Download - Advent mosaik IV 2015
INHALT 01 | Camena Fitz ...................................................................3
02 | Claudia Kohlhus ........................................................... 10
03 | Martin Reiter ............................................................... 11
04 | Ingeborg Kraschl .......................................................... 13
05 | Luka Leben ................................................................... 14
06 | Jonas Linnebank........................................................... 17
07 | Simona Winkler ........................................................... 18
08 | Eric Ahrens ................................................................... 21
09 | Simone Lettner ............................................................ 23
10 | Marina Büttner ............................................................ 26
11 | Matthias Engels ........................................................... 28
12 | Natalia Fastovski .......................................................... 32
13 | Simone Scharbert ........................................................ 33
14 | Katie Grosser ............................................................... 34
15 | Claudia Maria Kraml .................................................... 36
16 | Maximilian Michl ......................................................... 38
17 | Sophie Stroux............................................................... 40
18 | Sigune Schnabel ........................................................... 47
19 | Andreas Schumacher ................................................... 49
20 | Gundula Maria von Traunstein .................................... 52
21 | Claudia Wallner ........................................................... 53
22 | Martin Piekar ............................................................... 55
23 | Andreas Haider ............................................................ 57
24 | Emanuel Gauß ............................................................. 58
01 | CAMENA FITZ
BAUCHGE.FÜHL
ein haus
wohnt
in meinem bauch
in meinem bauch wohnt ein haus
ein haus mit 3 zimmern und 1 treppe
in einem raum gibt es ein rechteckiges
| fenster |
mit schwarzem rahmen
schwarz und aus eisen
allein
kann ich das | fenster | nicht öffnen.
als ich mich in dich
verliebe
beistrich
lad ich dich ein
in das haus
in meinem bauch.
du kommst und
bist ein guter
erster gast.
doch du willst nicht, dass ich
allein
in der dunklen ecke
sitz.
und dann
gehst du.
ich verschließ die tür 3 mal
und kontrollier 4 mal
ist sie ordentlich verschlossen?
und dann setz ich mich in meine
dunkle
ecke
in dem raum mit dem schwarzen
eisenfenster
in dem haus
in meinem bauch
in dem raum mit dem schwarzen
eisen | fenster |
in dem haus
in dem. in meinem bauch
und
allein
kann ich das | fenster | nicht öffnen.
ich bin
immer noch
verliebt
in dich,
als du vorsichtig an der tür
klopfst
ich stell mich schlafen
und du klopfst jetzt ans | fenster | .
ich schau hindurch und schüttle den kopf.
da gehst du wieder
doch vor der tür vor dem haus
in meinem bauch
steht
jetzt
ein sofa.
von meiner dunklen ecke aus
kann ich
es
nicht
sehen.
du bist
verliebt
in mich,
als ich dich mitnehm
auf den weg zu dem haus
in meinem bauch.
wir setzen uns auf das sofa
vor dem haus
in meinem bauch
dort bleiben wir die ganze
nacht
und den halben mond
lang
dir wird kalt, du willst ins haus.
wir sollten
das sofa
mit hinein nehmen,
schlägst du vor...
ich geh hinein in das haus
in meinem bauch
und schick dich raus
schlaf gesellt sich zu mir
zu mir
in meine dunkle
ecke
er stiehlt das licht
aus
meinen augen
und du sitzt auf dem sofa
vor dem haus
in meinem bauch.
am nächsten morgen
als der tau nicht
länger
glitzert,
nimmst du das sofa
und du gehst.
ich blick durch
das schwarzeisenfenster
allein
kann ich das | fenster | nicht öffnen.
dort wo das sofa stand, ist
jetzt
ein dunkles loch in der grünen wiese
vor dem haus
in meinem bauch
ich will dort blumen säen
oder lieber einen baum pflanzen?
ich will dich
um deine meinung
fragen
als ich dich endlich wiederfind,
sind wir verliebt
ineinander.
wir gehen zu dem haus
in meinem bauch
gemeinsam
lange stehen wir vor dem dunklen loch
vor dem haus
in meinem bauch
und halten händchen.
du wirfst einen kirschkern
gegen das schwarzgerahmte eisenfenster
wir gehen rein und
streiten
als du gehst, wart ich
in meiner dunklen
ecke
ich wart vergeblich auf schlaf
die erde hat sich halb verdreht
und noch immer
sitz ich
in dem schwarzeisenfenstergerahmten
zimmer
dunkler noch, ist jetzt meine ecke.
im ganzen raum
scheint kaum mehr sonne, noch licht.
es klopft
an der tür
ich öffne die tür
von dem haus
in meinem bauch
dort stehst du
nicht
nur das sofa, nicht du
und vor dem haus
in meinem bauch
steht
jetzt
ein kleiner baum
seine äste stoßen an das | fenster |
allein
kann ich das | fenster | nicht öffnen.
jeden abend wünsch ich mir, dass du
in das haus
in meinem bauch
kommst.
ich bring das sofa rein und
schlaf
Camena Fitz
02 | CLAUDIA KOHLHUS
weiße welten die keine weißen westen tragen
in stillen nächten gebrochene versprechen
engelchen ohne flügel wenig zeit sich die
ärschlein zu wärmen bei bratendüften
ins abseits gestritten ins gebet genommen
sich gegenseitig das messer in den rücken
gewünscht dafür in der kirche lauter
gesungen
Claudia Kohlus
03 | MARTIN REITER
ZÄHL DIE TAGE
Ich weiß Dezember bringt uns Lichter
Und Jänner nur noch Schnee.
Wenn Februar dann kommt
Dann kann ich ihn nicht mehr sehen.
Und Sunrise, Sunrise, Sunset.
Ich lieg wach in meinem Bett.
Ich spür das Pochen meines Herzens,
Hör das Rauschen in meinem Kopf.
Der stete Schritt der Wochentage
Verwandelt sich in Alltagstrott.
Und Stunden werden zu Tagen,
Werden zu Wochen, werden zu Jahren.
Und eins weiß wirklich keiner:
Wie viel Zeit wir hier noch haben.
Zähl die Ringe unter meinen Augen und
Du weißt wie alt ich bin.
Zähl die Träume in meinem Herzen,
Innen drin bin ich noch Kind.
Und ich durchschau‘ das Schema,
Doch ich halt mich weiter dran.
Es ist so schwer was zu verändern,
Wenn man sich selbst nicht ändern kann.
Und Stunden werden zu Tagen,
Werden zu Wochen, werden zu Jahren.
Und eins weiß wirklich keiner:
Wie viel Zeit wir hier noch haben.
Martin Reiter
04 | INGEBORG KRASCHL
ADVENT
Gewiss
warten wir auf innigere Tage -
wenn unsere Stummheit aufbricht
sich Augen in uns
und ineinander kehren
herzerfüllte Worte
die Lippen überwinden
wir in unserer Welt
den Nächsten erkennen
und den Blick
für das Große
immerzu bewahren
Ingeborg Kraschl
05 | LUKA LEBEN
ALLE JAHRE WIEDER
Die Welt dreht sich vom aufzeichnenden Auge unbemerkt,
wie die Felgen eines Sportwagens am Großbildfernseher. Je
mehr Zeit man sich nimmt, um zu schauen, umso mehr fällt
auf, dass sich nichts tut. Und doch ist irgendwann wieder ein
Jahr vorbei und noch eines und die Lichterketten ranken sich
an den Geschäften und Boutiquen empor wie die Rosen des
Dornröschenschlosses seit Jahrhunderten Abend um Abend in
den Gutenachtgeschichten der westlichen Kultur, nur dass
dahinter nicht die unendliche Ruhe des (Winter)schlafs
einkehrt, sondern ein alptraumhafter Mahlstrom an
Geschäftigkeit.
