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8/9/2019 Alfred Schmidt-Der Begriff Der Natur in Der Lehre Von Marx-Europäische Verlagsanstalt (1993)
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Alfred Schmidt
Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx
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A lfred Schmidts Unte rsuch ung gehört seit ihrem ersten Ersc hein en 1962 zu
den wichtigsten und folgenreichsten theoretischen Quellen der philo-
sophischen MarxInterpretation, insbesondere auf erkenntnistheoretischem
Gebiet. Für die aktuelle Auseinandersetzung zur Um w eltprob lem atik und zur
»sozialen Öko logie« ist dieses Buch u nerläßlich. D ie N eua usg abe 1993 (mit der
zugleich auch die französische Ausga be erscheint) ist durch ein V orw ort berei-
chert, das Marx nicht nur als K ritiker der politischen Ö ko n om ie zeigt, sondernauch nachweist, daß das M arxEngelsche W erk, au f’s Ga nz e g esehen, »keines-
wegs im Die nst rü ck sich tslose r N atu rbeherrschung steht«.
D er B egriff der N atu r ist in alle europ äischen Sp rachen , ins C hin esis ch e und ins
Japanische übersetzt.
A lf red Schm id t, geb oren 19 31, studierte G eschic hte , A n g li stik und klas sische
Philologie, Philosophie und Soziologie. Schüler von Max Horkheimer und
Theod or W. A dorno . P rofessor für Ph ilosophie und S oziolo gie an der Johann W olfgan g G oeth eU niv ers it ät in Frankfu rt am M ain se it 19 72. Ausgezeic hnet
mit der Goe thePlake tte der Stadt Fran kfurt am M ain.
W ichtige Ver öffentlic hungen u.a .: Geschichte und Struktur. Fragen einer
marxistischen Historik. München 1971; Em anzipato rische Sin nlich keit. Lud-
w ig Feuerbachs anth ro polo gischer M aterialism us. M ün chen ’ 1983; D rei Stu-
dien über Materialismus. Schopenhauer / Horkheimer / Glücksproblem.
München 1977; Kritische Theo rie / Hum anism us / Aufk lä rung. Philo-
sophische Aufsätze. Stuttgart 1981; Goethes herrlich leuchte nde N atur. Philo-
sophische Studien zur deutschen Spätaufklärung. München 1984; D ie Wahr-
heit im Gewand der Lüge. Schopenhauers Religionsphilosophie. München/
Zürich 1986; Id ee und W eltw ille. Schopenhauer als Kritiker Hegels.
München 1988.
A lfred Sch midt lebt in F rankfu rt am Main.
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Alfred Schmidt
Der Begriff der Natur
in der Lehre von Marx
4. überarbeitete und verbesserte
A u flage m it ein em neuen V o rw o rt
vo n A lfre d Schm id t
Europäische Verlagsanstalt
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D ie Deu tsche Bibliothek CIPEinhei tsau fnahme
Schmidt, Alfred:
Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx / Alfred Schmidt.
4., überarb. und verb. Aufl. mit einem neuen Vorw. von Alfred Schmidt.
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1993
(evaTaschenbuch; Bd. 209)
ISBN 3434462090NE: GT
evaTaschenbuch Band 209
© 1993 Europäische Verlagsanstalt, Hamburg
Erstausgabe Frankfurt am MainKöln, 1962 (Europäische Verlagsanstalt);
1971 überarbeitete und ergänzte Neuausgabe
Umschlaggestaltung: MetaDesign BerlinMotiv: Jean Pierard: Der >grüne< Marx. Zeichnung 1977
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 1993
ISBN 3434462090
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Inhalt
Einleitung
I. K a p i t e l
K A R L M A R X U N D D E R P H I L O S O P H I S C H E
M A T E R I A L I S M U S
A) Der nichtontologische Charakter des Marxschen
Materialismus
B) Zu r Kritik der Engelsschen Form der Naturdialektik
II. K a p i t e l
D I E G E S E L L S C H A F T L I C H E V E R M I T T L U N G
D E R N A T U R U N D D I E N A T U R H A F T E V E R M I T T L U N G
D E R G E S E L L S C H A F T
A) N atur und Warenanalyse
B) Der Be griff des Stoffwechsels von Mensch und Natur:historische Dialektik und »negative« Ontologie
III. K a p i t e l
D I E A U S E I N A N D E R S E T Z U N G V O N G E S E L L S C H A F T
U N D N A T U R U N D D E R E R K E N N T N I S P R O Z E S S
A ) N aturgesetz und TeleologieB) Zum Begriff der Erkenntnistheorie bei Marx
C ) W eltkonstitution als historische Praxis
D ) Bem erkungen zu den Kategorien der materialistischen
Dialektik
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IV. K a p i t e l
ZUR UTOPIE DES VERHÄLTNISSES VON MENSCH
U N D N A T U R
VERZEICHNIS DER ZITIER TEN O D ER IN D E N
A N M ER KU N GEN ER W ÄH N TEN LITER ATU R
VORBEM ERKUNG ZUM A N H A N G
ZUM VERH ÄLT NIS V O N G ESC H IC H T E U N D N AT U R
IM DIALEK TISCHEN MATERIALISMUS
POSTSCRIPTUM i 9 7 1
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Vorwort zur Neuauflage 1993
Für einen ökologischen Materialismus
M arx sagt, die Rev olutionen sind die Lok om otiven der W eltgeschichte. Ab er
vie lleic ht is t dem gänzlich an ders. V ie lleic ht sind die R evolu tionen der G r iff
des in diesem Z uge reisenden Menschengeschlechts nach der N otbr em se.'
W alter Benja m in , A nm erku ngen zu den Thesen über den B eg riff der G e-
schichte
I
Als der A utor während der späten fünfzig er Jahre über der Endfassung
seiner Doktorarbeit saß, waren Begriffe wie »Umweltbewußtsein«,
»Grenzen des Wachstums«, »alternative Zivilisation«, »sanfte Technik«
oder »ökologische Krise«, die heute wissenschaftliche wie tagespolitischeDebatten beherrschen, noch unbekannt. Diskreditiert freilich war schon
damals ein naiver Progressismus. Horkheimers und Adornos D ia lektik
der Aufelärung hatte (unter anderem) belehrt über die naturzerstöreri-
schen Implikationen technischen Fortschritts. Wer sich zudem, wie der
Verfasser, näher mit M arx un d Engels beschäftigte, konnte auch in ihren
Schriften auf Zw eifel an den Segnungen des Industriesystems stoßen. U n -
terdessen hat jedoch die ökolo gisch e Problem atik Ausm aße angenommen,die jeder bloß akademischen Erörterung spotten. Die Frage nach dem
Fortschritt ist längst zur Überlebensfrage der Menschheit geworden. Die
im Postscriptum i y j i zur zweiten Auflage des Buches bereits als Signatur
der Gegenwart pointierte »Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen
der Gesellschaft« läßt sich nach dem Scheitern des sowjetischen Experi-
ments nicht m ehr ausschließlich auf die kapitalistische P rodu ktionsw eise
zurückführen. Der Industrialismus hat sich in seiner staatssozialistischen
Versio n als eben so unzulänglich erwiesen w ie in seiner m ark tw irtschaft-lichen.
