Absicht den Weg blockiert aufgrund der Beeinträchtigung der Willensfreiheit.11 Auch ein „provozierendes Anrauchen“ mit Zigarettenrauch12, das Anleuchten mit einer starken Taschenlampe13 oder das Hetzen eines Hundes auf den Notwehrenden14 kann einen Angriff darstellen.Gängige Kommentare bieten hier eine empfehlenswerte Übersicht über die unterschiedlichen Fallkonstellationen.

a) Durch menschliches Verhalten hervorgerufenDer Angriff muss durch menschliches Verhalten hervorgerufen wer-den. Kein Angriff i.S.v. § 32 StGB liegt bei einem Verhalten vor, das keine Handlungsqualität aufweist. Darunter fallen z.B. ein Umsich-schlagen im Schlaf15 oder epileptische Anfälle16. Auch nicht umfasst werden Angriffe, die ohne ein Dazutun Dritter durch Tiere oder Sachen verursacht werden. In solchen Fällen kommt als Rechtferti-gungsgrund der zivilrechtliche Defensivnotstand gem. § 228 BGB in Betracht.Anders liegt die Sachlage, wenn ein Tier oder eine Sache durch menschliches Verhalten als Werkzeug zum Angriff verwendet wird.17 Das ist beispielsweise anzunehmen, wenn ein Hundebesitzer seinen Hund mit den Worten „Fass!“ auf einen Menschen hetzt.18

b) Angriff durch UnterlassenEin Angriff kann auch durch Unterlassen vorliegen, wenn den Täter eine besondere Rechtspflicht zum Handeln trifft.19 Beispielhaft sind Situationen in denen jemand nach rechtmäßiger Aufforderung eines Berechtigten einen Raum (z.B. Bahnhöfe oder öffentliche Verkehrs-mittel) nicht verlässt. Umstritten ist, welche Voraussetzungen bei einem Angriff durch Unterlassen vorliegen müssen. Teilweise soll

7 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch Kommentar, 28. Aufl., 2014, München, S. 262 ff.8 Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht - Handkommentar, 3. Aufl., 2013, Baden-Baden, S. 367, Rn. 12 ff.9 Fischer, StGB, § 32 Rn. 4.10 Fischer, StGB, § 32 Rn. 5; Joecks, Strafgesetzbuch Studienkommentar, 2014, München, § 32 Rn. 6; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn 325; Renzikowski, Notstand u. Notwehr, 1994, 282 ff.; Schroeder, JuS 1980, 336, 337.11 Siehe Kühl, Jura 1993, 57, 58.12 Vgl. LG Bonn Urt. v. 9.12.2011 - 25 Ns 555 Js 131/09-148/11.13 Fischer, StGB, § 32 Rn. 7.14 OLG Hamm, VersR 1996, 868; Schönke/Schröder-Rosenau, StGB Kommentar, 29. Aufl. 2014, München, § 32 Rn. 4; Krey, AT/1 Rn. 427; Otto, AT § 8 Rn. 29.15 Roxin AT/I § 15 Rn 8.16 Joecks/Miebach-Erb, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, § 32 Rn. 50; Rönnau-Hohn, in: Leipziger Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 12. Aufl., 2006, § 32 Rn. 100; Sinn, GA 2003, 96, 98 f.. Für eine Angriffsqualität von solchen Nicht- Handlungen, Herzog, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 3. Aufl. 2010, § 32 Rn. 5 f.17 Joecks, § 32 Rn 6.18 Krey, AT/ 1, aaO. 19 Schönke/Schröder-Perron, StGB, § 32 Rn. 10; Wessels Beulke, AT, Rn. 326; Otto, AT § 8 Rn. 18; Eschenbach, JURA 1999, 88f.

bereits ein echtes Unterlassen, auch aus § 323c StGB, als Angriff i.S.v. § 32 II StGB genügen.20 Dafür spricht, dass ein Unterlassen sich glei-chermaßen wie ein aktives Tun als Gefahr für das Opfer darstellen kann. Teilweise wird ein Angriff durch Unterlassen nur angenom-men, wenn den Unterlassenden eine Garantenpflicht trifft.21 Letzt-genannter Ansatz erscheint vorzugswürdig. Nur wer für die Abwehr des Erfolges einzustehen hat, kann einen Angriff auf das betroffene Rechtsgut verüben. Bei § 323c StGB hingegen wird nur die allgemei-ne Solidaritätspflicht verletzt. Auch erscheint es unter dem Gesicht-sprunkt der Verhältnismäßigkeit unangemessen einem echten Un-terlassen abwägungsunabhängige Notwehrrechte entgegenzusetzen, zumal §§ 904 BGB und § 34 StGB hinreichenden Rechtsgüterschutz bereitstellen.

c) Angriff durch fahrlässiges Verhalten Ob ein Angriff bereits durch fahrlässiges Verhalten vorliegt, ist eben-falls umstritten. Dies kann der Fall sein, wenn ein unachtsamer Rad-fahrer auf den gelähmten, auf der Parkbank sitzenden A zufährt und sich A mit einem Schirm zur Wehr setzt, um einen Zusammenstoß zu verhindern22 oder wenn ein Jäger einen anderen Jäger versehentlich als Wild qualifiziert und auf diesen anlegt. Nach allgemeiner Ansicht ist jedoch ein finales Verhalten nicht notwendig, um einen Angriff zu begründen23. Fahrlässiges Verhalten ist ausreichend. Dafür spricht, dass es aus Opfersicht und für das bedrohte Rechtsgut keinen Unter-schied macht, ob ein Angriff fahrlässig oder nicht final vorgenommen wird. Zudem kann die Fahrlässigkeit im Rahmen der Angemessen-heit der Notwehrhandlung hinreichend berücksichtigt werden. d) Angriff auf ein geschütztes Rechtsgut Der gegenwärtige, rechtswidrige Angriff muss sich gegen ein nach § 32 StGB geschütztes Rechtsgut richten. Grundsätzlich sind alle In-dividualrechtsgüter notwehrfähig.24 Davon ausgenommen sind ledig-lich Ehe und Verlöbnis25, sowie Rechtsgüter der Allgemeinheit (z.B. ein öffentliches Denkmal o.ä.).26

aa) Vorfahrtsrecht als geschütztes Rechtsgut Umstritten ist, ob das Vorfahrtsrecht aus § 12 V StVO ein notwehr-fähiges Rechtsgut ist.27 Teilweise wird dies vertreten.28 Danach wäre z.B. ein Kraftfahrer zur Notwehr berechtigt, wenn er im Verkehr von einem Fußgänger, der die Lücke für ein noch nicht eingetroffenes Fahrzeug freihalten will, am Einfahren in eine Parklücke gehindert wird.29 Grundsätzlich bestehe eine Notwehrlage gegenüber. demjeni-gen, der unter Verstoß gegen § 1 StVO einen Verkehrsteilnehmer an der Benutzung eines öffentlichen Parkplatzes hindert. Überwiegend wird ein Angriff auf das Recht zum Gemeingebrauch als geschütztem Rechtsgut jedoch abgelehnt.30

bb) Angriff des rechtmäßigen BesitzersEbenfalls umstritten ist, ob sich der unrechtmäßige Besitzer bei ei-nem Angriff des rechtmäßigen Besitzers zu Wehr setzen darf.31 Bei-spielhaft dazu: A hat dem B vor drei Wochen das Fahrrad gestohlen.

20 Lackner/Kühl, StGB, § 32 Rn. 2.21 Jäger, Strafrecht AT, Rn. 106; Wessels/Beulke, AT Rn. 326.22 Jäger, Strafrecht AT, aaO.23 Schönke/Schröder-Perron, StGB, § 32 Rn. 3; Sternberg-Lieben, JA 1996, 299, 300.24 Roxin, Strafrecht AT, 4. Auflage, 2006, § 15 Rn. 30; weiterführende Fälle zur Notwehrfähigkeit bei: Schünemann, JuS 1979, 275ff.25 Sinn, GA 2003, 96, 98. 26 BGHSt 5, 245, 247.27 Weiterführend zu dieser Problematik Stemler ZJS 2010, 347, 348.28 BayObLG, NZV 1995, 327ff., Roxin, AT I, 4. Auflage, 2006, § 15 Rn. 31; Rengier, BT II, 14. Auflage, 2013, § 23 Rn. 63a m.w.N.29 BayObLG, aaO.30 Wessels/Hettinger, BT I, 36. Auflage, 2012, Rn. 434 m.w.N.; Blum, NZV 2011, 378ff.31 So ähnlich auch Leipziger-Kommentar/Tröndle, §§ 32-60, § 32 Rn. 55ff.

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Durch Zufall erkennt B sein Fahrrad wieder und will den A beiseite schubsen, worauf hin A auf B losgeht. I.d.R. wird unterschieden, ob der unrechtmäßige Besitzer noch unmittelbar bei der Besitzaneig-nung oder wesentlich später (Stunden, Tage danach) aufgegriffen wird. Bei Letzterem kommt keine Rechtfertigung i.S.v. § 32 StGB für den ursprünglichen Besitzer in Betracht. In o.g. Beispiel hieße das, dass der A von seinem Notwehrrecht - obwohl er das Fahrrad vor drei Wochen gestohlen hat - Gebrauch machen darf.

2. Gegenwärtigkeit des AngriffsLiegt ein Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut vor, ist zu prüfen, ob der Angriff gegenwärtig ist.Gegenwärtig ist jeder Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch andauert.32 Die Gegenwärtigkeit bestimmt sich aus ex-post Betrachtung. Lässt sich danach nicht mehr aufklären, ob ein gegenwärtiger Angriff vorliegt, ist es ausreichend, wenn nach objektiven Kriterien eine akut bedrohliche Situation bestand, die je-derzeit in einen Aggressionsakt umschlagen konnte und ein weiteres Abwarten unzumutbar war. Eine Notwehlage liegt auch im davorliegenden und darauffolgenden Stadium eines Angriffs vor. Dabei ist zu beachten, dass § 32 I StGB dem Sinn und Zweck nach jedoch nicht vor der Deliktsvollendung schützt.

a) Unmittelbar bevorstehender Angriff Der Angriff ist auch gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht. Das ist der Fall, wenn die Handlungen des Angreifers ohne weitere Zwischenschritte in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen können.33 Zum Beispiel, wenn der Angreifer auf sein Opfer, das in keine Rich-tung flüchten kann, mit einem Messer zu kommt und schreit: „Ich steche Dich ab“ oder wenn der Angreifer kurzfristig sein Angriffs-werkzeug verliert34. Nicht aber, wenn er sich nur in die Jackentasche greift und das mögliche Opfer lediglich assoziiert, dass er nach einem Messer greifen könnte, ohne das weitere Indizien dafür gegeben sind und man auch nicht gerade in unmittelbarer Nähe zueinander steht, so das der Messerstich sofort verübt werden könnte.35 Auch bei ei-nem aus dem Kaufhaus flüchtenden Dieb, der den Diebstahl einer CD bereits vollendet hat, liegt noch ein unmittelbarer Angriff auf das Eigentum des Ladeninhabers vor.36

aa) Verhältnis zu unmittelbarem Ansetzen i.S.v. § 22 StGB Ein unmittelbares Bevorstehen fällt nicht immer mit dem Beginn des Versuchsstadiums zusammen. Umfasst ist auch das versuchsnahe Vorbereitungsstadium. Das unmittelbaren Bevorstehens ist folglich weiter das unmittelbaren Ansetzens iSv § 22 StGB. Greift sich ein Angreifer in die Tasche, in der sich eine geladene Pistole befindet, ist fraglich, ob ein unmittelbares Ansetzen nach § 22 StGB vorliegt. Ein unmittelbares Bevorstehen ist in einer solchen Konstellation an-zunehmen.Unstrittig steht ein Angriff unmittelbar bevor, wenn z.B. ein Bankräu-ber sich im Vorraum der Schalterhalle befindet und die Strumpfmas-ke über den Kopf streift. Auch dann, wenn er mit Strumpfmaske die Bank betritt und sogar schon dann, wenn er die Strumpfmaske gera-de noch vor dem Gebäude aufsetzt.37

32 BGHSt 27, 336, 339; BGH, NJW 1973, 255; Wessels/Beulke, AT, Rn. 328; Krey, AT, Rn. 442, Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch Kommentar, 28. Aufl., 2014, S. 264, Rn. 4.33 BGH, NStZ 2000, 365f.; BGH, Urt. v. 31.1.2007 – 5 StR 404/06; Fischer, StGB, § 32 Rn. 17.34 BGH, NStZ 2006, 152, 153, Fischer, StGB, § 32 Rn 18.35 Vgl. die Abgrenzung zur Präventivnotwehr:  BGH, Urt. v. 12.2.2003 - 1 StR 403/02.36 BGHSt 45, 378ff.37 Kühl, S. 144; Roxin, AT I, 15/25.

bb) Zulässigkeit der PräventivnotwehrFraglich ist, ob ein tauglicher Angriffs in noch früheren Stadien vor-liegt, z.B. wenn ein Angriff nicht gegenwärtig, aber sicher zu prog-nostizieren ist oder in unbestimmter Zukunft liegt. Das kann der Fall sein, wenn eine 10m entfernte Person, die mit einem Stock bewaffnet ist, keine Anstalten zu einer Attacke macht.38 Wehrt der Notwehrü-bende einen solchen, nicht unmittelbar bevorstehenden Angriff ab liegt ein Fall der sogenannte Präventivnotwehr vor.39 Nach herrschender Ansicht sind zukünftig bevorstehende Angriffe nicht von § 32 StGB umfasst, da die Präventivnotwehr zu früh ein-setzt. Dem Täter wird sonst die goldene Brücke in die Legalität ge-nommen, sodass Missbrauch Tür und Tor geöffnet wären. Allein eine subjektive Befürchtung, ein Angriff stehe unmittelbar bevor, begrün-det für sich genommen noch keine Notwehrlage.40 Eine solche Konstellation kann u.U. nach § 34 StGB gerechtfertigt sein.41 So verhält es sich typischerweise beim Familientyrann, der nach dem Aufwachen handgreiflich werden könnte.42 Mangels ge-genwärtigen Angriffs ist auch ein Abwehren von Drängeln in einer Menschenschlange, sofern nicht gestoßen oder geschubst, nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt.43 Anders verhält es sich bei Diebstahl, da der Dieb durch die Flucht dem Eigentümer seinen Besitz endgültig entziehen will und damit den Angriff gerade steigert.44 Die Flucht des Diebes ist nur dann als Angriff zu werten, wenn die Verfolgung des Diebes in unmittelbar räumlichen und sachlichen Zusammenhang erfolgt (Vgl. das Bsp. in I.1.e.bb.).

b) Der fortdauernde AngriffEin Angriff ist gerade dann gegenwärtig, wenn er noch fortdauert. Davon ist solange auszugehen, wie die Gefahr einer Verletzung des bedrohten Rechtsguts oder einer Vertiefung der Rechtsverletzung andauert.45 Ist der eigentliche Angriff bereits abgeschlossen und droht eine unmittelbare Wiederholung des Angriffs in unmittelbar räumlichen und zeitlichen Zusammenhang, so ist der Angriff noch fortdauernd.46 Zum Beispiel, wenn A auf B einsticht und kurz von ihm ablässt, um wenige Minuten später wieder auf ihn einzustechen. Grundsätzlich ist ein Angriff solange als fortdauernd zu qualifizieren bis der zugrundeliegende Straftatbestand noch nicht beendet ist. Dies ist vor Allem bei Eigentums- oder Vermögensdelikten der Fall, wenn die Tat vollendet, die Beute aber noch nicht gesichert ist.47

3. Rechtswidrigkeit des Angriffs Um eine Notstandslage iS..v. § 32 II StGB zu begründen, müsste der Angriff auch rechtswidrig sein. Rechtswidrig ist ein Angriff, wenn der Angreifer seinerseits nicht durch Rechtfertigungsgründe gerechtfer-tigt ist. Es gibt keine „Gegennotwehr“ bzw. Notwehr gegen Notwehr. Eine der Notwehr folgende Gegenwehr ist eine strafbare Handlung.48

Umstritten ist die Rechtswidrigkeit des Angriffes hingegen, wenn der Angreifer zwar ein Rechtsgut zu verletzen droht, dabei jedoch keine Norm des StGB erfüllt. Eine mangelnde Strafbarkeit kann sich aus fehlendem Vorsatz oder fehlender Schuld ergeben, zum Beispiel, wenn ein geistig behinderter Mensch schuldlos handelnd angreift. Dann muss das Notwehrrecht abgestuft ausgeübt werden: Auswei-

38 BGH, Urt. v. 17.10.1996 - 4 StR5 StR 404/96; Fischer, StGB, § 32 Rn. 10.39 BGH, Urt. v. 12.2.2003 - 1 StR 403/02 - BGHSt 48, 207 - StV 2003, 557.40 Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, StGB, § 32 Rn. 27.41 Fischer, StGB, § 32, Rn. 19; Müssig, ZStW 115 (2003), 224ff, 240ff.42 BGHSt 30, 105ff.; Vgl. nachstehend: 3 a IV. 2 b.43 BGH 5 StR 75/11 - Urt. v. 4.5.2011, Dölling/Duttge/Rössner, StGB, § 32 Rn. 9.44 Schroeder, JuS 1980, 336, 337.45 BGH, NStZ 2006, 152, 153; Fischer, StGB, § 32 Rn. 18.46 Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, StGB, § 32 Rn 15.47 Vgl. das Bsp. in I.1.e.bb; RGSt 55, 82 (84 f.); BGHSt 48, 207, 208 f.; m. Anm. Martin, JuS 2003, 716.48 BGHSt 39, 374, 376 f.

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chen, schonende Schutzwehr, maßvolle Trutzwehr und erst dann steht das volle Notwehrrecht zur Verfügung. In diesen Fällen ist um-stritten, ob ein Angriff nur rechtswidrig ist wenn er objektiv einen Straftatbestand erfüllt, oder ob es genügt, dass der Angegriffene den Angriff nicht zu dulden braucht.49 Letztgenannter Auffassung ist zu folgen. Dem Notwehrrecht liegt auch das Selbstschutzprinzip50 zu-grunde. Maßgebend ist daher der dem Rechtsgut drohende Erfolgs-unwert.

4. Problematische KonstellationenIn einigen Konstellationen wird das Vorliegen einer Notwehrlage am-bivalent bewertet.

a) PutativnotwehrEine solche Konstellation bildet die sogenannte Putativnotwehr.51 Für diese ist charakteristisch, dass der Täter irrig einen Sachverhalt an-nimmt, bei dessen Vorliegen ein rechtswidriger Angriff gegeben wäre (lateinisch putare =glauben). Mangels Notwehrlage ist das Opfer hier nicht nach § 32 II StGB gerechtfertigt. Zu seinen Gunsten können jedoch die Irrtumsregeln eine Straflosigkeit herbeiführen. Insbeson-dere ist hier an den Erlaubnistatbestandsirrtum zu denken, wenn das Opfer sich eine Konstellation vorstellt, in der jedermann (der ver-nünftige Durchschnittsbürger) von einem unmittelbar bevorstehen-den Angriff ausgegangen wäre.52

b) Notwehr gegen Amtsträger53

Eine weitere umstrittene Konstellation in Bezug auf das Bestehen ei-ner Notwehrlage ist die Ausübung von Notwehr gegen Amtsträger. Sie wird nach allgemeiner Auffassung für zulässig erachtet.54 Diese Ansicht ist teilweise stark umstritten, da gem. § 113 StGB ein Wieder-stand gegen die Vollstreckungsbeamten nicht legitimiert wird. Eine Notwehrhandlung besteht in diesen Fällen nur, wenn der Eingriff des Beamten offensichtlich rechtswidrig ist oder böswillig geschieht.55 Beispielsweise, wenn der KFZ-Brief von Autofahrer A vor seinem Haus von Polizist B kontrolliert wird und er A festnehmen will, weil sich die Papiere im 5 Meter entfernten Haus befinden.

c) Notwehrrecht im Rahmen von Spaßkämpfen Eine Notwehrlage ist bei s.g. Spaßkämpfen sprich einvernehmlichen Raufereien ist grundsätzlich abzulehnen aufgrund der rechtferti-genden Einwilligung des Gegners.56 Sie kann sich ausnahmsweise ergeben, wenn sich ein eindeutiger rechtswidriger Angriff eines der Beteiligten isolieren lässt. Dies ist z.B. der Fall wenn, ein Beteiligter ein Messer zieht, obwohl man sich nur auf einen Faustkampf geeinigt hatte. Eine Notwehrlage kann auch angenommen werden, wenn ei-ner der Gegner deutlich zu erkennen gibt, dass er den Kampf aufgibt. Schlägt der andere in Kenntnis dessen trotzdem erneut zu, handelt es sich um einen rechtswidrigen Angriff.

II. Die Notwehrhandlung Ist das Vorliegen einer Notwehrlage i.S.v. § 32 II StGB zu bejahen, bleibt zu prüfen, ob eine Notwehrhandlung vorliegt. Dazu muss eine erforderliche Verteidigungshandlung vorliegen, die geeignet ist, den

49 Fischer, StGB, § 32 Rn. 21.50 siehe Einleitung.51 Vgl. weiterführende Literatur: Fischer, StGB, § 32 Rn. 19, 27; Schönke-Schröder/Lenckner/Perron, StGB, § 32 Rn. 17; Kühl, § 7 Rn. 42; Roxin, AT I, § 15 Rn. 27; anders Suppert, Studien zur Notwehr und notwehrähnlichen Lage, 1973, S. 356, 371 ff; Übungsbeispiele u.A. in: JA – Übungsblätter 1986, 66 ff u. 70 f; JA 1991, 197 u. 200.52 Mitsch, JuS 1992, 291, 291f.53 Fortführend dazu Backes/Ransiek, JuS 1989, 624, 627.54 Leipziger-Kommentar/Tröndle, StGB, § 32 Rn. 65f. 55 Fischer, StGB, § 32 Rn. 12. 56 BGH NJW 90, 2263, 2263; Fischer, StGB, § 32 Rn. 21.

Angriff sofort zu beenden und die Gefahr endgültig zu beseitigen. Stehen dem Angegriffenen mehrere Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung so muss er die schonendste Handlung wählen.57 Die Ver-teidigungshandlung ist erforderlich, wenn die Notwehrhandlung zur Abwehr des Angriffs geeignet ist, den Angriff sofort, sicher und end-gültig zu beenden. Ferner muss das eingesetzte Mittel bei objektiver Betrachtung aus Sicht des Bedrohten das relativ Mildeste darstellt.

1. Drittwirkung der Notwehr Grundsätzlich darf sich die Notwehrhandlung nur gegen Rechte und Rechtsgüter des Angreifers richten. Umstritten ist aber, ob das Notwehrrecht auch Gegenstände Dritter umfasst, wenn der Angreifer sie für seinen Angriff benutzt.58 Bei-spielhaft dafür sind Konstellationen, in denen der Notwehrübende Gegenstände beschädigt, die der Angreifer unter Eigentumsvorbe-halt erworben hat. Teilweise wird diese Drittwirkung der Notwehr für zulässig erachtet. Dafür wird angeführt die Gegenstände würden mit dem Täter ein einheitliches Verteidigungsziel bilden. Nach herr-schender Meinung wird die Drittwirkung des Notwehrrechts jedoch abgelehnt.59 Dem ist zuzustimmen. Es ist nicht erkennbar wieso das Eigentum Dritter weniger schützenswert ist, nur weil es ein Fremder zum Angriff missbraucht. Zudem ist ein angemessener Interessen-ausgleich über das Notstandsrecht gem. § 228 BGB möglich.

2. Geeignetheit der Notwehrhandlung Im Rahmen der Erforderlichkeit der Notwehrhandlung i.S.v. § 32 II StGB ist festzustellen, ob die Notwehrhandlung geeignet ist. Geeignet ist eine Handlung, wenn sie den Angriff in seiner konkreten Gestalt zumindest abschwächt.60 Die „schimpfliche“ Flucht ist kein geeignetes Gegenmittel, da das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Auch polizeiliche Hilfe ist nur dann heranzuziehen, wenn sie erreich-bar ist und effektiven Schutz gewährleistet.

3. Einsatz des mildesten Mittels im Rahmen der ErforderlichkeitNeben der Geeignetheit, muss sich der Verteidigende auch des relativ mildesten Mittels bedienen, um das Kriterium der Erforderlichkeit i.S.v. § 32 II StGB zu erfüllen. Dies richtet sich nach der konkreten Si-tuation, der s.g. „konkreten Kampflage“61. Dabei spielen Intensität und Gefährlichkeit des Angriffes, ebenso wie die Abwehrmöglichkeiten des Angegriffen einen Rolle. Als Maßstab hilft folgende Formel: Je inten-siver, stärker und gefährlicher der Angriff ist, desto intensiver, stärker und gefährlicher darf das gewählte Verteidigungsmittel sein. Hat der Verteidiger die Wahl zwischen mehreren unterschiedlich starken Ver-teidigungsmaßnahmen, so hat er das zu wählen, welches aus seiner Per-spektive zum einen das Mildeste ist, zum anderen aber gleich geeignet ist den Angriff am effektivsten zu beseitigen. Ein weniger gefährliches Abwehrmittel braucht er dann nicht zu wählen, wenn der Abwehrerfolg zweifelhaft erscheint.62 Eine Güterabwägung findet bei § 32 StGB nicht statt. Im Zweifel ist das Notwehrrecht schneidig und weitreichend.

a) Nichterkennen eines milderen Mittels Besonders sind Situationen, in denen der Angegriffene nicht erkennt, dass er milderes Mittel hätte einsetzen können. Grundsätzlich ist die Notwehrsituation aus der ex-ante Sicht eines unbeteiligten Dritten nachzuvollziehen.63 Im Falle eines Nichterkennens eines milderer

57 Sowohl ungeeignete (ineffektive), als auch in ihrer Schärfe nicht erforderliche (über-effektive) Verteidigungshandlungen sind vom Abwehrziel her nicht gefordert.58 So auch Roxin, AT I, § 15 Rn. 109.59 Fischer, StGB, § 32 Rn. 42, einschränkend Spendel, NStZ 1994, 279, 279f.60 Joecks, StGB, § 32 Rn. 12. 61 BGHSt, GA 1956, 49ff; BGH, NJW 1989, 3027, 3028.62 BGH, NStZ 2000, 365ff.63 BGH, NJW 1985, 2600 f.; BGH, NJW 1969, 802f.