Das hübsch anzusehende Überwuchern kann man auch in
zeitgerafften Dokumentationen des Zerfallsprozesses
beispielsweise eines Weihnachts-apfels beobachten: Der
Schimmel sprießt und zuckt tänzerisch mit seinen feinsten
Härchen, manchmal springt etwas ganz unerwartet hervor
und erweckt im Betrachter ein süßes Erschrecken und
insgesamt sammelt sich alles zur samtenen Geborgenheit
eines Pelzes, wie von einem kleinen wichen Tier, man möchte
schon die Wärme eines pochenden Herzschlags darin
vermuten, aber bald! – zeigt sich das verfaulte schwarze
Fleisch im Inneren, dass immer mehr verkümmert und
schließlich gottseidank verschwindet!
Auch in den Geschäften tummelt sich das überschäumende
Leben: Die Augen der ausgezehrten, burnout-gefährdeten
Beamten, Betriebswirte und Babysitter glänzen im Fieber der
Selbstüberwindung – sie spüren weder Hitze noch Kälte,
keinen Durst und nicht die schmerzenden Füße – alle
Körperfunktionen fallen dem übermächtigen Treiben des
Gehirns, dass nur noch seiner Fixierung auf ein Ziel folgt, zum
Opfer: Weihnachten! Rauschende Feste, Gemütlichkeit,
Beisammensein, Intimität, Besinnung – all dies muss durch
größte Entäußerung und Disziplin vorbereitet werden! Es liegt
in der Natur der Sache, dass die Erleichterung des Einbruchs
nur auf die äußerste Belastung folgt:
Wenn man mit Schultern, die verspannt sind, wie die eines
Langzeit-gefängnisinsassen im höchsten Sicherheitstrakt,
nach der Bescherung im Bett liegt und zum ersten Mal
bemerkt, dass man Schmerzen hat und, wenn man dann den
geliebten Partner bittet, den Schmerz durch zärtliches
Betasten zu lindern und dieser murrend reklamiert, dass man
überhaupt die ganze Zeit schon so angespannt sei und damit
allen die Freude verderbe und, wenn man daraufhin in Tränen
und Rotz ausbricht und all den Glühwein und die Gänsesuppe
aus sich heraus weint, und wenn man dann den Partner aus
den verbliebenen Leibeskräften anbrüllt und sieht, wie er
aufrichtig erschrickt, wie in ihm das staunende Kind wieder
zum Vorschein kommt, und man in sich einen Funken
Zärtlichkeit diesem Kind, das er einmal gewesen sein muss,
gegenüber aufkeimen spürt, dann, ja dann ist Weihnachten.
Luka Leben
06 | JONAS LINNEBANK
ich liebe dich
weil du mich mein
-st wir werden
ohne zu irren
weiter du wir
-st größer ich
passe mit hin
-ein liebewesen
Jonas Linnebank
07 | SIMONA WINKLER
AM WEIHNACHTSMARKT
Besinnlich weihnachtlich sind wir heut‘ eingestellt
Der dritte Glühwein soeben bestellt
Am Weihnachtsmarkt stehend, ringsum so viele Leut‘
Wo sich jedermann an der Weihnacht erfreut
So viele Sachn dort zu finden sind
Kugeln, Krimskrams und dazwischen das Jesuskind
Chicken Nuggets, Burger und Wedges zum Verzehr
Zuckerwatte, Popcorn und vieles mehr
Santa Claus sieht man an allen Seiten
Im Schlitten von Rudolph gezogen gen Norden reiten
Turmgebläse soll bringen besinnliches Flair
„Last Christmas“ ist aber alles, was ich hör‘
Die Massen drängen sich von Stand zu Stand
zerren das Kind mit sich an der Hand
„Mama, ich glaub ich hab das Christkind gesehen!“
„Emma nein, wir wollen doch zum Weihnachtsmann gehen“
Der hat einen Bart, Elfen und Listen mit Namen
Die Bösen, die leer ausgehen und die Guten, die was
bekamen
„Das Christkind hat noch jedem was gebracht,
egal, was man übers Jahr so macht“,
denkt Emma, doch lässt sich weiterschieben
„Hauptsache die neue Wii ist aufgetrieben.“
Der nächste Zehner wird verprasst
Mal sehen, was noch alles in die Bäuche passt
Noch was Kitschiges für Tante Gerti gefunden
Einfach ein Engerl oben drangebunden
Advent, die stille Zeit im Jahr
So still, ich nehm‘ sie kaum noch wahr
Steckte einst nicht mehr dahinter?
Als Glühweinstand im kalten Winter?
Gemeinsam singen vor dem Baum
Geschichten lesen, man glaubt es kaum
Wer hat den heutzutage noch Zeit zum Lesen?
So stressig ist es früher nicht gewesen.
Weihnachtsfeiern fast jede Woch‘
Kekse, Kränze, Kerzen – Geschenke brauch ich noch
Den Baum darf man auch nicht vergessen
Und natürlich den Truthahn zum Essen
Vorher kommt noch der Nikolaus
Und bringt allerlei Nüsse und Schoko ins Haus
Von Perchtenshow zu Krampuslauf
Den Lärm und Trubel nehm‘ ich in Kauf
„Die Zeiten ändern sich halt!“ sagt man und lacht
„Und hat es uns wirklich was gebracht?“
Die Tassen stimmen klirrend mit ein
Darf‘s noch ein warmer Glühwein sein?
Simona Winkler
08 | ERIC AHRENS
WEIHNACHTSMARKT
Kinder kotzen neongrün
als hätten sie verdorbene Kobolde gegessen.
Du investierst zwanzig Tacken
an Plastikpferderennbuden
und dein Hauptgewinn ist ein Plüschtier,
von dem du Ausschlag bekommst.
Die Gesichter der Schausteller steinern,
wartend auf den nächsten Trottel,
der glaubt, sich mit einem Greifarm
ein iPad fischen zu können.
Karussells katapultieren dich
in den endlosen Nachthimmel
und für einen Augenblick wünschst du dir,
sie würden dich loslassen und du könntest
über den Dächern verschwinden.
Doch diese Sehnsucht wird
vom dampfenden Glühwein vernebelt,
der dich in selige Stimmung versetzt
und die Musik aus allen Ecken sagt dir,
dass alles gut wird.
Nach ein paar Bechern bist du breit genug,
um mit der ganzen Welt Frieden zu schließen.
Um verschüttete Freundschaften anzurufen
und ihnen zu sagen, dass es dir leid tut,
wie es gelaufen ist.
Aber soweit kommt es nicht.
Du setzt dich lieber in die Gondel
einer Geisterbahn und hoffst darauf,
dich wieder wie ein Kind zu fühlen.
Mit Herzklopfen und Nervenkitzel.
Aber als du nach wenigen Minuten
wieder rausgeschoben wirst
schaust du finsterer drein
als die Deko-Dämonen
an der Fassade.
Die Euphorie
runtergebrannt
wie klumpiges Kerzenwachs.
Früher war es leichter,
sich zu begeistern.
Verarschen zu lassen,
aber auch.
Eric Ahrens
09 | SIMONE LETTNER
EIN KLEINER ADVENTSPAZIERGANG
Gestern Abend ging ich spät noch spazieren. Ich ging
unbedachten Schrittes meines Weges, in wirre Gedanken
versponnen, das dumpfe Tönen der Autobahn vernehmend.
Ich fühlte keinen Weihnachtsfrieden in mir. Die nächtliche
Stille war nicht friedlich, sondern bedrohlich. Die Kälte kroch
in mich, und ich hieß sie willkommen.
Ich kam bei meinem Spaziergang zum Gemeindehaus. An
dessen Wand waren ein paar Worte gemalt: „Zünde ein Licht
an“ stand da zu lesen. Ich ging daran vorbei, und noch
während die hellen Worte vor meinem geistigen Auge
aufflammten, schaltete der automatische Bewegungsmelder
vor der Eingangstür des Gebäudes eine oberhalb angebrachte
Neonlampe ein.