Die materiellen und sozialen G renze n des Wachstums haben den O pt im is-
mus bürgerlicher Theo retike r nicht wen iger erschüttert als den der M arxi-
sten. Gegen Marx und seine Anhänger werden heute die nämlichen Vor
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würfe erhoben wie gegen Anw älte unbegren zten Wirtschaftswac hstums
auf kapitalistischer Basis. Ihnen wird vorgehalten, sie hätten sich über die
Begrenztheit der Erde, die limitierte Belastbarkeit der Ökosphäre und die
Knappheit der Ressourcen hinweggesetzt und seien deshalb mitschuldig
an den weltweit beobachtbaren Umweltschäden.2 Diese Kritik ist in dem
Maße berechtigt, wie der klassische Marxismus dem Wachstum der Pro-
duktivkräfte als geschichtsbildendem F aktor eine geradezu metaph ysi-sche Rolle zuerkennt. Oft genug gewinnt man den Eindruck, daß seine
Begründer ein unbegrenztes Potential weiteren Fortschritts schlicht vor-
aussetzen und sich so jener unheilvollen D yn am ik der Natu rbeherrschung
ausliefern, die von Bacon und Descartes m ethod ologisch gerechtfertigt
stets auch Herrschaft über Menschen gewesen ist.3 Andererseits finden
sich bei Marx und Engels, seltener zwar und häufig an entlegenem Ort,
Ansätze einer »ökologischen« Krit ik des destruktiven Aspekts der mo
dernindustriellen Entwicklung. Daß menschliche Eingriffe geeignet sind,
den Naturhaushalt empfindlich zu stören, wird ihnen eher zum Problem
als dem Jenenser Biologen Ernst Haeckel, dessen Generelle Morphologie
(1866) den Terminus »Ökologie« in die wissenschaftliche Diskussion ein-
geführt hat. Allerdings vermochten jene kritischen, kaum beachteten An-
sätze das eingeschliffene Klischee vom blind fortschrittsgläubigen Marxis-
mus nicht zu entkräften. Dabei läßt sich zeigen, daß Marx und Engels ein
keineswegs ungebrochenes Verhältnis zur Idee des Fortschritts hatten. Soheißt es in einem Engelsschen Brief an Marx, der Historiker Maurer hul-
dige »dem aufgeklärten Vorurteil, es müsse doch seit dem dunk len Mittel-
alter ein stetiger Fortschritt zum Besseren stattgefunden haben; das ver-
hindert ihn nicht nur, den antagonistischen Charakter des wirklichen
Fortschritts zu sehn, sondern auch die einzelnen Rü ckschläge «4.
Marx pflichtet Engels in der Sache bei und geht zugleich insofern über ihn
hinaus, als er die Frage unter dem umfassenderen Gesichtspunkt der noch
ausstehenden sozialen Revolution betrachtet. Erst nachdem diese die ma-
teriellen und intellektuellen Ergebnisse der bürgerlichen Epoche »gemei-
stert und... der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschritte-
nen Völker unterworfen h a t, .. . wird« — so die Marxsche P rognose »der
menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen G ö t-
zen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte «5.
II
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II
Erinnern w ir zun ächst an die markanten Belege für den MarxEngelsschen
Optimismus hinsichtlich der mit dem Aufstieg des Bürgertums einherge-
henden Entfesselung der Produktivkräfte. »Die Bourgeoisie«, heißt es im
Kom munistischen Manifest, »hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassen-
herrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen alsalle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Natur-
kräfte, Maschinerie, An w end un g der Chem ie auf Industrie und A ckerba u,
Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung
ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden ge-
stampfte Bevö lkerun gen welches frühere Jahrhundert ahnte, das solche
Pro duktionsk räfte im Scho ß der gesellschaftlichen Arb eit schlummern.«6
Marx und Engels feiern die mit dem Entstehen eines kapitalistischen Welt-markts verbundene kosmopolitische Tendenz: »An die Stelle der alten lo-
kalen und nationalen Selbstgenügsamkeit tritt ein allseitiger Verkehr, eine
allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der mate-
riellen Produktion, so auch in der geistigen... Die nationale Einseitigkeit
wird mehr und mehr u nmöglich und aus den vielen nationalen und lokalen
Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«7
Dieser so triumphalen geschichtlichen Dynamik entspricht, wie Marx im
»Rohentwurf« seines Hauptwerks ausführt, »die universelle Aneignung
der N atur w ie des gesellschaftlichen Zusam m enhangs. .. durch die G lieder
der Gesellschaft. Hence the great civilising influence of Capital; seine Pro-
duktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale E nt-
wicklungen der M enschheit und als Naturidolatrie erscheinen. Die Natur
w ird .. . rein Gegensta nd fü r den Menschen, rein Sache der N ützlichkeit ;
hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische
Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint... nur als List, um sieden menschlichen B edürfnissen.. . zu unterwerfen.«8A uß er dem »System
der allgemeinen Nützlichkeit«, als dessen »Träger« auch die Wissenschaft
fungiert, gilt nichts als »AnsichHöheres, FürsichselbstBerechtig
tes«9.
Marx’ Darlegungen nehmen sich einigermaßen befremdlich aus: bald
nüchternrealistisch, bald apologetisch. Er ist wie Hegel davon durch-
drungen, daß Geschichte nicht geradlinig, sondern dialektisch verläuft.
Dem Widerspruch, daß sich das Wohl des (gattungsmäßigen) Ganzen auf
Kosten der Individuen durchsetzt, kann die Menschheit nicht entrinnen.
Solange die »assoziierten Produzenten«10 ihre Geschichte nicht bewußt
gestalten, ist ein dem einzelnen unmittelbar zugute kommender Fort-
schritt unmöglich. Wenn Marx die durch die bürgerliche Emanzipation
III
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entfesselte D ynam ik (nahezu) vorbehaltlos b egrüßt, so deshalb, weil sie
davon ist er überzeu gt nicht nur die materielle U nterlage des Übergangs
zum Sozialismus liefert, sondern auch gewährleistet, daß dieser die Ar-
beitsproduktivität der kapitalistischen W elt erheblich überbieten w ird ."
Vorerst freilich müssen die Menschen durch härteste Entb ehru ngen hin-
durchgehen. Wohl befindet sich die moderne Gesellschaft, verglichen mit
Antik e und M ittelalter, »in der absoluten Bew egung des W erdens«12. Aberdie damit verbundene »Herausarbeitung« der »schöpferischen Anlagen«
des Menschen geschieht unter negativem Vorzeichen: die »universelle
Vergegen ständlichung als totale Entfremdung, und die N ie derreiß ung al-
ler... einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen
ganz äußren Zw ec k« '3. Deshalb erscheint, nostalgisch verklärt, die »kindi-
sche alte W elt als das Höhere«; sie steht für »geschloßne G estalt, Form und
gegebne Begrenzung«14, das heißt für eine Unmittelbarkeit menschlicherBeziehungen, die mit dem aufkommenden Weltmarkt verschwindet. Die-
ser tritt den Individuen immer gebieterischer als ein sachlicher Zusammen-
hang entgegen, der sich unabhängig von ihrem W issen und W ollen durch-
se tz t.'5 G leichwohl, betont Marx, ist die moderne Gesellschaft jenen
Gemeinwesen vorzuziehen, die sich auf »bluturenge Natur und Herr
schafts und Knechtschaftsverhältnisse«16 grün deten. Sosehr die Menschen
jetzt genötigt sind, sich einem weltweiten , objektiven Zusammen hang ein-
zugliedern, so unbestreitbar bleibt letzterer ihr eigenes Prod uk t: »Er gehörteiner bestimmten Phase ihrer Entwicklung an. Die Fremdartigkeit und
Selbständigkeit, wo rin er noch gegen sie existiert, beweist nur, daß sie noch
in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind,
statt von diesen Bedingungen aus es begonnen zu ha be n.« '7
Marx nimmt an, daß erst die sozialistische Gesellsch aft imstande sein wird,
jene »Fremdartigkeit« und »Selbständigkeit« der Verh ältnisse gegenüber
ihren Herstellern aufzuheben. Die bisherige Geschichte, zum al die des K a-pitalismus, kennt bloß den naturwüchsigen Zusammenhang »von Indivi-
duen innerha lb.. . bornierter Produ ktionsverhältnisse«' 8. Kü nftig dagegen
werden allseitig entw ickelte Individuen ihre gesellschaftlichen Verhält-
nisse ihrer »eignen gemeinschaftlichen Kontrolle«'9 unterwerfen. »Der
Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese
Individualität möglich wird«, setzen jedoch P rod uktion »auf der Basis der
Tauschw erte voraus, die mit der Allgem einheit der Entfrem dun g des Indi-
viduums von sich und von andren. . . auch die Allgem ein heit und Alls eit ig-keit seiner Beziehu ngen und Fähigkeiten erst produziert.« 20
Es gehört zur geschichtsphilosophischen Grundüberzeugung von Marx,
daß die Menschheit durch die kapitalistische Prod uktionsw eise hindurch-
gehen muß. Sie erst schafft die »materiellen Elemente für die En tw icklun g
IV
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der reichen Individualität, ... deren Arbeit... nicht mehr als Arbeit, son-
dern als volle E ntw icklun g der Tätigkeit selbst erscheint, in der die N atur-
notw endigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwun den ist; weil an die
Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist«21.