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Mittels befindet sich der Notwehrende in einem Irrtum (Vgl. Putati-vnotwehr), der über die Irrtumsregeln oder über die Anwendung von § 33 StGB entschuldigt werden kann.

b) Notwehrexzess § 33 StGB Wird das Notwehrrecht aus § 32 StGB überschritten, kann in gewis-sen Konstellationen ein Fall des Notwehrexzesses nach § 33 StGB vor-liegen. Dabei ist zwischen intensivem und extensivem Notwehrexzess zu unterscheiden. Ein intensiver Notwehrexzess liegt vor, wenn der Täter bei gegebener Notwehrlage die Grenzen der Erforderlichkeit der Notwehrhandlung überschreitet.64 Teilweise wird auch die Verkennung der Notwehrla-ge, wenn ein Angriff nicht oder nicht mehr vorliegt als Notwehrex-zess gem. § 33 StGB qualifiziert.65 Dies wird von der Literatur damit begründet, dass sowohl beim extensiven wie auch beim intensiven Notwehrexzess die psychologische Situation die Gleiche sei. Nach herrschender Meinung wird hingegen nur der intensive Notwehrex-zess gem. § 33 StGB entschuldigt. Die Grenzen der Notwehr können nur überschritten werden, wenn auch tatsächlich eine Notwehrlage vorliegt. § 33 StGB findet aber nur bei asthenischen Affekten, wie Angst, Schrecken, Verwirrung oder Furcht Anwendung.66

c) 3 Stufen Modell beim Einsatz lebensgefährlicher Abwehrmittel Ist der Einsatz von lebensgefährlichen Abwehrmitteln, insbesondere von Schusswaffen als geeignet einzustufen, so hat der Abwehrende eine Abstufung nach dem 3 Stufen Modell der Rechtsprechung67 vor-zunehmen.Der Abwehrende muss seinen Schuss zunächst androhen. Dann hat er einen Warnschuss abzugeben. Erst danach darf er einen nicht töd-lichen Schuss auf den Angreifer abgeben, sprich auf Beine, Arme oder Fettgewebe, auch Streifschüsse sind zulässig. Bereits Brustkorb, Bauch und Genitalbereich sind problematisch.68 In Extremsituationen kann sich das Opfer nur durch eine finale Handlung retten, sprich einem Gezielten Schuss auf den Kopf oder das Herz. In solchen Situationen muss sich der Erwehrende nicht auf ein milderes Abwehrmittel verweisen lassen. Nicht entscheidend ist, ob die Schusswaffe mit oder ohne Erlaubnis geführt wird. Ist der vom Täter abgegebene Schuss durch Notwehr gerechtfertigt entfällt auch die Strafbarkeit des damit einhergehenden Führens von Schusswaffen. Das Führen der Waffe muss allerdings mit dem gerechtfertigten Geschehen unmittelbar zusammenhängen.69 Bezüglich der gesetzwidrigen Beschaffung der Waffe ist der Notweh-rende zumindest entschuldigt.70 Soweit er die Waffe bis zum Eintritt der Notwehrlage unerlaubt mit sich führt ist er nach den Vorschriften des Waffengesetzes zu bestrafen.71

Bei Scheinwaffen darf sich der Verteidigende, sollte er sich in Un-kenntnis des Umstandes, dass es sich um eine Scheinwaffe (z.B. Gaspistole anstelle einer echten Waffe oder Deo-Spray anstatt von Reizgas) handelt befinden, so verteidigen, als ob die Scheinwaffe eine echte Waffe wäre.

d) Vorrang obrigkeitlicher Hilfe Umstritten ist teilweise inwieweit der Verteidiger vorrangig auf

64 RGSt 54, 36; 61, 216; Lackner/Kühl, StGB, § 33 Rn. 2; Maurach/Zipfl, AT/I, § 34 Rn. 27; Fischer, StGB § 33 Rn. 85ff.65 So in der Lit. auch Schönke-Schröder/Lechner-Perron StGB, § 33 Rn. 7; Jakobs, AT, 20/31.66 Geppert, Jura 2007, 38 m.w.N.67 BGH, NStZ 2001, 143, 144; NStZ 1989, 113f.; BGHSt 24, 356, 356; BGHSt 26, 143, 145.68 BGH, NStZ 1996, 29f.; BGH, NStZ 1987, 172f.69 BGH, NStZ 1999, 347f.; NStZ 81, 299.70 BGH, NJW 1979, 2053 mit Anm. Hruschka, NJW 1980, 2123; vgl. auch BGH, NStZ 1981, 299, Schönke/Schröder-Lenckner, StGB, § 32 Rn. 3.71 Dreher-Tröndle, StGB, 42. Aufl., § 32 Rn. 16d; Fischer, StGB, § 32 Rn. 33.

staatliche Hilfe zur Konfliktbewältigung zurückgreifen muss.72 Teil-weise wird vertreten, dass verfügbare staatliche Hilfe vorrangig in Anspruch zu nehmen ist. Denn das staatliche Gewaltmonopol wird durch das Notwehrrecht nur ergänzt, nicht ersetzt. Ferner wird ver-treten, dass die Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung nicht durch gleich effektive verfügbare staatliche Hilfe berührt werde. Schließlich braucht das Recht dem Unrecht nicht zu weichen.

4. Gebotenheit der Notwehrhandlung - Sozialethische GruppenAufgrund des Rechtsbewährungsprinzips ist i.R.d. Notwehrhandlung zuletzt zu fragen, ob die Notwehrhandlung auch rechtlich geboten ist, d.h. nicht rechtsmissbräuchlich ist. Die Gebotenheit der Not-wehrhandlung ist zu verneinen, wenn eines der beiden tragenden Rechtsprinzipien entfällt. Dann ist das Notwehrrecht aus sozialethi-schen Gründen einzuschränken. Begründet wird die sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts auch dadurch, dass ein uneinge-schränktes schneidiges Notwehrrecht nicht angemessen wäre.73 Ins-besondere wenn das Rechtsbewährungsprinzip entfällt ist es nicht geboten, dem Notwehrenden ein schneidiges Notwehrrecht einzu-räumen.

a) Vorsatz-/Absichtsprovokation Führt der Notwehrübende absichtlich oder vorsätzlich eine Notwehr-lage herbei, um unter dem Deckmantel der Notwehr seinen eigentli-chen Angriff auszuführen, so liegt ein Fall de Absichtsprovokation vor. Umstritten ist, ob hier eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts vorzunehmen ist. Dagegen spricht, dass grundsätz-lich das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Auch muss der Provozierte einer Provokation widerstehen können.74 Die herr-schende Meinung spricht sich für eine Einschränkung des Notwehr-rechts aus.75 Dafür spricht, dass der absichtlich Provozierende iRd. Rechtsordnung als nicht schutzwürdig angesehen wird. Durch seine Provokation hat er auf Rechtsgüterschutz verzichtet. Auch könnte bei anderer Beurteilung die Gefahr bestehen, dass Provokationen gezielt rechtsmissbräuchlich eingesetzt werden um unter dem Deckmantel des Notwehrrechts Gewalt straffrei ausüben zu können.76

b) Schuldhaft herbeigeführte Notwehrlage Die Vorsatz- bzw. Absichtsprovokation ist von der Fallkonstellation der schuldhaft herbeigeführten Notwehrlage zu unterscheiden. Nicht einheitlich wird bewertet welche Voraussetzungen an das Vorverhal-ten zu stellen sind, um eine Notwehrlage schuldhaft herbeizuführen. Nach Teilen der Literatur ist ein rechtswidriges Vorverhalten zu for-dern. Nach Ansicht des BGH soll bereits jede sozial inadäquate Ver-haltensweise genügen.

c) Krasses Missverhältnis zwischen verteidigtem und angegriffenen Rechtsgut Dem Notwehrrecht ist immanent, dass auch Sachwerte um jeden Preis verteidigt werden dürfen. Art. 2 EMRK findet insoweit keine Anwendung, als nur die ratifizierenden Staaten und nicht Privatper-sonen untereinander gebunden werden. Jedoch ist eine Einschrän-kung insofern vorzunehmen, als unerhebliche Angriffe nicht durch Tötung oder schwere Körperverletzung abgewehrt werden dürfen. In diesen Konstellationen tritt das Rechtsbewährungsinteresse zurück.77

72 Pelz, NStZ 1995, 305f.73 Jerouschek, JuS 2005, 296, 300.74 Bockelmann/Volk, AT, S. 92; Grünewald, ZStW 22 (2010), 51ff.75 Streitstand vgl. Roxin, AT/I, § 15 Rn. 61ff.76 BGH, NStZ 1983, 452f.; Zieschang, AT S. 59; Lackner/Kühl, StGB, § 32 Rn. 14.77 BGH Urt. v. 12.2.2003 – 1 StR 403/02, NJW 2003, 1955, 1957; Heinrich, AT/1, Rn. 363; Krey, JZ 1979, 702ff.

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Beispielhaft für diese Konstellation ist der Fall, in dem der Nach-barsjunge auf dem Baum des Nachbarn wiederholt Kirschen stiehlt und der Nachbar ihn vom Baum schießt.78

d) Angriffe von Schuldlosen Auch bei Angriffen von Kindern, geistig Beeinträchtigen oder Be-trunkenen ist das Notwehrrecht einzuschränken. In diesen Konstel-lationen muss der Verteidiger möglichst ausweichen, fremde Hilfe herbeiholen oder zumindest Rücksichtnahme bei der Verteidigung ausüben.79

e) Personen mit enger persönlicher Beziehung (Angriff innerhalb von Garantenbeziehungen)Bei enger persönlicher Verbindung, wie sie zwischen Ehegatten und im Verhältnis Eltern - Kind auftreten können, ist eine Einschränkung des Notwehrrechts geboten, da das Rechtsbewährungsprinzip auf-grund der Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme und So-lidarität zurücktritt.80 Die Literatur hat dem überwiegen zugestimmt, als sie eine Garantenstellung nach § 13 StGB in diesen Konstellatio-nen annimmt.

f) Einschränkung aus Art. 2 II a EMRK Nach Art. 2 II a EMRK ist die Tötung eines Angreifers nur gestat-ten, um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen. Teilweise wird vertreten, dass Art. 2 II a EMRK das private Notwehrrecht nicht beeinflusst.81 Nach an-derer Ansicht hingegen hat Art. 2 II a EMRK hingegen unmittelbare Drittwirkung für das Verhältnis von Bürgern und beschränke daher deren Notwehrrechte. Dagegen spricht jedoch, dass Art. 2 EMRK nach dem Konventionszweck nur hoheitliche Eingriffe betrifft.82

g) Einschränkung des Notwehrrechts bei Vorliegen einer sozialethi-schen Einschränkung Liegt eine der oben dargestellten Fallgruppen der sozialethischen Einschränkung des Notwehrrechts vor, steht dem Notwehrenden kein schneidiges Notwehrrecht mehr zur Verfügung. Das Notwehr-recht besteht, ist allerdings deutlich abgestuft. Hier greift erneut das oben genannte 3 Stufen Modell der Rechtsprechung: Zunächst muss der Notwehrende ausweichen und versuchen die Flucht zu ergreifen. Wenn dies nicht zielführend ist, kann er schonende Schutzwehr und zuletzt maßvolle Trutzwehr üben. Der Grundsatz „Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ ist in diesen Fällen ausgekoppelt.

III. Subjektives Rechtfertigungselement: Der Verteidigungswille 1. Erforderlichkeit des VerteidigungswillensNach ganz herrschender Auffassung ist ein Rechtfertigungsrund wie § 32 StGB nur einschlägig, wenn ein subjektives Rechtfertigungsele-ment hinzutritt.83 Fordert man das Vorliegen eines subjektiven Rechtfertigungsele-ments stellt sich die Frage nach den Voraussetzungen an den Vertei-digungswillen. Dabei wird überwiegend gefordert, dass der Verteidi-gungswillen zumindest nicht ganz untergeordnete Bedeutung haben darf.84 Ein Hinzutreten anderer Motive i.S.e. Motivbündels ist folg-lich unschädlich.85 Zumindest muss der Notwehrende in Kenntnis der Notwehrlage handeln. Die überwiegende Literatur spricht sich

78 RG Urt v. 20.9.1920 – I 384/20, RGSt 55, 82ff.79 BGHSt 3, 217, 217ff.; MüKo-Erb, StGB, § 32 Rn. 184.80 Blei, AT, § 39 III 2; Otto, AT, § 8 Rn. 92. 81 Vgl. zum Streitstand auch Hillenkamp, 40 Probleme im Strafrecht AT, Problem Nr. 3.82 Roxin, AT I, § 15 Rn. 76ff.83 a.A. unter Verweis auf den Gesetzeswortlaut: Spendel, StGB, § 32 Rn. 138.84 BGHSt 3, 194, 194; NStZ 2007, 325, 326.85 BGHSt 48, 207, 207ff.; Rönnau, JuS 2009, 594ff.

sogar für eine Beschränkung des Verteidigungswillens lediglich auf das Wissenselement aus.86

2. Auswirkungen des Fehlens eines Verteidigungswillens Sollte der Verteidigungswille nicht vorliegen, ist fraglich welche Aus-wirkungen dieses Fehlen hat. Teilweise wird die sogenannte Versuchslösung angebracht, wonach nur aus Versuch zu bestrafen wäre. Diese Ansicht kann nicht über-zeugen. Eine Rechtfertigung kann nur zugunsten des Verteidigers greifen, wenn er diesbezüglich auch ein subjektives Element aufweist. Nach ganz herrschender Auffassung ist daher keine Rechtfertigung möglich.87

3. Erfordernis eines subjektive Rechtfertigungselements bei Fahrläs-sigkeitsdelikten Umstritten ist darüber hinaus, ob auch bei Fahrlässigkeitsdelikten ein subjektives Rechtfertigungselement zu fordern ist.88

Teilweise wird vertreten, dass ein Verteidigungswille in diesen Fäl-len entbehrlich ist, da zwischen Handlung und Erfolg bei Fahrläs-sigkeitsdelikten keine finale Beziehung besteht.89 Nach herrschender Meinung kann dies allerdings nicht überzeugen.90 Die Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte führt lediglich dazu, dass ein finaler, auf den konkreten Erfolg gerichteter Abwehrwille nicht erforderlich ist.

IV. Nothilfe 1. Allgemein Von der Notwehr nach § 32 StGB ist die sogenannte Nothilfe zu un-terscheiden. Rechtlich wird diese ebenso unter § 32 StGB gefasst. Als Nothilfe bezeichnet man die zugunsten eines Dritten ausgeübte Not-wehr. Die Voraussetzungen der Rechtfertigung sind bei beiden For-men die Gleichen. Zur Nothilfe ist jedermann berechtigt so. Z.B. auch der professionelle Sicherheitsdienst. Die Nothilfehandlung ist nicht erforderlich, wenn der Angegriffene selbst über ausreichend oder gar mildere Abwehrmittel verfügt.Auch der Nothelfer muss mit Verteidigungswillen (subjektives Rechtfertigungselement) zugunsten der Rechtsgüter des Angegriffe-nen handeln.91

2. Aufgedrängte Nothilfe92

Auch bei der Nothilfe muss eine der Notwehr entsprechende Nothil-felage vorliegen. An einer solchen fehlt es, wenn der Angegriffene mit dem Angriff einverstanden war oder wirksam in ihn eingewilligt hat-te. 93 Jedoch gibt es eine Reihe von Ausnahmen:

a) Verletzung nicht disponibler Güter Z.B. wenn der Angegriffene in den Angriff nicht hätte einwilligen dürfen, weil dieser zur Verletzung nicht disponibler Güter führt. Dies ist unter anderem bei § 216 StGB aufgrund der Unverfügbarkeit des Lebens der Fall.

b) Fehlendes EinsichtsvermögenDies gilt auch für Fälle mit fehlendem Einsichtsvermögen des Ange-griffenen und irrtumsbedingter Nothilfeverweigerungen.

86 Wessels/Beulke, AT Rn. 350 m.w.N.87 BGH NStZ-RR 1998, 173, 173f.; BayOLG, NStZ-RR 99, 9, 9ff.88 Rath, Subjektives Rechtfertigungselement, 2002, S. 314 m.w.N.; ablehnend: Otto, AT, § 10 Rn. 28 m.w.N.89 Hengstenberg, S. 207 m.w.N.90 Frisch, FS Lackner 87, 113, 130ff.91 Geilen, JURA 1981, 313.92 Fälle zur aufgedrängten Nothilfe: Ebert, JuS 1976, 319, 323; Herzberg/Schlehofer, JuS 1990, 559 u. 562 f.; König, JuS 1992, 49 u. 52.93 Geilen, JURA 1981, 312.

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AusbIldung

Vertragsschlüsse über Online-Auktionen im Lichte der Rechtsprechungvon Anne Paschke und Johannes Liebhaber

Johannes Liebhaber, Jahrgang 1992, studiert an der Universität Passau Jura im neunten Semester. Er arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht von Prof. Dr. Dirk Heckmann.

Anne Paschke, Mediatorin (CVM), ist wissenschaftliche Mitarbei-terin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht von Prof. Dr. Dirk Heckmann.

A. EinleitungWaren jeder Art finden über das Internet ihren Abnehmer, und der Online-Handel wächst jährlich rasant.1 Neben den regulären Online-shops im Internet erfreuen sich Auktionsplattformen insbesondere bei Schnäppchenjägern großer Beliebtheit.2 Über diese Plattformen bieten sowohl Unternehmer als auch Verbraucher ihre Waren zum Kauf an. Die unterschiedlichen Auktionsplattformen können aufgrund der ih-nen zugrundeliegenden Geschäftsbedingungen rechtlich unterschied-lich zu bewerten sein.3 Die bekannteste dieser Plattformen ist eBay4, daher beziehen sich die hiesigen Ausführungen primär auf die von eBay angebotenen Online-Auktionen. Das Unternehmen eBay ist inzwischen über 20 Jahre alt.5 Die Auktionsplattform wurde im Jahre 2015 1,9 Mil-liarden Mal von deutschen Konsumenten besucht6 und ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Dennoch waren entsprechende Fra-gestellungen in Klausuren bisher von eher untergeordneter Bedeutung. Aufgrund vieler wegweisender Entscheidungen der Rechtsprechung in den letzten Jahren hinsichtlich der unterschiedlichsten Fallkonstellatio-nen beim Vertragsschluss über eBay bietet dieser Bereich allerdings ein großes Klausurenpotential.Im Folgenden wird ein Überblick über die examensrelevante Recht-sprechung rund um das Thema Vertragsschluss bei Online-Auktionen vermittelt.

B. Vertragsschluss bei InternetversteigerungenDas Grundmodell von Auktionsplattformen basiert darauf, dass sich die Akteure der Online-Auktion auf der Plattform registrieren und an-schließend ihre Waren anbieten. Anders als die Bezeichnung Internetversteigerung vermuten lässt, han-delt es sich bei Internetauktionen grundsätzlich nicht um Versteigerun-gen im Sinne von § 156 BGB.7 Der Vertragsschluss erfolgt nicht durch Zuschlag eines Auktionators, sondern mittels Angebot und Annahme der Parteien, vgl. §§ 145 ff. BGB.8 Hinsichtlich der dogmatischen Einordnung gibt es jedoch unterschied-liche Ansätze.9 Einigkeit besteht insoweit, als die in das Internet einge-

1 http://www.statista.com/statistics/460761/e-commerce-revenue-germany/, alle in diesem Aufsatz genannten Internetlinks wurden zuletzt am 15.01.2016 aufgerufen.2 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/157490/umfrage/anzahl-der-auktionen-auf-ebay-in- ausgewaehlten-laendern/.3 Zu anderen Formen der Internetversteigerung vgl.: Heckmann, in: Heckmann, jurisPK- Internetrecht, 4. Auflage, Kap. 4.3 Rn. 59 ff.4 Vgl. https://static.ebayinc.com/static/assets/Uploads/PressRoom/eBay-Factsheet-Q2-2015.pdf.5 http://www.heise.de/newsticker/meldung/3-2-1-Meins-20-Jahre-eBay-2802309.html.6 http://www.internetworld.de/e-commerce/zahlen-studien/amazon-ebay-otto-dominieren-online- handel-1070417.html.7 BGH, NJW 2002, 363.8 BGH, JuS 2005, 175 (176 f.); BGH, JuS 2002, 290; ausführlich: Härting, Internetrecht, 5. Auflage, Rn. 460 ff.; Spindler, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Auflage, Vorb. § 145 Rn. 5 ff. m.w.N.9 Wagner/Zenger, in: MMR 2013, 343 (343 ff.).

stellte Offerte nicht als invitatio ad offerendum anzusehen ist.10 Umstrit-ten ist jedoch, ob es sich beim Einstellen der Ware auf der Plattform um eine antizipierte Annahme eines Kaufvertrags mit dem Höchstbietenden zum Zeitpunkt des Auktionsendes handelt11, oder ob das Einstellen ein verbindliches Angebot auf Vertragsschluss an den Höchstbietenden im Zeitpunkt des Ablaufs der Auktionszeit darstellt.12 Die Abgrenzung erfolgt anhand des Parteiwillens, welcher sich nach der Verkehrsanschauung richtet, §§ 133, 157 BGB. Für die Bestimmung dieser Anschauung sind maßgeblich die miteinbezogenen Geschäftsbedingungen der Versteige-rungsplattformen zu berücksichtigen.13 So heißt es in § 6 Nr. 5 der All-gemeinen Geschäftsbedingungen von eBay: „Bei Auktionen nimmt der Käufer das Angebot durch Abgabe eines Gebots an. Die Annahme erfolgt unter der aufschiebenden Bedingung, dass der Käufer nach Ablauf der Angebotsdauer Höchstbietender ist. Ein Gebot erlischt, wenn ein anderer Käufer während der Angebotsdauer ein höheres Gebot abgibt.“ Im Falle einer eBay-„Auktion“ liegt somit beim Einstellen eines Artikels ein für die Auktionsdauer befristeter Antrag nach § 148 BGB des Verkäufers auf Abschluss eines Kaufvertrages vor. 14 Diesen Antrag nimmt jeder Bieter unter der aufschiebenden Bedingung an, zum Zeitablauf Höchstbietender zu sein (§ 158 Abs. 1 BGB). Damit kommt ein Vertrag zustande, ohne dass eine darüber hinausgehende Erklärung des Anbieters erforderlich ist.15 Der Betreiber der Internetversteigerungsplattform fungiert dabei nach § 164 Abs. 3 BGB als Empfangsvertreter hinsichtlich der von beiden Sei-ten abgegebenen Willenserklärungen.16 Dem steht nicht entgegen, dass der Vertragspartner bei Abgabe dieser Erklärung noch nicht feststeht. Es handelt sich dabei um eine Willenserklärung an einen unbestimmten Per-sonenkreis (sog. offerte ad incertas personas).

C. Vorzeitige Beendigungen von Auktionen durch den VerkäuferEntgegen der technischen Möglichkeit kann eine Online-Auktion rechtlich nach der Online-Schaltung grundsätzlich nicht einfach wie-der beendet werden. Das Angebot des Verkäufers ist nämlich eine empfangsbedürftige Willenserklärung unter Abwesenden, für welche § 130 Abs. 1 S. 1 BGB Anwendung findet. Sobald das Angebot auf der Versteigerungsplattform veröffentlicht wird, gilt dieses als zugegan-gen, da der Betreiber der Plattform als Empfangsvertreter des Käu-fers anzusehen ist.17 Dies hat zur Folge, dass ein Widerruf nach § 130 Abs. 1 S. 2 BGB nicht mehr möglich ist.18

Will der Verkäufer die bereits eingestellte Auktion wieder beenden, bedarf es insbesondere beim Vorliegen eines „Gebotes“ durch einen Käufer zwingend eines ausreichenden Grundes; ansonsten kommt der Vertrag zwischen Anbieter und Höchstbietendem im Zeitpunkt der An-gebotsbeendigung zustande.19

I. Berechtigte Angebotsrücknahme Die vorzeitige Beendigung einer Auktion kann nur gerechtfertigt wer-den, wenn der Verkäufer ein „gesetzliches Rücknahmerecht“ besitzt. Insbesondere das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes berechtigt den Verkäufer zur vorzeitigen Auktionsbeendigung.

10 BGH NJW 2015, 548; BGH, NJW 2011, 2643; Ellenberger, in: Palandt BGB, 75. Auflage, § 156 Rn. 3.11 Offen gelassen von LG Berlin, NJW 2004, 2831.12 BGH, NJW 2015, 548; BGH, NJW 2011, 2643; Ellenberger, in: Palandt BGB 75. Auflage, § 156 Rn. 3.13 BGH, NJW 2011, 2643; Ellenberger, in: Palandt BGB, 75. Auflage, § 157 Rn. 2 ff. 14 Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 4. Auflage, Kap. 4.3 Rn. 48.15 Zu anderen, mittlerweile selten gewordenen Formen der Internetversteigerung: Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 4. Auflage, Kap. 4.3 Rn. 59 ff.16 BGH, NJW 2002, 363; Ellenberger, in: Palandt, BGB, 75. Auflage, § 156 Rn. 3.17 Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 4. Auflage, Kap. 4.3 Rn. 70.18 OLG Oldenburg NJW 2005, 2556 (2557).19 BGH, MMR 2016, 26.

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AusbIldung

1. AnfechtungsmöglichkeitEine wirksame Anfechtung der bindenden Verkaufsofferte durch den Verkäufer hat zur Folge, dass diese als von Anfang an nichtig anzusehen ist, § 142 Abs. 1 BGB. Hierfür muss ein Anfechtungsgrund vorliegen und die Anfechtung fristgerecht gegenüber dem Anfechtungsgegner erklärt werden.

a) AnfechtungsgründeDer Verkäufer kann insbesondere bei Online-Versteigerungen leicht ei-nem Erklärungsirrtum nach § 119 Abs. 1 Var. 2 BGB unterliegen. Die-ser ist zu bejahen, wenn er sich beim Einstellen des Angebots vertippt oder verklickt. Bietet der Verkäufer versehentlich eine Ware mit einem Startpreis von 10 € zum Kauf an, obwohl er eigentlich 100 € festsetzen wollte, kann er sich von seinem Angebot lösen. Kein Erklärungsirrtum liegt jedoch vor, wenn der Verkäufer lediglich die Angabe eines Min-destangebotes vergessen hat, weil ein Erklärungsirrtum immer eine positive Fehlvorstellung, mithin eine Diskrepanz von Erklärtem und Gewolltem, voraussetzt.20

Auch die Möglichkeit, einem Inhaltsirrtum nach § 119 Abs. 1 Var. 1 BGB zu unterliegen, besteht. Ein solcher ist beispielsweise gegeben, wenn der Verkäufer sich beim Einstellen über die Bedeutung der „So-fort-Kauf“-Option irrt und der Auffassung ist, er stelle eine gewöhn-liche Auktion online.21 Grundsätzlich unbeachtlich ist in der digitalen wie in der anlogen Welt ein sog. Rechtsfolgenirrtum, bei dem sich der Erklärende über Rechtsfolgen – z.B. die Verbindlichkeit seines Angebots – irrt.22

Einem Eigenschaftsirrtum im Sinne von § 119 Abs. 2 BGB kann der Verkäufer ebenfalls hinsichtlich der angebotenen Ware unterliegen. Das Anfechtungsrecht des Verkäufers ist jedoch ausgeschlossen, wenn er sich hierdurch der Mängelhaftung entziehen könnte.23 Einen Eigen-schaftsirrtum hinsichtlich der Bonität seines Vertragspartners kann der Verkäufer aufgrund seines Angebots an einen unbestimmten Personen-kreis nicht geltend machen. Besonders bei digitalen Vorgängen wie Online-Auktionen kann darü-ber hinaus der Übermittlungsirrtum nach § 120 BGB als Anfechtungs-grund bestehen. Ein solcher liegt bei einer Störung der Übertragung des Angebotes vor, was zur Folge hat, dass dieses auf dem Transport durch den Netzbetreiber bzw. Provider verändert wurde.24 Ein Anfechtungs-grund nach § 120 BGB liegt hingegen nicht vor, wenn eine Software im Herrschaftsbereich des Verkäufers vor dem „Abschicken“ des Angebo-tes einen (Kalkulations-)Fehler begeht (sog. Kalkulationsirrtum).25

Eine enttäuschte Preiserwartung stellt nur einen unbeachtlichen mo-tivirrtum dar, welcher den Verkäufer nicht zur Anfechtung berechtigt.

b) AnfechtungsfristBei den oben genannten Anfechtungsgründen muss die Anfechtung ohne schuldhaftes Zögern, d.h. unverzüglich nachdem der Verkäu-fer von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat, erklärt werden, § 121 Abs. 1 S. 1 BGB. Diese Regelung fordert kein sofortiges Handeln, sondern soll die Interessen der Vertragsparteien berücksichtigen, sodass von einem schuldhaften Zögern nicht auszugehen ist, wenn das Zuwar-ten durch die Umstände des Einzelfalles geboten ist.26

20 Armbrüster, in MüKO zum BGB, 7. Auflage, § 119 Rn. 50.21 Spindler, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Auflage, § 120 BGB, Rn 4.22 Musielak, in: JZ 2014, 64; OLG Koblenz MMR 2009, 630; kritisch: Oechsler, in: Jura 2012, 497.23 OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.03.2014 - 22 U 127/13.24 Spindler, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Auflage, § 120 BGB, Rn 7.25 Das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes nach § 123 BGB ist im Rahmen einer Online-Auktion ebenfalls theoretisch möglich.26 Mansel, in: Jauernig BGB, 16. Auflage 2 f.; Wendtland, in: Beck‘scher Online-Kommentar BGB, 37. Edition § 121 Rn. 7.

c) AnfechtungserklärungWährend die frühere Rechtsprechung den vorzeitigen Abbruch eines Auktionsangebotes grundsätzlich als konkludente Anfechtungserklärung gewertet hat,27 muss die Anfechtungserklärung nunmehr dem Anfech-tungsgegner ausdrücklich erklärt werden und ihm unzweifelhaft deut-lich machen, dass der Verkäufer sich nicht an seinem Angebot festhalten lassen will, § 143 Abs. 1 BGB. Hierbei bedarf es aufgrund laiengünstiger Auslegung keiner Bezeichnung der Erklärung als Anfechtung. Auch eine Nennung des genauen Anfechtungsgrundes ist nicht erforderlich.28 Aller-dings muss der Wille, sich vom Vertrag lösen zu wollen, deutlich erkenn-bar sein. Dies ist beispielsweise nicht der Fall, wenn der Verkäufer dem Bieter lediglich erklärt, er habe sich bei der Erstellung des Angebots im Preis geirrt, verbunden mit der Anfrage, wie weiter zu verfahren sei.29

Sofern noch kein Käufer ein „Gebot“ für die Auktion abgegeben hat, kann die Anfechtung gegenüber eBay erklärt werden. Sobald aber be-reits Käufer ihr Kaufinteresse durch Abgabe einer Willenserklärung bekundet haben, ist der richtige Anfechtungsgegner der Erklärungs-empfänger, vgl. § 143 Abs. 1, 3 BGB. Die Anfechtungserklärung kann zwar weiterhin wie die ursprüngliche Willenserklärung des Verkäufers gegenüber der Plattform eBay erklärt werden, da diese Empfangsvertre-ter des Käufers ist. Aus Rechtssicherheitsgründen kann jedoch darüber hinaus auch dem potentiellen Vertragspartner des Verkäufers – also dem derzeit Höchstbietenden – die Anfechtung zu erklären sein.