Da überkam mich als mit zusammengekniffenen Augen hilflos
Blinzelnde der Gedanke, wie überflüssig es in der heutigen
Welt scheint, als Mensch selber ein Licht anzuzünden, wenn
doch überall automatische Bewegungsmelder sind. Und auch
andere künstliche, scharfe Lichter begleiten uns schließlich
stets, Werbeplaketten, Firmenzüge, Leuchtaufschriften,
Weihnachtsketten und Warnleuchten. Ganze
Gebäudekomplexe sind nachts ausgeleuchtet. Nicht einmal
abstellen kann man diese Lichter. Sie verfolgen einen, und sie
lassen einen nicht in Frieden.
Wir befinden uns in einer Welt der Zwangsbeleuchtung,
vielleicht auch der Zwangsverblendung. Manches Mal möchte
ich gerne auf das Licht verzichten, zöge es vor, mich im stillen
Dunkeln einzuhüllen – doch dann kommt man an einem
automatischen Bewegungsmelder vorbei, und der taucht
einen gnadenlos ins grelle Helle.
Das Künstliche an diesem Licht ist verklärend. Es überblendet
jeden natürlichen, ehrlichen, aufrichtigen, unscheinbaren
Lichtfunken, der noch am dunklen Horizont zu schimmern
vermag.
Diese Lichter, über die man keine Verfügung hat – die sich
von selbst einschalten und leuchten, ohne dass man sie
ausschalten könnte, sind mir unangenehm, wie würde ich
denn noch selbst ein Licht anzünden, wenn mich stets so
grelles Industrielicht umgibt?
Was bedeuten heute vier Kerzen auf einem Kranz?
Was bedeutet heute ein aufrichtiges Licht, das aus mir
kommt, aus meinem Inneren, das Wärme erzeugt und
Geborgenheit, und nicht Kälte und Ausgesetztheit wie die
Neonlampe? Welchen Wert hat es und welcher Anstrengung
bedarf es? – Vermutlich einer größeren als ich bisher je
gefühlt habe.
Das künstliche Licht mit seiner selbstverständlichen
Vorhandenheit soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass
wahres Leuchten ein Geschenk ist – das grelle Fabrikprodukt
soll uns nicht blind machen für die viel kleineren, viel
ehrlicheren Lichtstrahlen mit viel wesentlicherer Wirkung, die
Menschlichkeit verkünden. Wir brauchen nicht so sehr Städte,
die die ganze Nacht auf elektrische Art zum hellen Tag
erstrahlen lassen – wir brauchen viel eher Meere an Herzen,
die mit menschlicher Wärme das hereingebrochene Eis zum
Schmelzen bringen, durch die Dunkelheit strahlen und ein
Zeichen setzen.
Simone Lettner
10 | MARINA BÜTTNER
GLANZ & ELEND
Da oben die Sterne, Planeten,
das Leuchten ein Raum & unten im Dreck
wir
die Erde steht Kopf wir rennen,
wir rammen einander um,
wir reißen wie Gladiatoren, wie Stierkämpfer
die Gegner entzwei doch oben sind manche
die trudeln wie Engel durchs All
haben die Häupter erhoben
die Füße gestreckt, ihre Flügelspitzen gereckt
wird der Sauerstoff knapp, tauchen sie
herab in die Erdatmosphäre zurück
in den Dreck & fangen
die Entzweiten, die Geteilten, die Geliebten und Enteilten
halten sie fest mit gefiederten Armen - viele fliehen
vor den reinen Gesichtern
fühlen sich höher & sind doch in naher Ferne dicht der Erde
bald darunter bald Asche verstreut überm Wasser
Marina Büttner
11 | MATTHIAS ENGELS
MANN VOR WINTER
Ein Mann steht vor seinem Winter.
Er steigt aus dem Schlaf und geht ins Haus.
Aus den Briefen fischt er einen heraus. Er ist von ihm. Ein
alter Plan steckt darin und er stellt fest, er kann ihn nicht
mehr lesen.
Er fragt seinen Schatten, aber der ist das Stillstehen leid und
winkt ihm wortlos zum Abschied. Ein Mann sieht eine Wand
an, sieht aus dem Dunkel. Vor dem Haus steht eine Hoffnung.
Man sieht es nicht, aber eine Ahnung frisst an ihr, ganz
langsam, von unter der Rinde.
Ein Mann sieht in einen alten Spiegel, aber der Junge darin ist
verschwunden. Ein Mann setzt sich zu seinen Zweifeln. Sie
rücken auf und machen Platz. Er blättert in Bildern, merkt,
dass er nicht darin vorkommt und schaltet sie ab.
Er isst noch etwas von seiner Gewohnheit, trinkt den Tag aus,
rückt die Ängste in den Regalen zurecht. Er tastet nach
seinem Gesicht, daß er unter das Kissen gelegt hat, in der
Hoffnung, sich so vielleicht diesen Morgen daran zu erinnern.
Er horcht auf das Rauschen. Die Maschine verrichtet ihre
sinnlose Arbeit. Er achtet nicht weiter darauf, schneidet sich
die Wünsche, kämmt seine Gedanken streng, legt eine
Vorsicht auf und schlüpft in eine Erscheinung.
In der Bahn schwitzen links und rechts Geheimnisse, deren
Geruch er schwer ertragen kann, dampft Dummheit, drängen
Hormone zum Botenstoff, dösen Dramen träge vor sich hin.
Auf der Arbeit konfrontiert man ihn mit Leben, mit lauter
MENSCH. Er erträgt es und denkt dabei an sein Spiel.
Er sucht überall einen Horizont, eine Null-Linie ohne
Ausschlag, eine millimetergenaue Eichung; ertappt sich, wie
er mit der Schuhspitze Krater scharrt in die Grasnarbe des
Parks, auf der Suche nach Kabeln und Kupferrohren. Mit dem
Finger versucht er Löcher zu bohren in brüchige blaue Stellen
am Himmel, er vermutet dahinter ein Drahtgeflecht.
Er kauft ein Tuch. Den Zweck kann er der Verkäuferin nicht
nennen, er braucht es weder für Tisch, noch Hals, noch Bett
und es fällt ihm schwer, sich zu besinnen:
Was war noch Tisch, was Hals, was Bett? Die Verkäuferin
kassiert seine Würde und legt sie in die Kasse.
Er braucht das Tuch für die Nacht. Ob die Welt schläft wie der
schwatzhafte Vogel, wenn es sich schwärzt um sie herum?
Ein Mann schüttelt den Kopf. Immer schwirrt ihm das Staunen
genau ins Auge! Er nimmt seine Maske ab, wischt es fort und
setzt sie wieder auf. Ein Mann fährt heim. Unterwegs sieht er
flackernde Vergnügen und wie Feuerwerkskörper
verglühende Versprechen. Er steigt aus, seine Haltung lässt er
im Wagen. Unter seinen Schuhen splittern die Minuten wie
Murmeln.
Am Zaun lehnt sein Schatten und friert. Im Nachbarhaus
wohnen Wort, Hunger und Armut und werfen Blicke von
hinter den Vorhängen. Sicher hat er Morgen wieder eine
Häme an die Hauswand geschmiert.
Ein Mann steht vor seinem Winter. Er kommt ins Schwitzen
und nimmt den Mut ab, entledigt sich seines Gewissens. Er
liest ein paar Minuten auf und rollt sie hinüber zum Zaun. Er
war nie gut darin und der unbekannte Junge am Zaun
schmunzelt.
Ein Mann atmet einen Abend. Von drinnen rufen die Dinge,
rufen die Bilder, ruft die Angst. Er hört die Hast laut klingeln.
Ein Mann steht am Zaun und streckt die Spitze der Zunge
heraus, ganz langsam und nicht sehr weit. Ein Mann schmeckt
seine Zeit, sie schmeckt salzig und leicht nach Eisen.
Ein Mann steht im Winter und fühlt, wie sein Bedauern taut.
Er hat den Haufen Verzicht unter dem Baum im Herbst nicht
aufgekehrt, täglich fiel Blatt auf Blatt. Er wollte die Wut nicht
wecken, die darunter schläft wie ein kleiner Nager.