Vorläufig kann jedoch davon keine Rede sein. D ie ihr Leb en als arm und
entleert erfahrenden Menschen trauern »frühren Stufen der Entwicklung«
nach, auf denen das Individuum deshalb »voller« erscheint, weil es die»Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm
unabhängige gesellschaftliche M äch te ... sich gegenübergestellt hat. So lä-
cherlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so
lächerlich ist der Glaub e, bei jen er ... Entleerung stehnbleiben zu m üssen.
U be r den G egen satz gegen jene romantische An sich t ist die bürgerliche nie
hinausgekomm en, und darum w ird jene als berechtigter Geg ensatz sie bis
an ihr seliges Ende begleiten.«22
Selten hat Marx seine Kon zep tion derart deutlich so w oh l gegen die roman -
tische Verklärung vorkapitalistischer Stufen abgesetzt als auch gegen die
positivistische Tendenz, das Bestehende zu rechtfertigen. Bildet die »ro-
mantische Ansicht« einen immerhin »berechtigten Gegensatz« gegen die
verdinglich ten Verhältnisse eines entfalteten Kapita lism us, so sperren p o -
sitivistische Argumente sich gegen die Unabgeschlossenheit der histori-
schen Diale ktik , die sich darin ausdrückt, daß die Aufg ab e des Kapitals, die
gesellschaftlichen Prod uktivkräfte enorm z u entw ickeln, erfüllt ist, sobalddie weitere Entw icklun g »an dem Kapital selbst eine Schranke findet«23.
I I I
Betrachten wir jetzt einige Hinweise von Marx und Engels, die in vor-
liegender Dissertation n icht so akzentuiert werden, w ie es aus heutigerSicht ihrer sachlichen Bedeu tung entspricht. Sie zeugen nicht nur von
Ansätz en ökologisch geschärften Bewußtsein s, sondern belegen, daß das
MarxEngelssche Wer k, aufs G anz e gesehen, keineswegs im Dienst rü ck -
sichtsloser Naturbeherrschung steht. Im Gegenteil. Früh schon kritisiert
Marx den negativen Einfluß der kapitalistischen Ökonomie auf das neu-
zeitlich verbreitete Naturbild. »Das Geld«, heißt es in seiner Schrift Zur
Judenfrage, »ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller
Dinge. Es hat daher die ganze W elt, die Mensch enw elt wie die N atu r, ihreseigentümlichen Wertes beraubt. ...D ie Ansch auung, welche unter der
Herrschaft des Privateigentums und des Geldes vo n der N atur gewonn en
wird, ist die wirkliche Verachtu ng, die praktische Herabwürdig ung der
Natur«24.
V
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Spätere Äußerung en der Auto ren betreffen ruinöse F olgen kapitalistischer
Agrar und In dustrieproduktion sowie natürliche Schranken der Ausbeut
barkeit der N atur, mit denen selbst eine sozialistische Gesellschaft zu rech-
nen hätte. »Die Prod uktivität der Arbeit«, schreibt M arx im III. Band des
Kapitals, »ist auch an Naturbedingungen gebunden, die oft minder ergie-
big werden im selben Verhältnis w ie die Produktiv ität soweit sie von
gesellschaftlichen Bedingungen abhängt steigt. D ah er entgegengesetzteBewegung in diesen verschiednen Sphären, Fortschritt hier, Rückschritt
dort. Man bedenke z .B . den bloßen Einfluß der Jahreszeiten, w ov on die
Menge des größten Teils aller Rohstoffe abhängt, Erschöpfung von Wal-
dungen, Kohlen und Eisenbergwerken etc.«2* Im Ka pitel »Maschinerie
und große Industrie« des I. Bandes seines H aup tw erks heb t Ma rx die sub-
jektiv wie objektiv verderblichen Folgen industrialisierter Lan dwirtschaft
hervor. Er zeigt, daß die kapitalistische Produktion mit »dem stets wach-
senden Übergewicht der städtischen Bevölkerung ... den Stoffwechsel
zwisch en Mensch und E rde (stört), d. h. die Rü ckkeh r der vom Menschen
in der Form von Nahrungs und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbe-
standteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Boden-
fruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der
Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt
zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Um-
stände jenes Stoffwechsels ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesell-schaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung
adäquaten Form herzustellen.«26 Marx spricht hier höchst aktuelle Ein-
sichten aus. Klar steht ihm das Problem des »recycling« vor Augen, damit
die historische N otw end igkeit, den natürlichen, durch menschlichen Ein-
griff gestörten Kreislauf bew ußt wiederherzustellen, der bisher eher zufäl-
lig und unter Belastung der Menschen stattgefunden h at.27 A m Ende
dieses Kapitels faßt Marx seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen:»Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die
gesteigerte Produk tivkraft und größre Flüssigmachung der Arbe it erkauft
durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder
Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in
der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu
berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fru chtbarkeit zugleich
ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.
...D ie kapitalistische Produktion en twickelt daher nur die Techn ik undKombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zu-
gleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den
Arbeiter ,« 28 Dieser »Zerstörungsprozeß«, fügt M arx h inzu, vo llzieht sich
um so schneller, je mehr ein Land w ie die Vereinigten Staaten von G roß
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Industrie als dem »H intergrund seiner En twicklung«29 ausgeht. Äh nlic h
äußert sich Marx h ierzu in den Theorie über den Meh rwe rt : »Es liegt in der
Natur der kapitalistischen Produktion, daß sie die Industrie rascher ent-
wic kelt als die Agrikultur. Es geht dies nicht aus der N atur des Bodens
hervor, sondern daraus, daß er andre gesellschaftliche Verhältnisse
braucht, um w irklich seiner N atur gemäß exploitiert zu werden . Die kapi-
talistische Produktion wirft sich erst auf das Land, nachdem ihr Einfluß eserschöpft und seine Naturgaben verwüstet hat.«3°
Als Krit ik er der politischen Ö konom ie verfolg t Marx die wissenschaft-
liche Literatur auch auf angrenzenden Gebieten. Hinsichtlich negativer
Aspekte des gesellschaftlich determ inierten Naturverhältnisses verdankt
er Carl Nikolaus Fraas, einem vielseitigen Gelehrten, wertvolle Anregun-
gen, insbesondere seiner Studie Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, ein
Beitrag zur Geschichte beider (Landshut 1847), die zu lesen er Engels in
einem Brief vom Frühjahr 1868 empfiehlt. Fraas, heißt es hier, weist nach,
»daß in historischer Zeit Klima und Flora wechseln. Er ist vor Darwin
Darw inist und läßt die Arten selbst in der historischen Ze it entstehn. A ber
zugleich Agro no m . Er behauptet, daß mit der Kultur entsprechend ih-
rem G rad die von den Bauern sosehr geliebte >Feuchtigkeit< verlorengeht
(daher auch die Pflanzen von Süden nach Norden wandern) und endlich
Steppenbildung eintritt. Die erste Wirkung der Kultur nützlich, schließ-
lich verödend durch Entho lzung etc. ...D a s F azit ist, daß die Ku ltur wenn natu rwüchsig fortschreitend und nicht bewußt beherrscht (dazu
kom mt er natürlich als Bürger nicht) Wüsten hinter sich zurückläß t,
Persien, Mesopotamien etc., Griechenland. Also auch wieder sozialisti-
sche Tendenz unbew ußt!«3'
Im Zusammenhang hiermit steht die »Zerstörung der Waldungen«32, auf
die Marx, angeregt woh l durch Fraas, im II. Band des Kapitals zu sprechen
kommt: »Die lange Produktionszeit (die einen relativ nur geringen Um-fang der Arbeitszeit einschließt), daher die Länge ihrer Umschlagsperio-
den, macht die Waldz uc ht zu einem ungünstigen Privat und daher kapita-
listischen B etriebszw eig, we lcher letztre wesentlich Privatbetrieb ist, auch
wenn statt des einzelnen Kapitalisten der assoziierte Kap italist auftritt. Die
Entwicklung der Kultur und Industrie überhaupt hat sich von jeher so
tätig in der Zerstörung der Waldungen gezeigt, daß dagegen alles, was sie
umgekehrt zu deren Erhaltung und Produk tion getan hat, eine vollständig
verschwindende G röße ist.«33 Auch Engels ’ ökolo gische Einsichten setzen die Lektü re des Buches von
Fraas voraus. Sie betreffen zunächst die mit der fortschreitenden Indu-
strialisierung ländlicher Gebiete entstehenden Probleme. Hierzu heißt es
im AntiDiikrin g: »Erstes Erfordernis der Dampfmaschine und Haupt-
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ahnten noch weniger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für des größten
Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so
wütendere Flu tström e über die Ebene ergießen könnten.«40
Engels hegt keine Illusionen hinsichtlich der Zeit und Mühe, die es kosten
wird, die zivil isatorische Erblast der bisherigen Gesch ichte abzu tragen.41
A ber er nim mt an, daß es wissenschaftlicher Einsicht künftig gelingen
werde, die »näheren und ferneren Nachwirkungen unsrer Ein griffe in den
herköm mlichen G an g der N atur« 42 nicht nur rechtzeitig zu erkennen, son-
dern auch zu beherrschen. Freilich, so meint er, können wir uns nur
»durch lange, oft harte Erfahrung... über die mittelbaren, entfernteren
gesellschaftlichen Wirkungen unsrer produktiven Tätigkeit Klarheit...
