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Eigenschaften unflüssiger Sprache
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung
Hauptseminar Sprachproduktion, Sprachperzeption und Versprecher
Sommersemester 2007
Dozent: Prof. Dr. J. Harrington
Referentin: Evelyn Glose
27.06.2007
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Eigenschaften unflüssiger Sprache________________________________________________________________________________________
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Gliederung
1. Ein Beispiel unflüssiger Sprache
2. Arten von Redefluss-Störungen
3. Die Sprechumgebung von Redefluss-Störungen
4. Akustische Eigenheiten von Redefluss-Störungen
5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
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1. Ein Beispiel unflüssiger Sprache
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1. Ein Beispiel unflüssiger Sprache: „Transkription“
„Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München (…) mit zehn Minuten, ohne dass Sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen - am am Hauptbahnhof in München starten Sie ihren Flug. Zehn Minuten - schauen Sie sich mal die großen Flughäfen an - wenn Sie in Heathrow in London oder sonst wo, meine s…, Charles de Gaulle äh in Frankreich oder in äh, in in äh in äh Rom - wenn Sie sich mal die Entfernungen ansehen, wenn Sie Frankfurt sich ansehen, dann werden Sie feststellen, dass zehn Minuten (…) Sie jederzeit locker in Frankfurt brauchen, um ihr Gate zu finden. Wenn Sie vom Flug… vom vom Hauptbahnhof starten, Sie steigen in den Hauptbahnhof ein, Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen in - an den Flughafen Franz-Josef Strauß, dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München. Das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern - an die bayerischen Städte heranwächst, weil das ja klar ist, weil aus dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.“ (Edmund Stoiber über den geplanten Transrapid in München)
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„Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München (…) mit zehn Minuten, ohne dass Sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen - am am Hauptbahnhof in München starten Sie ihren Flug. Zehn Minuten - schauen Sie sich mal die großen Flughäfen an - wenn Sie in Heathrow in London oder sonst wo, meine s…, Charles de Gaulle äh in Frankreich oder in äh, in in äh in äh Rom - wenn Sie sich mal die Entfernungen ansehen, wenn Sie Frankfurt sich ansehen, dann werden Sie feststellen, dass zehn Minuten (…) Sie jederzeit locker in Frankfurt brauchen, um ihr Gate zu finden. Wenn Sie vom Flug… vom vom Hauptbahnhof starten, Sie steigen in den Hauptbahnhof ein, Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen in - an den Flughafen Franz-Josef Strauß, dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München. Das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern - an die bayerischen Städte heranwächst, weil das ja klar ist, weil aus dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.“
ungefüllte Pause
Wiederholung
gefüllte Pause
Fehlstart/ Tilgung
Versprecher + Tilgung + Substitution/ Reparatur
2. Arten von Redefluss-Störungen
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2. Arten von Redefluss-Störungen
außerdem:
• Einfügungen, z.B. ich mein‘, weißt du, naja
• Längung eines Worts bzw. einer Silbe (inkl. äh/ ähm)
flüssiges Sprechen ist selten;
oft Kombinationen mehrerer Redefluss-Störungen
Redefluss-Störungen sind performance additions (Ergänzungen in der Performanz)
Erklärung: Theorie des zweikanaligen Sprachproduktionsmodells (Clark 1996):
1. Kanal: Inhalt
2. Kanal: Performanz/ Ausführung
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3. Die Sprechumgebung von Redefluss-Störungen
Welche Faktoren der Sprechumgebung beeinflussen Redefluss-Störungen?
Konversationspartner Mensch: mehr Redefluss-Störungen, v.a. Wiederholungen und Fehlstarts
Konversationspartner Computer: weniger Redefluss-Störungen, v.a.
gefüllte Pausen
Faktor 1: Sprechkontext: Mit wem spreche ich?
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3. Die Sprechumgebung von Redefluss-Störungen
Faktor 2: Position innerhalb einer Äußerung: an welcher Stelle treten am meisten Redefluss-Störungen auf?