Er fühlt wieder sein Gesicht und versucht einen Ausdruck. Im
Zimmer spürt er seine Hände und denkt:
Eine Tat wäre ein Gedanke.
In der Besteckschublade findet er einige kleine Möglichkeiten,
zusammen mit Büroklammern, Reißnägeln und Schlüsseln, für
die es kein Schloss mehr gibt.
Ein Mann findet einen Faden und den kläglichen Stummel
eines Stifts. Er sieht kleine Partikel Graphit in kleinen Scharten
eines Gewebes aus Fasern zurückbleiben und ein Staunen
schwirrt wieder direkt in seine Augen. Er lässt es dort und
freut sich am Prinzip der Reibung.
Reibung erzeugt Wärme, sagt sein Schatten und schaut ihm
interessiert über die Schulter.
Ein Mann denkt einen Weg, ein Mann denkt einen Wald.
In einer Ecke spinnt etwas einen Faden. Ein Mann schreibt
sein Leben. Das Papier bleibt winterweiss, aber die Reibung
der Schreibhand erwärmt es langsam.
Ein Mann setzt zögernd Zeichen auf ein fragwürdiges und
irgendwann zerfallendes poröses Material und irgendwo tief
unten, im staubigen Bauch eines dunklen Möbels, antwortet
etwas mit leisem Pochen, was der Mann jetzt noch nicht
hören kann.
Matthias Engels
12 | NATALIA FASTOVSKI
VERLORENE WELT
Wir sind gefangen
in dieser Welt
mit einem kaputten Herzen,
verloren in Atemzügen,
die keine Zukunft haben.
Verzweifelt pulsieren
unsere Adern
und wir hauchen
uns gegenseitig Leben zu,
denn solange die letzte
Blüte noch blüht,
ist nicht diese Welt
und nicht unsere Liebe
verloren.
Natalia Fastovski
13 | SIMONE SCHARBERT
NACHTS III
und stocken einen satz nach dem anderen stecken im
neonguss der straßenlampen haben seltsame größen für
einen moment und werden so ein nervöses wechselspiel aus
konkav und konvex lachen uns angst zu im dünnlicht der
röhren
führen wir unsere silhouetten an leinen und staunen über ihr
stilles miteinander und ob sie einander kennen fragen wir uns
während wir schulter an schulter gehen klappen unsere
schatten wie tintenbilder auf mittig geknicktes papier
unser brustbein die achse im jetzt lehnen wir schulter an
schulter die mauer im rücken und sehen unsere schatten
verblassen die nacht während neonröhren flimmern und wir
nur einen augenblick lang fenster und türen geöffnet halten
Simone Scharbert
14 | KATIE GROSSER
TREUE HÄFEN
Mein Blick, er geht weit in die Ferne
Zum Horizont, so groß und klar
Wo Sonne nachts im Sterben Sternen
Das Leben schenkt, ein ewig Kreis
Auf sanften Wellen gleiten Schiffe
Mal links, mal rechts an mir vorbei
Sie tragen Menschen, große, kleine
Die Jungen, Alten, Menschheit ganz
Ein jeder ist auf seiner Reise
Und viele jagen eines nur
Der Hunger groß nach Abenteuer
Ist ihrer Segel starker Wind
Ich seh sie fremde Länder finden
Und bis auf tiefsten Meeresgrund
Sich kämpfen nur mit purem Willen
Sie segeln auch durch stärksten Sturm
Erschreckend groß sind die Gefahren
Doch trotzig bieten sie die Stirn
Der Horizont ist nicht das Ende
Er kann für sie nur Anfang sein
Mein Kahn, auch er treibt stets nach vorne
Folgt meinem Segel, das ich setz
An altbekannte, treue Häfen
Ich spür nur Regentropfen sanft
Ich weiß, das Meer, es geht noch weiter
Auf Wegen stets der Sonne nach
Und manchmal denk ich, was wohl wäre
Wenn ich drauf schlüge meinen Kurs
Und doch mit leichtem Herz ich winke
Den vielen Abenteurern nach
Gönn ihnen Glück und ihre Spannung
Und würde doch nicht tauschen woll’n
Denn treue Häfen sind mir lieber
Bekannte Küsten freu’n mein Herz
Das dann vor Freude schlägt auch höher
Wenn lange Reise sicher schließt
Der Horizont mag weit und riesig
Das Meer selbst gar unendlich sein
Mein Glück liegt mitten in mir selber
Am Steuer sitz nur ich allein
Katie Grosser
15 | CLAUDIA MARIA KRAML
ZWISCHENSTATION
stummes wispern ferner zeiten
allegorie dem raureif gleich
lässt zurück des frühlings leiden
das neuer namen kenntnis weicht
alte lettern voll der mären
erwachend hoffnung leicht zerspringt
aufenthalt nicht um zu währen
kälte bald durch rückgrat dringt
wo der winterwind mit flocken
blasse straßen nachts durchfährt
und zerreißend hell der glocken
luftbotschaft einlass begehrt
und engelsschwert geformt aus stahl
vor des trubels froher schar
erdolcht der grenzen flieh’nde qual
rettet zukunft übers jahr
funkelnd blick wie kieselsteine
bleibt in traumes mut besteh’n
geflüstert wort es ist das meine
verweile doch du warst so schön
Claudia Maria Kraml
16 | MAXIMILIAN MICHL
DARSTELLUNG GEMEINSAME TOPOLOGIE (GEOMETRISCH,
MÄANDRIEREND)
Wenn du ziehst
dann geb ich Druck
sanft, folgend deinem Weichen
Das, was du willst
wollt’ ich bereits
umriss schon erste Zeichen
Wenn wir wo sind
sind wir ein Tanz
umkreisen gemeinsam
Weil wir wer sind
sind wir sonst einzeln
alleine, nicht einsam
Dann, wenn mein Kreis
den deinen deckt
in filigranster Passung
Trinke ich gierig
aus dir Kraft
und geb dir dafür Fassung
Du lässt dich
setzen, fassen
uns: klinken ineinander
Ich: berste schier vor Kraft
wir: waren Kreis,
werden Mäander
Deine Facetten brechen Licht
umgeben dich mit Funkeln
nur
neben dir
bin ich bei mir
Ich möchte, dass wir schunkeln
Maximilian Michl
17 | SOPHIE STROUX
EMMA
Die Bäckerei, vor der ich stehe, ist klein, hellgrün und in ihr
windet sich die Schlange durch die wenigen speckigen
Holztische, durch die Glastür und vor dem Geschäft um eine
Ecke. Von oben sehen wir wohl aus wie eine Kreuzotter, die
sich ihren Weg durch ein Labyrinth sucht, denke ich, eine
Kreuzotter und ich bin nur ein kleiner Punkt auf ihrer Haut,
die sie bald abwerfen wird. Ich mag es, zu warten, denn dabei
verwandele ich mich von diesem kleinen schwarzen Punkt zu
einem Chamäleon, das hier und da den Gesprächen lauscht,
die Gedanken anderer mitdenkt und unsichtbar wird
zwischen ihnen.
Hinter der Glasscheibe erkenne ich den alten Mann mit seiner
Zeitung von gestern und seinem halben Croissant. Schon
letzte Woche saß er an dem Tisch vorm Fenster. Ich
beobachte die Katze, die sich normalerweise auf den
Motorhauben der geparkten Autos wärmt, aber heute die
Menschen, die vor der Tür anstehen, misstrauisch beäugt.
Hinter mir diskutiert jemand über Blues und vor mir über den
Dozenten, der ständig an seiner Brille kaut, wenn er
nachdenkt – also immer – und ich merke, wie ich anfange
mich einzublenden, Chamäleonfarben annehme, als mich ein
Lichtreflex wieder aus der Starre holt.
Es sieht aus wie die Spiegelung der orangen Katze, aber als ich
mein linkes Auge zusammenkneife, wird die Katze zu Haaren.