verschaffen«43. Erken ntnis allein, dessen ist Engels sicher, wird nicht ge-
nügen, ungewollte Nebeneffekte der Naturbeherrschung ihrerseits »zu
beherrschen und zu regeln«44. D azu bedarf es einer »vollständige[n] U m - wälz ung unsrer bisherigen Produktionsweise und mit ihr unsrer jetz igen
gesamten gesellschaftlichen Ordnung«45.
W ie aus den angeführten Stellungnahmen erhellt, sind Marx und Engels
eines Sinnes, was die Schwere der ök ologisch en Problem atik und die prak-
tischen Schritte ihrer Bewältigung anbelangt. Als Materialisten gehen sie
davon aus, daß das gesellschaftliche Sein, worin die Menschen leben, ein-
gebettet ist ins universelle Sein der N atu r, deren Bestand zu erhalten ihnen
bei Strafe eigenen Untergangs auferlegt ist. »Vom Standpunkt einer ho-
hem ökonomischen Gesellschaftsformation«, erklärt daher Marx, »wird
das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abge-
schmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem
ändern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle
gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentü-
mer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer , ihre Nu tzn ieß er, und haben sie als
boni patres familias den nachfolgenden Gen erationen verbessert zu hinter-lassen.«46
I V
Angesichts der seit Nie derschrift des Buches radikal veränderten Proble m -
lage erscheint es dem Verfasser angebracht, den philosophischen Ansatz
neu zu überdenken, der seiner damaligen Darstellung des Marxschen N a -
turbegriffs zugrun de lag. D ie D issertation war insofern dem G eist der älte-
ren Frankfurter Schule verpflichtet, als sie (im G ege nz ug zu den unverm it-
telten Objektivismen stalinistischer Ideologie) darauf abzielte, das
deutschidealistische Erbe in Marx ungeschmälert zur G eltun g zu bringen.
IX
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D er Verfasser war deshalb darauf bedacht, den »praktischkritischen« Ma-
terialismus der Thesen über Feuerbach und der Deutsch en Ideologie 47 auch
in den ausdrücklich hinzugezogenen ökonom ischen W erken nach-
zuweisen. Daher die Tendenz der Schrift, das menschliche Natur und
Weltverhältnis fast durchweg aus der Perspektive des arbeits und er-
kenntnistheoretischen SubjektObjektSchemas zu erörtern.48 Dadurch
ist eine zumal heute hervortretende Asym m etrie entstanden. Dieandere, ebenso berechtigte Seite des Marxschen Verständnisses von Wirk-
lichkeit wird zw ar thematisiert49, aber ihr sachliches G ew ich t nicht gebüh-
rend hervorgehoben. So wah r es bleibt, daß die »sinnliche Welt« kein »un-
mittelbar von Ew igk eit her gegebenes, sich stets gleiches D in g ist, sondern
das Prod ukt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und z w a r ... ein
geschichtliches Produkt«50, so wohlbegründet bleibt es, umgekehrt, die
»Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation« als »naturge-
schichtlichen Prozeß«5' aufzufassen.
Daß, im Sinn des II. Kapitels, alle »gesellschaftliche Vermittlung der Na-
tur« die »naturhafte Vermittlung der Gesellschaft« voraussetzt, ist viel-
leicht erst heute im vollen Bewußtsein der Implikationen aussprechbar.
Bei »jedem Schritt«, so Engels in der D ia le ktik der N atur, »werden w ir...
daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Erobe-
rer ein fremdes V o lk beherrscht, wie jemand, der außer der N atu r steht
sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mittenin ihr stehn, und daß unsre ganze H errschaft über sie darin beste ht,.. . ihre
Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können«52. Deshalb sollten
w ir uns vor der Illusion hüten, im Sozialism us werde die Menschheit sich
souverän über die Natur erheben. Deren noch so große Beherrschung,
bem erkt hierzu M ax Adler, beseitigt nicht »die N aturabhängig keit . . . der
gesellschaftlichen Erscheinungen«53; sie ändert bloß die Form, worin sie
sich durchsetzt. Woh l »verschiebt« sich der »Natureinfluß« im Verla uf derGeschichte. »Aber diese Verschiebung bedeutet kein Aufhören, ja nicht
einmal eine Verminderung der Abhängigkeit des Menschen von den Na-
turfaktoren. Im Gegenteil, gerade Marx hat darauf hingewiesen, daß mit
der Fortentwicklung der Beherrschung der Naturkräfte gleichsam die
Breite der Berührung des Menschen mit der Natur wächst und daß er
selbst in der Herrschaft über die Natur um so mehr in Abhängigkeit vonihr gerät.«54
Dennoch hat der Mensch es vermocht, der Erde seinen Stempel aufzu-drücken. Marx weiß sich auf der Höhe weltgeschichtlichen Fortschritts,
wen n er in der Krit ik des Goth aer Programms feststellt, »Quelle von...
Reichtum« w erde die Ar be it nur insofern, als sich »der M e n sc h ... von
vornherein als Eigentümer zu r Natur, der ersten Q ue lle aller Arbeitsm ittel
X
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und gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt«5s. Entsprechend
figuriert im III. Band des Kapitals die Erde »als das ursprüngliche B eschäfti-
gungsfeld der Arbeit, als das Reich der Naturkräfte, als das vorgefundne
Arsen al aller Arbeitsgegenstände.«56. N atur erscheint bei Marx im mer
schon im Horizont geschichtlich wechselnder Formen ihrer gesellschaft-
lichen Aneignung.57 Uber ihre eigene Beschaffenheit verlautet lediglich,
daß sie, als »materielles Substrat« von Gebrauch swerten , »ohne Zutun desM en sc he n ... vorhande n ist«58. Diese r im vorliegenden Buch materia-
listisch interpretierte Sachverhalt kann jedoch am gleichzeitigen Anthro
pozentrismus der Marxschen Naturkonzeption nichts ändern, in der sich
die Rolle des m odernen, die W elt um gestaltenden Subjekts reflektiert.59
In dem Maße, wie der Verfasser die »weltkonstitutive« F unktion der histo-
rischen Praxis herv orh ob , hoffte er dem Selbstverständnis von M arx gerecht
zu werden. Letzteres freilich hat sich unterdessen als wenig konsistent er-
wiesen. Das gilt zum al fü r den »praktischen« W irklichkeitsBezug des
Marxschen Denke ns, der sich in den Ökonomischphilosophischen M anu-
skripten anders darstellt als in der Kritik des Gothaer Programms, w o ersieh
verfestigt zum historischen Aprio ri schrankenloser Aneignung der N a -
tur.