Redefluss-Störungen treten eher zu Beginn einer Äußerung und an Grenzen von Intonationseinheiten auf…
• um das Wort zu ergreifen (v.a. Füll-Laute und Wiederholungen)
• um Aufmerksamkeit beim Hörer zu erzeugen
• weil die Aussage gerade geplant wird
• um Spannung aufzubauen
Je länger bzw. komplexer die Äußerung, desto mehr Redefluss-Störungen entstehen auch innerhalb der Äußerung (größere kognitive Leistung).
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3. Die Sprechumgebung von Redefluss-Störungen
Faktor 3: Sprecher-individuelle Unterschiede
2 Sprechergruppen:
„Wiederholer“ „Tilger“
langsamere Sprecher: schnellere Sprecher:
mehr Wiederholungen und mehr Tilgungen, Fehlstarts
Zögerphasen, weniger Fehlstarts und Neuanfänge, weniger
Zögerphasen
Durchschnitt bei 100 Sprechern in freier Konversation von Mensch zu Mensch:
6 Redefluss-Störungen auf 100 Wörter
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3. Die Sprechumgebung von Redefluss-Störungen
Faktor 4: geschlechtsbezogene Unterschiede
(in freier Konversation von Mensch zu Mensch)
Männer als Sprecher: mehr Redefluss-Störungen als bei Frauen, v.a. mehr gefüllte Pausen
lassen Hörer länger warten
Männer als Zuhörer: mehr Redefluss-Störungen des Sprechers/ der Sprecherin
als bei Frauen als Zuhörer
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4. Akustische Eigenheiten von Redefluss-Störungen
Redefluss-Störungen zeigen phonetische Charakteristika, die sie von fließender Rede unterscheiden.
Füll-Laute beispielsweise werden als separater „Hörstrom“ (auditory streaming) wahrgenommen (s. Folie 27).
Die meisten Redefluss-Störungen haben eine 3-Phasen-Struktur:
Quelle: Shriberg, S.160
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4. Akustische Eigenheiten von Redefluss-Störungen
Die meisten Redefluss-Störungen haben eine 3-Phasen-Struktur:
1. Reparandum (zu ersetzendes Sprachmaterial)
Unterbrechungspunkt: Sprecher (entdeckt Fehler und) stoppt Redefluss
2. Bearbeitungsphase/ Editing Phase: gar keine, stille oder gefüllte Pause (uh/ um), Einfügungen (I
mean); auch in Kombination
Pause kann auch ohne vorhergehenden Fehler auftreten!
3. Reparaturphase/ Repair: Wiederaufnahme der flüssigen Rede mit ausgebessertem Sprachmaterial
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4. Akustische Eigenheiten von Redefluss-Störungen
4.1 Akustische Effekte in Reparandum
Dauer: oft Längung von Reim oder Silbe vor dem Unterbrechungspunkt, z.B. diiieee – die Katze
Sprecher signalisieren Verzögerung
Längung erlaubt den Sprechern zu pausieren, ohne die Phonation zu beenden ökonomischer, weil kein Rückfall in Ruheatmung
aber: bei Entdeckung eines Sprechfehlers wird die Reparandum-Phase nicht gelängt, sondern eher gekürzt!
überwiegend am und um den Unterbrechungspunkt herum
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4. Akustische Eigenheiten von Redefluss-Störungen
4.1 Akustische Effekte in Reparandum
Stimmqualität: Längung manchmal von creaky voice, Tonhöhenfall und Abnahme der Lautstärke begleitet
abrupter Wortabbruch, unabhängig von Wortgrenzen, oft von Laryngalisierung begleitet(= zusätzliche Glottisverengung)
Vokalqualität: Spezialfall: the [ðə] [ði:]schwache Form mit reduziertem Vokal starke Form mit nicht-reduziertem Vokal (+ evtl. Längung)
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4. Akustische Eigenheiten von Redefluss-Störungen
4.1 Akustische Effekte in Reparandum
Koartikulation: Koartikulationsmuster ändern sich:bei den meisten Wiederholungen (z.B. die – die Katze) keine Transition am Wortende erkennbar keine Koartikulation
Grund: in Reparandum ist der folgende lexikalische Inhalt vorübergehend nicht erreichbar oder der phonetische Plan ändert sich während des Sprechens
aber: Tendenz der Sprecher, beim Zögern bilabiale Schließungen zu produzieren Sprechgeste wird abgeschnitten (siehe um/ ähm)
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4. Akustische Eigenheiten von Redefluss-Störungen
4.2 Akustische Effekte in der Bearbeitungsphase
Redefluss-Störungen oft mit ungefüllter Pause in der Bearbeitungsphase.