Haare?, denke ich kurz verdutzt, und dann gewöhnen sich
meine Augen an den Blick durch die Glasscheibe und ich
erkenne ein Mädchen. Ihre rottanzenden Haare sind es, die
aus der Schlange hervorleuchten. Das Mädchen ist groß,
größer als der Mann hinter ihr mit seinem gelben Polunder.
Und sie tritt nervös von einem großen Fuß auf den anderen,
zupft an ihrem T-Shirt herum und blickt sich immer wieder
um. Platzangst, denke ich im ersten Moment. Aber das passt
irgendwie nicht. Vielleicht ist sie eine von denen, die Warten
nicht ausstehen können? Vielleicht kann sie einfach nicht
stillstehen?
Wir sitzen in einer Wohnung mit grüner Tür an einem
speckigen Holztisch, in den sich Holzwürmer verkrochen
haben. „Meine Liebe,“ sage ich über die Erdbeeren mit Milch
hinweg und sie lächelt ein dreiviertel Lächeln, ein bisschen
schräg und auf keinen Fall ein ganzes Lächeln, sitzt halb auf
der Stuhlkante und halb in der Luft. Dass sie nicht runterfällt,
wundere ich mich plötzlich, nicke aber zu ihrer stillen Frage
und gucke ihr beim Verschwinden hinterher, freue mich, dass
sie unterwegs ist und irgendwo zu sein hat, während ich
meine Milch mit aufgegessenen Erdbeeren trinke.
Sie sitzt auf dem Fensterbrett mit grünem Rahmen und malt
mit schnellen, weiten Strichen auf Papier. Ihre Hände sind
schon schwarz und ein paar Punkte haben sich auf ihr Gesicht
verirrt. Ihr rotes Haar steht wirr ab, ihr grüner Blick rennt den
Pinselschwüngen hinterher. Sie sieht schön aus in dem
bunten Licht mit ihren leuchtenden Haaren und mit dieser
Ruhe. Ich sitze ihr gegenüber und bewundere ihre spitze Nase
und die Haare, die immer noch ein wenig nach einer
Katzenspiegelung aussehen. Der Moment ist fast ein Bild,
vielleicht von Rembrandt, schnelle Pinselstriche und trotzdem
ruhig.
„Sind wir bald da?“, fragt sie auf dem Weg zu einer Party und
ich blicke ihr hinterher wie sie vor mir verschwindet. „Wir
sind zu früh.“, sage ich langsam, aber sie hört nicht. Ich will
mich nicht hetzen lassen, will den Moment genießen, bleibe
vor einem Schaufenster voller Bücher, die Neuerscheinungen
dieses Monats, betrachte, wie sie farblich sortiert zu einer
Pyramide aufgestellt sind, verliere mich in dem Bild, und finde
mich auf der Spitze der Pyramide wieder wie ich mich bereit
mache, auf ihr herunter zu rutschen.
„Emma!“, rufe ich und drehe mich in ihre Richtung, aber sie
ist weg und sie antwortet mit einem „Komm doch!“ zwei
Straßen weiter, sie wartet nicht. (Sie will so schnell wie
möglich da sein, wo auch immer) Ich bleibe noch einen
Moment vor dem Schaufenster stehen, blicke auf die
Buchrücken und erkenne einen meiner alten Freunde, der
sich irgendwie zwischen all die neuen Bücher geschlichen
hat.
„Sofern sie Emma hießen…“, sage ich leise zu den
Buchdeckeln, vielleicht verstehen sie mich ja. Vermutlich
wissen sie mehr über Emmas als ich.
Ich wende mich ab und folge mit einem leisen Seufzen Emma,
die schon lange um zwei Ecken verschwunden ist.
"Emma“, sage ich und sie blickt auf, sucht aber mit ihren
Händen weiter hektisch nach Schlüssel oder Handy oder was
auch immer sie sucht.
„Emma“, sage ich, „Wir haben noch Zeit. Lass uns doch einen
Tee trinken.“
Sie schüttelt nur den Kopf und richtet ihren grünen Blick
wieder auf die Kommode. „Wir sollten pünktlich sein, man
weiß ja nie.“
„Aber Emma…“, setze ich an, sie aber hebt ihre Sonnenbrille
hoch und sagt: „Ich hab sie, wir können los!“
Sie ist nie da.
(Bald da sein, heißt nur, nirgendwo jetzt zu sein.)
„Emma“, sage ich, „Emma, weißt du, dass du bei Morgenstern
eine Möwe bist?“
Und sie blickt zu mir, während sie sich schminkt.
„Eine Möwe? Findest du?“
Ich betrachte sie, diesen dünnen Menschen, der immer rennt,
mit seinen wilden roten Haaren und diesem selten
eingefangenen, so grünen Blick. Sie lächelt nie ganz, nur
dreiviertel, aber in ihren Bewegungen liegt trotz der Ruhe
unserer Wohnung eine Ungeduld, die selbst die Schminke
nicht verbergen kann. Ich schüttele den Kopf.
Sie lacht und verschwindet mit einem Augenaufschlag durch
unsere Tür mit der abblätternden grünen Farbe und ein paar
Flecken fallen auf den Boden als sie zuschlägt, fast wie der
Regen unter Tannenbäumen. Ich betrachte Emmas
Abwesenheit in dem Raum und die grünen Schuppen auf der
Fußmatte.
„Nein, du bist keine Möwe“, sage ich in die Leere der
Wohnung und die Wohnung hört zu. „Dich gibt es so nicht bei
Morgenstern.“
Wir laufen eine gepflasterte, sich wellende Straße entlang. Ich
suche irgendein Museum oder eine Galerie, von der ich zuvor
gelesen habe, bin euphorisiert vom Pulsschlag der Stadt und
ihren grellen Farben und freue mich über jeden Grashalm.
Emma geht vor mir, obwohl sie nicht weiß, wohin ich will,
läuft in falsche Straßen und um falsche Ecken. Ich versuche,
mich nicht aufzuregen, warum rennt sie nur weg, ich habe
doch eine Karte dabei, klein, besser als nichts, aber so wirklich
gelingt es mir nicht, denn ihr stummes „Sind wir bald da?“
dröhnt in meinem Hinterkopf als säße es in meinem Ohr.
Ich sage nichts, sie sagt ja auch nichts, aber als ich das
Museum dann endlich finde, hat sie nach paar Minuten alles
gesehen und wartet ungeduldig im Cafe.
Ich bleibe lange bei den Bildern von diesem Amerikaner
stehen, Rosen, betrachte sie mit Emmas Ungeduld, die ich
nicht abschütteln kann, und ärgere mich.
„Emma,“ flüstere ich dem Rosenzyklus zu, „Emma ist schuld.“
Aber die Rosen aus Amerika schweigen und Emma schweigt
auch.
In der Bibliothek mit den zu großen Tischen und dem braunen
Teppich, in der man sich nicht einmal traut zu husten, weil
alles so leise und trocken ist und man fast an der Stille
ersticken kann, lese ich in einem Gedicht von der „Koexistenz
des Widersprüchlichen“ und denke sofort an uns, Emma.
(Das ist unser Problem.)
Und die Frage, ob wir bald da sind, so oft du sie auch stellst,
könnte ich dir erst beantworten, wenn ich dieses Meer sehe.
Aber Emma, dahin wirst du mit mir nie gehen, denn du wirst
vorher um eine andere Ecke biegen, Morgenstern nicht sehen
und nicht warten, ich kenne dich, du wirst wegrennen, nur
um anzukommen, egal wo, aber nicht am Meer, nicht mit mir,
nicht bei mir.
Und du bist einfach nicht aus Morgenstern, eMMa, so sehr
ich mir das wünsche. Dort wirst du nie sein. Du wirst immer
eine anwesende Abwesenheit bleiben.
Und du bist keine Emma wie sie in Büchern steht. Du bist eine
eMMa und nie da.
„Bitte?!“
„Was?“ Ich schrecke auf.