2. Weitergehende Rücknahmemöglichkeiten aufgrund der Allgemeinen Geschäftsbedingungen von eBayDarüber hinaus erlaubt eBay in seinen Allgemeinen Geschäftsbedin-gungen dem Verkäufer die vorzeitige Auktionsbeendigung bei unver-schuldetem Untergang oder Verschlechterung der Sache sowie einem rechtlichen Veräußerungsverbot.30

a) Wirksame Einbeziehung der Allgemeinen GeschäftsbedingungenDie Einräumung weiterer Rücknahmemöglichkeiten des verbindlichen Angebotes durch den Verkäufer im Rahmen der Allgemeinen Ge-schäftsbedingungen von eBay erscheint auf den ersten Blick AGB-recht-lich problematisch. Aufgrund dieser Vorgaben werden hiermit neben den gesetzlichen Anfechtungsrechten weitere Möglichkeiten für den Verkäufern zur Vernichtung seiner Willenserklärung geschaffen und damit die grundsätzliche Bindung an das Angebot nach § 145 Hs. 1 BGB für den Vertragspartner überraschend (vgl. § 305c BGB) unter-laufen.31 Die Vertragsparteien nehmen vor dem Kaufvertragsabschluss auch nicht in der Form des § 305 Abs. 2 BGB Kenntnis vom Inhalt der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, sondern werden lediglich bei der Anmeldung auf der Plattform auf diese hingewiesen, so dass keine Ein-beziehung in das konkrete Vertragsverhältnis zwischen Verkäufer und Bieter vorliegt.32 Vielmehr stellen die Allgemeinen Geschäftsbedingun-gen von eBay lediglich die Struktur und Ausgestaltung der Auktions-plattform dar.33 Sie bilden somit die Rahmenbedingungen, in deren Kontext der Vertrag geschlossen wird, ohne selbst Vertragsbestandteil zu werden. Sie sind deshalb bei der Auslegung der Willenserklärungen zu berücksichtigen.34 In diesem Kontext ist die Nichtvorlage dieser Vo-raussetzungen als aufschiebende Bedingung nach § 158 Abs. 1 BGB im Antrag des Verkäufers mitaufgenommen.

27 Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 4. Auflage, Kap. 4.3 Rn. 72, LG Berlin, NJW 2004, 2831 (2832); LG Dortmund v. 23.12.2008 - 3 O 508/08.28 Busche in: MüKO zum BGB, 6. Auflage, § 143 Rn. 7; Ellenberger, in: Palandt BGB, 75. Auflage, § 143 Rn. 3.29 LG Berlin, MMR 2012, 597 (598).30 Vgl. http://pages.ebay.de/help/sell/end_early.html#reasons; zum Abbruch bei beschädigtem Gegenstand: Seidl, in: jurisPR-ITR 1/2014 Anm. 2.31 AG Darmstadt, MMR 2014, 602; kritisch: Wenn, in: jurisPR-ITR 4/2015 Anm. 5.32 Übersicht über den Meinungsstand bei: Backhaus, in: JurPC Web-Dok. 88/2006, Abs. 2 m.w.N. 33 Zur Rechtsnatur: Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 4. Auflage , Kap. 4.3 Rn. 90 ff. 34 BGH, NJW 2011, 2643; BGH, NJW 2002, 363; OLG Hamm, MMR 2015, 25 (26 f.); Seidl, in: jurisPR-ITR 1/2014 Anm. 2.

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AusbIldung

b) BeendigungsgründeDer Umfang der in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen geregel-ten zum vorzeitigen Auktionsabbruch berechtigenden Gründe ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Einigkeit herrscht insofern, dass die Unmöglichkeit der Erfüllung – beispielsweise durch Diebstahl oder Zerstörung der Sache – einen berechtigten Grund darstellt.35 Hin-sichtlich sowohl der echten Beschädigung als auch des Sachmangels als „unechte Beschädigung“ ist fraglich, ob diese wesentlich sein müssen oder ob jede Beschädigung des Auktionsgegenstandes ausreicht.36 Nach einer Ansicht sollen nur solche Beschädigungen ausreichen, die dazu führen, dass der Verkäufer nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht mehr zu leisten braucht.37 Die Rechtsprechung spricht sich bisher gegen eine Erheblichkeitsschwelle aus.38 Für die erstgenannte Ansicht spricht, dass die Systematik der eBay-Hilfeseiten eine gewisse Erheblichkeit na-helegt. Hiergegen ließe sich jedoch einwenden, dass die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von eBay nirgends explizit eine solche Erheb-lichkeitsschwelle vorschreiben, sodass diese Auffassung im Ergebnis abzulehnen ist. Für die Auslegung, welche keine Erheblichkeit der Be-schädigung verlangt, lässt sich zudem ins Feld führen, dass der Verkäu-fer nicht sehenden Auges einen Vertrag schließen soll, bei dem er sich einem Nacherfüllungsanspruch aussetzt. Nach vorzugswürdiger An-sicht genügen damit alle Beschädigungen der Sache, ohne dass es darauf ankäme, wie stark die Beschädigung im Einzelfall ist.39

c) Zeitliche Komponente der BeendigungNach einer älteren Ansicht solle sich aus den Allgemeinen Geschäfts-bedingungen von eBay ergeben, dass bei einem Auktionsende in zwölf Stunden oder mehr die vorzeitige Auktionsbeendigung jederzeit mög-lich ist und es nur bei einem Auktionsende von weniger als zwölf Stun-den überhaupt dieser verschiedenen Voraussetzungen bedarf.40 Ein sol-cher Umkehrschluss geht aus den neuen Hilfeseiten von eBay jedoch nicht mehr hervor, so dass diese Meinung als überholt gelten darf.41 Der Antrag ist somit von Anfang an bindend. Mithin müssen die Beendi-gungsvoraussetzungen unabhängig vom Beendigungszeitpunkt vorlie-gen.

II. Rechtsfolgen einer unberechtigten AuktionsbeendigungKann der Verkäufer keinen Berechtigungsgrund für die vorzeitige Be-endigung der Auktion geltend machen, wird dies für ihn meist teuer. In einem solchen Fall kommt nämlich der Vertrag mit dem zum Zeitpunkt des Auktionsabbruchs Höchstbietenden mit dem Kaufpreis zustande, den das Höchstgebot ausweist, vgl. § 162 Abs. 1 BGB. Der Bieter kann daher in diesen Fällen auf Erfüllung des geschlossenen Kaufvertrages nach § 433 Abs. 1 S. 1 BGB bestehen oder wenn die Sache nicht mehr vorhanden ist Schadensersatz für den entgangenen Gewinn nach §§ 280 Abs. 1, 3, 283, 275 BGB beanspruchen.

1. Erfüllung des VertragesIst es dem Verkäufer noch möglich und hat der Käufer noch ein Inter-esse an der Ware, wird regelmäßig die Erfüllung des Primäranspruches durch Lieferung der Ware gegen Zahlung des Kaufpreises die favorisier-te Option des Käufers sein.

35 BGH, NJW 2011, 2643; AG Laufen, Urt. v. 28.02.2012 - 2 C 918/11. 36 Seidl, in: jurisPR-ITR 1/2014 Anm. 2.37 Hofmann, in: jurisPR-ITR 16/2012 Anm. 2; Lederer, in: jurisPR-ITR 1/2012 Anm. 4.38 U.a. BGH, MMR 2014, 232; LG Bochum, MMR 2013, 443; zustimmend: Seidl, in: jurisPR-ITR 1/2014 Anm. 2.39 Nach Auffassung des OLG Düsseldorf (Urt. v. 14.03.2014 – 22 U 127/13 – juris Rn. 18) genügt bereits die Gefahr weiterer Beschädigungen.40 Vgl. http://pages.ebay.de/help/sell/end_early.html#cant. 41 BGH, NJW 2015, 1009; OLG Hamm, MMR 2015, 25; OLG Nürnberg, MMR 2014, 592; zustimmend: Wenn, in: jurisPR-ITR 4/2015 Anm. 5; Paschke/Liebhaber, in: jurisPR-ITR 4/2015 Anm. 4.

2. SchadensersatzSollte es dem Verkäufer der Ware nicht mehr möglich sein, den Pri-märanspruch zu erfüllen, oder hat der Bieter kein Interesse mehr an der Leistung, kann er Schadensersatz unter den Voraussetzung von §§ 280 ff. BGB bzw. § 311a Abs. 2 BGB verlangen.

3. Keine Möglichkeit den Rechtsfolgen zu entgehenDa der Vertrag bei eBay mit dem Höchstbietenden zustande kommt, könnte der vermeintlich schlaue Veräußerer vor Abbruch der Aukti-on selbst durch einen zweiten Account oder einen Dritten ein höheres Gebot abgeben, ohne dass ein wirkliches Kaufinteresse besteht, um zu versuchen, den oben genannten Rechtsfolgen zu entgehen. Aber auch durch diese Scheingebote kann er nicht den oben genannten Pflichten entgehen.42

a) Gebot durch einen DrittenZum einen besteht die Möglichkeit, dass ein im Interessenlager des Verkäufers stehender Dritter das Höchstgebot abgibt. Eine solche Wil-lenserklärung wird nur zum Schein abgegeben, um die Online-Auktion ohne Verlust abbrechen zu können. Die Parteien wollen sich dabei ge-rade nicht gegenseitig binden. Demnach ist die Erklärung des Dritten nach § 117 Abs. 1 BGB nichtig, sodass ein Vertrag mit dem nächsten wirksamen Gebot geschlossen wird.43 Letzteres ist aufgrund der Nich-tigkeit des Scheingebotes auch nicht entfallen.

b) Höchstgebot durch den VerkäuferAls zweite Möglichkeit kommt in Betracht, dass der Verkäufer über ein Zweitkonto selbst an seiner eigenen Auktion mitbietet, um zu verhin-dern, dass er bei einem Auktionsabbruch die Ware an einen anderen Bieter unter Wert übereignen muss. Zunächst könnte man wieder eine Nichtigkeit nach § 117 Abs. 1 BGB annehmen.44 Derlei erscheint an-gesichts des Wortlauts des § 117 Abs. 1 BGB zweifelhaft, wonach Wil-lenserklärungen nichtig sind, welche „einem anderen gegenüber“ zum Schein abgegeben werden. Die Nichtigkeit könnte sich jedoch aus § 181 BGB analog ergeben. Eine direkte Anwendung scheidet aus, da nicht eBay als Empfangsvertreter einen Vertrag mit sich schließt, sondern der Vertretene selbst. Damit schließt nicht der Vertreter ein Geschäft mit sich selbst, sondern der Vertretene. Eine analoge Anwendung ist je-doch nur geboten, wenn eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Aus einem Umkehrschluss könnte gefolgert werden, dass § 145 BGB, wie auch § 117 Abs. 1 BGB, nur deshalb von „einem anderen“ spricht, weil das BGB davon ausgeht, dass ein Angebot nicht gegenüber sich selbst abgegeben werden kann (Konfusionsargument).45 Damit wäre ein ent-sprechender Vertragsschluss nicht möglich. Ein anderer Lösungsansatz wäre es, einen Vertragsschluss anzuerkennen.46 Dieser Ansatz hätte die Geltung des § 162 Abs. 1 BGB zur Folge, wonach der Vertrag mit dem vorherigen redlichen Höchstbietenden zustande kommt.47 Im Ergebnis kann die Frage jedoch offen bleiben, da beide Lösungswege zu einem Kaufvertragsschluss zwischen Anbieter und redlichem Bieter führen. Der Verkäufer kann sich mithin nicht einem Kaufvertragsschluss durch ein treuwidriges Höchstgebot entziehen.

D. Exkurs: Shill-biddingNeben den gerade genannten Fällen kann das sog. Shill-bidding aber

42 Scheinangebote werden häufig auch auf Online-Auktionen regelwidrig genutzt, um die Gebote potentieller Käufer in die Höhe zu treiben (sog. Shill-bidding), vgl. D.43 OLG Frankfurt, Urt. v. 27.06.2014 - 12 U 51/13; OLG Rostock, Urt. v. 11.06.2014 - 1 U 90/13.44 So das OLG Frankfurt, Urt. v. 27.06.2014 - 12 U 51/13, welches jedoch trotzdem ein Erlöschen des niedrigeren Gebotes annahm.45 OLG Stuttgart, NJW-RR 2015, 1363.46 OLG Stuttgart, NJW-RR 2015, 1363; kritisch hierzu: Linardatos, in: Jura 2015, 1346 (1346 f.). 47 Der Lockvogel erklärt wie jeder andere Bieter die Annahme unter der Bedingung im Zeitpunkt des Auktionsendes Höchstbietender zu sein. Damit scheidet eine Anwendung von § 161 Abs. 2 BGB aus, da dieser auf den Bedingungseintritt des Zeitablaufs keinen Einfluss hat.

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AusbIldung

nicht nur eingesetzt werden, um einen Vertragsschluss vom Verkäufer zu nicht gewünschten Konditionen zu verhindern, sondern auch dazu, um durch Lockgebote einen Kaufpreis gezielt in die Höhe zu treiben. Der so zu einem höheren Gebot verleitete Höchstbietende kann da-durch den Vertrag grundsätzlich nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB anfech-ten. Der Verkäufer täuscht durch die Gebote ein höheres wirtschaftli-ches Interesse an der Sache vor, als tatsächlich besteht.48 Folglich kann sich der Käufer vom Vertrag lösen und sein Geld zurückfordern.Schwieriger ist die Frage, welche Möglichkeiten den Bietern darü-ber hinaus offenstehen. Grundsätzlich hat der Verkäufer durch sei-ne shill-bidds eine vorvertragliche Treuepflicht verletzt. Dies hat zur Folge, dass dem Bieter ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB (sog. culpa in contrahendo) zustehen könnte. Vom Vorliegen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses und einer Pflichtverletzung kann unproblematisch ausgegangen werden. Auch hat der Verkäufer diese zu vertreten, §§ 280 Abs. 1, 276 Abs. 1 BGB. Jedoch muss der Anspruchsteller auch tatsächlich einen Scha-den erleiden. Nach dem Grundsatz der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) hat der Schädiger den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.49 Damit greift der Anspruch nur in den Fällen eines sog. Bieterwettstreites durch. In diesen Fällen überbieten sich nur Lockvogel und Bieter kurz vor Vertragsschluss. In allen anderen Fällen als einem Bieterwettstreit kann das Verhalten des Verkäufers jedoch hinweggedacht werden, ohne dass der Höchstpreis basierend auf der Überbietung der Wettbewerber entfiele. Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch nicht durch die Anwendung des § 252 BGB. Nach den Grenzen des § 252 S. 2 BGB müss-te ein günstigerer Ablauf hinreichend wahrscheinlich gewesen sein. Die rein abstrakte Möglichkeit, dass ohne das Eingreifen des Verkäufers der Wettbewerb für den Bieter günstiger ausgegangen wäre, ist nicht ausrei-chend.50 Dasselbe Problem stellt sich auch bei der Anwendung von § 162 Abs. 1 BGB. § 162 BGB fingiert den Bedingungseinritt für den Zeitpunkt, indem er redlich eingetreten wäre.51 Folglich müsste geklärt werden, wie sich das Verhalten des Lockvogels auf die Auktion ausgewirkt hat. Im Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass ein Bieter nur dann einen An-spruch auf Schadensersatz hat, wenn er konkret vom Lockvogel zur Ab-gabe des erhöhten Höchstgebotes gedrängt wurde. Die mittelbare Ein-wirkung in Form der Wettbewerbsmanipulation genügt dafür jedoch nicht. In diesen Fällen bleibt dem Bieter lediglich die Möglichkeit, sich vom Vertrag zu lösen und die Ware anders und zu günstigeren Kondi-tionen zu erwerben.

E. „Rücknahme“ der Willenserklärung durch den BieterBei der Rücknahme der Willenserklärung durch den Bieter muss zwi-schen dem Höchstbietenden und bereits überbotenen Bietern differen-ziert werden.

I. Bieter wurde bereits überbotenDer einfachste Fall betrifft die Konstellation, dass der Bieter überboten wurde. Die Bedingung, zum Vertragszeitpunkt Höchstbietender zu sein, kann nicht mehr eintreten.52 Dies stellen auch die eBay-AGB in § 6 Nr. 5 S. 2 nochmals explizit klar.53 Der Bieter braucht danach seine Erklärung nicht eigens zurückzunehmen, da auch unwirksame Gebote die vorangegangenen Höchstgebote erlöschen lassen.54

48 Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 4. Auflage, Kap. 4.3 Rn. 25. 49 Grüneberg, in: Palandt BGB, 75. Auflage § 249 Rn. 2 ff.50 Zu der Bemessungsproblematik: Linardatos, in: Jura 2015, 1243.51 Ellenberger, in: Palandt BGB, 75. Auflage, § 162 Rn. 5.52 Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 4. Auflage, Kap. 4.3, Rn. 50 f.53 Die wohl herrschende Meinung geht deshalb von einer analogen Anwendung des § 156 S. 2 BGB aus, vgl. Linardatos, in: Jura 2015, 1342.54 OLG Stuttgart, NJW-RR 2015, 1363 (1366 f.); Revision derzeit beim BGH anhängig (Az. VIII ZR 100/15).

II. Bieter ist HöchstbietenderIst der Bieter Höchstbietender, kann er sein Gebot nach § 6 Nr. 7 eBay-AGB nur zurücknehmen, wenn er gesetzlich dazu berechtigt ist. Dem Bieter stehen damit über die gesetzlichen Möglichkeiten hinaus – ins-besondere das Anfechtungsrecht55 – keine weitergehenden Rücknah-memöglichkeiten zu. Dies ist insbesondere für sog. Spaßbieter56 rele-vant, welche nur zum Scherz ohne Kaufinteresse auf einen Gegenstand bieten. Eine solche Mentalreservation, das Erklärte nicht zu wollen, ist nach § 116 S. 1 BGB für die Wirksamkeit der Erklärung grundsätzlich unbeachtlich.

F. Beseitigung des geschlossenen VertragesI. AnfechtungLiegt einer der oben genannten Anfechtungsgründe57 vor, können sich beide Vertragspartner mit einer unverzüglichen Anfechtung ihrer Wil-lenserklärung gegenüber dem Vertragspartner vom Vertrag lösen, was zur Folge hat, dass dieser als von Anfang an nichtig anzusehen ist, § 142 Abs. 1 BGB.

II. RücktrittEine weitere Möglichkeit der Vertragsbeseitigung ist die Erklärung des Rücktrittes gegenüber dem Vertragspartner, § 349 BGB. Diese setzt das Vorliegen eines Rücktrittsgrundes voraus. Solche Gründe sind: Nicht- oder Schlechtleistung nach § 323 Abs. 1 BGB, vertragliche Pflichtverlet-zung gemäß § 324 BGB oder Unmöglichkeit nach § 326 BGB. Anders als bei der Anfechtung ist der Vertrag in diesem Fall nicht von Anfang an nichtig, sondern wandelt sich in ein Rückgewährschuldverhältnis um, § 346 Abs. 1 BGB.

III. WiderrufFür Käufer, welche zugleich Verbraucher im Sinne des § 13 BGB sind, gibt es darüber hinaus die weitere Möglichkeit, sich durch Widerruf ge-mäß §§ 355, 312, 312g BGB vom Fernabsatzvertrag zu lösen. Hierfür muss es sich bei dem Verkäufer jedoch um einen Unternehmer nach § 14 BGB handeln. Der Verbraucher muss innerhalb von 14 Tagen nach Vertragsschluss den Widerruf erklären, § 355 Abs. 1 S. 1 BGB. Die An-gabe von Gründen ist hierbei nicht erforderlich.

IV. Einwand der unzulässigen Rechtsausübung, § 242 BGBWird eine Ware weit unter dem Marktwert versteigert, kann der Käufer dennoch die Vertragserfüllung verlangen.58 Trotz Diskrepanz von Leis-tung und gegenleistung ist ein solcher Vertrag wirksam.59 Insbeson-dere steht dem Vertrag nicht schon ein niedriges Startgebot entgegen. Beide Parteien werden auf die Rechtsverbindlichkeit ihrer Erklärungen hingewiesen, sodass eine Scheinerklärung als bloße Mentalreservation unbeachtlich ist. Auch eine Nichtigkeit des Vertrags aus § 138 BGB wird typischerweise zu verneinen sein. Das deutsche Vertragsrecht bewer-tet nicht nur das objektive Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, sondern fragt danach, ob eine subjektive Zwangslage für eine Partei vor-gelegen hat.60 In der Regel setzt gerade der Anbieter gezielt ein niedriges Startgebot, um so mehr Bieter anzulocken und damit den Preis seiner

55 Vgl. C. I. 1.56 Klees, in: MMR 2007, 275. 57 Vgl. C. I. 1.a). 58 Vgl. OLG Koblenz, MMR 2009, 630.59 Aufgrund der letzten BGH-Entscheidung (MMR 2016, 26) kann die frühere sehr umstrittene Rechtsprechung (OLG Koblenz, MMR 2009, 630 mit kritischer Anm. Wenn, in: jurisPR-ITR 16/2009, Anm. 4) als überholt angesehen werden. Diese besagte, dass in krassen Ausnahmefällen, wenn bei einem frühzeitigen Auktionsabbruch der Kaufpreis derart niedrig liegt, dass jedem verständigen Betrachter ohne Weiteres verständlich ist, dass ein extremes Missverhältnis zwischen Preis und Wert der Sache vorliegt, der Verkäufers den Einwand unzulässiger Rechtsausübung gegen seine Inanspruchnahme auf Vertragserfüllung durch den Höchstbietenden geltend machen kann. Der Bieter galt in diesen Fällen bis zur letzten BGH-Entscheidung als nicht schutzwürdig (OLG Koblenz, MMR 2009, 630).60 Heinrichs, in: Palandt BGB, 75. Auflage, § 138 Rn. 35.

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AusbIldung

Ware in die Höhe zu treiben. Dies spricht gegen eine Zwangslage; viel-mehr hat es gerade der Anbieter in der Hand, ob er sich dem Risiko eines zu niedrigen Verkaufspreises aussetzt.61

Auch die Intention, mit der ein Bieter sich an der Auktion beteiligt, ändert nichts an der Wirksamkeit des Vertragsschlusses. Dies ist selbst dann der Fall, wenn ein Bieter bei einer Vielzahl von Auktionen, ohne Interesse an dem eigentlichen Gegenstand und lediglich in der Hoff-nung mitbietet, durch einen vorzeitigen Auktionsabbruch ein Schnäpp-chen bzw. den Ersatz des entgangenen Gewinnes zu erhalten (sog. Abbruchjäger)62, so dass in diesem Fall der Verkäufer sich nicht des Einwandes der unzulässigen Rechtsausübung bedienen kann.In einem solchen Fall könnte an eine Anfechtung der Erklärung nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB wegen Täuschung durch den Bieter gedacht wer-den. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gesinnung des Vertragspart-ners keine rechtserhebliche Täuschung darstellt. Vielmehr muss sich diese in irgendeiner Weise manifestieren, was bei einem eBay-Gebot zu verneinen ist. Der Abbruchjäger erklärt, den Gegenstand zu diesem Preis erwerben zu wollen. Ihm kommt es gerade auf den Vertragsschluss an. Er täuscht damit nicht über seine Vertragsabschlussabsicht. 63 Aus demsel-ben Grund scheidet auch eine Rechtsmissbräuchlichkeit der Ausübung des Erfüllungs- oder Schadenersatzanspruches aus. Nicht der Abbruch-jäger schadet dem Anbieter durch Ausübung seines Anspruches, son-dern der Anbieter schadet sich selbst, indem er die Auktion wissentlich

61 So BGH, NJW 2015, 548; OLG Hamm, MMR 2015, 25; a.A. Feldmann, in: ITRB 2014, 85 (86); vgl. auch OLG Köln, MMR 2007, 446.62 OLG Hamm, MMR 2015, 25; Paschke/Liebhaber, in: jurisPR-ITR 4/2015 Anm. 4. Der bloße Verdacht der potentielle Käufer sei unseriös, rechtfertig zudem keinen Auktionsabbruch, BGH, MMR 2016, 26.63 BGH, NJW 2015, 548.

unzulässig abbricht und dadurch einen Vertrag mit dem Abbruchjäger schließt.64

F. FazitUm die vorzeitige Beendigung von Online-Auktionen zu verhindern, erhebt eBay im Übrigen nunmehr eine Gebühr in Höhe der Ver-kaufsprovision, wenn die Auktion nicht innerhalb von 24 Stunden nach dem Einstellen beendet wird.65 Zudem dürfen Verkäufer maximal eine Auktion pro Jahr vorzeitig beenden, ohne dass eine Gebühr berechnet wird. Inwieweit dieser pauschalierte Schadensersatz und die Festsetzung der Anfechtungsfrist auf 24 Stunden rechtmäßig ist, wird mit an Sicher-heit grenzender Wahrscheinlichkeit in nicht ferner Zukunft durch die Rechtsprechung überprüft werden. Daher ist für diejenigen, die sich selbst als Online-Verkäufer auf dieser Plattform betätigen, die rechtliche Seite von eBay ein spannendes, sich ständig weiterentwickelndes Gebiet, das es im Auge zu behalten gilt.Darüber hinaus lassen sich viele analoge Klausurkonstellationen auch auf die digitale Welt mit Berücksichtigung technisch-bedingter Beson-derheiten übertragen. Diese Besonderheiten werden aktuell vielfach durch die Rechtsprechung geprägt. Die Digitalisierung des Alltags (u.a. beim Abschluss von Kaufverträgen) boomt ungebremst.66 Daher wer-den Klausurkonstellationen, die diese Sachverhalte abbilden, ebenfalls immer mehr an Bedeutung gewinnen.

64 BGH, MMR 2016, 26 mit dem Hinweis, dass der Käufer vorleistungspflichtig ist und der Anbieter damit kein schutzwürdiges Interesse an der Seriosität des Bieters habe; LG Hamm, MMR 2015, 25.65 http://pages.ebay.de/help/sell/end_early.html#cant.66 http://de.statista.com/statistik/daten/studie/29201/umfrage/umsatz-im-online-handel-in- deutschland-seit-2008/.

Jonas Bühler legte im Termin 2015/2 die Erste Juristische Prüfung in Bayreuth ab und arbeitet ab April 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Sozietät Hengeler Mueller.