Wenn gefüllte Pause:
• Füll-Vokale (uh/um bzw. äh/ähm) dauern länger als die selben Vokale in flüssiger Rede
• Intonation sinkt
• oft Diplophonie: Abwechselnd starke und schwache glottale Reize während der Phonation
4.3 Akustische Effekte in der Reparaturphase
Ausgebessertes Element wird oft betont.
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
These von Clark & Tree (2002):
uh und um sind normale englische Wörter. Sprecher planen, formulieren und produzieren sie wie jedes andere Wort.
Das würde bedeuten:
• Füll-Laute sind Signale, keine inhaltslosen Symptome
• Füll-Laute haben eine eigene Bedeutung
• Füll-Laute sind Teil des englischen Sprachsystems
• Sprecher haben Kontrolle über die Auswahl der Füll-Laute
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.1 Drei Auffassungen von uh und um
1. Füll-Laute sind Symptome, d.h. die automatische, unbeabsichtigte Folge eines Sprechprozesses Füll-Laute haben keinen Inhalt, keine Bedeutung (Levelt, 1989)
2. Füll-Laute sind nicht-linguistische Signale, d.h. sie signalisieren „Unterbrich mich nicht!“, sind aber keine echten Wörter (Maclay & Osgood, 1959)
3. Füll-Laute sind linguistische Signale, d.h. Wörter des Englischen Interjektionen (Clark & Tree, 2002)
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.1 Drei Auffassungen von uh und um
Interjektionen:
Ausrufe-, Empfindungswörter ohne referentiellen Inhalt,
z.B. bravo, oh, huh, aha, wow, hey, hello, bye, okay, thanks
• drücken Emotionen aus
• beschreiben aktuellen Kenntnisstand einer Person (v.a. Überraschung)
• ersuchen Aufmerksamkeit
• werden zum Grüßen/ Verabschieden/ Danken benutzt
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.1 Drei Auffassungen von uh und um
Interjektionen:
• haben normale lexikalische Form
• stellen selbst eine Äußerung dar
• gehen keine Konstruktionen mit anderen Wortklassen ein (bilden kein Syntagma)
• Bedeutung definiert durch Gebrauch, nicht durch Umschreibungen
z.B. good bye = Ausdruck, um jdm Lebewohl zu sagen
• haben Grundbedeutung und implizierte Bedeutung(en)
z.B. good bye im Sinne von ‚go away!‘
• treten immer zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Äußerung auf
uh und um erfüllen diese Bedingungen Signale
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.2 Grundbedeutungen von uh und um
1. uh
Signalisiert den Beginn einer vom Sprecher als kürzer erwartete Verzögerung: „Ich bin ab jetzt für kurze Zeit nicht fähig weiter zu sprechen.“
um
Signalisiert den Beginn einer vom Sprecher als länger erwartete Verzögerung: „Ich bin ab jetzt für etwas längere Zeit nicht fähig weiter zu sprechen.“
Mehr und längere Pausen nach um als nach uh (siehe Fig. 1+2)
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.2 Grundbedeutungen von uh und um
Durchschnittliche Länge der Pausen nach Füll-Lauten
Deutlich längere Pausen nach um als nach uh
Prozentsatz der Füll-Laute, auf die eine Verzögerung folgt
Deutlich mehr Pausen nach um als nach uh
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2. u:h / u:m
Signalisieren das Andauern einer bereits bestehenden Verzögerung: „Ich bin bereits und werde weiter-hin nicht fähig sein weiter zu sprechen.“
uh / um
Signalisieren Beginn einer bevorstehenden Verzögerung: „Ich bin ab jetzt für kürzere oder längere Zeit nicht fähig weiter zu sprechen.“
Mehr und längere Pausen vor gelängten Füll-Lauten als vor normal langen
5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.2 Grundbedeutungen von uh und um
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.3 Implizierte Bedeutungen von uh und um
Implikatur = Äußerung, die etwas zusätzliches oder anderes als die Grundbedeutung beinhaltet; muss vom Hörer entschlüsselt werden
uh und um können u.a. implizieren:
• Sprecher erwartet normalerweise keine Verzögerung in diesem Moment
• Sprecher ahnt Verzögerung voraus
• Sprecher ist sich des Grundes für die Verzögerung bewusst
• Sprecher will das Wort behalten oder abgeben
• Sprecher will als nächster sprechen
• Sprecher ersucht Hilfe zur Beendigung seiner aktuellen Äußerung
• Sprecher markiert syntaktische oder Diskursgrenzen
• Sprecher denkt über das gerade Gesagte nach
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.4 uh und um als Teil des englischen Sprachsystems
Beweis:
1. Verschiedene Sprachen haben verschiedene Füll-Laute, z.B. deutsch äh/ ähm; franz. eu(h)/ em; schwedisch äh/ hmm
2. Engländer und Nordamerikaner benutzen uh und um für die selbe Hauptaussage (kürzere vs. längere Verzögerungen)
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.5 Die selektive Kontrolle von Sprechern über uh und um
• Sprecher geben ziemlich genau die Länge der bevorstehenden Pause an: je länger die Pause, desto eher wird ihr ein Füll-Laut
vorangestellt; je länger die Pause, desto eher wird ihr um als uh vorangestellt.