„Was Sie wollen?“, fragt der Verkäufer mit der Pastellschürze.
„Ich,“, das Chamäleon löst sich auf, „Ein Croissant bitte. Und
ein Pain au Chocolat.“ Und das eine Auge sieht das Mädchen
plötzlich wieder, meine Emma für ein paar Minuten, wie sie
bezahlt, ihre Tüte nimmt und aus dem Cafe hastet.
Sophie Stroux
18 | SIGUNE SCHNABEL
TAGSCHMELZE
Du sagtest,
Erinnerungen wachsen im Schatten
zwischen Gesteinsbrocken.
Doch der Gipfel lag karg im Dunst,
die Luft so dünn,
dass sie von der Last der Vögel
zerbrach.
Als wir von Flüssen sprachen,
taute der Schnee in den Grund der Worte,
und deine Haare flatterten
wie Segel.
Ich pflückte das Moos
von deiner Stirn
und ließ es zwischen Felsen liegen.
Lange vor den ersten Flocken
trieben Silben
auf den Wegen
und zerfielen unter den Füßen.
Sigune Schnabel
19 | ANDREAS SCHUMACHER
HYMNEN AN DIE WEIHNACHT
Welcher überarbeitete, feierabendfixierte Familienvater
fürchtet nicht vor allen Verpflichtungen des Kalenderjahres
den – Jesus Maria! – frustrierenden Einkauf der
Weihnachtsgeschenke –
mit seinen hieroglyphischen Wunschzetteln und
unausgesprochenen Erpressungen,
der heillosen Hektik und Schnäppchenpreisjagd.
Wie ein zwischenmenschliches Wundermittel kittet er
familiäre Spannungen,
mildert Vernachlässigungen,
radiert verletzende Worte.
Seine zuverlässige Erledigung allein
garantiert eine friedvolle Stimmung
am Abend des Herrn.
Einst da ich astronomische Summen verpulverte,
da in ein Nichts sich auflösend meine MasterCard zerbröselte,
in ein phänomenal schwarzes Loch
sich ohnehin längst verflüchtigt hatte mein Kontoguthaben
und ich mit lausig-lächerlichen einhundertsiebenunddreißig
Euro in der Tasche
im SATURN stand, einsam wie kein Mensch zuvor,
zahlen nicht konnte und auf Raten finanzieren nicht,
und an den von meinen Geliebten begehrten Warengütern
mit unendlicher Sehnsucht hing,
ein Waschlappen wie kein Mann zuvor,
da besann ich mich eines alten, verbotenen, geheimnisvollen
Kunstgriffs –
du, Kleptomanie, Triebabfuhr gelangweilter
Aufsichtsratsgattinnen,
kamst über mich, und mit einem Mal
schwand meine kleinkarierte, bürgerliche Rechtschaffenheit.
Zum Staubwölkchen wurde das Preisschild.
Tütenweise mopste ich, und erst seitdem fühle ich
die schwitzende Hand des allmächtigen Vaters.
Wie dumm und überaus unnötig
dünkt mir das ordnungsgemäße Bezahlen der Ware an der
Kasse nun –
wie königlich-würdig der Ausgang am Drehkreuz.
Gern will ich die fleißigen Flossen rühren,
überall einstecken, was man grad so braucht,
entfernen die kleinen versteckten Sicherungsetiketten.
Die Kinder werden strahlen,
ich schiebe alles ein.
Ich werde nicht bezahlen
und Superdaddy sein!
Muss denn immer dieser Hansel, der Ladendetektiv,
wiederkommen?
Endet nie seine Schicht?
Gottverdammter Motherfucker,
verzehrt den himmlischen Anflug der Weihnacht.
Kann denn nie einfach mal dieses ganze
elektronische Überwachungsdingens ausfallen
und dann am Eingang bitte freundlichst darauf hingewiesen
werden?
Längst weiß ich, wann die letzte Bescherung sein wird –
wenn, in Handschellen gelegt, ich einst heimgeführt werde.
So komm ich – mit dem blauen Bus
und leerem Sack – nach Haus am Schluss.
Gnad Gott, dass ich die Schuld begleich’,
umsonst ist nur das Himmelreich.
Andreas Schumacher
20 | GUNDULA MARIA VON TRAUNSTEIN
EISVERKRUSTETES ZWEIGGEWIRR
Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.
Ich bin gegangen,
hab dich zurückgelassen,
alleine.
Im Schein der Straßenlaterne
steh ich jetzt
und weine.
Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.
Gundula Maria von Traunstein
21 | CLAUDIA WALLNER
EIN HARTER WINTER.
Früh
dunkelt mein Tag
sich zum Abend
Lang
verbleiben eisige
Schattennächte
Wo
durchzitterte Lippen
erblaut sind
Sich
da zu erwärmen
fällt schwer
Und
dünne Haut friert
schutzlos dahin
Wo
mehr und mehr
Eiskristalle
wuchern
Weil
nichts mehr da ist
um sie zu
schmelzen.
Claudia Wallner
22 | MARTIN PIEKAR
WINTERSONNENWENDE
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
und Schatten der Erde?
(Friedrich Hölderlin)
Amour, Amour
Alle wollen nur dich zähmen
(Rammstein)
In meinem Kopf: Ameisenrennen
Oder Blizzard – wie du willst
– ziemlich dunkel jedenfalls. Und
Alles um mich herum hat zum Gegenteil
Den Kittel der Jahreszeit so
Abweisend und vertuschend angenommen.
Ich knittere ihn bald. Mit Spuren ins
Weiße, hinein
Ins Caspar David Friedrichsche – tief, tief
Schlafen meine Versuchungen
Und Vermutungen noch. Unter Frösteln.
Mein Herzblut, es ist meine Zeit
Des Erwachens. Aber ich will
Noch gar nicht, nur noch
Ganz kurz… bitte. Ich weiß um meine Furcht. Sie
Gurgelt schon. Jetzt. Lasse ich’s doch
Noch schlummern. Ich steige allein.
Aus dem Höhlengleichnis
Unserer Liebe. Dem Bett.
Mon Amour… Alte Minne.
Verkriech dich, glaub mir.
Verkriech dich vor mir.
Ach Herz. Reife nur, aber
Reif nicht zu viel; es ist Winter-
Sonnenwende: die Schatten fallen
Über ihre Lichter her. Wir sind,
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben.
Schlaf einfach winters. Wir
Sehen uns wieder.
Schlaf einfach durch.
für Benjamin Lebert
Martin Piekar
23 | ANDREAS HAIDER
DER WEIHNACHTSBAUM
Dem Wald entrissen,
der lange schon keinen Schnee mehr sah,
ins Wohnzimmer gestellt,
geschmückt mit Glitzerzeug und Kerzen,
und Süßem in Alufolie.
Da steht er nun,
eingeschraubt ins Christbaumkreuz,
quasi gekreuzigt,
so, als ob es zwischen Weihnachten und Karfreitag
einen Zusammenhang gäbe.
Schon brennen die Kerzen,
die Lichter erhellen Raum und Baum.
Und während das Lied ertönt,
weinen die Kerzen ihre Wachstränen.
Oh Tannenbaum, Oh Flammenbaum.
Andreas Haider
24 | EMANUEL GAUß
ENGELSHIMMELHYMNENCHÖRE
der karton ist schon wieder nass. Früher hätte ich mich
darüber aufgeregt, ich habe mich so viele Male darüber
aufgeregt, ich zürnte gegen dieses Wasser, das da immer aus
den Regenrinnen, aus den Abflüssen und aus dem Himmel
rinnt, aber jetzt, nach so vielen Jahren hier, bin ich damit
abgefunden. Die Nässe, die Kälte, die Trostlosigkeit von
diesem Ort, der mir früher, vor schon so vielen Jahren, nicht
zuzumuten gewesen wäre, ich habe gelernt mich mit ihm zu
arrangieren. Es könnte sehr viel schlimmer sein, denke ich,
wenn das Wasser wieder durch die kleinen Ritzen über mir
sickert, wenn es meinen Schlaf stört oder meine Ruhe, es
könnte schlimmer sein. Wenn ich an die ganzen anderen
denke, die nicht so ein gemütliches Plätzchen gefunden
haben, dann schüttelt es mich vor Mitleid. Ich wünschte ich
könnte sie hier aufnehmen, aber es ist zu wenig Platz.