Wie schon im Postscriptum 1971 ist auch hier an Feuerbach wenigstens zu
erinnern, über den Marx und Engels allzu rasch hinw eggegangen sind.60
Was sie als Mangel seines »anschauendefn] Materialism us«6' beanstande-ten: daß er das Sein der D inge nicht antastet, wird heute als eine M öglich keit
unverstellten NaturZugangs wiederentdeckt. Feuerbach konfrontiert im
Wesen des Christentums das neuzeitliche Bewuß tsein mit der großartigen
Naivität der Griechen, deren Verhältnis zur Welt gleichzeitig theoretisch
und ästhetisch ist; »denn die theoretische Ansc hau ung ist ursprünglich die
ästhetische, die Ästhetik die prima philosophia«6*. Für die Alten ist »der
Begriff Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeitselbst«63. Mensch und W elt befinden sich in Harm onie. »Wem die N atur« ,
so Feuerbach, »ein schönes Objekt ist, dem erscheint sie als Zweck ihrer
selbst, für den hat sie den G rund ihres Daseins in sich«; er setzt als »Grund
der Natur« eine »in seiner Anschauung sich betätigende Kraft«64. Freien
Spielraum gew ährt der Mensch dieser Stufe allein seiner Phantasie. »Er läßt
hier«, betont Feuerbach, »indem er sich befriedigt, zugleich die Natur in
Frieden gewähren und bestehen, indem er seine... poetischen Kosmogo
nien nur aus natürlichen Materialien zusammensetzt.«65 Sobald dagegen, wie in der M odern e, der Mensch die W elt vom »praktischen Standpunkt«
aus betrachtet, gar diesen zum theoretischen erhebt, »da ist er entzw eit mit
der N atur, da macht er die Natu r zur untertänigsten Dienerin seines selbsti-
schen Interesses, seines praktischen Egoismus«66.
XI
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Es ist klar, daß Feuerbachs Rekurs auf das vortechnischmythische Welt-
bild der Griechen kein bloßer Reflex roman tischer Sehn süchte ist.
Feuerbach erinnert an die schon zu seiner Zeit vielfach verschüttete M ög -
lichkeit, Natur nicht nur als Objekt der Wissenschaft oder Rohstoff zu
erfahren, sondern »ästhetisch« im sinnlichrezeptiven wie künstlerischen
Sinn. Aneignend e Praxis soll den Dingen zu A us dru ck und Sprache verhel-
fen. Dazu aber bedarf es eines philosophischen Ansatzes, der über die mitdem SubjektObjektSchema des Arbeits und Erkenntnisprozesses ge-
setzte Trennung von Mensch und Natu r hinaus ist. A uszu gehe n w äre vom
Naturganzen (und der Naturentsprungenheit des Menschen). Eben darin
bestand nach Marx der »aufrichtige Jugendgedanke«67 Schellings. Im Er-
sten E ntw ur f eines Systems der Naturphilosophie von 1799 w ird der Na tur
»unbedingte Realität« zuerkannt: »Autonomie« und »Autarkie«. Natur,
sagt Schelling, ist »ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisi
rendes Ganzes«68.
Heuristisch brauchbar ist auch Engels’ These von der Natu r als »Gesamt-
zusammenhang«69, als in sich reich gegliedertes System universeller Wech-
selwirkungen. Innerhalb dieses in originärer Selbstgegebenheit sich dar-
bietenden Systems bildet der durch materielle Pro duktion verm ittelte
Austausch von Mensch und N atur nur eine von zahllosen Interaktionen.
Dad urch w ird der bisherige, an menschlicher Praxis und G esch ichte orien-
tierte Denkansatz nicht hinfällig, aber relativiert. Der historischdialektische erweitert sich zum »ökologischen Materialismus«.70 Dieser begreift,
daß die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
umschlossen und getragen wird von einer elementarischen Dialektik von
Erde und Mensch, den ungeschichtlichen Voraussetzungen aller Ge-
schichte. Hierin bewährt sich der Gedanke, daß die Welt eine materielle
Einheit bildet. Viel wäre bereits gew onnen, wenn sich die Menschheit,
unter Verzicht auf schrankenloses Wachstum, darauf einrichten könnte,
künftig in besserem Einklang mit dem System der N atu r zu leben.
Fran kfurt am Main, An fang Ap ril 1993 A lfred Schmidt
XII
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Anmerkungen zum Vorw ort des Verfassers zur
französischen Ausgabe
1 W alter Ben jamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann
Schw epp enhä user, Band I.3, Frank furt am M ain 1980, S. 1232.
2 Cf. hierzu Iring Fetscher, Uberlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fort-
schritt noch zu retten f, M ünch en 2 1985, S. 110.3 C f. A lfred Schmidt, Emanzipatorische Sin nlich keit. Ludw ig Feu erba chs a nth ropolo-
gischer Materialismus, M ünch en 3 1988, S. 32 ff.
4 Engels an Marx, Brief vom 15.Dezember 1882, in: Marx/Engels, Ausgew ählte
Briefe , Berlin 1953, S. 425 (Hervorhebung von Engels).
5 Marx, D ie künft ig en Ergeb nisse der britisch en H er rs ch aft in Indie n, » N e w Y o r k
D aily Tribün e«, N r. 3840 vom 8. A ug ust 1853, in: Ausgewählte Sch riften, Band I,
Berlin 1964, S. 330.
6 M anifest der Kom m unistischen Partei, in: ibid., S. 3of.7 Ibid.
8 Marx, Grundrisse der Kr itik der politischen Ö kon om ie (Rohentwurf), Berlin 1953,
S 3139 Ibid.
10 Marx, D as Kapital, Band III, Berlin 1953,8. 873.
11 C f. Fetscher, I.e., S. i2 of .
12 Marx, Grundrisse, I.e., S. 387.
13 Ibid.14 Ib id ., S. 387; 388.
15 C f. ibid ., S. 79.
16 Ibid.
17 Ibid.
18 Ibid.
19 Ibid.
20 Ib id ., S. 79 f.
21 Ibid., S. 231; cf. auch S. 415. C f. z ur historischen No twe nd igke it des »Hindu rch-
gangs« der Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise auch Fetscher,
I.e., S. 1 1 5 ff.
22 Marx, Grundrisse, I.e., S. 80.
23 Ib id., S. 231.
24 Marx/Engels, Werke, Band 1, Berlin 1957, S. 375.
XIII
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25 Marx, D as Kapital, Band III, I.e., S. 289.
26 Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 531 (Hervorhebungen vom Verfasser).
27 M arx b ezieht sich in diesem Zusam m enhang (cf. ibid., S. 532) auf Justus von L iebig,
dessen Buch D ie C hem ie in ihrer Anw endung a u f Ag rik ultu r und Physiologie
(71 862) er dafür lobt, die »negative Seite der modernen A gr ik u ltu r. .. vom Na turw is-
senschaftlichen Standpunkt« aus entwickelt zu haben. Cf. dazu auch Fetscher, I.e.,
S. 137.
28 Marx, Das Kapital, Band I, I.e., S. 531 f. (He rvorh ebu nge n vo n M arx). C f. hierzu
auch die Theorien über den Mehrwert, wo es lapidar heißt: » A n tizip ation der Zu-
kun ft wirkliche An tizipation findet überhaupt in der Produ ktion des Reichtums
nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige
Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen
A usgabe und Ein nah me, die Z u k u n ft realiter antizipiert und verw üstet werden. Bei
beiden geschieht es in der kapitalist ischen Produktion« (in : M arx/E n gels , Werke,
Band 26.3, Berlin 1968, S. 303).