Der Rechtsweg bei Justizverwaltungsakten, §§ 23ff EGGVGvon Jonas Bühler

A. Einführung Wenigen Studierenden ist bekannt, dass die §§ 23ff EGGVG einen ei-genen Rechtsweg normieren. Meist wird § 23 Abs. 1 EGGVG in der Fallbearbeitung nur im Rahmen des § 40 Abs. 1 VwGO bei der Abgren-zung von präventivem und repressivem Handeln der Polizei relevant. Zwar ist die genaue Kenntnis dieses Rechtswegs wenig examensrele-vant, jedoch haben diese eigentlich als Übergangsregelung konzipier-ten Normen auch heute noch erhebliche Bedeutung.1 Nicht zuletzt ist die Systematik dieses Rechtswegs der VwGO sehr ähnlich, sodass Syn-ergieeffekte erzielt werden können.

B. Normzweck und AntragsformenI. Zunächst muss man sich vor Augen führen, warum es die §§ 23ff EGGVG überhaupt gibt.1) Die Funktion der §§ 23ff EGGVG besteht darin, unter Ausschluss der Verwaltungsgerichtsbarkeit den ordentlichen Rechtsweg zu eröff-

1 KK-StPO/Mayer, 7.Auflage 2013, § 23 EGGVG, Rn.9; Kissel/Mayer, GVG Kommentar, 8.Auflage 2015, § 23 EGGVG, Rn.5.

nen.2 Bei gewissem Verwaltungshandeln sollen aufgrund der Sachnähe die ordentlichen Gerichte entscheiden.3

2) Sie konkretisieren den Grundsatz des Art. 19 Abs. 4 GG4 und dienen der Gewähr von lückenlosem Rechtsschutz. Diesen Zweck zu kennen, ist für die Auslegung der §§ 23ff EGGVG sehr wichtig. Das zuständige OLG (§ 25 Abs. 1 EGGVG) muss deswegen etwa den angefochtenen Justizverwaltungsakt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht voll nachprüfen, da nur so der Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG Genüge ge-tan wird.5

II.Antragsformen1) Wie §§ 23 Abs. 1, 2 27 Abs. 1 EGGVG zeigen, kann sowohl die An-fechtung von erfolgtem Handeln als auch die Verpflichtung zum Erlass eines beantragten und abgelehnten oder eines unterlassenen Justizver-waltungsakts begehrt werden.6 Normiert sind der Verpflichtungsantrag als Versagungsgegenantrag (§ 23 Abs. 2 EGGVG) und als Untätigkeits-antrag (§§ 23 Abs. 2 und 27 EGGVG) sowie der Anfechtungsantrag (§ 23 Abs. 1 EGGVG).2) Da die §§ 23-30 EGGVG umfassenden Rechtsschutz gewähren sollen, sind nach einer Ansicht zudem allgemeine Feststellungs- und Leistungs-anträge statthaft.7 Jedenfalls gegen den Feststellungsantrag spricht aber

2 KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.1.3 Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.6.4 BGH, NJW 1994, 1951.5 Vgl. grundlegend hierzu BVerfG, NJW 1970, 853.6 MüKoZPO/Pabst, Band 3, 4. Auflage 2013, § 23 EGGVG, Rn. 1.7 MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn. 13; VG Freiburg DVBl. 1965, 575.

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AusbIldung

• Die ordentlichen Gerichte in ihrer Funktion als Organ der Justiz-verwaltung24

• Der Gerichtsvollzieher iSd § 154 GVG25

• Rechtspfleger und Urkundsbeamte (§ 153 Abs. 1 GVG) als Organe der ordentlichen Gerichte26

• Je nach Aufgabe auch etwa die Landesregierung27 oder ein Minister28 • Die Staatsanwaltschaft, und zwar sowohl als Strafverfolgungsbehör-

de als auch in ihrer Funktion im gerichtlichen Verfahren und der Vollstreckung nach § 36 StPO oder der Vollstreckung als Behörde des Strafvollzugs29

• Die Polizei, soweit sie als Ermittlungsbehörde der Staatsanwaltschaft tätig wird oder eigenständig in Verfolgung strafbarer Handlungen tätig wird, wie etwa iRd § 127 StPO.30

• Wichtig ist, dass die Polizei nicht als Justizbehörde handelt, wenn sie präventiv tätig wird.31 Deshalb muss in verwaltungsrechtlichen Klausuren die Abgrenzung von präventiver und repressiver Tätigkeit der Polizei vorgenommen werden, da bei repressivem Tätigwerden eine abdrängende Sonderzuweisung zu den ordentlichen Gerichten nach § 23 Abs. 1 EGGVG vorliegt.

• Auch Finanzbehörden können bei Ermittlungstätigkeit Justizbehör-den iSd § 23 Abs. 1 EGGVG sein32

3) Handelt ein Mitarbeiter, kommt es für die Zurechnung seines Ver-haltens zur Justizbehörde darauf an, ob er zur Vertretung der Behörde nach außen befugt ist oder zumindest der Eindruck besteht, es handele die Behörde und sich diese nicht von ihrem Mitarbeiter distanziert.33

III. Nicht erfasste RechtsgebieteVor der Prüfung, ob eine Justizbehörde einen Justizverwaltungsakt er-ließ, sollte man sich vor Augen führen, welche (Rechts)Gebiete von den §§ 23ff EGGVG von vornherein nicht erfasst werden.1) Die §§ 23ff EGGVG gelten nicht für Akte der Rechtsprechung im funktionellen Sinne, die in richterlicher Unabhängigkeit ausgeübt wer-den.34 Dies ist vom Telos der Normen der §§ 23ff EGGVG auch folge-richtig – denn sie konkretisieren Art. 19 Abs. 4 GG, und dieser gewährt gerade keinen Rechtsschutz gegen Gerichte35. Alle rechtspflegerischen Akte des Gerichts scheiden folglich aus.36 Anders ist dies, wenn das Ge-richt „verwaltend“, also in seiner Funktion als Organ der Justizverwal-tung, handelt (siehe oben).Damit sind etwa die Versagung von Prozesskostenhilfe, die Beiord-nung eines Rechtsanwalts und die Wahl und Zuteilung der Schöffen37 ebenso wie Maßnahmen der Sitzungspolizei iSd § 176 GVG38 allesamt aus dem Anwendungsbereich der §§ 23ff EGGVG herausgenommen.2) Zudem gelten die §§ 23ff EGGVG nur für Justizverwaltungsakte in-nerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit, § 12 GVG.39 Alle anderen Ge-richtsbarkeiten, wie etwa die Arbeitsgerichtsbarkeit, scheiden damit aus. 3) Zu einer weiteren Einengung des Anwendungsbereichs führt die Tatsache, dass § 23 EGGVG als Ausnahme zu § 40 VwGO im Allge-meinen eng auszulegen ist.40

24 Dies umfasst die verwaltende Tätigkeit von Gerichten, insbesondere die Bereitstellung der materiellen und persönlichen Voraussetzungen für die Aufgaben der Rechtsprechung, also etwa Entlassung, Beförderung, Disziplinargewalt, Organisation des Dienstbetriebs; vgl. hierzu ausführlich Kissel/Mayer, § 12 GVG, Rn.85f.25 OLG Hamm, Beschluss vom 15.07.2010 - 15 VA 10/09.26 MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn.6.27 VG Stuttgart, NJW 1975, 1294.28 Vgl. etwa OLG Hamm, NStZ 1985, 566; OLG Hamburg, MDR 1982, 602.29 Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.17.30 Vgl. zu all dem ausführlich Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.18.31 BVerwG, NJW 1975, 893; OLG Bremen, NVwZ-RR 1997, 474.32 Vgl. hierzu KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn. 19. 33 MüKo ZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn.10.34 MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn. 5; Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.9f.35 BVerfG, NJW 1983, 2929.36 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO Kommentar, 74.Auflage 2016, § 23 EGGVG, Rn.1.37 Vgl. hierzu und zu weiteren Beispielen Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.10f.38 OLG Hamburg, MDR 1992, 799.39 KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.6.40 BGH, DGVZ 2013, 14; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 23 EGGVG, Rn.2.

die fehlende Normierung solcher Anträge und der Umkehrschluss zu § 43 Abs. 1 VwGO, da die der VwGO sonst so ähnlichen §§ 23ff EGGVG kei-nen allgemeinen Feststellungsantrag normieren.8 Ein Leistungsantrag kann nach hier vertretener Ansicht jedoch ausnahmsweise in Betracht kommen, sofern nur hierdurch lückenloser Rechtsschutz gewährt werden kann und dieser Antrag somit aufgrund des Art. 19 Abs. 4 GG notwendig ist.3) Soweit ausnahmsweise ein qualifiziertes Rechtschutzbedürfnis be-steht, kann mit dem Leistungsantrag wegen Art. 19 Abs. 4 GG auch ein vorbeugendes Unterlassungsbegehren geltend gemacht werden. 9

C. Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 EGGVGI. JustizverwaltungsaktEs muss sich zunächst um einen Justizverwaltungsakt handeln.1) Ein solcher ist gegeben, wenn eine Maßnahme zur Regelung einzel-ner Angelegenheiten vorliegt, wobei die Merkmale des § 35 VwVfG nicht erfüllt sein müssen.10 Demnach ist eine Maßnahme, von der le-diglich unmittelbare rechtliche Wirkung ausgeht, ausreichend.11 Dies führt dazu, dass selbst ein Realakt unter § 23 Abs. 1 EGGVG fallen kann.12

2) Folglich fallen etwa Auskünfte und Belehrungen, Hinweise auf das geltende Recht13, Stellungnahmen und Erklärungen14 oder ein zu den Akten der Staatsanwaltschaft genommener Vermerk der Polizei über das Verhalten einer Person15 nicht unter den Justizverwaltungsakt; von ihnen geht keine unmittelbare rechtliche Wirkung aus. 3) Umstritten ist der Rechtsschutz des Betroffenen gegen Pressein-formationen seitens des Gerichts über laufende Einzelverfahren. Die wohl herrschende Meinung bejaht den Rechtsweg der §§ 23ff EGGVG für Presseerklärungen sowie die Ablehnung derselben.16 Dafür spricht entscheidend, dass Presseerklärungen so eng mit dem entsprechen-den Verfahren zusammenhängen, dass sie gemäß des Telos der §§ 23ff EGGVG gerade von den ordentlichen Gerichten entschieden werden sollten.17

4) Auch ist der Presse bei Verweigerung einer Auskunft, also bei der Geltendmachung eines Informationsanspruchs, der Rechtsweg nach § 23 EGGVG eröffnet, die §§ 475, 478 StPO finden hier keine Anwen-dung.18

5) Weitere Beispiele für Justizverwaltungsakte:• Beantragung der Überlassung einer anonymisierten Urteilsablich-

tung zum Zwecke der Veröffentlichung19

• Entscheidungen über die Bestellung eines Zwangsverwalters20 oder eines Insolvenzverwalters21

• Akteneinsicht für Dritte, § 299 Abs. 2ZPO22

II. Justizbehörde1) Der Begriff der Justizbehörde ist im funktionellen Sinne zu verste-hen. Es kommt darauf an, ob eine staatliche Stelle (Behörde) einen Justizverwaltungsakt in einem der in § 23 Abs. 1 EGGVG genannten Bereiche erließ, und dass dieser Bereich der Behörde als spezifische Aufgabe bzw. Funktion zugewiesen ist.23

2) Demnach sind Justizbehörden vor allem:

8 Gegen die Statthaftigkeit beider Anträge: Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.13.9 OLG Hamm, NStZ-RR 1996, 209; aA Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.48.10 OLG Dresden, NJW 2000, 1503; MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn. 3.11 OLG Hamm NStZ 1984, 136; Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.26.12 Schenke, NJW 1976, 1816; MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn. 3.13 OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 183.14 Meyer-Goßner NStZ 1984, 425.15 OLG Stuttgart NStZ 2008, 359.16 OLG Stuttgart, NJW 2001, 3797; OLG Karlsruhe, NJW 1995, 899.17 Kissel/Mayer, § 12 GVG, Rn.129.18 Kissel/Mayer, § 12 GVG, Rn.130; OLG Hamm, NJW 1981, 356.19 OLG Celle, NJW 1990, 2570.20 BGH, NZM 2012, 695.21 BVerfG, NJW 2006, 2613; OLG Düsseldorf, NJW-RR 2007, 630.22 Saenger ZPO/Rathmann, 6.Auflage 2015, § 23 EGGVG, Rn.1.23 BGH, NZM 2012, 695; Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.14.

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AusbIldung

IV. Erfasste Rechtsgebiete und die Bedeutung des § 23 Abs. 3 EGGVG1) Bürgerliches Recht einschließlich des Handelsrechts, Zivilprozess-recht und freiwillige GerichtsbarkeitDiese zivilrechtlichen Gebiete sind denkbar weit. Besondere Relevanz hat hier deshalb § 23 Abs. 3 EGGVG, welcher die Subsidiarität des Rechtswegs nach §§ 23ff EGGVG normiert. Bei § 23 Abs. 3 EGGVG ist auch darauf zu achten, dass über den Wortlaut hinaus auch diejeni-gen Regelungen weiter Bestand haben, welche die Überprüfung einer bestimmten Maßnahme einem Rechtsweg außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuweisen.41

a) Als Beispiel für § 23 Abs. 3 EGGVG kann insbesondere § 766 ZPO dienen – denn Maßnahmen des Gerichtsvollziehers fallen unter den Begriff des Justizverwaltungsakts einer Justizbehörde. Doch existiert mit § 766 ZPO, sofern dieser anwendbar ist, ein vorrangiger Rechts-behelf.42

b) Auch für den Rechtsbehelf gegen Maßnahmen des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle würden die §§ 23ff EGGVG greifen, wenn nicht der vorrangige Rechtsbehelf des § 573 ZPO existierte.c) Weitere vorrangige Regelung iSd § 23 Abs. 3 EGGVG in diesen Rechtsgebieten sind43: § 11 RPflG, § 107 FamFG, § 111 BNotO, § 3 Abs. 3 HinterlO und § 30a EGGVG.

2) Gebiet der Strafrechtspflegea) Dieser Begriff ist grundsätzlich weit auszulegen. Er umfasst die Ermittlung und Erforschung strafbarer Handlungen sowie die Straf-verfahren einschließlich der Vollstreckung ebenso wie die hiermit in Zusammenhang stehenden Maßnahmen.44 Eigentlich zählt auch die Untersuchungshaft zur Strafrechtspflege, doch wurde diese Materie durch § 119a StPO (iVm § 23 Abs. 3 EGGVG) den §§ 23ff EGGVG entzogen.45 b) Besonders problematisch, insbesondere im Hinblick auf die Subsi-diarität des § 23 Abs. 3 EGGVG, sind Justizverwaltungsakte der Staats-anwaltschaft. Dies gilt insbesondere aufgrund des häufig anwendbaren § 98 Abs. 2 S.2 StPO (analog).aa) Vereinfacht dargestellt sind bei Grundrechtseingriffen durch Straf-verfolgungsmaßnahmen folgende Rechtsbehelfe gegeben46: • Gegen eine Durchsuchungsanordnung der Staatsanwaltschaft oder

einer ihrer Ermittlungspersonen iSd § 152 GVG findet § 98 Abs. 2 S. 2 StPO analoge Anwendung. § 98 Abs. 2 S. 2 StPO ist analog auch nach Vollzug der Durchsuchung, gleichgültig ob sie vom Staatsan-walt oder vom Richter angeordnet war, anwendbar; ebenso wenn sich der Betroffene gegen die Art und Weise der Durchführung der Maßnahme wendet.

• Ist eine richterliche Durchsuchungsanordnung noch nicht vollzogen oder dauert die Durchsuchung noch an, ist die Beschwerde gemäß § 304 StPO gegeben.

• Auch bei sonstigen Eingriffsmaßnahmen sind die §§ 23ff EGGVG regelmäßig vom Rechtsbehelf des § 98 Abs. 2 S. 2 StPO analog oder der Beschwerde gemäß § 304 StPO verdrängt47

bb) Maßnahmen, die das Ermittlungsverfahren betreffen, und zwar so-wohl dessen Einleitung, Ausgestaltung, Einstellung sowie die Erhebung der Klage sind allesamt nicht nach §§ 23ff EGGVG überprüfbar.48

cc) Mithin ist der Rechtsweg nach § 23 EGGVG bei Justizverwaltungs-

41 OLG Bremen MDR 1966, 867; OLG Hamm NJW 1966, 607.42 In der Klausur müsste streng genommen also zunächst § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO geprüft werden, dieser aufgrund der aufdrängenden Sonderzuweisung der §§ 23ff EGGVG abgelehnt werden, und dieser Rechtsbehelf wiederum aufgrund der Subsidiarität ausgeschlossen und von § 23 III EGGVG zu § 766 ZPO übergeleitet werden.43 Vgl. hierzu MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn. 11f.44 OVG Lüneburg NJW 1984, 940.45 KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn. 46 und Rn.111.46 Vgl. hierzu mit Nachweisen KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.31ff und Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.31ff.47 Etwa in den Fällen der §§ 111, 81a, 81c, 127 II, 163b, 163c StPO.48 Vgl. hierzu ausführlich KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.37ff.

akten der Staatsanwaltschaft nur selten eröffnet. Übrig bleiben die Vollstreckung gerichtlicher Anordnungen nach § 36 StPO49; auch bei Kompetenzen der Staatsanwaltschaft außerhalb der Strafverfolgung50 können die §§ 23ff EGGVG einschlägig sein51.dd) Für die Polizei, die bei repressivem Handeln ebenfalls Justizbehör-de sein kann (s.o.), gelten die für die Staatsanwaltschaft dargelegten Grundsätze52, so dass auch hier nur in Ausnahmefällen53 der Rechtsweg nach §§ 23ff EGGVG einschlägig sein kann.54

b) Erfasst von der Strafrechtspflege iSd § 23 Abs. 1 EGGVG sind hin-gegen die Führung des Bundeszentralregisters und des Erziehungsre-gisters.55 Der Rechtsweg der §§ 23ff EGGVG ist auch eröffnet wenn es um die Art und Weise der Vollstreckung der Unterbringung nach §§ 63ff StGB geht.56

c) Auch im Rahmen der Strafvollstreckung existieren meist vorrangige Regelungen wie zB § 92 JGG oder §§ 458, 459h, 460-462 StPO. Auch der Justizvollzug ist nicht von den §§ 23ff EGGVG umfasst, wie § 78a GVG und § 23 Abs. 1 S. 2 EGGVG zeigen. Erfasst aber sind aber die Frage der ärztlichen Versorgung im Rahmen der Strafvollstreckung und die Ablehnung des Wochenendvollzugs.57

d) Für gerichtlich verhängte Ordnungs-, Sicherungs-, Zwangs- und Erzwingungshaft gelten nach § 171 StVollzG die §§ 109ff StVollzG ent-sprechend, so dass auch hier gemäß § 23 Abs. 3 EGGVG der Rechtsweg der §§ 23ff EGGVG ausgeschlossen ist.58 Bei Verweigerung des Zutritts zu Justizgebäuden kraft Hausrechts ist der Verwaltungsrechtsweg ge-mäß § 40 Abs.1 VwGO gegeben.59

D.VerfahrenI. Antrag und Vorschaltverfahren, § 24 EGGVG1) Antraga) Entsprechend § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO genügt zur Bezeichnung des Antragsgegners die genaue Angabe des Antragsgegners. Antragsgegner ist die aufgrund des § 8 FamFG beteiligtenfähige Behörde und nicht deren Rechtsträger.60 Der Antrag muss substantiiert die Beschwer und die Maßnahme, die angefochten oder die begehrt wird, bzw. das fest-zustellende Rechtsverhältnis nennen.61 Wie im Verwaltungsrecht muss beim Verpflichtungsantrag nach § 23 Abs. 2 EGGVG dargelegt werden, dass ein Rechtsanspruch auf den Justizverwaltungsakt bestehen kann.62 Der Schriftform des § 26 Abs. 1 EGGVG ist Genüge getan, wenn der Schriftsatz die Person des Antragsstellers erkennen lässt, selbst unter-schreiben muss dieser nicht.63

b) Angriffsgegenstand ist grundsätzlich der ursprüngliche Akt der Jus-tizverwaltung. Wurde ein Vorschaltverfahren nach § 24 Abs. 2 EGGVG durchgeführt, so ist Angriffsgegenstand gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 VwGO analog der ursprüngliche Akt in der Gestalt, die er im Vorschaltverfah-ren angenommen hat. Enthält der Beschwerdebescheid oder ein sons-tig erlassender Zweitbescheid eine zusätzliche selbständige Beschwer, so ist dieser gemäß § 79 Abs. 2 VwGO analog separat anfechtbar.64

49 KG, GA 1978, 244.50 Hierzu Kissel/Mayer, § 141 GVG, Rn.19.51 Vgl. hierzu das Beispiel unten.52 Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.19.53 Vgl. als Beispiel etwa OVG Lüneburg, NJW 2012, 2057 betreffend eine polizeiliche Anordnung zur Sicherung einer als Tatort in Betracht kommenden Unfallstelle.54 Ist § 98 II 2 StPO (analog) gegeben, müsste in der Klausur eigentlich § 23 I EGGVG als abdrängende Sonderzuweisung von § 40 I 1 VwGO angesprochen, dann § 23 III EGGVG geprüft und als Rechtsbehelf schlussendlich § 98 II 2 StPO herangezogen werden.55 KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.45.56 OLG Hamburg, NStZ 1988, 242.57 Vgl. hierzu und zu weiteren Beispielen betreffend den Strafvollzug Kissel/Mayer, § 23 EGGVG, Rn.159ff.58 KK-StPO/Mayer, § 23 EGGVG, Rn. 46.59 Kissel/Mayer, § 13 GVG, Rn.374.60 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 23 EGGVG, Rn.9.61 Kissel/Mayer, § 24 EGGVG, Rn.1.62 Detailliert zu den Voraussetzungen der Rechtsbeeinträchtigung Kissel/Mayer, § 24 EGGVG, Rn.2ff.63 BGHZ 48, 88.64 MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn. 14.

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AusBilDung

c) Es besteht kein Anwaltszwang für den Antrag, auch eine Vertretung ist zulässig.65

2) VorschaltverfahrenDas Vorschaltverfahren nach § 24 Abs. 2 EGGVG ist eine von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeitsvoraussetzung, aber nur dann nötig, wenn eine Beschwerde oder ein anderer förmlicher Rechtsbehelf an anderer Stelle geregelt sind.66 „Beschwerde“ und „förmlicher Rechtsbe-helf “ sind weit auszulegen, so dass hierfür auch Verwaltungsvorschrif-ten genügen.67 Rechtsbehelfe nach § 24 Abs. 2 EGGVG sind etwa die Beschwerde nach § 21 StVollstrO68, ebenso wie die Beschwerde gemäß § 35 Abs. 2 BtMG.69 Der Antrag wird als unzulässig abgewiesen, wenn das notwendige Vorschaltverfahren nicht durchgeführt wurde.70

II. Frist und Wiedereinsetzung, § 26 EGGVG1) Die Frist des § 26 Abs. 1 EGGVG gilt nur bei einem Antrag auf Aufhebung eines erlassenen oder auf Erlass eines abgelehnten Justiz-verwaltungsakts. Im Falle der Untätigkeit gilt § 27 Abs. 3 EGGVG.71 Die Fristberechnung richtet sich nach §§ 222 ZPO, 16 Abs. 2 FamFG, 186ff BGB, der Tag des fristauslösenden Ereignisses zählt nicht mit.72 Bei nur mündlichen Bescheiden oder mündlichen Bekanntgaben eines schriftlichen Bescheids laufen keine Fristen.73 Für eine dann eventuell zu prüfende Verwirkung bietet die Jahresfrist des § 27 Abs. 3 EGG-VG einen Anhaltspunkt bezüglich des Zeitmoments.74 Eine fehlende Rechtsmittelbelehrung ändert anders als im Verwaltungsprozessrecht75 am Fristbeginn nichts, ist jedoch als Wiedereinsetzungsgrund iSd § 26 Abs. 2 EGGVG relevant.76 2) Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist in § 26 Abs. 2- 4EGG-VG geregelt. Diese Regelungen ähneln stark § 60 Abs. 1 - 3 VwGO, zur Auslegung der Norm sind die dort entwickelten Grundsätze heranzu-ziehen77, so dass auf die entsprechende Literatur hierzu verwiesen sei78.

III. Zuständigkeit, § 25 EGGVGSachlich zuständig ist das OLG. Die Norm des § 25 EGGVG begrün-det einen ausschließlichen Gerichtsstand.79 Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach dem Bezirk der erlassenden Justizbehörde (§ 25 Abs. 1 S. 1 EGGVG) oder der Beschwerdebehörde (§ 25 Abs. 1 S. 2 EGGVG). § 25 Abs. 2 EGGVG enthält eine Konzentrationsermächtigung.80

IV. Entscheidung über den Antrag, § 28 EGGVG1) Eine inhaltliche Entscheidung nach § 28 EGGVG ergeht nur dann, wenn der Antrag nicht schon aufgrund der §§ 23 Abs. 3, 24, 26, 27 EGGVG als unzulässig zurückzuweisen bzw. zu verwerfen ist.81 Auch wenn der Rechtsweg unzulässig ist, ist die Sache entsprechend § 17a Abs. 2 GVG von Amts wegen an das zuständige Gericht zu verweisen82, ohne dass eine inhaltliche Entscheidung des OLG erfolgt.2) Bei Ermessensentscheidungen ist das Gericht auf die Prüfung der Einhaltung der Ermessensgrenzen und des Ermessensmissbrauchs be-

65 Kissel/Mayer, § 26 EGGVG, Rn.25.66 MüKoZPO/Pabst, § 24 EGGVG, Rn. 7.67 KK-StPO/Mayer, § 24 EGGVG, Rn.6.68 OLG Hamm NStZ 1988, 380.69 OLG München NStZ 1993, 455.70 MüKoZPO/Pabst, § 24 EGGVG, Rn.7.71 OLG Frankfurt, FamRZ 2008, 2233.72 Kissel/Mayer, § 26 EGGVG, Rn.2.73 KG, GA 1976, 342f.74 Ebenso OLG Frankfurt, NStZ-RR 2005, 220f.75 Vgl. den Wortlaut des § 58 I VwGO.76 Kissel/Mayer, § 26 EGGVG, Rn.8f.77 Kissel/Mayer, § 26 EGGVG, Rn.10.78 Vgl. Schoch/Schneider/Bier/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung 29. EL Oktober 2015, § 60 VwGO, Rn. 13ff.79 Kissel/Mayer, § 25 EGGVG, Rn.1.80 Kissel/Mayer, § 25 EGGVG, Rn.3.81 Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.1.82 MüKoZPO/Pabst, § 23 EGGVG, Rn. 2.

schränkt, § 28 Abs. 3 EGGVG. Die Überprüfung der Ermessensent-scheidung erfolgt entsprechend § 114 VwGO; zu beachten ist auch, dass unbestimmte Rechtsbegriffe anders als Ermessensentscheidungen voll überprüfbar sind.83

Auch bezüglich der Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen kann auf die verwaltungsgerichtlichen Kenntnisse zurückgegriffen werden, insbesondere darf der Justizverwaltungsakt durch das Nachschieben von Gründen nicht in seinem Wesen geändert werden.84

4) Zu beachten ist auch der Annexantrag auf Folgenbeseitigung gemäß § 28 Abs. 1.S. 2 EGGVG, der ebenso wie § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO aufge-baut ist. Hierbei sind die Anforderungen des § 28 Abs. 1 S. 3 EGGVG zu beachten.4) Es bestehen folgende Entscheidungsmöglichkeiten:• Aufhebung der Maßnahme, § 28 Abs 1 S. 1 EGGVG und ggf. Anord-

nung der Folgenbeseitigung, § 28 Abs. 1 S. 2 EGGVG• Feststellung der Rechtswidrigkeit bei erledigten Maßnahmen, § 28

Abs. 1 S.4 EGGVG (dazu unten)• Verpflichtung zur Vornahme einer Maßnahme, § 28 Abs. 2 S. 1

EGGVG• Verpflichtung zur Bescheidung, § 28 Abs. 2 S. 2 EGGVG85

• Zurückweisung des Antrags bei rechtmäßiger Maßnahme86

5) Die Entscheidung des OLG ist der inneren Rechtskraft gemäß §§ 322, 329 ZPO fähig.87

V. Fortsetzungsfeststellungsantrag, § 28 Abs. 1 S.4 EGGVG1) Ähnlich der Fortsetzungsfeststellungsklage im Verwaltungsrecht nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO regelt § 28 Abs. 1 S.4 EGGVG den An-trag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit, wenn sich die Maßnahme vor der Entscheidung erledigt hat; auch hier ist der Antrag sowohl bei Erledigung nach Antragsstellung als auch bei Erledigung vor Antrags-stellung möglich, was aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt.88

2) Neben der Rücknahme kommen als Erledigung zudem Zeitablauf, Rechtsänderung, Ersetzung der Maßnahme durch eine andere eben-so wie eine Entscheidung der Justizbehörde während einer nach § 27 Abs. 2 EGGVG gesetzten Frist in Betracht.89

3) Der Antrag nach § 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG ist ebenfalls zulässig, wenn die Folgen der Vollziehung des Justizverwaltungsakts nicht mehr rück-gängig gemacht werden können, dies steht einer Erledigung gleich.90 Wenn die Folgenbeseitigung endgültig unmöglich ist, bleibt die Amts-haftungsklage nach § 839 BGB iVm Art. 34 GG.91

4) Als Zulässigkeitsvoraussetzung muss ein berechtigtes Feststellungs-interesse vorliegen. Dieses kommt insbesondere bei Wiederholungs-gefahr, Rehabilitationsinteresse, tiefgreifenden Grundrechtseingriffen und der Vorbereitung von Amtshaftungsprozessen (dies jedoch nur so-fern sich die Maßnahme nach Antragsstellung erledigte) in Betracht.92 Diese Fallgruppen entsprechen denjenigen des § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO, so dass für Einzelheiten auf die dazu einschlägige Literatur93 verwiesen werden kann.