Anscheinend soll die Stadtverwaltung planen, mein Heim zu
vergittern, sodass ich wieder raus auf die Straße muss, nach
so vielen Jahren. Ein schöner Anblick sind wir sicher nicht. Ein
schöner Anblick sieht anders aus. Wir verschrecken die
Touristen, die vorbeilaufen und irritieren die fröhlichen
Spaziergänger.
Der Regen klopft auf die Straße über mir, die Auto rauschen
darüber und zerdrücken ihn, unter mir, nur das
Wasserrauschen. Wie viele Liter schon an mir vorbeigezogen
sind? Wie viele Liter ich schon rauschen gehört habe? Ich
weiß es nicht, in all den Jahren, wahrscheinlich Millionen und
Milliarden. Eine so lange Zeit, die mich Luxus, Essen, Trinken,
Duschen, Dächer und Wände hat vergessen lassen. Eine
riesige Zeitspanne, eine unermessliche Dauer, die ich selbst
seit Jahren – ich denke zumindest, dass es Jahre sind – nicht
mehr überschauen kann.
Das Wasser rauscht einladend, die Autos brummen an den
roten Ampellichtern und ich ziehe meine Decke über die
Schultern. Vor Jahren hatte ich für kurze Zeit eine
wasserdichte, aber jetzt nicht mehr. Man hat sie mir
weggenommen, als sie mein Heim verwüstet haben. Aber ich
habe mich daran gewöhnt. Wenn ich daran denke, dass da
draußen so viele Freunde sind, die keine Decke haben, die
kein so großes Glück haben wie ich, der sich in seine Decke
eingraben kann, dann schüttelt es mich vor Mitleid.
Ich reibe meinen Hals am Deckensaum. Dort ist der Stoff
schon ganz abgewetzt und die Fransen, die er zu verhindern
versucht hat, kitzeln sanft meinen Haaransatz.
Es tobt der Sturm. Die stolzen Fahnen auf der Brücke flattern
bestimmt wieder. Hier unten bin ich vor dem Wind geschützt.
Ich spüre aber wie er die Brücke zum Erzittern bringt.
Resonanz. Er tobt draußen und ich sitze hier drinnen draußen.
Nur ein kleines Lüftlein schafft er hier herein. Ein paar
Strähnen meines Haars bewegen sich auf und ab als könnten
sie fliegen. Ich denke, dass es jetzt Zeit zum Schlafen ist.
Wenn ich aufwache, hat der Wind vielleicht aufgehört, der
Regen mit dazu und es scheint die Sonne, die dann in die
kleinen Ritzen über mir stolpern wird und mich weckt. Mit
den zukünftigen Sonnenstrahlen auf den Wangen, schließe
ich die Augen. Es ist still, wenn man vom Lärm absieht.
Doch da! Was ist das? Ich höre etwas, ein Geräusch, das ich
schon lange nicht mehr hören durfte. Kein Geräusch, nein
Gesang. Warum höre ich Gesang? Wer singt? Es sind viele. Es
ist ein Chor. Immer klarer wird der Gesang. Er überdeckt das
konturlose Rauschen des Wassers und der Autos. Die Brücke
schwingt mit ihm.
Mein Ohr liegt am Brückenstein. Ich habe es da abgelegt, weil
mir sonst so heiß ist unter der Decke. Obwohl die Luft vom
Regen kalt ist, heizen die Autos über mir ein und ich will nicht
wieder verschwitzt aufwachen, aber da dann plötzlich:
Gesang, den ich höre. Kommt er aus dem Stein? Es scheint so.
Aber es ist wahrscheinlich anders, als es scheint. Warum
sollte der Gesang aus dem Stein kommen? Ist da vielleicht ein
Keller unter mir oder neben mir? Ein Chor der in der
Kanalisation steht? Warum sollte ein Chor in der Kanalisation
stehen? Ich drücke mein Ohr an den Stein, er ist rau und
porös. Ich will hören, was sie singen und wie sie singen, aber,
obwohl es so laut durch den Stein klingt und dabei alle
anderen Geräusche überdeckt, kann ich nicht verstehen, was
sie singen. Auch nicht, wie sie singen. Ob es ein
mehrstimmiges Lied ist, ob es auf- und abgeht mit den Tönen,
all das ist mir unbekannt. Wie viele Leute singen? Wie viele
sind es? Zwanzig, vielleicht oder nur zehn, könnten auch fünf
sein oder auch nur einer, der direkt gegen die Wand singt.
Ich erinnere mich, dass auch ich in einem Chor gesungen
habe. Jeden Mittwoch haben wir uns im Hinterzimmer von
einer schlummrigen Kultbar getroffen und geprobt. Keine
Auftritte im Sinn, keine Berühmtheit, keine Zuhörenden,
keine Bewunderung. Wir hatten nur das Singen im Sinn. Wir
waren nicht an die Kirche gebunden, nicht an die Universität
oder an sonst etwas. Vor der Öffnung der Bar war es uns
erlaubt zu singen und niemand störte sich daran. Wer ist wir?
Ich kann mich nicht erinnern. Enge Freunde und Freundinnen,
die schon seit Langem vom Staub und Dunst, vom Hunger und
von den Abgasen bedeckt sind. Staubige Gestalten aus einem
anderen Leben, das vielleicht besser gewesen ist, aber
höchstwahrscheinlich nur auf eine andere Weise schrecklich.
Der Stein bringt meine Ohrmuschel zum Schwingen, sie
schwingt mit ihm. Sie vibriert mit dem Gesang. Ich drücke sie
fester daran, um Details hören zu können und nicht nur
Etwas. Gesang, das kann ich mit Sicherheit sagen. Mein Kopf
ist jetzt so nahe an der Wand wie nur möglich. Mein Ohr wird
zerdrückt, aber ich kann noch immer nichts Genaues hören.
Nur, dass es Gesang ist. Gesang aus der Tiefe.
Ich richte mich auf, so werde ich nie verstehen, wer singt und
was gesungen wird. Ich befreie mich von der Decke und die
Kälte dringt in meine verschlissene Kleidung. Ich setze mich
auf und nehme meinen braunen Mantel, der mir seit Jahren
als Polster dient. Ich rücke geduckt nach vorne und springe
aus meinem Loch auf den Gehsteig. Der Aufprall ist hart.
Meine alten Knochen quietschen, weil sie so spät noch in
Bewegung gebracht werden. Sie beschweren sich bei mir,
aber ich kann nicht auf sie hören. Der Gesang ist das einzige,
ihm meine Aufmerksamkeit.
Klar und undeutlich. Ich bin mir sicher, dass ich ihn mir nicht
nur einbilde. Hier auf dem Gehsteig kann ich klarer sagen,
woher er kommt. Er kommt von unten aus dem Asphalt. Ich
muss tiefer. Weiter nach unten. Meine Augen und Ohren sind
angespannt. Ich schaue mich hektisch um. Da geht ein
Pärchen, unter einem Regenschirm vereint. Als sie mich
erblicken, schrumpfen ihre selbstzufriedenen Gestalten
zusammen. Sie haben Angst vor mir, aber das bin ich
gewohnt. Blicke, die nirgens Ruhe finden, mein Gesicht, zu
dreckig, agressiv, mögen sie denken, einfach auf den Boden
zu schauen, auch das verdächtig. Seit Jahren wenden sich die
ab, geistig, während ihre Blicke hektisch herumirren, die einst
meine Freunde hätten sein können, aber das ist mir egal
geworden. Vor allem jetzt ist es egal. Jetzt zählt nur der
Gesang, der aus der Tiefe dringt. Das Pärchen hastet vorbei.