29 Marx, Das Kapital, Band I, I.e., S. 532.
30 Marx/Engels, Werke, Band 26.3, I.e., S. 295.
31 M arx, Br ief an Engels vom 25. M ärz 1868, in: M arx /E ng els, Werke, Band 32, Berlin
1965, S. J2f. (Hervorhebungen von Marx).
32 Marx, Das Kapita l, Band II, Berlin 1955, S. 241. M arx ko m m entiert hier Friedrich
Kirchhofs H andbuch der land wirtschaftlichen Betriebsleh re, Dessau 1852,5.58.
33 Marx, Das Kapital, Band II, I.e., S. 241.
34 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 275 f.
35 Ib id. , S. 276.36 Ibid.
37 Ibid.
38 Ibid ., S.455 .
39 Ib id., S. 454.
40 Ibid ., S. 45 2f.; cf. hierzu auch S. 455.
41 Ib id., cf. S. 277.
42 Ib id., S. 453.
43 Ibid., S. 454. Hinsichtlich der von Engels erwogenen M öglichk eit auch die N atur- beherr sch ung kün ft ig lü ckenlo s zu beherr sc hen, haben sp ätere M arxis te n w ie M ax
A d ler sich mit Rech t eher skep tisc h geäußer t. A d ler w arnt d avor, »in die übliche und
gedankenlose Verherrlichung des technischen Fortschritts zu verfallen, wie sie die
bürgerliche W elt zu ih re r Berü hm ung und Rechtf ertigun g liebt« . Es ble ib t zu
beac hten, »daß eine M öglichkeit sozusagen fü r den E in bruch der unbeherr schten
Natur in das System der geregelten und beabsichtigten Naturwirkungen nicht nur
immer bestehen bleibt, sondern, wo er gelingt, gerade infolge der größeren, aber
momentan durchbrochenen Naturbeherrschung auch bedeutsam größere, ja man-
chesmal sogar katastrophale Wirkungen hervorruft« ( N atur u nd Gesellschaft . Sozio-
logie des Ma rxismus2 , Wien 1964, S. 81; 83).
44 Marx/Engels, Werke, B and 20, I.e., S. 454.
45 Ibid.
46 Marx, Das Kapital, Band III, I.e., S. 826.
XIV
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47 Marx/Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 5 ff.; 42ff.
48 C f. hierzu besonders das III. Kap itel, Ab sch nitt C): W eltkon stitution als historische
Praxis. In seinem Artik el Praxis (1973) hat der Verfasser die »p raxeologische« A u f-
fassung der Wirklichkeit näher entwickelt (in: Alfred Schmidt, Kritische Theorie.
Hum anism us. A u fklä rung , Stuttgart 1981).
49 Am deutlichsten noch im Abs chn itt B) des II. Kap itels, wo der Verfasser den »Stoff-
wechsel vo n M ensch und Natu r« erö rtert und dab ei auc h auf dessen Zusa m m enhang
mit den kom plexen Interaktionen innerhalb des N aturgan zen zu sprechen kom mt.
50 Marx/Engels, Werke, Band 3, I.e., S.43.
51 Marx, D as Kapital, Band I, I.e., S. 8.
52 Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 453.
53 M ax Ad ler, N atu r und Gese lls ch aft , I.e., S. 84.
54 Ib id ., S. 83 f.
55 Marx/Engels, Ausgew ählte Sc hr ift en , Band II, Berlin 1964, S. 11 (Hervorhebungen
vom Ver fa ss er ).
56 Marx, D as Kapital, Band III, I.e., S. 879.
57 Martin Heideg ger hat denn auch im Hu ma nismu sbrief den Marxschen M aterialis-
mus als Ausdruck einer weltgeschichtlichen Erfahrung des modernen Bewußtseins
interpretiert und gegen »billige Widerlegungen« verteidigt. »Das Wesen des Mate-
rialismus«, betont Heidegger, »besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff,
vie lm ehr in ein er m eta physisc hen Best im m ung, d er g em äß alles Se iende als das M ate -
rial der Arbeit erscheint. Das neuzeitlichmetaphysische Wesen der Arbeit ist in
Hegels Phänom enologie des Geistes vorgedacht als der sich selbst einrichtende Vor-
gang der unbedingten Herstellung, das ist Vergegenständlichung des Wirklichendurch den als Subjektivität erfahrenen Men schen. D as W esen des Materialismus ve r-
birgt sich im W esen der T echnik « ( Platons Lehre von der W ahrheit. M it einem B rie f
über den » H um anis m us«, Bern 21954, S. 87^).
58 Marx, D as Kapital, Band I, I.e., S. 47; cf. auch S. 186.
59 Cf. Alfred Schmidt, H um anism us als Natu rbeherrsc hung, in: Jörg Zimmermann
(Hrsg.), Das N aturbil d des M ensc hen, M ün che n 1982, S. 301 ff.
60 C f. Alfre d Schm idt, Em anz ipatorische Sin nlich keit. Ludw ig Feu er ba chs anthropolo-
gischer Materialismus, M ünch en 31988, S. 46ff.61 Marx/Engels, Werke, Band 3, I.e., S. 7.
62 Lu dw ig Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Band 5,
Berlin 1973, S. 206.
63 Ibid. , S. 207.
64 Ibid., S. 206 (H ervo rhe bu nge n von Feuerbach).
65 Ibid., S. 207 (H ervor heb un gen von Feuerbach).
66 Ibid. (He rvorhebu ngen von Feuerbach).
67 M arx an Feuerbach, Brief vom 3. O kto b er 1843, in: M arx/E nge ls, Werke, Band 27,Berlin 1963, S. 420.
68 Schellings W erke, hrsg. von Manfred Schröter, Zweiter Hauptband, München 1927,
S. 17.
69 Marx/Engels, Werke, Band 20, I.e., S. 307.
70 Diesen Beg riff hat Ca rl A m ery s Buch N atu r als Poli tik. D ie ökologisch e Chance des
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Menschen., R einbek bei H am burg 1976, in die wissenschaftliche und politische D e-
batte ein gefü hrt (cf. S. 1 7 ff .). — Der m arx istisc he M aterialism us, erklä rt A m ery, sei
darin inkonsequent gewesen, daß er sich an »Leitvorstellungen aus der politischen
Ökonomie« orientiert habe, die es nunmehr »theoretisch und praktisch« den »Leit-
vorstellungen der Ö kolo gie « unterzu ord nen gelte (S. 184). H abe der M ater ia lism us
sich bisher damit begn ügt, »die W elt zu verändern«, so kom m e es jetzt »darauf an, sie
zu erhalten« (S. 185). Hieraus folgt, daß Am ery hinsichtlich der utopischen H off-
nungen des traditionellen Marxismus erhebliche Abstriche empfiehlt. Die »Perspek-
tive des konsequenten M aterialismus« form uliert A m ery folgenderm aßen: »Versöh-
nung mit der Erde: das ist die Notwendigkeit, aus der konsequenter Materialismus
erwächst und handelt. N icht Ende der En tfrem dung, n icht Fülle der G üte r für den
Menschen kann sein Ziel sein, sondern zunächst und vor allem eine Zukunftsord-
nung, die sich aus dem Respekt vor jeder Materie, auch nichtmenschlicher, ergibt.
Gewiß, noch immer und stets gilt der Marxsche Satz, daß Natur dem Menschen
verm itte lt w ir d und auch die E in w ir kun g des M ensch en auf die N atu r (der bekannte
>Stoffwechsel<) gesellschaftlich erfolgt. Aber dies sagt noch nichts über die Aufgabenaus, die sich die Ges ellsch aft als Ver m ittlerin stellt« (S. 166).