VI. Einstweiliger Rechtsschutz1) Der Antrag nach § 23 EGGVG hat anders als Widerspruch und An-fechtungsklage im Verwaltungsprozessrecht (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO)

83 Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.2ff.84 Ausführlich hierzu KK-StPO/Mayer, § 28 EGGVG, Rn. 8.85 Wobei das Gericht bei gesetzesgebundenen Akten die Spruchreife durch tatsächliche und rechtliche Aufklärung selbst herbeiführen muss, vgl. KK-StPO/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.22.86 Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.12.87 BGH, NJW 1994, 1951.88 Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.16.89 MüKoZPO/Pabst, § 28 EGGVG, Rn. 9.90 KG, NJW-RR 1991, 1085. 91 Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.15.92 Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.18f.93 Lesenswert Schoch/Schneider/Bier/Gerhardt, § 113 VwGO, Rn. 91ff.

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AusbIldung

keine aufschiebende Wirkung.94 Die ganz herrschende Meinung lässt aber in Analogie zu § 64 Abs. 3 FamFG zu, dass das Gericht die Vollzie-hung einer Maßnahme aussetzen kann, wenn die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird und kein höheres Interesse am sofortigen Vollzug besteht.95

2) Obwohl die §§ 23ff EGGVG ebenso wenig den Erlass einer einst-weiligen Anordnung regeln, wird wegen Art. 19 Abs. 4 GG auch dies zugelassen, sofern unzumutbare Nachteile drohen und die Hauptsache nicht vorweggenommen wird.96

VII. Rechtsmittel, § 29 EGGVGGegen den Beschluss des OLG ist die Rechtsbeschwerde zum BGH97 zulässig, wenn diese im ersten Rechtszug zugelassen wurde (Zulas-sungsrechtsbeschwerde). Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist, anders als etwa in § 124a Abs. 4 VwGO, nicht vorgesehen.98 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie Form und Frist der Rechtsbeschwerde rich-ten sich nach § 29 Abs. 3 EGGVG iVm §§ 17, 71 ff FamFG.

F. Abschließender Beispielsfall99

Fall: Gegen A wurde wegen des Verdachts einer Straftat ermittelt, das Verfahren dann aber gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Darauf-hin stellte A den Antrag, das Verfahren aus dem staatsanwaltschaftli-chen Verfahrensregister zu löschen. Die Staatsanwaltschaft teilte dem

94 Kissel/Mayer, § 24 EGGVG, Rn.10; MüKoZPO/Pabst, § 24 EGGVG, Rn. 13.95 MüKoZPO/Pabst, § 24 EGGVG, Rn. 13; Kissel/Mayer, § 28 EGGVG, Rn.24.96 OLG Karlsruhe, NStZ 1994, 142ff; OLG Hamm, NStZ-RR 1996, 209.97 Dass der BGH zuständig ist ergibt sich aus § 29 III EGGVG iVm §§ 70ff FamFG iVm § 133 GVG.98 BGH, StraFo 2011, 319.99 Nach OLG Frankfurt, NStZ-RR 2010, 350.

A per Bescheid mit, dass der erhobene Tatvorwurf gelöscht ist, aber die Speicherung seiner persönlichen Daten und der Verfahrensdaten (Name, Tatzeit, Einstellung und Aufbewahrungsdatum) zum Zwecke der Vorgangsverwaltung erforderlich seien; was zutreffend ist. A will nun gegen den Bescheid vorgehen und die Löschung all seiner Daten erzwingen, er habe ein Recht auf Schutz seiner persönlichen Daten. Hat ein form- und fristgerechter gerichtlicher Antrag beim örtlich zustän-digen OLG Aussicht auf Erfolg? Auf die §§ 483ff StPO sei hingewiesen.

Lösung:I. Der Antrag müsste zulässig sein. Statthaft ist der Rechtsbehelf nach den §§ 23ff EGGVG, es handelt sich nach den oben dargelegten Grundsätzen um einen Justizverwaltungs-akt der Staatsanwaltschaft auf dem Gebiet der Strafrechtspflege; so dass der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO nicht eröffnet ist. Auch liegt mangels vorrangigem Rechtsbehelf keine Subsidiarität ge-mäß § 23 Abs. 3 EGGVG vor. A legt auch gemäß § 24 Abs. 1 EGG-VG substantiiert dar, in eigenen Rechten verletzt zu sein; ein Recht auf Löschung kann sich aus § 489 Abs. 2 StPO und dem Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1GG, ergeben. Ein Vorschaltverfahren nach § 24 Abs. 2 EGGVG ist hier nicht vorgesehen. Form und Frist wurden eingehalten. Das OLG ist auch sachlich zustän-dig, § 25 Abs. 1 EGGVG. Der Antrag ist somit zulässig.II. Der Antrag müsste zudem begründet sein.Das Recht des A auf Löschung der Daten ergibt sich aus § 489 Abs. 2 StPO. Doch ist die Speicherung laut Sachverhalt erforderlich iSd § 485 S.1 StPO, so dass Recht auf Löschung nicht besteht.III. Der Antrag ist mithin zulässig aber unbegründet und wird damit zurückgewiesen.

Wohnungseinbruchdiebstahl – Möglichkeiten und Grenzen kriminalpräventiver Handhabung

von Lorenz Bode

Herr Dipl.-Jur. Lorenz Bode ist wissenschaftliche Hilfskraft und Doktorand am Lehrstuhl für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug von Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg-Martin Jehle.

A. Thematischer AufrissRegelmäßig okkupieren mediale Negativberichte über steigende „Einbruchszahlen“ die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. So titelte jüngst die überregionale Tageszeitung „Die Welt“: „Zahl der Woh-nungseinbrüche steigt stark an. Einbrüche werden in Deutschland immer mehr zum Problem.“1 Ausdruck findet dies in wachsender Kriminalitätsfurcht und einem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis innerhalb der Bevölkerung.2 Ein europäischer Vergleich zeigt, dass die beträchtliche Zunahme von Wohnungseinbruchdiebstählen (WED) keinesfalls ein rein deutsches Problem darstellt. So steigen die Fallzahlen des „domestic burglary“3 in Europa gemeinhin stark an: Niederlande 19 %, Frankreich 23 %, Spanien 32 % oder Schwe-

1 Die Welt, http://www.welt.de/politik/deutschland/article139137127/Zahl-der- Wohnungseinbrueche-steigt-stark-an.html, konsultiert am 06.10.2015.2 Schramm, Kriminalistik 11/2014, 657, 664.3 Einschränkend ist festzuhalten, dass landesspezifische Unterschiede in Bezug auf die jeweilige Deliktsstruktur des „domestic burglary“ bestehen.

den 32 % (Veränderung in den Jahren 2007-2011).4 Allzu schnell wird im Rahmen dieser Gemengelage das Verlangen nach härteren Strafen und strafrechtlicher Sanktion laut. Dies lässt indes unbe-rücksichtigt, dass sich die reine Reaktion auf Straftaten und ihre Repression durch Polizei und Strafjustiz allein als nicht ausreichend erwiesen haben.5 Straftaten sind stets eingebettet in ihren sozialen Kontext, weshalb diesen durch flankierende Maßnahmen nach der Idee der Kriminalprävention zu begegnen ist.

B. „Einbruch“ – Begriffliche KlärungenWill man sich mit dem Thema des „Einbruchs“ näher befassen, so bedarf es zunächst einer Annäherung an die Frage, was unter einem „Wohnungseinbruch“ zu verstehen ist. Die Antwort liefert insoweit das StGB, das in § 244 Abs. 1 Nr. 3 den „Wohnungseinbruchdieb-stahl“ unter Strafe stellt und den Wohnungseinbruchdiebstahl – seit dem 6. StrRG – als qualifizierten Diebstahl einstuft.6 Vorausgesetzt ist demnach, dass ein Diebstahl begangen wird, bei dem der Tä-ter „zur Ausführung der Tat in eine Wohnung einbricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ord-nungsgemäßen Öffnung bestimmten Werkzeug eindringt oder sich in der Wohnung verborgen hält“. Der Gesetzgeber nimmt in

4 Aebi et al., European Sourcebook of crime and criminal justice, 2014, S. 49.5 Jehle, in: ders., Kriminalprävention und Strafjustiz, 1996, S. 11, 12.6 Krey/Hellmann/Heinrich, StrafR BT II, § 1 Rn. 136.

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AusbIldung

§  244  Abs.  1  Nr.  3 StGB damit eine Unterscheidung in verschie-dene kriminologische Varianten des „Wohnungseinbruchs“ vor. Mit der „klassischen“ Begehungsmodalität des „Einbrechens“ ist ein gewaltsames Öffnen von Umschließungen verbunden, die ein tatsächliches Hindernis bilden und insoweit dem Eintritt in den umschlossenen Raum entgegenstehen.7 Der Wohnungsbegriff un-terliegt bei normsystematischem Vergleich zum Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) einer strengeren Auslegung. So wird die Wohnung als Räumlichkeit definiert, die Menschen dauerhaft nutzen, wobei sie dabei nicht vorrangig als Arbeitsort dienen darf.8 Die Strafschär-fung gegenüber dem besonders schweren Fall des Diebstahls gem. §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB ist vor diesem Hintergrund damit zu erklären, dass der Täter in die Intimsphäre des Opfers ein-dringt und die Gefahr des Aufeinandertreffens von Täter und Opfer erhöht wird. Gerade die Verletzung des häuslichen Schutzbereichs der privaten Lebensentfaltung ist also Kennzeichen des Wohnungs-einbruchdiebstahls und für § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB als prägendes Element einzustufen.9

C. Wie hilflos sind wir wirklich? – Juristische ImplikationenDie tatsächliche Wirksamkeit präventiver Maßnahmen zur Krimi-nalitätsbekämpfung abstrakt festzustellen, erweist sich als schwie-rig. So wäre zunächst fraglich, anhand welcher Kriterien diese messbar zu machen sind. Eine alleinige Beurteilung von Fallzah-len kann hierbei wohl nicht ausreichend sein. Als Anhaltspunkt für eine gemeinhin positive Wirkung von Präventionsmaßnahmen spricht dennoch, dass sich trotz gestiegener Fallzahlen ein hoher Versuchsanteil bei Wohnungseinbruchdiebstählen (2014: 41,4 %, 2013: 40,2 %, 2012: 39,1 %, 1993: 28,3 %)10 messen lässt. Ferner ist auffällig, dass insbesondere „aktive, prädeliktische, auf Verhinde-rung der Tatbegehung abzielende Maßnahmen“11 im Bereich der situationsbezogenen Prävention bei Studienauswertungen über-wiegen.12 Die sich bietenden Potentiale bei der Prävention von WED sollen nunmehr aufgezeigt und einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Besteht die Notwendigkeit, neue Maßnahmen zu implementieren? Wie weit reicht die generalpräventive Wirkung der betreffenden Strafnormen? Vor diesem Hintergrund soll unter anderem auf den Gesetzesänderungsvorschlag zu § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB eingegangen und gleichfalls ein eigener Novellierungsansatz dargestellt werden.

I. Prävention durch Strafrecht – Reformbestrebungen zu § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGBAls Vorschlag zur Verhinderung eines weiteren Anstiegs der Fall-zahlen im Rahmen des WED wurde vom Bundesland Bayern eine Gesetzesänderung zu § 244 StGB gefordert. Die bayerische Geset-zesinitiative sieht insbesondere vor, dass künftig Einbruchdiebstäh-le nicht mehr als minderschwere Fälle bestraft werden können.13 Die Bedeutung der generalpräventiven Wirkung als Ansatz zur Verhütung von WED erscheint im Hinblick auf die angeführten Auswertungen indes fraglich.14 Zwar ist in Deutschland traditio-nell zu beobachten, dass die Reaktion auf Kriminalität einen eher legislativen Charakter hat: So wurden im letzten Jahrzehnt zahlrei-

7 Rengier, StrafR BT I, § 3 Rn. 13; Lackner/Kühl, StrafR BT I, § 243 Rn. 10.8 Joecks, StGB Kommentar, 2012, § 244 Rn. 41.9 Vgl. Kindhäuser, StGB Kommentar, 2014, § 244 Rn. 40.10 Vgl. BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik der BRD, Jahrbuch 2014, 2013, 2012, 1993.11 Meier, Kriminologie, 2010, S. 270.12 Vgl. Hepp/Schürmann, Forum Kriminalprävention 04/2014, 18, 18-20; Dreißigacker/Wollinger/ Bartsch/Baier, Forum Kriminalprävention 02/2015, 58, 60-63; Dreißigacker/Baier/Wollinger/ Bartsch, Kriminalistik 05/2015, 307, 310; s. auch Christiani/Schmidt, Kriminalistik 07/2013, 478, 478-479.13 Freistaat Bayern, http://www.bundesrat.de/SharedDocs/TO/931/erl/ 3.pdf?__blob=publicationFile&v=1, konsultiert am 14.10.2015.14 Vgl. Kury/Obergfell-Fuchs, FS Schwind, 2006, S. 1021, 1041.

che neue Straftatbestände, reduzierte Strafbarkeitsvoraussetzungen oder erhöhte Strafrahmen geschaffen.15 Jedoch entfalten Kriminal-repressionen16 in Form von Strafvorschriften und Strafandrohun-gen für sich genommen regelmäßig keine ausreichende präventive Abschreckungswirkung. Die typischen Tätergruppen eines WED lassen sich kaum durch hohe Strafandrohungen oder Gefängni-saufenthalte vom Einbruch abhalten.17 Den Tätern ist dabei der Strafrahmen sogar häufig unbekannt; oftmals sind sie als Wieder-holungstäter trotz einschlägiger Vorstrafen erneut straffällig gewor-den.18 Ferner lässt sich de lege lata feststellen, dass der vorhandene Strafrahmen zu § 244 StGB durch die Gerichte oftmals kaum ausge-schöpft wird.19 Eine Reform des § 244 Abs. 3 StGB würde daher die eigentlichen Adressaten kaum erreichen und ferner nicht ernsthaft zu einer veränderten Praxis bei der Gesetzesanwendung beitragen. Darüber hinaus besteht ein starkes Gefälle von Anfangsfällen hin zu einer sehr geringen tatsächlichen Aburteilungsquote („Trichter-modell“ der Strafverfolgung20). Auch dieser Umstand belegt, dass das eigentliche Präventionsdefizit nicht in einer unzureichenden Gesetzeslage, sondern vielmehr in der wenig konsequenten prakti-schen Anwendung des § 244 StGB liegt.21 Es herrscht eine geringe Aufklärungsquote vor. Von den ermittelten Tatverdächtigen werden nur wenige verurteilt.22 Demgegenüber sind die tatsächliche Auf-klärungsrate sowie die Entdeckungswahrscheinlichkeit ausschlag-gebend, ob der Täter einen Einbruch begeht oder sich durch die drohende Bestrafung davon abschrecken lässt.23 Eine Verschärfung des § 244 Abs. 3 StGB erscheint jedenfalls als Einzelmaßnahme zu kurz gegriffen und vermag weitere kriminalpräventive Maßnahmen keinesfalls zu ersetzen. Die Reformbestrebungen zu § 244 Abs.1 Nr. 3 StGB sind daher vor dem Hintergrund der ausgewerteten Studien für sich genommen als nicht hinreichend wirksam abzulehnen und in jedem Fall ergänzungsbedürftig.

II. Von privaten Sicherheitsdiensten und BürgerwehrenIm Bereich der situationsbezogenen Präventionsmöglichkeiten können sowohl die Einschaltung privater Sicherheitsdienste als auch eigene nachbarschaftliche Zusammenschlüsse (sog. Bürger-wehr) zur Verbrechensbekämpfung herangezogen werden. So enga-gieren nicht zuletzt die Kommunen selbst private Sicherheitsunter-nehmen, um Objekte oder Gelände zu bewachen. Hierbei erscheint fraglich, ob diese Maßnahmen, welche regelmäßig eine Kollision der Aufgaben privater Sicherheitsdienste mit den Hoheitsrechten des Staates bedeuten, tatsächlich als taugliche Präventionsansät-ze dienen können. Es bestehen in rechtlicher Hinsicht Bedenken, ob die notwendige demokratische Legitimation für ein Tätigwer-den in Bereichen der öffentlichen Gefahrenabwehr gegeben ist. Aus Art.  20  Abs.  2  S.  1  GG folgt, dass alle Staatsgewalt vom Vol-ke ausgeht, also alle staatlichen Handlungen und Entscheidungen auf das Volk zurückgeführt werden müssen. Dieser Zurechnungs-zusammenhang zwischen staatlicher Herrschaft und Volk wird durch eine ununterbrochene Legitimationskette hergestellt. Die demokratische Legitimation stellt somit ein Bindeglied dar und

15 Steffen, FS Schwind, 2006, S. 1141, 1150.16 Vgl. Ostendorf, ZRP 2001, 151.17 Vgl. DFK, Wirksamkeit technischer Einbruchsprävention bei Wohn- und Geschäftsobjekten, Kurzfassung des Projektberichts, 2004, S. 13, 17, 26; KFN, Wohnungseinbruch: Tat und Folgen, Forschungsbericht Nr. 124, 2014, S. 76-78.18 DFK, Wirksamkeit technischer Einbruchsprävention bei Wohn- und Geschäftsobjekten, Kurzfassung des Projektberichts, 2004, S. 17.19 Vgl. Kawelovski, Kriminalistik 12/2012, 739, 741-742.20 Jehle, Strafrechtspflege in Deutschland, 2015, S. 9.21 Vgl. Kawelovski, Kriminalistik 12/2012, 739, 741-743.22 Bartsch/Dreißigacker/Blauert/Baier, Kriminalistik 8-9/2014, 483, 485; so auch Dreißigacker/Baier Wollinger/Bartsch, Kriminalistik 05/2015, 307, 308-309.23 Vgl. DFK, Wirksamkeit technischer Einbruchsprävention bei Wohn- und Geschäftsobjekten, Kurzfassung des Projektberichts, 2004, S. 18, 28.

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kann auf verschiedene Weisen geschaffen werden. Notwendig ist letztlich, dass sowohl in sachlicher als auch personeller Hinsicht ein gewisses Legitimationsniveau gewährleistet ist. Die personelle Legitimation setzt voraus, dass die Bestellung einer für den Staat handelnden Person auf eine ununterbrochene Entscheidungskette zurückgeht, die ihrerseits beim Volk beginnt.24 Sachliche Legiti-mation dient demgegenüber dazu, die Ausübung von Staatsgewalt durch die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG genannten Organe inhaltlich auf den Willen des Volkes zurückzuführen.25 Dazu trägt in erster Linie die Gesetzesbindung der staatlichen Organe gemäß Art. 20 Abs. 3 GG bei. Bei der Ersetzung von Polizeipräsenz und Durchführung polizeilicher Maßnahmen durch private Gruppen ist der Bereich der öffentlichen Gefahrenabwehr berührt. Dabei handelt es sich um staatlich monopolisierte Ordnungs- und Vollstreckungsgewalt (Art. 20 Abs. 3 GG). Wird diese Gewalt nun von Privaten ausgeübt, droht ein Legitimationsdefizit zu entstehen. Weder sind die handelnden Privatpersonen unmittelbar oder mittelbar personell legitimiert, noch kommt ihnen – mangels Rückführbarkeit der zu treffenden Entscheidungen auf den Volkswillen – eine sachliche Legitimation zu. Insoweit verwundert es nicht, dass gemäß Art. 33 Abs. 4 GG „die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse (…) als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen“ ist. Gleichwohl wird man berücksichtigen müssen, dass eine Über-tragung von hoheitlichen Aufgaben nicht grundsätzlich unzulässig ist. Art. 33 Abs. 4 GG verlangt dies seinem Wortlaut nach lediglich „in der Regel“ und stellt so zugleich klar, dass es auch Ausnahmen geben darf. Regelfall soll dennoch die Ausübung durch Beamte (sog. echte Amtswalter) bleiben.26 Im Wege praktischer Konkordanz mit der von Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG regelmäßig geforderten demokra-tischen Legitimation ist die mit Art.  33  Abs.  4 GG grundsätzlich mögliche Beleihung letztlich dahingehend zu begrenzen, dass die Übertragung genuin staatlicher Aufgaben auf Private unzulässig ist. Zu diesen genuin staatlichen Aufgaben zählt auch die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols in Form der polizeilichen Gefahrenab-wehr. Die Polizei darf nicht von ihren hoheitlichen Aufgaben und Pflichten im Rahmen der Gefahrenabwehr entbunden werden. Eine weitgehende Überantwortung der Bekämpfung von Wohnungsein-bruchdiebstählen an private Sicherheitsdienste und Bürgerwehren ist mit dem Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG damit kaum zu vereinbaren. Dieses Ergebnis wird bestätigt durch einen Vergleich zu § 34a GewO, wonach sogar für Sicherheitsbedienste-te mit begrenzten Befugnissen (z.B. Ausübung des Hausrechts für den Auftraggeber) eine besondere Sachkundeprüfung erforderlich ist. Der Befugnis zur Ausübung von sicherheitsrelevanten Tätigkei-ten sind enge Grenzen gesetzt; ferner ist die Ausübung hoheitlicher Rechte von vornherein ausgeschlossen.27 Die in § 34a GewO gesetz-lich festgeschriebene präventiv staatliche Einwirkungsmöglichkeit in Form der Sachkundeprüfung besteht insbesondere bei Bürger-wehren nicht. Nicht zuletzt aus diesem Grund wäre die Tätigkeit Privater in Bezug auf ihre Eingriffsrechte gegenüber anderen Bür-gern mit erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden; auch sind dabei notwendige Kriterien wie Objektivität und Neutralität wohl in der Praxis schwer sicherzustellen.28 Dass der Schutz von Leib, Le-ben und Eigentum der Bürger aufgrund eines Verbrechensphäno-mens durch Private sichergestellt wird, ist somit schwer vorstellbar. Auf die Gefahr einer faktischen Umgehung des Verbots der Über-

24 Vgl. BVerfG 130, 76, 124.25 Vgl. Grzeszick, Art. 20 GG, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 2015, Rn. 122.26 Vgl. BVerfG, Urteil vom 18. Januar 2012: „Privatisierung des Maßregelvollzugs“, 2 BvR 133/10.27 Marcks, § 34a, in: Landmann/Rohmer, Kommentar GewO, 2014, Rn. 12.28 Braun, Private Sicherheitsdienste 2012, http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/ innere-sicherheit/76663/privatesicherheitsdienste?p=all, konsultiert am 14.10.2015.

tragung genuin staatlicher Aufgaben z.B. durch sog. Teilzeitbe-dienstete juristischer Personen des öffentlichen Rechts oder durch Hilfstätigkeiten im Wege einer sog. „Police-Public-Partnership“ sei hingewiesen. Überdies würde in der Praxis eine solche Handhabung wohl zu einer Privilegierung finanziell Bessergestellter führen und so das Vertrauen in die staatlichen Sicherheitsorgane nachträglich schädigen. Gerade die Kosten für private Sicherheitsdienste kön-nen durchaus einen beträchtlichen Umfang erreichen und wären von Geringverdienern kaum aufzubringen. Es bleibt somit festzu-halten, dass private Sicherheitsdienste und Bürgerwehren nicht nur verfassungsrechtliche Zweifel aufwerfen, sondern auch ein Gerech-tigkeitsdefizit mit sich bringen. Keinesfalls dürfen private Bestre-bungen zum Abbau von Polizeipräsenzen im kommunalen Raum führen.

III. Vorschlag zur Novellierung des § 44 NBauOEs spricht vieles dafür, die Anstrengungen im Kampf gegen Woh-nungseinbruchsdiebstahl auf die situationsbezogene Prävention zu konzentrieren und insoweit auf der sekundären Ebene für technische Verbesserungen zu sorgen.29 Der – flexible und wenig zeitintensive – Einbau von Sicherheitstechnik ist vor diesem Hintergrund als effizi-enteste Methode zur Steigerung der Einbruchsicherheit einzustufen.30 Da nach den bisherigen Erfahrungswerten31 nicht davon auszugehen ist, dass alle betroffenen Hauseigentümer und -mieter freiwillig für die notwendigen Investitionen sorgen werden, sollte die Ausstattung der gefährdeten Objekte mit technischen Einbruchssicherungen verpflich-tend eingeführt werden. Es bietet sich insoweit die Implementierung einer „Sicherheitsplakette“ an, wie sie bereits in den Projekten Netz-werk „Zuhause sicher“ und „Veilig Wonen“ Niederschlag gefunden hat.32 Beide – auf freiwillige Mitwirkung ausgerichtete – Projekte ha-ben durch die Einführung einer Sicherheitsplakette merklich zur Re-duktion des Einbruchsrisikos beigetragen, sollten in Deutschland aber auch gesetzlich als verbindlicher Mindeststandard festgeschrieben werden. Das Baurecht, das die Anforderungen an die Errichtung von Bauvorhaben bestimmt, erscheint dabei als der maßgebliche Anknüp-fungspunkt. Gerade die Vorschriften des Bauordnungsrechts schaffen durch die darin enthaltenen Gebote und Regelungen ein breites Spek-trum an Möglichkeiten zur Förderung kriminalpräventiver Zwecke.33 Vor diesem Hintergrund ließe sich die Pflicht zur Erteilung von Si-cherheitsplaketten in der jeweiligen Landesbauordnung festschreiben. Nach Maßgabe der Niedersächsischen Bauordnung (NBauO) wäre der sechste Teil, der nutzungsbedingte Anforderungen an bauliche Anlagen regelt, in den Blick zu nehmen. § 44 NBauO konkretisiert diese bauordnungsrechtlichen Anforderungen für Wohnungen und enthält in § 44 Abs. 5 NBauO Vorschriften zum Brandschutz. In insge-samt fünf Sätzen wird die Pflicht zur Installation von Rauchwarnmel-dern samt der damit verbundenen Einzelheiten gesetzlich verankert.