Ängstlich, als würde ich ihnen jeden Moment ein Messer in
die Seite stechen. Ich warte bis sie verschwunden sind. Den
steilen Gehsteig hinauf, auf dass ich sie nie wieder sehen
muss.
Nachts ist die Böschung hinter dem Weg fast unsichtbar. Das
Wasser wirft seinen Schein und bloß die Konturen kann ich
erkennen, ein Weg, dort, das weiß ich, doch schließlich ein
unsichtbar gemacht.. Tagsüber steige ich oft über das
Geländer und tripple die Böschung hinunter, weil ich mich im
Fluss waschen oder meine Wasserflasche auffüllen will, aber
nachts habe ich den Abstieg dort hinunter immer vermieden.
Ich habe Angst vor dem dunklen Wasser. Angst,
hineinzufallen und von der Strömung mitgerissen zu werden,
dass sie mich dann finden als aufgedunsene Sandlerleiche.
Doch jetzt springe ich über das Geländer, ohne zu zögern,
meine Angst unterdrückend, keinen Platz gebe ich ihr. Meine
alten Knochen geben wieder ein Knarzen von sich. Ich
ignoriere sie. Um nicht in die Schwärze zu fallen, umfasse ich
mit dem Aufprall das Geländer. Wassertropfen rinnen von
oben an meinem Arm entlang und in meine Kleidung hinein.
Ein Frösteln überkommt mich, aber auch das zählt jetzt nicht.
Es zählt nicht, ob mich die Kälte wieder so furchtbar krank
macht. Ich tapse zu dem dicken Rohr, das nur selten Wasser
speit, wo ich immer meine Flasche auffülle. Es ist so dunkel,
dass ich meine nächsten Trittpunkte kaum berechnen kann.
Vorstellungen davon, oftmals unzutreffend. Knarzen der
Knochen. Die Schiefe schmerzt. Ich komme ihm näher.
Auf dem Abflussrohr habe ich wieder geraden Boden unter
den Füßen. Das Blut pocht mir in den Ohren. Ich muss mich
kurz ausruhen, Luft schnappen. Vor mir das Wasser in den
Fluss, es ist grau, die Abflüsse sind in ihm vereinigt. Regen
prasselt über mir auf die Straße, die Autos fahren immer noch
wie wild auf und ab, hornissengleich und hektisch dröhnend.
Dumpfer, dann heller wie Insekten, die an mir vorbeifliegen.
Aber genauso unwichtig wie diese, sind auch jene. Ich habe
das Gefühl, dass ich plötzlich – ohne zu wissen, warum und
wie – etwas Wichtigem auf der Spur bin. Mein Herzschlag, die
Trommeln in mir haben sich beruhigt. Der Gesang, sie waren
wie die Schlagzeuguntermalung. Mein Atem ist wieder ruhig
geworden. Der Gesang ist jetzt noch lauter, aber nicht klarer.
Ich weiß, dass er aus dem Rohr kommt, mit all dem wertlos
gemachten Wasser und den Abfällen.
Ich springe noch einmal hinuter auf die hohlnadelförmige
Innenseite des Rohrs. Wasser umschließt meine Füße. Die
Krankheit, die ich mir dabei zuziehen könnte – ich
verschwende keinen Gedanken an sie. Ich bücke mich – die
Knochen – und stecke meinen Kopf hinein. Das Wasser, das
neben meinen Ohren rauscht, kann den Gesang, der jetzt
wieder um ein Stück lauter geworden ist, nicht überdecken.
Ich bin mir sicher, dass er aus diesem Rohr kommt. Ich taste
mit meinen Fingern in die Dunkelheit und erwarte das Gitter,
an das ich mich oft lehne, wenn es sonnig ist. Doch meine
Hand findet es nicht. Ich strecke mich. Vielleicht ist weiter
hinten, als ich mir einbilde. Aber auch weiter hinten ist kein
Gitter. Es ist verschwunden. Vielleicht haben sie es
abmontiert aus den üblichen Gründen.
Ich ducke mich zusammen – wieder die Knochen. Meine Hose
wird nass. Wie jemand, der einen Zwerg zu imitieren
versucht, wackle ich in das Rohr hinein. Es ist jetzt
vollkommen dunkel. Nur der Gesang, die Wände und das
gegen meine Beine schwappende Wasser schaffen
Orientierung. Mir fällt ein, dass ich Zündhölzer in meiner
Hosentasche habe. Ich krame sie umständlich heraus,
entfache eines, doch die vom Wasser mitgetragene Luft bläst
es gleich wieder aus. Obgleich nur für einen kurzen Moment
Licht durch das Rohr und auf das, was dahinter liegt
geschlackert ist, habe ich jetzt ein Bild davon, wohin ich gehe,
das im Finster auf der Netzhaut klebt: Etwa fünf Meter noch
zieht sich das Rohr gerade aus. Dann kommt etwas anderes,
ein größerer Raum. Ich drehe meinen Kopf und sehe hinter
mir das aufgebrachte Wasser im Schein der Stadt. Die Autos
höre ich jetzt nicht mehr. Alles ist schwarz. Weiter vorwärts
tasten, zur Quelle des Gesangs, denke ich. Lauter und Lauter
wird er, je weiter ich mich zum Raum hinter der Enge
vortaste. Ich zwänge mich durch, das Rohr wird enger und
enger. Alles ist schwarz. Ich muss anfangen zu kriechen. Das
Wasser, der Abfall umschleusen meinen Körper, umschlingen
ihn. Meine Kleidung wird nass und nässer, durchweicht sich
mit der schmutzigen Gischt der abwärtsziehenden Flut. Alles
ist schwarz. Der Raum kann jetzt nur mehr wenige Zentimeter
entfernt sein … aber es so eng. Ich zwänge mich weiter. Die
Enge schmerzt meine Hüften. Der Beton des Rohrs reibt
meine Kleidung ab. Meine Finger tasten nach vorne in die
Schwärze. Ich spüre das Ende des Rohrs und die Wände des
Raums. Ich umfasse die rauen Kanten und ziehe mich
vorwärts. Das Wasser füllt immer mehr vom Rohr aus. Ich
halte meinen Kopf hoch und ziehe ein letztes Mal. Mit dem
Gesicht voran stoße ich in den schwarzen Raum. Der Gesang
er wird noch lauter. Ich höre ihn jetzt deutlich und kann
etwas verstehen, einzelne Wörter, die aber sofort wieder aus
meinem Kopf gedrängt werden vom Wasser, das meinen
Oberkörper nach hinten drängt. Mein Kopf – ich kann ihn
nicht weiter oben halten. Ich stemme mich gegen die Wände,
aber meine Hüfte, sie ist zu breit. Sie steckt fest. Meine
Nackenmuskeln können nicht mehr. Ich rüttle mit der Hüfte
und winde mich. Trommelschläge in meinen Ohren,
Herzpochen durch meinen adrigen Hals in vollkommener
Finsternis … Ich kann ihn nicht mehr oben halten. Die
Armmuskeln versagen, sie können nicht mehr rütteln. Der
raue Beton bohrt seine abstehenden Spitzen in meine Hüfte.
Nur der Kopf hält sich noch mit letzter Kraft aus dem
steigenden Wasser in der Dunkelheit. Doch es geht nicht
mehr. Er kann nicht mehr und erschlafft. Die angestrengten
Lungenflügel nehmen die Fluten gierig auf. Ein tiefes
Einatmen. Der Kopf – er schafft es ein letztes Mal aufzusehen
und da ist plötzlich Licht. Auf einem kleinen Tisch, steht ein
altes Radio, das ein altes Lied spielt, klar und deutlich. Nur ein
altes Radio, nur ein altes Lied.
Emanuel Gauß
IMPRESSUM
ADVENT-MOSAIK IV (2015)
mosaik - Zeitschrift für Literatur und Kultur
herausgegeben von Josef Kirchner und Sarah Oswald
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