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D ie M en sch h eit w ir d H err in der N a tu r , aber d er M en sch w ir d S k la v e des M en schen oder S k la v e se i-ner eigenen Niedertracht. Sogar das reine
L ic h t der W is sen schaft kan n, so sch ein t es, n u r v o r d em d u n k l en H i n t ergru n d d er U n wi s -senheit strahlen. Das Resultat al ler unserer E rfin du ngen u n d unser es F ortsch rit ts scheint zu sein, daß materiel le Kräfte mit
geistigem Leben ausgestattet werden und die menschl iche Existenz zu e iner mate-rie llen K raft verdumm t. K ar l M arx
(Nach einem von D. Rjazanow entdeckten Manuskript.In: »Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär«.
Wien — Berlin 1928, S. 42 )
Einleitung
Die Arbeit ist ein Beitrag zur philosophischen Marxinterpretation. Ihr
Interesse gilt einem Begriff, dem im Marxschen Denken eine bloß peri-
pherische Bedeutung zuzukommen scheint, dem Begriff der Natur. Marx
kommt in seinen Schriften auf die Natur »an sich« nur äußerst selten zu
sprechen. Das ist jedoch kein Kriterium für ihre geringe Bedeutung in der
Theorie der Gesellschaft, sondern ergibt sich aus deren besonderer Blick-richtung.
Als K rit ik der politischen Ökonom ie stellt die Theo rie der Gesellschaft
den Produktionsprozeß der materiellen Güter als eine »Einheit von
Arbeitsprozeß und. Wertbildungsprozeß «1 dar, wobei sie, im Anschluß an
die Ricardosche Ökonomie, ihr Hauptaugenmerk auf den Tauschwert
der Ware richtet, der als Vergegenständlichung abstraktmenschlicher
Arbeit, ausgedrückt in gesellschaftlich notwendigen Zeitmengen, jederNaturbestimm theit bar ist.
Die Naturalform der Ware, das, was Marx ihren Gebrauchswert nennt,
tritt in der Analyse des Wertbildungsprozesses nur auf, sofern sie »mate-
rielles Substrat, Träger des Tauschwerts*2 ist. Demgegenüber soll hier,
wo es primär um das Philosoph ische an der Marxschen Theo rie geht, der
Produktionsprozeß vor allem als Gebrauchswerte hervorbringender
Arbeitsprozeß in seiner geschichtlichen Bew egung betrachtet werden.
Was den Marxsc hen N aturbegriff im Ansatz von anderen N aturkonzep-tionen unterscheidet, ist sein gesellschaftlichgeschichtlicher Charakter.
1 Das Kapital, Bd. I., S. 195 .2 A. a. O., S. 194 .
7
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Marx geht von der Natur aus als »der ersten Quelle aller Arbeitsmittel
und gegenstände«3, das heißt, er sieht sie von vornherein relativ auf
menschliche Tätigkeit. Alle sonstigen Aussagen über Natur, seien sie
spekulativer, erkenntnistheoretischer oder naturwissenschaftlicher Art,
setzen die Gesamtheit der technologischökonomischen Aneignungswei-
sen der Menschen, gesellschaftliche Praxis, jeweils schon voraus.
Wie die erscheinende N atur und alles Natu rb ewußtsein im Laufe derGeschichte immer mehr zu einer Funktion objektiver Prozesse der
Gesellschaft herabgesetzt werden, so erweist sich umgekehrt für Marx die
Gesellschaft ebensosehr als ein Naturzusammenhang. Nicht nur in dem
unmittelbar kritisch gemeinten Sinne, daß die Menschen ihrer eigenen
produktiven Kräfte gegenüber der Natur noch immer nicht Herr sind,
daß ihnen diese Kräfte als die organisierte, feste Form einer undurch
schauten Gesellschaft gegenübertreten, als »zweite Natur«, die ihrenSchöpfern ein eigenes Wesen entgegensetzt, sondern darüber hinaus in
dem »metaphysischen« Sinne einer Theorie des Weltganzen.
Auch der begriffene und beherrschte Lebensprozeß der Menschen bleibt
ein Naturzusammenhang. Unter allen Formen der Produktion ist die
menschliche Arbeitskraft »nur die Äußerung einer Naturkraft«4. In der
Arbeit tritt der Mensch »dem N aturstoff selbst als eine Naturm acht
gegenüber«5. »Indem e r . . . auf die Na tur außer ihm w irkt und sie
verändert, verändert er zugleich seine eigne N atur.« 6 D ie Dia lektik vonSubjekt und Objekt ist für Marx eine Dialektik von Bestandteilen der
Natur.
Thesenhaft ließe der Inhalt der vorliegenden Schrift sich bezeichnen als
ein Versuch, die wechselseitige Durchdringung von Natur und Gesell-
schaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassenden
Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen. Als Quel-
lentexte legt sie das gesamte zugängliche Werk von Marx zugrunde. Siezieht die Engelsschen Schriften zur Verdeutlichung der Marxschen Posi-
tion hinzu, spweit sie nicht, gemessen an dieser Position, der Kritik
verfallen . Das gilt insbesondere für die Engelssche Fassung des Begriffs
der Naturdialektik.
W o auf die Marxschen Frühschriften eingegangen wird, ist es dem
Verfasser mehr darum zu tun, den genetischen Zusammen hang zu
bestimmten Motiven des mittleren und reifen M arx herzustellen als um
3 Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels, Ausgew. Schriften, Band II,Berlin 1956, S. 11.
4 A. a. O.
5 Das Kapital, Bd. I . , S . 5 .6 A. a. O.
8
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den heute so verbreiteten wie verfehlten Versuch, das eigentlich philoso-
phische Denken von Marx auf das in diesen Texten Gesagte, namentlich
auf die Anthropologie der Pariser Manuskripte zu reduzieren. Aus der
Überlegung heraus, daß Marx keineswegs da am philosophischsten ist,
wo er sich der traditionellen Schulsprache der Philosophen bedient,
werden hier in weit höherem Maße, als es sonst bei philosophischen
Marxinterpretationen üblich ist, die politischökonomischen Schriftendes mittleren und reifen Marx zu Rate gezogen, vor allem der für das
Verständnis der Beziehung von Hegel und M arx äußerst wichtige »Roh-
entwurf« des »Kapitals«, der seither so gut wie unausgewertet gehlieben
ist.
Ganz abgesehen vom Umfang der zu berücksichtigenden Marxliteratur
stellen sich einem Versuch, den Naturbegriff des dialektischen Materia-
lismus darzustellen, erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Bei Marx liegteine systematische Theorie der Natur, die sich aller spekulativer Implika-
tionen bewußt wäre, nicht vor. Es kam daher darauf an, aus den Haupt-
phasen der Entwicklung des Marxschen Denkens die oft entlegenen
Motive zum Thema zusammenzutragen. Bei der außerordentlichen Ver-
flochtenheit dieser Motive ließen sich gelegentliche Wiederholungen,
Überschneidungen, auch Rückverweise nicht ganz vermeiden, so daß die
in den einzelnen Kapiteln bzw. Abschnitten behandelten Sachverhalte
sich nicht immer völlig mit dem in den Überschriften Angekündigtendecken.
9
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lektik der Natur« zu eindeutig aus. Bei Marx liegen die Dinge etwas
anders. Der in seiner Geschichts und Gesellschaftstheorie enthaltene
und von ihr stillschweigend vorausgesetzte philosophischmaterialisti
sche Kern tritt nicht so offen zutage und ist nur schwer herauszupräparie-
ren. Indem der weitaus größte Teil der seitherigen Literatur über Marx
mit Grund hervorkehrt, was dessen Materialismus als eine primär an
Geschichte und Gesellschaft orientierte Theorie qualitativ von allen phi-losophiehistorisch aufgetretenen Formen des Materialismus unterschei-
det, versäumt er zugleich, diejenigen Momente in Marx gebührend zu
berücksichtigen, die ihn selbst mit den antiken Materialisten verbinden.