§ 44 Abs. 5 NBauO lautet in seiner derzeitigen Fassung wie folgt:(5) 1 In Wohnungen müssen Schlafräume und Kinderzimmer sowie Flu-re, über die Rettungswege von Aufenthaltsräumen führen, jeweils min-destens einen Rauchwarnmelder haben. 2 Die Rauchwarnmelder müssen so eingebaut oder angebracht und betrieben werden, dass Brandrauch frühzeitig erkannt und gemeldet wird. 3 In Wohnungen, die bis zum 31. Oktober 2012 errichtet oder genehmigt sind, hat die Eigentümerin oder

29 Vgl. Lösel, in: Schöch/Jehle (Hrsg.), Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit, 2004, S. 175, 187; s. auch Hackemack, Forum Kriminalprävention 04/2014, 27, 30; vgl. FN. 11.30 Vgl. Dreißigacker/Baier/Wollinger/Bartsch, Kriminalistik 05/2015, 307, 310.31 Vgl. KFN, Wohnungseinbruch: Tat und Folgen, Forschungsbericht Nr. 124, 2014, S. 65.32 Vgl. Hackemack, Forum Kriminalprävention 04/2014, 27, 30; s. auch Kohl, Kriminalistik 11/2000, 752, 754; Politiekeurmerk Veilig Wonen, http://www.politiekeurmerk.nl/keurmerk/ over-het-keurmerk/, konsultiert am 14.10.2015.33 Vgl. Kube, FS Schwind, 2006, S. 1009, 1018.

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der Eigentümer die Räume und Flure bis zum 31. Dezember 2015 ent-sprechend den Anforderungen nach den Sätzen 1 und 2 auszustatten. 4 Für die Sicherstellung der Betriebsbereitschaft der Rauchwarnmelder in den in Satz 1 genannten Räumen und Fluren sind die Mieterinnen und Mieter, Pächterinnen und Pächter, sonstige Nutzungsberechtigte oder andere Personen, die die tatsächliche Gewalt über die Wohnung aus-üben, verantwortlich, es sei denn, die Eigentümerin oder der Eigentümer übernimmt diese Verpflichtung selbst.5 § 56 Satz 2 gilt entsprechend.

Diese Regelungen zum Brandschutz lassen sich als eine Art Vorbild heranziehen und sollten als Leitbild für den Entwurf von Vorgaben zu Sicherheitsplaketten dienen. Es wird deshalb die Aufnahme eines sechsten Absatzes in § 44 NBauO vorgeschlagen, der den in § 44 Abs. 5 NBauO enthaltenen Regelungen zum Brandschutz nachgebildet wer-den sollte. Besondere Beachtung verdient hierbei die vom Gesetzgeber in § 44 Abs. 5 NBauO verfolgte Intention, die gesetzlichen Vorschrif-ten sprachlich einfach zu halten und somit auch für den Laien nach-vollziehbar zu machen. Zunächst ist demnach – mit klar verständli-chen Worten – die Erteilung einer Sicherheitsplakette als Pflicht für sämtliche Wohnungen zu statuieren, wobei neben einer zeitlichen Umsetzungspflicht aus Gründen des Vertrauens- und Bestandsschut-zes Übergangsregelungen für bestehende Wohnungen aufzunehmen sind. Ferner hat ein solcher § 44 Abs. 6 NBauO Regelungen zu den Voraussetzungen der Plakettenerteilung zu umfassen. Diese Voraus-setzungen für die Erteilung der Plakette sollten indes nicht in § 44 Abs. 6 NBauO niedergeschrieben werden, sondern vielmehr einer vom Innenministerium zu erlassenden Verordnung überlassen wer-den. Eine solche Verordnungsermächtigung bietet gegenüber einer unmittelbaren Regelung in § 44 Abs. 6 NBauO den Vorteil, dass im Falle einer Verordnung flexibler auf technische Neuerungen respek-

tive kriminalistische Erfahrungswerte Rücksicht genommen werden kann. Die Anpassung an sich ändernde tatsächliche Verhältnisse ist durch die Verordnungsermächtigung, die den Anforderungen des Art. 43 Nds. Verf. Rechnung zu tragen hat, deutlich schneller möglich und erweist sich mithin als praxisnaher. Ferner soll durch Verweisung auf § 56 S. 2 NBauO sichergestellt werden, dass neben Pächtern und Mietern auch Erbbauberechtigte dem Adressatenkreis unterfallen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass unklar bleibt, wer Besitzer ist, wem die Ausstattungspflicht und wem die Betriebspflicht obliegt und inwieweit dem Eigentümer noch eine Kontrollpflicht zukommt. Vor diesem Hintergrund wird als gesetzgeberische Kriminalprävention gegenüber Einbrechern die Erweiterung des § 44 NBauO um einen sechsten Absatz mit folgenden Sätzen vorgeschlagen:

Vorschlag des Autors:§ 44 NBauO(6) 1 Sämtliche Wohnungen sind mit einer Sicherheitsplakette auszustatten. 2 Die Sicherheitsplakette wird erteilt, sofern die Voraussetzungen einer vom Ministerium für Inneres und Sport zu erlassenden Verordnung erfüllt sind, die die Erfordernisse für die notwendige Sicherheitstechnik und den Ablauf der Zertifizierung im Einzelnen regelt. 3 In Wohnungen, die bis zum 30. No-vember 2015 errichtet oder genehmigt sind, hat die Eigentümerin oder der Eigentümer bis zum 31. Dezember 2016 entsprechend den Anforderungen nach den Sätzen 1 und 2 auszustatten. 4 Für die Sicherstellung der Umset-zung der notwendigen Sicherheitseinrichtungen in den in Satz 1 genannten Wohnungen sind die Mieterinnen und Mieter, Pächterinnen und Pächter, sonstige Nutzungsberechtigte oder andere Personen, die die tatsächliche Gewalt über die Wohnung ausüben, verantwortlich, es sei denn, die Eigen-tümerin oder der Eigentümer übernimmt diese Verpflichtung selbst.5 § 56 Satz 2 gilt entsprechend.

Erfolgreich Jura lernenvon Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski (HU Berlin)

Sie haben vielleicht vor Kurzem erst Ihr juristisches Studium be-gonnen und Sie machen sich Gedanken über die Frage, wie Sie sinnvoll lernen sollten. Möglicherweise studieren Sie auch schon ein paar Semester, kennen sich also schon aus, haben aber trotz-dem das Gefühl, das adäquate Lernkonzept noch nicht gefunden zu haben. Das möchte ich ändern. Das juristische Studium besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen. Man bringt Ihnen im ersten Teil, in Vorlesungen, Kolloquien oder Seminaren etwas bei und fragt es Ihnen im zweiten Teil, in Übungen, in Form von Klausuren und Hausarbeiten, wieder ab. Dieser Struktur folgt mein Lernkonzept und die darauf aufbauende mit Iurratio zusammen entwickelte neue Lernsoftware „IURLEXICO“.

A. Keine Details, sondern ZusammenhängeWenn Sie eine Norm gedanklich erarbeiten, so lernen Sie sie bitte nicht nur auswendig, sondern stellen Sie sich die Frage, in welchem Zusammenhang die Norm steht und warum es sie überhaupt gibt.

Es gibt eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass kein einziges Wort in einer Norm überflüssig ist. Und es gibt eine zweite Wahrschein-lichkeit dafür, dass eine Norm wirklich einen Anwendungsbereich hat, auch dann, wenn Sie ihn vielleicht noch nicht begriffen haben. Diesen Anwendungsbereich, d.h. den Zusammenhang der Norm zu anderen Normen, müssen Sie versuchen herauszubekommen.

B. Denken Sie selbstDie Fülle an Nachweisen und Meinungen verdeckt in der Jurispru-denz häufig die Tatsache, dass Sie meist bei eigenem Nachdenken auf die gleichen Ideen gekommen wären, die andere vor Ihnen schon hatten. Natürlich ist es richtig, auf das Vorwissen zurück-zugreifen, aber es darf nicht dazu führen, dass Sie sich womöglich nicht mehr trauen, selbst zu denken. Im Gegenteil: Versuchen Sie erst Ihre eigene Lösung zu finden, danach prüfen Sie, wie andere mit dem Problem umgegangen sind. Dadurch werden Sie nicht nur außerordentlich schnell und effizient, sondern vor allem selbstsi-cher im Umgang mit juristischen Lösungen.

C. Das VorlesungskonzeptVorschlag: Kernaussagen der Vorlesung auf Karteikarten mitschrei-ben, vorn die Frage, auf der Rückseite die Antwort. Und unbedingt Entscheidungshinweise mitschreiben. In den Vorlesungen werden regelmäßig wenige Entscheidungen zitiert. Diese sind dann fast im-

Prof. Dr. iur. Hans-Peter Schwintowski hat seit 1973 an der Georg-August-Universität Göttingen Rechtswissenschaften stu-diert und im Jahre 1982 über ein Thema aus dem Kartellrecht (Antitrust) promoviert. Im Jahre 1986 schloss sich die Habilitati-on über das Thema „Der private Versicherungsvertrag zwischen Recht und Markt an. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerli-ches Recht, Handelsrecht, Wirtschaftsrecht und Europarecht an der HU Berlin.

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mer grundlegend wichtig. Versuchen Sie sich die Zeit zu nehmen, diese Entscheidungen im Laufe des Tages nach der Vorlesung her-auszusuchen, zu kopieren und am Nachmittag oder Abend zu lesen. Übertragen Sie auch diese: Zuerst der knappe Sachverhalt, dann die knappe Lösung. Dadurch entsteht im Laufe der Zeit eine Sammlung ganz wichtiger zentraler Fälle, die Sie in kürzester Form wiederho-len können. Darüber hinaus lernen Sie über praktische Fälle die Re-alität der Rechtsanwendung kennen und üben sich gleichzeitig im Erfassen komplexer Sachverhalte. Es ist nämlich nicht ganz einfach, aus den vielen Erwägungen, die ein Urteil regel- mäßig begleiten, diejenigen herauszufiltern, die zentral für die Lösung eines Falles sind.

D. Das SelbstlernkonzeptVieles von dem, was Sie später können müssen, erarbeiten Sie sich selbst. Vorlesungen, Übungen und Seminare sind nur ein Teil Ihres Studiums. Sie brauchen also ein Selbstlernkonzept. Sie brauchen dieses Konzept möglichst früh, damit Sie überflüssige Wiederho-lungen vermeiden und Sie brauchen ein möglichst effizientes Kon-zept, weil Sie wenig Zeit haben. Schließlich sollte Ihr Leben nicht nur aus Juristerei bestehen.Vorschlag: Karteikartensystem in Form von Fragen (vorn) und Ant-worten (hinten) – geht auch am Laptop!.Grundgedanke: Lesen Sie nichts, ohne den Willen zu haben, den Kern dessen, was Sie lesen, zu notieren. Wenn Sie der Meinung sind, dass das, was Sie lesen, wichtig ist, so formulieren Sie eine Fra-ge (diese schreiben Sie auf die Vorderseite Ihrer Karteikarten) und notieren Sie sodann die Antwort kurz auf die Rückseite.Folge: Sie sind automatisch voll konzentriert, Sie wissen sofort, wann Sie wegen Müdigkeit aufhören sollten, weil Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, den Text zu erfassen; Sie denken selbst, d.h. Sie werden Teil der Materie, die Sie durcharbeiten; Sie können sich leicht in Zukunft selbst abfragen, ebenso wie Sie sich leicht abfragen lassen können; und: Sie können den Erfolg ihrer Tätigkeit quanti-fizieren. Hinweis: Karteikartengeordnetes Wissen kann man auch kaufen. Es gibt sehr gute Systeme, und ich würde Ihnen auf keinen Fall abra-ten, sich mit ihnen vertraut zu machen. Wichtig ist aber, dass diese Systeme Ihr eigenes, von Ihnen selbst erarbeitetes Karteikartensys-tem zwar ergänzen, nicht aber ersetzen können.Und ein letzter Hinweis: Arbeiten Sie so früh es geht mit anderen zusammen. Bilden Sie Arbeitsgruppen aus mindestens zwei bis höchsten fünf Personen. Treffen Sie sich pro Woche etwa zweimal für etwa zwei Stunden. Legen Sie vorher fest, in welchen Bereichen Sie arbeiten wollen und benutzen Sie ihre Karteikarten, um sich ge-genseitig abzufragen. Diskutieren Sie Fragen nur kurz und knapp, so dass Sie Ihr Arbeitsprogramm wirklich schaffen. Versuchen Sie sich dabei vorzustellen, Sie würden eine Arbeitssitzung eines Se-minars leiten. Sie disziplinieren sich auf diese Weise, werden beim Erfassen der wesentlichen Fragen eines Problems schnell und sicher und vor allem: Sie haben noch genügend Zeit zum ausgiebigen Kaf-feetrinken. Notieren Sie sich diejenigen Fragen, die sie während der Arbeitssitzung nicht beantworten konnten; lösen Sie sie am nächs-ten Tag und erfassen Sie sie in Ihrem Karteisystem.

E. Jura Lernsoftware „IURLEXICO“Aufbauend auf diesen Gedanken zum Selbstlernkonzept und weite-ren Grundlegenden Erkenntnissen über das systematische Lernen, haben Iurratio und ich zusammen die Jura Lernsoftware „IUR-LEXICO“ entwickelt:Die Lernsoftware IURLEXICO ist vor allem eine mentale Übung

um das wichtigste Rüstzeug – die Beherrschung der Gesetze – zu erlangen und regelmäßig aufzufrischen. Mit mentalen Übungen bezeichnet man systematisches Lernen, so wie es der Neuroplasto-loge Alvaro Pasqual-Leone herausfand, der 1991 in Valencia, Spa-nien, geboren wurde und heute in den Vereinigten Staaten lebt und forscht. Pascual-Leone machte ein Experiment mit Leuten, die Kla-vier spielen lernen sollten. Die eine Gruppe lernte direkt am Klavier und die andere stellte sich vor, die Tonfolgen zu spielen und zu hö-ren. Nach fünf Tagen gab es eine ziemlich große Überraschung – die Gehirnkarten und Bewegungssignale hatten sich bei sämtlichen Teilnehmern in gleicher Weise gewandelt – die eingebildeten Pia-nisten spielten nach fünf Tagen fast genauso gut, wie die „tatsächli-chen“ Pianisten am dritten Tage. Sie bekamen dann noch eine zwei-stündige physische Lehrstunde und erreichten innerhalb dieser Zeit das Niveau, das die physische Gruppe ihrerseits nach fünf Tagen hatte. Offenbar sind mentale Übungen sehr wirkungsvolle Vorbe-reitungen, um tatsächliche Fähigkeiten mit minimalem Aufwand zu erlernen (wenn Sie hierzu mehr wissen wollen, dann lesen Sie das hervorragende Sachbuch von Norman Doidge, Neustart im Kopf, Campus- Verlag, 2. Aufl. 2014). Sehr ähnlich bereiten sich große Schach-Spieler auf die Wettkämpfe vor. Sie stellen sich das Brett und die Figuren vor und spielen „Blind Schach“. Auch der berühm-te Pianist Glenn Gould verließ sich, wie Norman Doidge berichtet (S. 204) gegen Ende seiner Karriere fast ausschließlich auf mentale Übungen, um sich auf seine Plattenaufnahmen vorzubereiten. Die Erfolge systematischer mentaler Übungen sind, das zeigen die Versuche der Forscher, frappierend. Dem Jura-Quiz liegt die Idee des systematischen Lernens im Wege einer mentalen Übung zu-grunde. Das Instrument, auf dem Juristen/innen spielen (müssen), sind die in Gesetze gegossenen Regeln. Man kann sich das BGB also gut auch als „Klavier“ vorstellen. Hinter den Tasten liegen ganz bestimmte Regelungen – einige von ihnen sind besonders wichtig, andere werden seltener gebraucht, wie etwa die Quinte oder die Septime. Aber: Genauso wie beim Klavierspiel ist eines absolut es-sentiell: Wenn man nicht weiß, welcher Ton sich hinter einer Taste verbirgt, kann man beim allerbesten Willen nicht Klavier spielen. Wenn man nicht weiß, welche Regeln es im BGB eigentlich gibt, so wird man nie in der Lage sein, auch nur irgendeinen Fall zu lösen, egal, wie einfach oder schwer er ist. Beherrscht man aber umgekehrt die Tastatur, weiß man, wo sich die Töne des Bürgerlichen Rechts befinden, so kann man nun beginnen, erste kleine Sonaten oder Tonleitern oder Fugen oder Akkordfolgen zu spielen oder auch zu improvisieren. Für den Pianisten ist es also zunächst einmal von grundlegender Bedeutung zu wissen, welche Töne sich hinter welchen Tasten an welcher Stelle befinden. Dann muss er diese Töne noch den Noten zuordnen können, die vor ihm stehen und danach kann er erst-mals beginnen etwas zu spielen, was im Juristendeutsch Falllösung heißen würde. Für die Juristen sind die Regeln – beispielsweise im Bürgerlichen oder im Strafgesetzbuch oder im Grundgesetz – die Tasten. Hinter den einzelnen Normen verbergen sich Gebote oder Verbote oder Rechtsfolgen oder Ordnungsprinzipien. Der Pianist subsumiert die Note, indem er den dazu gehörenden Ton erklin-gen lässt und die Art und Weise, mit welcher Kraft, mit welcher Geschwindigkeit, mit welcher Rhythmik und mit welcher Emotio-nalität er dies tut, gibt uns einen Hinweis auf seine Virtuosität. Am Anfang klingt alles holprig und hölzern, später dann elegant und einschmeichelnd. Sehr ähnlich ist es bei den Juristen. Der Blick auf den Sachverhalt eröffnet die Möglichkeit der Subsumtion unter die Normen und die Art und Weise, wie diese Unterordnung und Subsumtion erfolgt,

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legt Zeugnis über das Stadium ab, in dem sich der Rechtsanwender jeweils befindet. So sind die Formulierungen zu Beginn der ers-ten Falllösungen noch unbeholfen, tastend. Später, wenn man eine Vielzahl von Fällen gelöst und sie beispielsweise in Schriftsätze oder Urteile umgegossen hat, entsteht eine Sicherheit und Eleganz, die nur noch schwach erahnen lässt, wie mühselig es war, sich zunächst einmal die Tastatur zu erarbeiten. Eines aber steht fest: Die Tasten des Klaviers sind für den Pianisten das ein und alles. Ohne diese Tastatur entsteht keine Klaviermusik. Die Tastatur muss stimmig sein und je besser das Piano ist, in dem die Saiten verankert sind, desto schöner wird später die Musik klin-gen. Für den Pianisten ist völlig klar, dass er bestimmte Töne sehr oft benutzt, andere seltener, aber beherrschen muss er jeden Ton und jede Taste, sonst kann er/sie nicht spielen. Genauso ist es nach meinem Eindruck in der Rechtswissenschaft. Wir können Fälle lösen, aber nur dann, wenn wir die zugrunde liegenden Regeln und die sie ausfüllenden Tatbestandsmerkmale kennen. Fehlt uns eine Regel, so wird die Falllösung automatisch falsch sein. Es ist so, als wenn beim Piano einige Töne einfach fehlen würden. Der virtuoseste Pianospieler kann auf einem Klavier, bei dem einige Töne fehlen, einfach nicht gut spielen – es kommt nur Mist heraus. Und genauso ist es auch in der Juristerei. Der schönste Intelligenz-quotient hilft nicht darüber hinweg, wenn Sie eine oder zwei Regeln nicht kennen, die Sie für die Falllösung brauchen. Sie können auf der Grundlage unvollständiger Regelsysteme wundervolle Theori-en und Lösungsgebäude entwickeln – tatsächlich wird das Gebäude aber sofort zusammenstürzen, wenn Sie auch nur ein einziges mal drantippen, einfach deshalb, weil einige Stützpfeiler fehlen. Diese Erkenntnis ist so grundlegend, dass man eigentlich gar nicht darüber reden muss. Nur: In der Juristerei hat sich eine Art Lern-kodex (mit Hilfe von Repetitorien) durchgesetzt, bei dem allge-mein davon ausgegangen wird, dass jeder die Tastatur des Rechtes kennt. Ausgehend von dieser Annahme kann man dann in Form von Repetitorien Fälle miteinander lösen. Dummerweise haben nur diejenigen, die die Tastatur nicht oder nur bruchstückhaft beherr-schen, praktisch gar keine Chance die Fälle zu verstehen. Sie be-ginnen zu schwimmen, sie fühlen sich überfordert, je länger und je öfter sie Fälle versuchen zu lösen, desto schwieriger wird es, den Lernstoff irgendwie sinnvoll im Gehirn zu verankern – man findet die Stelle nicht, an der man ankern sollte und müsste. Man kann sie auch nicht finden, weil man die Tastatur nicht kennt, die man gerade bedienen muss. Hieran können Sie ermessen, wie wichtig das Handwerkszeug für Ihre Arbeit ist. Sie können so viele Fälle lösen, wie Sie wollen und so viele Theorien lernen, wie sie möchten – sie werden dadurch nicht zu einem guten Juristen oder zu einer guten Juristin werden. Erst dann, wenn Sie die Tastatur des Handwerks, also die Regeln beherrschen, die Sie anwenden sollen und müssen, wird sich das Blatt grundlegend wenden. Zunächst einmal werden Sie sicher sein, in dem was sie tun. Nie-mand kann Ihnen mehr ein X für ein U vormachen, denn Sie wissen ja, dass Sie mit dem Handwerkszeug arbeiten, das für die Fallbe-arbeitung nötig ist. Wenn jemand behauptet, irgendetwas in Ihrer Lösung sei nicht richtig, dann werden Sie ihn fragen, ob er mögli-cherweise eine Regel, die Sie verwenden, übersehen hat oder eine hinzugefügt hat, die es gar nicht gibt. Sie werden auch sehr schnell wissen, an welcher Stelle jemand Ihre Lösung in Frage stellt und sie werden innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums abschätzen können, ob das Argument tatsächlich Ihre gesamte Falllösung zum Einsturz bringen könnte oder ob Ihr Kritiker sich das nur einbildet. Vor al-

lem aber werden Sie in der Lage sein, eine Fülle von Details in das Handwerkszeug einzuordnen, die zur Zeit noch in Ihrem Gehirns-kasten frei herumschweben und nach irgendeinem Zuordnungs-punkt suchen. Wenn Sie erst einmal das Grundtatbestandsmerk-mal ausfindig gemacht haben, um das es jeweils geht, dann werden Sie die daraus folgenden Ableitungen und Differenzierungen ohne Schwierigkeiten entwickeln und aufrufen können. Sie werden zum ersten Mal erleben, dass Sie mit dem System, in dem Sie sich bewe-gen „spielerisch“ umgehen können. Wenn Sie den einen Systembau-stein nach links und den anderen nach rechts verrücken, dann wer-den Sie sofort merken und wissen, welche Auswirkungen das auf die anderen Systembausteine hat, die Sie für Ihre jeweilige Falllösung aufrufen. Je länger Sie auf diese Weise arbeiten, desto einfacher wird es Ihnen fallen, die Muster von Falllösungen wie selbstverständlich in Ihrem Kopf aufzurufen. Ihr Kopf speichert diese Muster nämlich ab. Aber: Bevor Sie beginnen zu spielen, bevor Sie beginnen Mus-ter zu bilden, bevor Sie mit Argumenten Ihre Tatbestandsmerkmale hin- und herschieben und verändern, müssen Sie als allererstes die Tastatur erlernen, auf der Sie spielen wollen, das heißt es bleibt Ih-nen gar nichts anderes übrig, als das BGB oder das Strafgesetzbuch oder das Grundgesetz oder die Zivilprozessordnung oder irgendein anderes Gesetz aufzuschlagen und sich selbst zu fragen, ob Sie wohl wissen, was dort alles so geregelt ist. Es ist schon klar, dass Sie von den 80.000 Normen, die wir zur Zeit in unserer Rechtsordnung ha-ben, nur einen Bruchteil präsent haben müssen. Ich vermute, dass Sie für das Staatsexamen etwa 4.000-5.000 Normen aktiv benötigen und eine der nicht ganz unwichtigen Fragen ist die, wie man die Auswahl so trifft, dass Sie am Schluss sagen können, ich kann im Staatsexamen genau die Regeln in mir abrufen, die man benötigt, um ein Staatsexamen möglichst gut abzuschließen. Meine Antwort hierauf ist relativ schlicht. Nehmen Sie bitte den Standardkom-mentar des Rechtsgebietes in die Hand, das Sie vorbereiten wollen. Ich mache das jetzt mal mit den ersten drei Büchern im BGB und zwar anhand des Palandt. Sie schlagen das Inhaltsverzeichnis auf und schauen nach den Normen mit einer umfangreichen Kommen-tierung. Normen, die umfangreich kommentiert wurden, müssen wichtig sein, sonst gäbe es diese Kommentierungen nicht. Das ist ein sehr formales und mit Sicherheit auch nicht völlig richtiges Kri-terium, aber es hilft Ihnen sehr beim Einstieg in das Tastensystem. Natürlich ist mir klar, dass Normen sehr kurz und inhaltlich sehr klar und trotzdem sehr bedeutend für das Rechtssystem sein kön-nen. Aber ich glaube mit einem formalen Kriterium, wie dem, das ich Ihnen gerade vorgeschlagen habe, kommen Sie weiter. Ich wür-

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de Ihnen drei Kategorien vorschlagen: Kategorie 1: Die Normen, die absolut unverzichtbar sind Kategorie 2: Die Normen, die für viele Fälle wichtig sind Kategorie 3: Alle verbleibenden Normen Ausgehend von diesen Kategorien haben wir die Lernsoftware „IURLEXICO“ entwickelt. In dieser Software werden Sie zu den wichtigen und unverzichtbaren Normen des jeweiligen Gesetzesbu-ches befragt (Kategorie 1 und Kategorie 2). Die erste Frage lautet: Zu welchem Regelungsbereich (Gebietsbe-zug) gehört die Norm? Die zweite Frage will klären, worin der Re-gelungszweck der Norm (oder des Absatzes, um den es geht) be-steht. Wenn Ihnen der Regelungszweck klar ist, dann bedeutet das, dass Sie die Norm verstanden haben, dass Sie wissen, welcher „Ton“ das ist, mit dem Sie gerade zu tun haben. Der Regelungszweck er-schließt sich oft nur schwer aus dem Wortlaut der Norm, deshalb ist er so wichtig für das Verständnis. Wenn Sie den Wortlaut einer Norm lesen, dann hören Sie den „Ton“ meist noch nicht oder zumindest nur ansatzweise und vielleicht so-gar verzerrt (ohne es zu wissen). Der Ton, der die Bedeutung der Regel wiedergibt, erschließt sich, wenn man sich fragt, welchen Re-gelungszweck die Norm eigentlich hat. Manchmal erschließt sich der Regelungszweck direkt aus der Norm – aber manchmal auch nicht. In vielen Fällen sind Regeln sehr abstrakt formuliert und ihre Tragweite erschließt sich erst dann, wenn man sich mit den sehr abstrakten Begriffen und den Zusammenhängen innerhalb von tat-sächlichen Sachverhalten und Interessenkonflikten beschäftigt. Das macht das Erschließen, das Erklingenlassen des Gesetzbuches etwas schwieriger. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht schon einmal versucht haben Geige oder Gitarre zu spielen. Wenn Sie auf diesen Instrumenten versu-chen einen Ton zu greifen, dann werden Sie mit Sicherheit irgend-einen Ton erzeugen, aber er wird oft am Anfang sehr unklar, ver-schwommen, manchmal auch verzerrt klingen. Wer auf der Geige oder der Gitarre einen schönen Ton erzeugen will, braucht viel Übung und vor allem auch verhornte Fingerkuppen, die nicht mehr schmerzen, wenn man sehr kräftig auf eine Saite drückt, um sie so zu verkürzen, dass der gewollte Ton entsteht. Der erste Blick in eine Rechtsnorm ist so, als würden Sie gerade zum ersten Mal eine Geige oder eine Gitarre in der Hand halten und ver-suchen einen Ton zu erzeugen. Es wird erbärmlich klingen und Ihre Finger werden nach kurzer Zeit ziemlich weh tun. Genauso erbärmlich ist die Resonanz in Ihrem Kopf auf die erste Rechtsnorm. Selbst so eine einfache Regel wie die, die Sie in § 1 BGB finden: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt“ wird kein ästhetisches Klangerlebnis in Ih-rem Gehirn hervorrufen. Sie werden im ersten Moment vielleicht sagen „Aha, hätte ich’s mir doch fast gedacht“ und im nächsten Mo-ment denken „Was soll der Blödsinn? Das weiß doch jeder!“, aber die erstaunliche Kraft dieser Regel werden Sie erst sehr viel später bemerken, z.B. wenn Ihnen klar wird, dass die Rechtsfähigkeit Vo-raussetzung dafür ist, dass man Ansprüche einklagen oder erben kann. Sie merken, man kann über die Rechtsfähigkeit schon sehr viel mehr sagen, wenn man einen Augenblick nachdenkt, als beim ers-ten Hinschauen auf die Norm erkennbar wurde. Die Norm verändert sich also, wenn man sie im Regelungszusam-menhang betrachtet und – das ist besonders wichtig – sie passt sich auch zeitlichen und sozialen Veränderungen ohne Probleme an. Das Wesen abstrakter Begriffe ist die Anpassungsfähigkeit, das heißt ihre Dynamik auf sich verändernde Umstände und Zustände. Das ist besonders gut und wichtig, weil Sie sonst permanent das