• Sprecher haben Vorlieben für bestimmte Füll-Laute: langsame Sprecher pausieren mehr verwenden mehr Füll-Laute, v.a. um
• Sprecher können Füll-Laute reduzieren oder eliminieren, wenn die Umstände es verlangen (z.B. öffentliche Rede)
• Sprecher beurteilen bevorstehende Pausen nicht nach ihrer absoluten Länge (kurz – lang), sondern nach ihrer lokalen Wichtigkeit (unbedeutend –
bedeutend) Wie auffallend ist die Pause in Intonationseinheiten/ an Grenzen von Intonationseinheiten?
Füll-Laute entstehen nicht automatisch bei Problemen oder Verzögerungen!
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.6 Wie formulieren Sprecher uh und um innerhalb einer Äußerung?
Innerhalb von Intonationseinheiten:
spezieller „Akzent“ auf Füll-Lauten, um sie von den sie umgebenden Wörtern perzeptiv unterscheidbar zu machen separater „Hörstrom“ (auditory streaming)
Als Ad-hoc-Intonationseinheiten:
Spontane Intonationseinheit, die nur aus Füll-Laut besteht oder spontane Intonationseinheit, die auf Füll-Laut endet, z.B. I must admit that um,… mit sinkender Intonation auf um
Als Klitika:
Füll-Laut (kurz und unbetont) wird an das vorhergehende Wort angehängt neue prosodische Einheit, z.B. and uh an.duh; but uh bu.tuh; the uh thi.yuh
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5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.7 Zusammenfassung
Die Füll-Laute uh und um sind englische Wörter, weil sie sich nach der englischen Phonologie, Prosodie, Syntax, Semantik und Pragmatik richten.
Phonologie: uh und um bestehen aus englischen Standard-Segmenten in Standard-Silben.
Prosodie: uh und um erhalten spezielle Intonationen („Akzent“/ fallend) oder bilden neue prosodische Einheiten (wenn Klitika).
Syntax: uh und um gehen als Interjektionen keine syntaktischen Konstruktionenein, erhalten ihre Bedeutung aber aus ihrem Platz darin (bestimmter
Zeitpunkt, an dem sie auftreten).
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Semantik: uh und um haben Grundbedeutungen und implizierte Bedeutungen. Die Grundbedeutungen sind in England und Nordamerika die selben.
5. Die Füll-Laute uh und um des Englischen
5.7 Zusammenfassung
Die Füll-Laute uh und um sind englische Wörter, weil sie sich nach der englischen Phonologie, Prosodie, Syntax, Semantik und Pragmatik richten.
Pragmatik: uh und um sind Signale, keine Symptome, weil sie von Sprechern gewählt werden können (selektive Kontrolle).
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Bibliographie
Clark, H. & Tree, J. (2002) Using uh and um in spontaneous speaking. Cognition, 84, 73-111.
Shriberg, E. (2001) To ‚errrr‘ is human: ecology and acoustics of speech disfluencies. Journal of the International Phonetic Association, 31, 153-169.