Gesetzbuch ändern müssten, wenn irgendjemand einen Begriff, den Sie im Gesetzbuch benutzt haben, plötzlich umdefiniert. Daraus folgt etwas sehr Wichtiges, nämlich die Erkenntnis, dass sich das Gesetz durch seine begriffliche Abstraktion permanent inhaltlich ändert, ohne dass der Gesetzgeber tätig werden muss. Ich hoffe, ich habe Ihnen hinreichend klar machen können, warum die Frage nach dem Regelungszweck der Norm grundlegend wich-tig ist. Man kann eine Norm (den Ton im Gefüge der Tonarten) nur sinnvoll anwenden, wenn man ihren Regelungszweck begriffen hat. Umgekehrt folgt daraus: Halten Sie den Regelungszweck in der Hand, so sind Sie in der Lage mit der Norm im Falllösungszusam-menhang sinnvoll umzugehen. Sie sind mit anderen Worten staats-examenstauglich. Die dritte Frage will im Grunde nur noch kont-rollieren, ob Sie den Regelungszweck möglicherweise nur zufällig richtig erraten haben oder ob Sie wirklich wissen, wovon Sie reden. In dieser Frage geht es um die „wichtigsten Tatbestandsmerkmale“ der Norm (oder des Absatzes), um die oder den es geht. Es ist nicht so, dass Sie die Regeln alle auswendig lernen sollen und müssen, so wie man das etwa in China oder Japan von den Jurastudenten/innen verlangt. Auch in Italien und Spanien wird im Examen sehr viel auswendig gelernt. Ein solches Auswendiglernen ist für die deutsche Rechtsausbildung überraschend und wirkt fast ein wenig antiquiert. Wenn Sie spä-ter aber einmal zum Beispiel in einer Internationalen Organisation mit Juristen/innen aus anderen Ländern dieser Welt diskutieren, werden Sie merken, dass Sie allesamt auf hohem Niveau Interessen-konflikte in die jeweilige Rechtsordnung Ihres Landes einordnen und daraus abgeleitet Schlüsse ziehen können. Aus der Perspektive der Didaktik müsste man fragen, wie es eigentlich kommen kann, dass Menschen, die so unterschiedlich ausgebildet wurden, trotz-dem miteinander kommunizieren können und offenbar auch nicht unterschiedlich intelligent sind. Der Grund hierfür kann nur darin liegen, dass diejenigen, die zunächst einmal ihr Rechtssystem „aus-wendig“ lernen, eine Grundlage bilden, auf der sie später dann die konkreten praktischen Fälle zu- und unterordnen können. Das, was man in Deutschland mit den Studierenden vom ersten Semester an tut, nämlich zwischen der Norm und dem Sachverhalt (dem sozi-alen Geschehen) eine permanente Wechselwirkung herzustellen, geschieht in anderen Ländern der Welt oft zeitlich versetzt und in unterschiedlichen Lebensabschnitten. Jedenfalls: Auch chinesische, japanische, italienische, spanische und französische Studierende, die sich allesamt primär mit dem Nor-mengefüge, aber weniger mit praktischen Fällen beschäftigt haben, sind später im praktischen Leben in der Lage juristischen Rat ge-nauso zu geben, wie es deutsche Juristen/innen tun. Daraus folgt zumindest eines ganz sicher: diejenigen, die ihr Handwerkszeug beherrschen, die wissen, wo die Töne des Rechtes zu finden sind, die die Zwecke der Regelungen kennen, machen ganz bestimmt kei-nen Fehler mit Blick auf ihr zukünftiges Berufsleben. Im Gegenteil, sie sorgen dafür, dass sie ihr Handwerkszeug kennen und jeder, der sein Handwerkszeug beherrscht, ist in der Lage im Staatsexamen zu glänzen. Das ist der Grund, warum es in der dritten Frage darum geht, welche (wichtigen) Tatbestandsmerkmale die Regel eigentlich enthält, über die Sie gerade nachdenken. Diese Merkmale sollten Ihnen (auch, wenn das Gesetzbuch geschlossen ist) im Großen und Ganzen vor dem geistigen Auge stehen. Wenn Sie dann allerdings tatsächlich einen Fall lösen, einen Schriftsatz bearbeiten oder ein Urteil formulieren, dann schlagen Sie bitte in jedem Falle das Gesetzbuch auf und prüfen noch einmal nach, ob Sie die Tatbestandsmerkmale auch wirklich absolut zu-treffend zitieren. Das ist schon deshalb nötig, weil jeder, der das Recht anwendet, an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) gebunden ist.

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FAllBEArBEiTung / AusBilDung

Mit Hilfe der Lernsoftware IURLEXICO überprüfen Sie nicht nur, ob Sie ihr Instrument, das jeweilige Gesetzbuch, kennen und wo-möglich sogar auch schon beherrschen. Vielmehr können Sie mit IURLEXICO die unverzichtbaren und wichtigsten Regelungen der jeweiligen (Teil-)Rechtsgebiete beherrschen lernen, dieses Wissen jederzeit wieder auffrischen und vertiefen. Die Lernsoftware IURLEXICO finden Sie unter iurlexico.de oder iurlexico.iurratio.de.

F.Schauen Sie über den TellerrandRechtswissenschaft beschäftigt sich im Wesentlichen mit den tragenden Spielregeln zwischen uns Menschen. Außerordentlich viele juristische Probleme entstehen in Lebensbereichen, die der Rechtswissenschaft vorgelagert sind. Über die in diesen Lebens-bereichen die Menschen leitenden Hintergründe gibt Ihnen die Rechtswissenschaft selten Auskunft. Warum und wie Konflikte zwischen Menschen entstehen, sind Fragen an die Psychologie, an die Philosophie, an die Biologie und Genetik, an die Kyberne-tik, an die vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie), an die Theologie, an die Geisteswissenschaften, an die Soziologie, an die Physik, die Chemie, die Medizin, die Meteorologie und viele ande-re mehr. Natürlich können Sie nicht in all diesen Gebieten ein Ass sein. Aber Sie können sich einen Überblick verschaffen. Gerade in der Universität ist das möglich, weil Sie Zutritt zu jeder Vorle-sung haben. Schauen Sie in die Vorlesungsverzeichnisse und prü-fen Sie, ob es nicht gelegentlich Grundveranstaltungen gibt, die von allgemeinem Interesse sind. Darüber hinaus gibt es allgemein verständlich geschriebene Bücher, die Grundwissen aus anderen Disziplinen vermitteln. Sie geben Ihnen oft weitreichende Einbli-cke in die Grundlagen Ihres eigenen Faches. Schließlich sollte es für Sie selbstverständlich werden, mindestens zwei anspruchsvolle Zeitschriften (z.B. Spiegel / Die Zeit / Handelsblatt / FAZ) zu le-

sen. Es kommt nicht darauf an, ob Sie in allen Punkten gleicher Meinung sind, sondern dass Sie wissen, worüber die Menschen miteinander streiten. Gehen Sie mit Büchern und Zeitschriften systematisch um. Schauen Sie also insgesamt durch, was an In-formationen zur Verfügung steht und entscheiden Sie, welche In-formationen Sie wollen. Versuchen Sie auch Zugang zu solchen Informationen zu finden, die für Sie bisher fremd waren und sind. Das Auseinandersetzen mit fremden Interessen ist wesenstypisch für die juristische Arbeit, gleichzeitig aber außerordentlich an-strengend, jedenfalls am Anfang.Überwinden Sie Ihre Hemmschwellen und versuchen Sie, Zugang zu für Sie fremden Lebensbereichen zu finden (Wirtschaftsteil/ Wissenschaftsteil/ Psychologie …). Und natürlich: Versuchen Sie sich auch eine halbwegs ordentliche belletristische Bibliothek zu schaffen. Kaufen Sie sich gebrauchte Bücher und lassen Sie sich Bücher von Freunden, Bekannten und Eltern schenken, so oft es nur geht. Gute Belletristik öffnet die Augen für das wirkliche Le-ben, für Grenzbereiche des Denkens und Erfahrens, für Verhal-tensweisen, die Ihnen fremd sind und für Denk- und Lösungs-möglichkeiten, an die Sie selbst ebenfalls kaum denken würden. Hier kann man außerordentlich viel und schnell lernen.Und schließlich: Das Medium unserer Zeit ist der Film. Zusam-menhänge werden hier in einer Geschwindigkeit verdeutlicht und auf den Punkt gebracht, die für alle anderen Medien, mit Ausnah-me des Theaters vielleicht, untypisch ist. Aber beachten Sie bitte immer, dass Filme deshalb so erfolgreich sind, weil sie vieles von dem, was in ihnen abläuft, gerade nicht analysieren, sondern ver-drängen und verschweigen. Fragen Sie sich, warum Ihnen ein Film bzw. nicht gefällt. Versuchen Sie sich die jeweilige Gegenposition vorzustellen und prüfen Sie, ob Sie wirklich vorurteilsfrei mit die-ser Gegenposition umgehen können. Gerechtigkeit ist (auch) die Kunst, seine eigenen Vorurteile in Frage stellen zu können.

Florian Lebkücher ist Wiss. Mit. am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte (ZR VII) bei Prof. Dr. Bernd Kannows-ki an der Universität Bayreuth.

Konstantin Filbinger ist Akad. Rat a. Z. am Lehrstuhl für Bürger-liches Recht und Rechtsgeschichte (ZR VII) bei Prof. Dr. Bernd Kannowski an der Universität Bayreuth.

Schwarz und weiß – (Nicht) immer gleichvon Konstantin Filbinger und Florian Lebkuecher

Addi ist Zigarettenfabrikant und stellt verschiedene Tabakwaren her. Eddi ist Müßiggänger und nebenbei starker Raucher. Addi und Eddi haben schon gelegentlich miteinander Geschäfte gemacht. Addi will deshalb dem E sein neues Produktformat „Weisser Krauser“ anbieten. Er schreibt: „Lieber Eddi, ich verkaufe Dir 10 Pakete Weisser Krauser à 10 EUR“. Eddi ist angetan, jedoch ist ihm der Preis zu hoch. Weil er die Tabakpreise als künstlich durch unangemessen hohe Steuern nach oben getrieben empfindet, sieht er die Lösung des Problems in einer gemeinschaftlichen Steuerhinterziehung. Er antwortet deshalb: „Lieber

Addi, sehr gern nehme ich Dein Angebot an, aber bitte schwarz“. Er stellt sich dabei vor, unversteuerten Tabak der Marke „Weisser Krauser“ zu kaufen.Addi hingegen fasst die Antwort so auf, dass er (A) nicht Tabak der Mar-ke „Weisser Krauser“, sondern „Schwarzer Krauser“ liefern solle. Addi – der ansonsten auf Umweltschutz großen Wert legt – verpackt die 10 Pakete „Schwarzer Krauser“ sodann wie immer in einer farblich neutralen Pappbox, die mit „Krauser von Addi“ betitelt ist und bringt dieses Paket persönlich zu Eddi. Weil sich beide schon kennen und Addi in Eile ist, sagt er zu Eddi: „Hier ist schonmal Deine Bestellung, die Be-zahlung regeln wir später.“Als Eddi am nächsten Tag die Box mit den Zigaretten öffnet und den Preis auf der Rechnung sowie die tatsächlich gelieferte Marke sieht, ver-schlechtert sich seine Laune. Er ruft Addi an und klärt diesen über das Missverständnis auf.Addi ist empört, dass sich solche „Steuertrickser“ unter seinen Kunden befinden und beschimpft Eddi als Mistkerl. Eddi geht auf die Provokati-on ein und entgegnet: „Du vergiftest doch selbst die Allgemeinheit. Die Zigaretten gehören jetzt jedenfalls mir und ich gebe sie nicht mehr her.“Dem Addi wird das zu bunt. Er beauftragt Sie mit der Beantwortung folgender Frage:Hat Addi einen Anspruch auf Herausgabe der Pakete?

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FAllBEArBEiTung

Abwandlung: Unterstellt, beide hätten sich im Rahmen des Tabakgeschäfts auf eine „ohne Rechnung-Abrede“ geeinigt, wie wäre die Rechtslage?

Bearbeitervermerk: Die Vorschriften über Anfechtung sowie die Geschäftsführung ohne Auftrag sind bei der Bearbeitung außer Betracht zu lassen.

Gliederung:Ausgangsfrage: Ansprüche des A gegen E auf Herausgabe§ 985 (-)

• Besitz des E (+)• Eigentum des A (-)

§ 812 I 1 1. Alt. BgB (+)• etwas erlangt (+)• durch Leistung (+)• ohne Rechtsgrund (P) (+)

• Vertrag zwischen A und E?• Auslegung nach §§ 133, 157 BGB (P)• Ergebnis: Totaldissens

Abwandlung: Ansprüche des A gegen E auf Herausgabe§ 985 BgB (-)

• Besitz des E (+)• Eigentum des A (-)

§ 812 I 1 1. Alt. BgB (-)• etwas erlangt (+)• durch Leistung (+)• ohne Rechtsgrund (+)

• Ohne-Rechnung-Abrede nichtig• Gesamtnichtigkeit nach § 139 BGB

• kein Anspruchsausschluss • § 814 BGB (-)• § 817 S.2 BGB (+)

LösungsvorschlagAnspruch Addi (A) gegen Eddi (E) auf Herausgabe der PaketeA. A könnte gegen E einen Anspruch auf Herausgabe der Pakete gem. § 985 BGB haben.I. Dazu müsste E Besitzer der Pakete sein. Vorliegend hat E die tat-sächliche Sachherrschaft über die Pakete inne. Er ist mithin Besitzer, § 854 I BGB.II. A müsste Eigentümer der Pakete sein.1. Ursprünglich war das der Fall.2. A könnte aber das Eigentum an den Paketen gem. § 929 S. 1 BGB an E übertragen haben.a) Hier hat A das Paket an E übergeben. E erlangte durch die Überga-be die entsprechende tatsächliche Sachherrschaft. Eine Übergabe iSv § 929 S. 1 BGB liegt vor.b) A und E müssten sich auch über den Eigentumsübergang geeinigt haben. Dies erfordert zwei übereinstimmende, auf Eigentumsüber-gang gerichtete Willenserklärungen. A übergab dem E die Pakete mit den Worten „hier ist schonmal deine Bestellung, die Bezahlung regeln wir später“. Bei Auslegung dieser Erklärung nach dem norma-tiven Empfängerhorizont gem. §§ 133, 157 BGB wird deutlich, dass A die Übereignung an E vornehmen will, gerade unabhängig von der Begleichung des Kaufpreises. Hierfür spricht auch, dass es sich um Waren mit einem nicht allzu hohen Wert handelt und sich A und E schon länger kennen. In der Entgegennahme der Ware durch E ist eine konkludente Annahmeerklärung zu sehen. Damit ist eine wirk-same Übereignung gem. § 929 S. 1 BGB gegeben, ohne dass es auf das Kausalgeschäft an dieser Stelle ankäme (Trennungs- und Abstrakti-

onsprinzip!1).Auch bestehen keine Anhaltspunkte für eine einheitliche Behandlung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft über § 139 BGB oder die (konkludente) Vereinbarung einer aufschiebenden Bedingung gem. § 158 BgB für den Eigentumsübergang.2

3. Damit hat A das Eigentum an den Paketen übertragen und ein An-spruch aus § 985 BGB scheidet aus.B. A könnte ferner einen Anspruch gegen E auf Herausgabe der Pakete gem. § 812 I 1 Alt. 1 BGB haben.I. Hierzu müsste E etwas erlangt haben. Erlangtes etwas ist jede Position, die nach der Vorstellung der Parteien Gegenstand eines Austauschver-hältnisses sein kann; nach h. M. jeder Vermögensvorteil.3 Vorliegend hat E Eigentum und Besitz an den Paketen erlangt (s. o.).II. E müsste diese Rechtspositionen durch Leistung erlangt haben. Leis-tung ist jede bewusste zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.4 Hier mehrte A das Vermögen bewusst und zweckgerichtet, nämlich um seine (vermeintliche) Pflicht aus der vorherigen Abrede zu erfüllen.III. Die Vermögensverschiebung müsste ohne Rechtsgrund erfolgt sein. Dies ist hier problematisch. Denn zwischen A und E besteht möglicher-weise ein entsprechender Kaufvertrag. Dies setzt voraus, dass jene (A und E) zwei übereinstimmende Willenserklärungen abgaben.In der Äußerung des A „Lieber Eddi, ich verkaufe Dir 10 Pakete Weisser Krauser à 10 EUR“ ist eine Willenserklärung auf Abschluss eines Kauf-vertrages zu sehen. Insbesondere sind die essentialia negotii enthalten und das gesetzte Erklärungszeichen lässt nach dem normativen Empfän-gerhorizont auf einen Rechtsbindungswillen schließen, §§ 133, 157 BGB.E könnte dieses Vertragsangebot des A angenommen haben indem er ihm mitteilte „Lieber Addi, sehr gern nehme ich Dein Angebot an, aber bitte schwarz“. Fraglich ist, welche Bedeutung diesem Erklärungszeichen vor dem normativen Empfängerhorizont gem. §§ 133, 157 BGB zu-kommt. Entscheidend ist also, wie ein objektiver Dritter in der konkreten Situation des Erklärungsempfängers das Erklärungszeichen billigerweise verstehen durfte. In Betracht kommen hier zwei Möglichkeiten: Einerseits lässt sich die Aussage von E so auffassen, dass er Tabak der Marke „Schwarzer Krau-ser“ bestellen wollte. Andererseits könnte er den Willen geäußert haben, die Marke „Weisser Krauser“ unversteuert zu bestellen. E ist Müßiggän-ger, verfügt demnach eher nicht über ein geregeltes Einkommen. Dage-gen ist A Fabrikant und somit – zumindest eher als ein Händler – in der Lage, Tabak unversteuert aus der Produktion zu entnehmen. Das könnte dafür sprechen, in dem Zusatz „aber schwarz“ das Angebot zu einer „oh-ne-Rechnung-Abrede“ zu sehen. Zudem erscheint es fragwürdig, dass Eddi, hätte er „Schwarzer Krauser“ bestellen wollen, die Formulierung wählt „Ich nehme dein Angebot an“. Denn in diesem Fall hätte er das Angebot gerade nicht annehmen wollen, sondern seinerseits ein neu-es Angebot gemacht, vgl. § 150 II BgB. Andererseits könnte man die Erklärung auch so verstehen, dass sich die „Annahme“ von Eddi nur auf den Tabak „krauser“ beziehen sollte und der Zusatz „schwarz“ nur die Sorte konkretisieren sollte.Nach dieser Auslegung decken sich die Willenserklärungen objektiv nicht, weil die Aussage von Eddi objektiv mehrdeutig ist. Es liegt damit kein Konsens vor, sondern ein Dissens.5 Dabei handelt es sich hier um ei-nen versteckten Einigungsmangel, weil sich die Erklärungen der Parteien ihrem Inhalt nach nicht decken und es auch keine Übereinstimmung im

1 Zur Unterscheidung zwischen Trennungs- und Abstraktionsprinzip und der Bedeutung gesetzgeberischer Entscheidung für Trennung und Abstraktion Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Auflage 2009, S. 55-57. 2 Hierzu Brox/Walker, BGB AT, 38. Auflage 2014, Rn. 122 f.3 Vgl. Jauernig/Stadler, 15. Auflage 2014, § 812 Rn.8.4 Vgl. BGHZ 40, 277.5 Brox/Walker, BGB AT, 38. Auflage 2014, Rn. 250 f.

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FAllBEArBEiTung

subjektiven Willen gibt,6 die Parteien dies aber nicht erkennen.Damit gehen die Parteien hier davon aus, sie hätten einen Vertrag ge-schlossen, haben sich aber in Wirklichkeit über den Kaufgegenstand nicht geeinigt. Es fehlt daher bereits an einer Einigung über einen we-sentlichen Vertragsbestandteil (sog. Totaldissens). Anmerkung: §§ 154, 155 BGB sind nur im Falle eines Dissens über acci-dentialia negotii7 anzuwenden und spielen in diesem Fall daher keine Rol-le. Selbst wenn man fälschlicherweise die Regelung über den verdeckten Dissens in § 155 BGB anwenden würde, so wäre nicht davon auszugehen, dass der Vertrag auch ohne die Vereinbarung über diesen Punkt geschlossen worden wäre. Damit wäre hiernach kein Vertrag zustande gekommen.Daher kam kein Kaufvertrag zwischen Addi und Eddi zustande. Damit erfolgte die Vermögensverschiebung rechtsgrundlos. Also besteht der Anspruch des A gegen E gem. § 812 I 1 Alt. 1 BGB.

Abwandlung:Anspruch Addi gegen Eddi auf Herausgabe der PaketeA. Möglicherweise hat A gegen E einen Anspruch auf Herausgabe der Pakete gem. § 985 BGB.I. E ist Besitzer der Pakete, vgl. § 854 I BGB (s.o.).II. Überdies müsste A Eigentümer der Pakete sein.1. Ursprünglich war dies der Fall (s.o.).2. A könnte aber das Eigentum an den Paketen gem. § 929 S. 1 BGB an E übertragen haben.a) Hier hat A das Paket an E i.S.v. § 929 S. 1 BGB übergeben (s.o.).b) A und E haben sich auch über den Eigentumsübergang geeinigt (s.o.). Zu klären ist aber, ob sich die auf das schuldrechtliche Geschäft bezogene „Ohne-Rechnung-Abrede“ auf das Verfügungsgeschäft auswirkt.Unabhängig davon, ob die „Ohne-Rechnung-Abrede“ zur Nichtigkeit des Grundgeschäfts nach § 134 oder § 138 BGB (s.u.) führt, ist dies zu verneinen. Denn das Verfügungsgeschäft ist „sittlich neutral“.8 Ein sit-tenwidriges und damit nichtiges Kausalgeschäft führt aufgrund des Ab-straktionsprinzips nicht zur Unwirksamkeit des Verfügungsgeschäfts. Ausnahmen gelten nur für die Fälle, in welchen auch und gerade die Gü-terverschiebung als solche sittenwidrig ist.9 Eine solche Gestaltung liegt hier nicht vor.3. Damit hat A das Eigentum an den Paketen an E übertragen. Ein An-spruch aus § 985 BGB scheidet aus.10

B. A könnte indes einen Anspruch gegen E auf Herausgabe der Pakete aus § 812 I 1 Alt. 1 BGB ableiten.I. E hat Eigentum und Besitz an den Paketen erlangt (s. o.).II. E hat diese Positionen auch durch Leistung des A erlangt (s.o.).III. Die Vermögensverschiebung müsste ohne Rechtsgrund erfolgt sein. Dies ist hier angesichts der „Ohne-Rechnung-Abrede“ problematisch.Denn Ohne-Rechnung-Abreden verstoßen nach herrschender Meinung gegen § 134 BGB oder § 138 I BGB11, weil sie der Steuerhinterziehung12 dienen. Damit ist die entsprechende Vereinbarung zwischen A und E nichtig.Fraglich ist, ob sich diese Nichtigkeit auf den Hauptvertrag (die Bestel-lung der Zigaretten) auswirkt. Gemäß § 139 BGB gilt: Ist ein Teil eines Rechtsgeschäfts nichtig, so ist das ganze Rechtsgeschäft nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass es auch ohne den nichtigen Teil vorgenom-men sein würde.

6 BGH NJW 1995, 2637, 2638; Palandt/Ellenberger, 71. Auflage 2014, § 155 Rn. 2; Eckert, in: BeckOK-BGB, Ed.33 11/2014, § 155, Rn. 3.7 Busche in: MüKo-BGB, 6. Auflage 2012, § 155 Rn.2.8 Vgl. RGZ 109, 202; BGH NJW 1973, 615; 1985, 3006, 3007.9 Vgl. BGHZ 115, 130; 122, 122.10 Ob § 817 BGB auf § 985 BGB anzuwenden ist, musste nicht thematisiert werden. Hierzu näher Schwab, in: MüKo-BGB, 6. Auflage 2013, § 817 Rn. 17-19. 11 Offen gelassen von BGH, NJW-RR 2008, 1050.12 So unter Verweis auf § 370 AO Lorenz, NJW 2013, 3132, 3133; anders Peters, NJW 2008, 2478: § 14 II Nr.1 UStG und/oder § 1 I Nr.1 UStG.

1. Bisherige Auffassung BGH Lange sah der BGH die Gesamtnichtigkeit als zulässigerweise abbedun-gen an.13

Denn Gesamtnichtigkeit sei nur anzunehmen, wenn die Steuerhin-terziehung Hauptzweck eines Vertrags sei. Davon könne bei einer Oh-ne-Rechnung-Abrede aber nicht die Rede sein: Hauptzweck des Vertrags sei schließlich die ordnungsgemäße Leistung.14 Danach läge hier keine Gesamtnichtigkeit des Vertrages vor.

2. KritikAndere15 hielten dem entgegen, dass die Gesamtnichtigkeit nur dann zu verneinen sei, wenn die Parteien den Vertrag ohne Schwarzgeldabrede zu denselben Bedingungen, das heißt auch zu demselben Entgelt, geschlos-sen hätten. Jedoch sei dies angesichts des „Deals“ der Parteien in hohem Maße unwahrscheinlich: Beispielsweise lasse sich der Werkunternehmer in den sog. Schwarzarbeiterfällen nur auf den geringeren Werklohn ein, weil er diesen Lohn nicht versteuere. Nach dieser Maßgabe wäre der ge-samte Vertrag nichtig.Neue Tendenzen in der Rechtsprechung:Nunmehr16 scheint der BGH in eine andere Richtung zu tendieren: Oh-ne-Rechnung-Abrede und Hauptvertrag werden nicht mehr (künstlich) getrennt. Danach ist der Vertrag als solcher nichtig.Damit ist der Vertrag über den Kauf der Pakete unwirksam. Mithin hat Eddi Besitz und Eigentum an diesen „ohne Rechtsgrund“ erlangt.IV. Indes könnte § 814 BGB zu einem Anspruchsausschluss führen.Danach kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Ge-leistete nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war, oder wenn die Leistung einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprach.Für Wissen um die Nichtleistungspflicht in diesem Sinne ist positive Rechtsfolgenkenntnis erforderlich.17 A wusste als Laie jedoch nicht, dass die getroffene Abrede und damit der Kaufvertrag insgesamt zivilrechtlich unwirksam sein würde, bloße Kenntnis der Moralwidrigkeit oder ein schlechtes Gefühl genügen hier-für nicht. Die anderen Varianten im Rahmen von § 814 BGB kommen nicht in Frage. Daher bewirkt § 814 BGB hier keinen Anspruchsaus-schluss. V. Allerdings könnte § 817 S.2 BGB einem Herausgabeanspruch entge-genstehen.1. Die Vorschrift ist auch auf Ansprüche aus § 812 I 1 1. Alt. anwendbar.18

2. Ein beidseitiger Sittenverstoß i.S.d. § 817 S.2 BGB ist hier gegeben.3. Eine teleologische Reduktion, wie sie für manche Fallgruppen von der Rspr. (immernoch19) angenommen wird,20 kommt vorliegend nicht in Betracht.VI. A hat keinen Anspruch auf Herausgabe gegen E aus § 812 I 1 1. Alt BGB.Weitere Ansprüche des A gegen E kommen nicht in Betracht.Ergebnis zur Abwandlung: Addi hat keinen Anspruch gegen Eddi auf Herausgabe der Pakete.

13 Vgl. BGH, NJW-RR 1997, 684, 685.14 Vgl. Peters, NJW 2008, 2478.15 Z.B. Lorenz, NJW 2013, 3132, 3133; zur Vertiefung dieses Themas: R Wolff, Wirksamwerden nichtiger Verträge durch Teilerfüllung? Zur Rechtsprechung des VII. Zivilsenats zur Ohne- Rechnung-Abrede, in: FS Beuthien (2009), 97.16 BGH NJW 2013, 3167.17 Schulze, in: HK-BGB, 8. Aufl. 2014, § 814 Rn.2, BAG NJW 2005, 3082.18 Ganz h.M., vgl. Stadler, in: Jauernig-BGB, 15. Auflage 2014, § 817 Rn.9.19 Seit BGH NJW 2014, 1805 gilt dies aber nicht mehr für sog. „Schwarzarbeiter-Fälle“; besonders lesenswert Stadler, JA 2014, 623.20 Siehe hierzu Schwab, in MüKo-BGB, 6. Auflage 2013, § 817 Rn. 21-29b.

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rEchTsPrEchung

„FCK CPS“ - keine hinreichende IndividualisierungBVerfG, Urteil vom 26.02.2015, 1 BvR 1036/14Redaktion: Caroline Dressel

A. SachverhaltDie Beschwerdeführerin trug im Juni 2013 ein T-Shirt mit dem Auf-druck „FCK CPS“, woraufhin in ihrem Wohnort kontrollierende Po-lizeibeamten diese gemahnt hatten, das Tragen dieses Schriftzuges in Zukunft nicht mehr zu tolerieren. Wenige Wochen später trafen Po-lizeibeamte desselben Kommissariats die Beschwerdeführerin einen Anstecker mit dem entsprechenden Schriftzug tragend. Diesen nahm die Beschwerdeführerin trotz Aufforderung nicht ab.

B. EinführungDas Amtsgericht – Jugendgericht – verurteilte die Beschwerdefüh-rerin wegen Beleidigung gem. § 185 StGB mit der Begründung, der Schriftzug „FCK CPS“ stehe als für einen großen Personenkreis be-kannte Abkürzung für „Fuck Cops“. Dieser Ausdruck schmälere den sozialen Wert der betroffenen Personen im Amt, namentlich den des örtlichen Polizeikommissariats. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision als unbegründet. Mit der vor dem Bundesverfassungsge-richt erhobenen Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführe-rin die Verletzung ihrer Meinungsfreiheit.

C. EntscheidungDas BVerfG entschied, dass die Beschwerdeführerin durch die Ver-urteilung in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verletzt sei. Das BVerfG stellt ein weiteres Mal den Unterschied von Tatsa-

chenbehauptung und Meinungsäußerung dar und kommt anhand dieser Ausführungen zu dem Ergebnis, die Aussage „FCK CPS“ sei als Meinungsäußerung zu werten. Dieser Ausdruck zeige eine allge-meine Ablehnung der Polizei und der Schutzbereich des Art. 5 GG sei daher eröffnet. Der durch die Verurteilung erfolgte Eingriff in die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin sei nicht durch die Schran-ken des Art. 5 Abs. 2 GG gerechtfertigt. § 185 StGB stellt als „allge-meines Gesetz“ grundsätzlich eine Schranke der Meinungsfreiheit dar. Eine Verwirklichung des Tatbestandes der Beleidigung scheitere aber an einer Individualisierung des Werturteils. Im Gegensatz zum Amtsgericht sah das BVerfG keinen hinreichenden Bezug zu einer konkret erkennbaren Person oder abgrenzbaren Personengruppe. Die auf alle Angehörigen der Gruppe der Polizei bezogene Äußerung dürfe aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auf eine Teilgruppe beschränkt werden. Hierfür bedürfe es vielmehr einer personalisie-renden Zuordnung. Diese Personalisierung ergebe sich auch nicht aus dem Aufeinandertreffen wenige Wochen zuvor, da der Beschwer-deführerin nicht unterstellt werden könne, sie habe sich vorsätzlich in eine Situation begeben, in der sie die Polizeibeamten mit hoher Sicherheit treffen werde.

D. MerkeDen Grundrechten kommt jederzeit eine äußerst hohe Bedeutung zu, sodass Eingriffe lediglich in sehr engen Grenzen zulässig sind. Das Bundesverfassungsgericht macht in dieser Entscheidung einmal mehr deutlich, dass eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB sich stets an eine hinreichend personalisierte Gruppe wenden muss. Diese Individualisierung muss sich aus der Äußerung selbst ergeben oder einen derart engen Bezug aufweisen, dass ein Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen ist.

Ausbildungsrelevante Entscheidungen

Gericht Art der Entscheidung Datum Aktenzeichen Themenstichworte Rechtsgebiet

BFH Urteil 23.06.2015 III R 38/14 Auch bei mehrjährigem Auslandstudium weiter Anspruch auf Kindergeld, wenn Kind bei den Eltern gemeldet ist und starke Bindung zum Inland durch Aufenthalt in vorlesungsfreier Zeit belegt ist

Öffentliches Recht

EuGH Urteil 06.10.2015 1 C 32.14 Frist für Aufnahmegesuchen im Rahmen des Dublin-Verfahrens dient Rechtsverkehr der Staaten und nicht dem Schutz des einzelnen Asylbewerbers

Öffentliches Recht

BVerwG Urteil 11.11.2015 6 C 67.14 Keine generellen Waffenscheine für Bewachungsunternehmen, nur jeweis für einzelne Aufträge

Öffentliches Recht

OVG Nieder-sachsen

Urteil 15.12.2015 1 LC 178/14 Auch alte Fahrgeschäfte müssen aktueller Sicherheits-DIN-Norm entsprechen - kein Bestandschutz für fest installierte Achterbahn

Öffentliches Recht

BVerwG Urteil 17.12.2015 5 C 8.15 Zur Berechnung der Gebühren für eine Kindertagesstätte sind auch als BAfÖG-Darlehen erhaltene Zahlungen als Einkommen anzurechnen

Öffentliches Recht

BVerfG Beschluss 14.09.2015 1 BvR 857/15 Grundrecht auf Pressefreiheit verletzt, wenn die Zusendung einer Urteilskopie an Journalisten bei Strafprozess mit hohem Medieninteresse verweigert wird

Öffentliches Recht

LSG Bremen- Niedersachsen

Beschluss 02.10.2015 L 8 AY 40/15 B ER

Zeitweilige Unterbringung von asylsuchender Familie in Wohncontainern grundsätzlich zumutbar

Öffentliches Recht

OVG Berlin- Brandenburg

Beschluss 20.11.2015 6 S 45.15 Bundestag muss Presse Liste über Lobbyisten einschließlich der den Lobbyisten einladenden Partei übergeben

Öffentliches Recht

KG Berlin Beschluss 29.06.2015 2 Ws 132/15 Vollz

"Gefangenen-Gewerkschaft" keine Gewerkschaft, Vollzuganstalt kann Unterstützunghandlungen aus Sicherheitsgründen verbieten

Strafrecht

BGH Beschluss 21.07.2015 3 StR 104/15 Verlangt ein Freier vor der vereinbarten Handlung gewaltsam sein Geld zurück, ist dies nicht zwingend ein Raub - aufgrund schwieriger zivilrechtlicher Einordnung Wissen der Rechtswidrigkeit der Forderung zweifelhaft

Strafrecht

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VIurratio 2 / 2016

rEchTsPrEchung

Gericht Art der Entscheidung Datum Aktenzeichen Themenstichworte Rechtsgebiet

KG Berlin Beschluss 03.08.2015 161 Ss 160/15 Strafantragsberechtigt wegen Hausfriedensbruchs ist allein der Mieter nicht der Vermieter - Hausrecht geht mit Vermietung über

Strafrecht

OLG Celle Beschluss 03.11.2015 2 Ss (OWi) 313/15

Blitzer-App auf Smartphone ist Gerät zur Anzeige von Verkehrsüberwachungsmaßnahmen - Benutzung verstößt gegen die StVO

Strafrecht

OLG Hamm Beschluss 10.11.2015 1 Ws 507/15 Internetverbot - mit Ausnahme für Umschulung - als Bewährungsauflage ist rechtmäßig, Einschränkung der Lebensführung ist hinzunehmen, Internetanbindung noch nicht zwingend

Strafrecht

OLG Hamm Beschluss 29.11.2015 1 Vollz(Ws) 411/15

Lockerung der Haftbedingungen auch bei Leugnen der Tat möglich Strafrecht

BGH Urteil 15.02.2015 VI ZR 134/15 Enthält eine automatische Eingangsbestätigungsmail gegen den ausdrücklichen Willen des Empfängers Werbung, so wird dieser in seinem APR verletzt

Zivilrecht

LAG Berlin- Brandenburg

Urteil 11.08.2015 19 Sa 819/15, 19 Sa 827/15, 19 Sa 1156/15

Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld im Gegenzug für Stundenlohn nach dem Mindeslohngesetzt rechtfertigt keine Änderungskündigung

Zivilrecht

BGH Urteil 14.08.2015 XII ZR 84/14 Vorbehaltlos gezogene Verlängerungsoption eines Mietvertrags trotz Mangels führt nicht zum Ausschluss der Mietminderung - keine Anwendung des § 536 b BGB

Zivilrecht

BGH Urteil 15.09.2015 VI ZR 175/14 Erhebliche Verletzung des APR, wenn in einem Buch einer ehemaligen Lehrerin unter Nennung des Namens Fähigkeiten und Verhaltsweisen einer Schülerin dargestellt werden

Zivilrecht

OLG Hamm Urteil 15.09.2015 4 U 105/5 Abmahntätigkeiten rechtsmissbräuchlich, wenn durch das Kostenrisiko der Abmahnungen das Eigenkapital des Abmahnenden fast aufgebraucht wird

Zivilrecht

OLG Hamm Urteil 25.09.2015 4 U 99/14 Klausel, mit der die Abtretung von Mängelgewährleistungsansprüchen untersagt wird, ist unwirksam

Zivilrecht

BGH Urteil 07.10.2015 VIII ZR 247/14 Suche nach geeignetem Nachmieter um Mietverhältnis vorzeitig aufzulösen umfasst auch die Durchführung von Besichtigungsterminen und das Einholen von Informationen über Bonität und Zuverlässigkeit

Zivilrecht

BGH Urteil 28.10.2015 VIII ZR 158/11; VIII ZR 13/12

Bisherige gesetzliche Möglichkeit der Gasanbieter Preise gegenüber Verbrauchern zu erhöhen nicht mit EU-Recht vereinbar - Preisanpassung aufgrund gestiegener Bezugskosten jedoch weiter möglich

Zivilrecht

BGH Urteil 04.11.2015 VIII ZR 217/14 Berliner Verordnung zur Reduzierung der Kappungsgrenze für Mieterhöhungen in laufenden Verträgen von 20 % auf 15 % rechtmäßig

Zivilrecht

OLG Frankfurt Urteil 12.11.2015 3 U 4/14 Wird der im Prospekt beworbene Blick aus einer Eigentumswohnung auf eine Skyline nachträglich verbaut, rechtfertigt dies zum Rücktritt vom Kaufvertrag

Zivilrecht

BGH Urteil 26.11.2015 I ZR 3/14; I ZR 174/14

Rechteinhaber können grunds. von Internetanbieter als Störer die Sperrung von Adressen verlangen, über die Rechteverletzungen erfolgen - zuvor müssen aber alle Mittel gegen unmittelbare Rechteverletzer ausgeschöpft sein

Zivilrecht

OLG Schleswig- Holstein

Urteil 11.12.2015 1 U 64/15 Pauschales Verbot der Mitnahme von E-Scootern in Bussen des ÖPNV diskriminiert Menschen mit Behinderung unzulässig

Zivilrecht

BGH Urteil 17.12.2015 I ZR 21/14 Bereitstellen eines Fernsehers mit Zimmerantenne durch Hotel stellt keine Wiedergabe eines Programmes dar, dass gegenüber der GEMA gebührenpflichtig wäre - anders wenn Signal über eine Verteileranlage in alle Zimmer gesendet wird

Zivilrecht

KG Berlin Beschluss 13.07.2015 8 U 15/15 Sicherung des Vermieterpfandrechts durch dauerfhaftes Zuparken der Grundstückszufahrt zu einer KFZ-Werkstatt ist als Besitzstörung zu unterlassen - Selbsthilferecht rechtfertigt keine Dauermaßnahmen

Zivilrecht

BGH Beschluss 22.09.2015 XI ZB 8/15 Anwalt muss fristwarenden Schriftsatz nach erfolgter Korrektur durch Büropersonal nochmals kontrollieren - keine Wiedereinsetzung in vorherigen Stand, wenn bei Korrektur versehentlich Faxnummer vertauscht und deshalb Frist versäumt wird

Zivilrecht

BGH Beschluss 29.09.2015 XI ZB 6/15 Zeugnisverweigerungsrecht entsprechend § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO besteht auch für den Ex-Ehemann der Geschäftsführerin der beklagten juristischen Person

Zivilrecht

BGH Urteil 23.09.2015 VIII ZR 284/14 Streichung eines Gebots bei eBay nicht wegen vermuteter Unseriösität des Bieters zulässig, weil dieser zuvor eine Vielzahl von Geboten zurückgezogen hat

Zivilrecht

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VI Iurratio 2 / 2016

BEruFssPEciAl inTErnETrEchT

Beim Internetrecht handelt es sich streng genommen nicht um ein Rechtsgebiet. Vielmehr ist es eine Zusammenfassung mehrerer Rechtsgebiete, die jeweils einen Bezug zum Internet aufweisen. Ge-nannt seien hier beispielhaft das allgemeine Zivilrecht, Strafrecht, Markenrecht, Urheberrecht, Datenschutzrecht, Wettbewerbsrecht oder Telekommunikationsrecht. Ein wichtiges – regelmäßig auch examensrelevantes – Phänomen stellt dabei der sog. E-Commerce dar, dessen immer weiter wachsende Bedeutung Auswirkungen auf das gesamte Zivilrecht zeitigt. Zwar sind für Vertragsschlüsse im Internet die bekannten §§ 104 ff., 145 ff. BGB anwendbar; dennoch haben auch einige Spezialvorschriften Eingang in das BGB gefun-den, um auf Besonderheiten des Internets angemessen zu reagieren (vgl. insb. §§ 312b ff. BGB). Indessen haben nicht nur Händler, son-dern auch Straftäter das Internet als lukrative „Einnahmequelle“ für sich entdeckt: So stellen sich durch Viren, Würmer oder Trojaner Gefahren für den Nutzer, auf die das Strafrecht angemessen reagie-ren muss (so geschehen z.B. durch §§ 303b, 202a StGB). Wer sich ei-nen Berufseinstieg im großen Kosmos des Internetrechts vorstellen kann, wird also mitunter auf bekanntes Terrain stoßen.Freilich bestehen die Rechtsquellen des Internetrechts nicht nur aus nationalem Recht: Dadurch, dass das Internet nicht an der Landes-grenze aufhört, spielen auch europa- und kollisionsrechtliche Rege-lungen eine große Rolle. So wird das Datenschutzrecht in der EU, das momentan aufgrund verschiedener nationaler Datenschutzge-setze einen eher fragmentarischen Charakter mit unterschiedlichen Schutzstandards in den Mitgliedstaaten aufweist, ab voraussichtlich 2018 durch die EU-Datenschutz-Grundverordnung vereinheitlicht. Bei Vertragsschlüssen kann mitunter fraglich sein, das Recht wel-ches Staates anwendbar und damit beispielsweise für die Frage nach

Mängelgewährleistungsrechten maßgeblich ist. Insofern bestehen auch für Spezialisten im Europarecht und Internationalen Privat-recht interessante Berufsmöglichkeiten.Die Berufschancen für Spezialisten im Internetrecht sind derzeit gut: Vor allem große und mittelständische Kanzleien, aber auch Unternehmen sind auf der Suche nach qualifizierter Expertise im Bereich IT- sowie Datenschutzrecht.Wer sich eine – in der Regel rechtsberatende – Tätigkeit im Bereich des Internetrechts vorstellen kann, hat an den meisten Juristischen Fakultäten die Möglichkeit, einen entsprechenden Schwerpunkt-bereich zu wählen und dadurch bereits erste theoretische Kennt-nisse zu erlangen. Auch eine Weiterbildung nach dem Staatsexa-men ist möglich: Hierzulande bieten diverse Universitäten einen LL.M.-Studiengang zum Informations- oder dem verwandten Me-dienrecht an:

Masterstudiengänge Informations- und Medienrecht

Name des Programms Hochschule

LL.M. Informationsrecht Universität Oldenburg

LL.M. Medienrecht Universität Mainz

LL.M. Medienrecht undMedienwirtschaft

Technische Hochschule Köln

LL.M. Immaterialgüterrechtund Medienrecht

Humboldt-Universität Berlin

LL.M. IT-Recht und Rechtdes geistigen Eigentums

Universität Hannover

Internetrecht: Breitgefächerte Sammlung von bedeutenden Rechtsgebieten

Spätestens seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts kann sich auch die Jurisprudenz nicht mehr vor dem Massenphänomen „Internet“ verstecken. Das braucht es indes auch gar nicht: Durch ausdifferenzierte Regelungen in verschiedenen Rechtsgebieten ist das deutsche Recht

heute in der Lage, die meisten Rechtsfragen, die im vermeintlichen „Neuland“ Internet auftreten können, zu beantworten.

Herr Solmecke, Sie sind Anwalt im Bereich des Internetrechts. Wie darf man sich Ihre Tätigkeit vorstellen? Im Prinzip sieht die Tätigkeit eines Anwalts für Internetrecht so aus wie die Arbeit eines jeden Anwalts. Mandanten rufen bei uns an oder kommen vorbei, beschreiben den Sachverhalt und wir er-arbeiten gemeinsam Lösungen. Speziell an meinem Bereich ist na-türlich, dass meist technische Kenntnisse die Voraussetzung sind, um die von den Mandanten geschilderten Sachverhalte zu verste-hen. Das ist es, was ich an meinem Interessensgebiet so liebe.

Wer sind Ihre Mandanten?Wir haben die unterschiedlichsten Mandanten aus ganz Deutsch-land und Europa. Meist handelt es sich um Unternehmen, die entweder schon lange existieren und sich jetzt auch online eine Existenz aufbauen wollen oder die eine gute Idee für eine App

oder Webseite haben und denen wir dann die rechtlichen Vor-aussetzungen dafür erläutern. Außerdem vertreten wir zahlreiche Online-Shops. Fast alle Mandanten stammen aus dem Bereich des Internetrechts oder des Medienrechts. Für uns ist das ein Vorteil, da wir mittlerweile in diesem Bereich fast jede Rechtsfrage schon einmal gehört haben. Die Mandanten sind dann oft verblüfft, wie schnell wir Ihnen Antworten geben können.

Auf ihrer Internetseite sprechen Sie in einem Video davon, dass Ihnen das Internetrecht bereits in die Wiege gelegt wurde. Sie haben bereits in jungen Jahren programmiert und waren auch im Journalismus tätig. Erzählen Sie von dieser Tätigkeit und wie Sie diese mit Jura verbunden haben.Ich weiß noch genau, dass ich mit elf Jahren meinen ersten Compu-ter bekommen habe. Es war ein Apple II c. Meine ganzen Freunde hatten damals einen Commodore C 64. Dafür gab es haufenweise

Interview mit RA Christian Solmecke, LL.M.

Christian Solmecke hat an den Universitäten Bochum und Köln Rechtswissenschaften studiert. Zwischen 2001 und 2002 absolvierte er neben einem LL.M. einige Zusatzausbildungen und spezialisierte sich auf das IT-, Medien- und Vertragsrecht. Seit dem Ende seines Rechtsre-

ferendariats, das er von 2002-2004 im OLG-Bezirk Düsseldorf ableistete, ist Christian Solmecke als Rechtsanwalt tätig. Seit 2010 ist er Gesell-schafter der Kanzlei WILDE BEUGER SOLMECKE in Köln. Die Fragen stellte Michaela Driendl.

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Der Stellenmarkt auf iurratio.de bringt junge Juristinnen und Juristen mit den besten Arbeitgebern aus der juristischen Welt zusammen.

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VIII Iurratio 2 / 2016

Spiele. Diese durfte man damals auch noch privat kopieren, da die entsprechenden Verbotsnormen im Urheberrecht noch nicht geschaffen waren. Ich stand jedenfalls ziemlich alleine mit mei-nem Rechner da. Insofern kaufte ich mir ein Buch zum Erlernen

der Programmiersprache Basic und fing damit an. Hinzu kamen weitere Programmiersprachen, die dazu geführt haben, dass ich während des Studiums verschiedene Internetprojekte (billige-fo-tos.de, piqs.de) geschaffen habe, die auch heute noch existieren. Meine Liebe zu Internetprojekten habe ich letztlich auch mit den Internetseiten Examensrelevant.de und Juridicus.de verwirklicht. Dort stellen wir Referendaren und Studierenden examensrelevan-te Fälle zur Verfügung und bieten Gedächtnisprotokolle von Klau-suren und mündlichen Prüfungen an. Verknüpft habe ich meine technischen Kenntnisse mit dem juristischen Wissen während des EULISP LL.M. Studiengangs in Hannover und Leuven in Belgien. Dort habe ich gelernt, wie wichtig es sein kann die juristische Dis-ziplin mit Fachwissen auf einem Gebiet zu verbinden.

Das Internet ist grenzüberschreitend. Insofern spielt auch internationales Recht eine Rolle. Wie wichtig ist eine internationale Ausrichtung und wie sieht es mit Sprachkenntnissen aus?Etwa 20 % unserer Mandanten kommen aus dem Ausland und wir müssen auf Englisch mit ihnen kommunizieren. Verglichen mit einer Großkanzlei ist das verhältnismäßig wenig. Ich habe aber fest vor, diesen Bereich weiter auszubauen, da gerade im Internet die Globalisierung der Welt am ehesten deutlich wird. Auch mit-telständische Kanzleien wie wir können gut einem ausländischen Unternehmen helfen, hier in Deutschland Fuß zu fassen. Es geht letztlich um die Anwendung deutschen Rechts. Insofern halte ich gute Englischkenntnisse für Juristen absolut für erforderlich. Ich selbst habe diese Kenntnisse während des Auslandsaufenthalts in Belgien erworben.

Das Internet ist einem stetigen Wandel unterworfen. Wie schnell reagiert der Gesetzgeber auf Änderungen? Und was würden Sie sich hierbei wün-schen?Im Prinzip bekommen wir das Internet mit den derzeit existieren-den Normen ganz gut in den Griff. Begeistert bin ich allerdings

BEruFssPEciAl inTErnETrEchT

RA Christian Solmecke, LL.M.

nicht von den aktuellen Gesetzen, die teilweise im Eilverfahren durchgepeitscht werden. Vielmehr faszinieren mich die alten Nor-men des ursprünglichen BGB, die nun schon 116 Jahre alt sind. Letzte Woche habe ich vor 100 Unternehmern einen Vortrag über

das Cloud Computing gehalten. Dabei wurde deut-lich, dass wir mit den guten alten mietvertraglichen Regelungen moderne Sachverhalte wie „Software as a Service“ immer noch gut in den Griff bekommen. Hingegen waren manch andere Normen, die in letzter Zeit speziell für das Internet geschaffen wor-den sind (wie zum Beispiel das Widerrufsrecht für E-Commerce Händler), unsäglich. Der Gesetzestext war so schlecht formuliert, dass selbst die Gerichte bei der Anwendung ihre Probleme hatten. Ich wün-sche mir also, dass künftig mehr Gehirnschmalz in die Konzeption unserer Gesetze gesteckt wird.

Sie halten auffallend viele Vorträge und stehen auch den Medien regelmäßig für Interviews/Beiträge bereit. Sehen Sie es als Ihre Aufgabe an, die Allgemeinheit über die Chan-cen und Risiken des Internets zu informieren?Angefangen hat alles damit, dass ich schon seit dem 15. Lebensjahr als freier Journalist für verschiedene Zeitungen geschrieben habe. Es folgten dann Statio-nen als Moderator und Nachrichtensprecher bei Ra-dio Ennepe-Ruhr Kreis, Radio Köln und dem West-deutschen Rundfunk. Eigentlich wollte ich immer

Journalist werden, erst mein LL.M. hat mir gezeigt, dass IT-Recht meine wahre Leidenschaft ist. Trotzdem habe ich die Nähe zum Journalismus behalten. Offenbar gelingt es mir, komplexe juris-tische Sachverhalte für jedermann verständlich in kurzen Sätzen darzustellen. Das lieben Journalisten und das ist auch der Grund, warum ich in diesem Bereich so viele Anfragen bekomme. Der Rest ist dann quasi ein Selbstläufer. Medien schauen sich andere Medien an und rufen die dort erwähnten Experten an. So bin ich auch zu meinen Vorträgen gekommen. Mittlerweile halte ich fast 50 Vorträge pro Jahr. Sowohl die Vorträge als auch der Experten-status in den Medien sind hervorragende Akquisemöglichkeiten und jedem Berufseinsteiger zu empfehlen. Der Einstieg ist zwar nicht leicht, doch wenn man diesen Motor einmal angeworfen hat, dann läuft er auch.

Sie haben ihr Studium und ihr Rechtsreferendariat bereits auf das Internet-recht ausgelegt. Würden Sie Ihre Studienzeit heute genauso gestalten? Und haben Sie hinsichtlich der Gestaltung der Ausbildung einen Tipp für junge Studenten?Tatsächlich habe ich während meines Studiums sehr viel nebenbei gearbeitet. Zum einen im Journalismus und zum anderen an mei-nen eigenen Internetseiten. Das hat auch dazu geführt, dass mein Studium eher etwas länger gedauert hat. Heute bereue ich das nicht, die relativ breite Ausbildung auf verschiedenen Disziplinen hat nun entscheidende Vorteile. Wenn man schon mit einigen Vor-kenntnissen in das Berufsleben einsteigt und sich frühzeitig spezi-alisiert, ist das auf keinen Fall von Nachteil. Doch auch eine späte-re Spezialisierung ist jederzeit möglich. Allerdings muss auch ich zugeben, dass wir Referendare und Anwälte bei Bewerbungen eher akzeptieren, wenn wir sehen, dass der jeweilige Bewerber schon Vorkenntnisse im Bereich des Medienrechts hat. Diese Vorkennt-nisse müssen allerdings nicht unbedingt zwingend nur juristischer Natur sein. Auch freie Journalisten oder Computer-Administrato-ren, die Jura studieren, kommen bei uns sehr gut an.

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Berlin Brüssel Düsseldorf Essen Frankfurt a. M. Hamburg Hannover Köln Leipzig London Luxemburg München Shanghai SingapurStuttgartYangon

Vom ersten Tag an mittendrin. Wir bieten unseren neuen Kolleginnen und Kollegen einen Einstieg mit direktem Mandantenkontakt und der frühzeitigen Übergabe von Ver ant wor t ung an. Voraussetzung dabei ist, dass Sie unseren hohen Qualitäts an spruch mittragen. Ob Berufseinsteiger oder mit Berufserfahrung – wichtig ist uns, dass Sie Ihre Examen mit Prädikat abge-schlossen haben, sehr gute Englischkenntnisse und Interesse an unterneh-merischen Zusammenhängen mitbringen.

Übernehmen Sie Verantwortung und bewerben Sie sich als:

Rechtsanwalt (m/w)Referendar (m/w)Wissenschaftlicher Mitarbeiter (m/w)

Bitte senden Sie uns Ihre Bewerbung über unser Online-Portal unter: www.luther-karriere.com

Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Dana Langensiepen,  Telefon +49 221 9937 25749

Rechts- und Steuerberatung | www.luther-lawfirm.com

Vertrauen. Verantwortung. Herausforderung.

Auf den Punkt. Luther.

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