Dabei ist die Frage nach dem Zusammenhang von materialistischer
Geschichtsauffassung und philosophischem Materialismus keineswegs
zweitrangig oder von bloß terminologischem Interesse. Marx selbst ist
sich übrigens dessen bewußt, daß die Bezeichnung seiner Lehre als
»materialistisch« mehr bedeutet als eine philosophisch unverbindliche
Ausdrucksweise pour ép ater le bourgeois, daß diese Lehre vielm ehr
in einem genauen Sinn in die Geschichte der materialistischen Philo-
sophie gehört. So wird in der »Einleitung zur Kritik der politischen
Ökonomie« von 1857 als zu bearbeitender Programmpunkt nicht nur die
Notwendigkeit angegeben, die These der Abhängigkeit der Staats und
Bewußtseinsformen von den jeweiligen Prodüktions und Verkehrsver-
hältnissen gegenüber »Vorwürfe(n) über Materialismus dieser Auffas-s u n g zu verteidigen, sondern es wird auch ausdrücklich das »Ver-
hältnis zum naturalistischen Materialismus*3 genannt, ohne daß Marx je
dazu gekommen wäre, dieses Verhältnis explizit zu erörtern.
Zur wirklichen Klärung der Frage, inwiefern eine Theorie, nach der das
in letzter Instanz den geschichtlichen Gang der Gesellschaft bestim-
mende Moment die Art und Weise der Produktion und Reproduktion des
Für ihn besteht die Marxsche Theorie aus zwei Teilen, aus einem philosophischen, dersich nur auf die Naturwissenschaften bezieht, und einem geschichtswissenschaftlichen,der es mit der Gesellschaft zu tun hat. Daß auch die neueste Marxforschung noch nichtdas Aufgehobensein des naturalistischen im dialektischen Materialismus begriffen hatund noch immer an der Trennun g der Theorie der Natu r von der Geschichtstheorie fest-hält, belegt eine Äußerung G. H. Sabines: »Marx, following Hegel, has regarded thedialectic as a method especially suited to the social studies, because they have to do witha subjectmatter in which development and growth is an important factor. Sciences thatdeal with inanimate nature like physics and chemistry, Marx assumed, are sufficiently
well served by a materialism of the nondialectical type, like that of Holbach.« In: AHistory of Political Theory, New York 1953, S. 815.
1 Zur Kritik der politischen Ökon omie, S. 267 . Die vollständigen Titel und bibliographi-schen Daten der zitierten Werke von Marx und Engels befinden sich im Literaturver-zeichnis. Sämtliche Sperrungen entstammen, soweit nicht anders vermerkt, den zitierten
Autoren.} A. a. O.
1 1
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unmittelbaren Lebens der Menschen ist, einen philosophischen Materia-
lismus voraussetzt, ist es erforderlich, sich einige bisher weniger beach-
tete Aspekte der theoretischen Entwicklung von Marx vor Augen zu
führen. Wichtig ist zunächst einmal seine Beurteilung der französischen
A ufk lä rer und der von ihnen bestimmten Strömungen innerhalb des
utopischen Sozialismus, wie sie uns in der »Heiligen Familie« begegnet.
Hier wird der Materialismus unumwunden als »die Lehre des realen Hum anismus und als die logische Basis des Kommunismus*4 bezeichnet.
Besonderen Wert legt Marx auf Helvetius, bei dem sich Tendenzen
finden, die sensualistische Erkenntnislehre Lockes in eine materialistische
Theorie der Gesellschaft zu überführen: »Wenn der Mensch aus der
Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfin-
dung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so
einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich ange-
wöhnt, daß er sich als Mensch erfäh rt. . . Wenn der Mensch von den
Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich
bilden . . . Wenn der Mensch von N atur gesellschaftlich ist, so entw ickelt
er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht
seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an
der Macht der Gesellschaft messen.«s
Neben solchen Gedanken der Aufklärung, in denen die sozialistische
Theorie unmittelbar vorweggenommen wird, spielen für die Entwicklungdes jungen Marx die Motive der zeitgenössischen Kritik an Hegels
System, auch die Schellings, eine nicht unbedeutende Rolle. So
bezeichnet die »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, mit einem an Schel-
lings Böhmerezeption erinnernden Ausdruck, Familie und bürgerliche
Gesellschaft als »dunkle(n) Naturgrund, woraus das Staatslicht sich ent-
zündet«6. Später überwiegt bekanntlich die Terminologie Feuerbachs.
Die ersten, von ihr beeinflußten und noch uneinheitlichen Formulierun-
gen des historischen Materialismus in der »Heiligen Familie« sprechen
von der Gesellschaft bisweilen ähnlich abstrakt und undiffere nziert als
von der »N aturbasis«7 des Staates. Die von der Gesellschaft abgeleiteten
4 Heilige Familie, S. 161. Auch Lenin erblickt in der Marxschen Geschichtsauffassung einekonsequente Fortbildung des französischen Materialismus. Vgl. MarxEngelsMarxismus, Berlin 1957, S. 10 f. Zur Frage nach dem Zusammenhang des Marxschen mit dem
französischen Materialismus vgl. auch Roger Garaudy, Die französischen Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus, Leip zig 1954. Von der französischen Aufk lä ru ng gehenüber Buffon und Lamarck auch Linien des »naturgeschichtlichen« Denkens bis hin zuDarwin und Marx.
5 Heilige Familie, S. 1 6 1.6 Werke, Bd. I, S. 205.7 Heilige Familie, S. 238.
12
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Gebilde verhalten sich hier noch zu ihr wie der Geist zur Natur bei
Feuerbach. Daß für Marx ein naturalistischer Materialismus die geheime
Voraussetzung bildet für die richtige Theo rie der Gesellschaft, geht mit
besonderer Kla rheit ebenfalls aus einer Stelle der »Heiligen Familie«
hervor, die sich gegen die Linkshegelianer richtet: »Oder glaubt die kriti-
sche Kritik, in der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur
zum Anfang gekommen zu sein, solange sie das theoretische und prakti-sche Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die
Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt? Oder meint sie
irgendeine Periode in der Ta t schon erkannt zu haben, ohne z. B. die
Industrie dieser Periode, die unmittelbare Produktionsweise des Lebens
selbst, erkannt zu haben? Allerdings die spiritualistische, die theologische
kritische Kritik kennt nur — kennt wenigstens in ihrer Einbildung — die
politischen, literarischen und theologischen Haupt und Staatsaktionen
der Geschichte. Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe,
sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die Geschichte von der
Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grobmate-
riellen Produ ktion au f der Erde, sondern in der dunstigen W olkenbildung
am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte.«8
Bemerkenswert an dieser Stelle ist, daß Marx den Linkshegelianern nicht
einfach eine falsche Interpretation der Geschichte vorwirft, bei der die
materielle Produktion und die Wirksamkeit der Naturwissenschaftenunbeachtet bleiben, sondern zu zeigen versucht, daß sie als philosophi-
sche Idealisten notwendig zu dieser Geschichtsauffassung kommen müs-
sen. Wer das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe trennt, ist
auch außerstande, die Beziehung der Kulturgehalte zur Sphäre der mate-
riellen Produktion zu begreifen.
Feuerbachs anthropologischer Materialismus, der es nicht mit der mecha-
nischen Bewegung der Atome, sondern mit der qualitativen Mannigfal-tigkeit der Natur und dem Menschen als einem sinnlichgegenständlichen
Wesen zu tun hat, verhilft der Marxschen Geschichtstheorie zu ihrem
Begriff der »Basis«. Feuerbach ist es, der durch seine materialistische
Umstülpung der Hegelschen Spekulation über die bloß inneridealistische
Kritik am Idealismus, wie sie für die Linkshegelianer bezeichnend ist,
hinausgeht. Damit verläßt er, mit den Worten von Marx, die »trunkene
Spekulation« und geht zur »nüchternen Philosophie«9 über. Die Pariser
Manuskripte heben Feuerbachs Bedeutung nachdrücklich hervor: »VonFeuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kri
8 A . a. O ., S. 285 f.9 Heilige Familie, S. 253.
13
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tik. Je geräuschloser, desto sicherer, tiefer, umfangreicher und nachhalti-
ger ist die Wirkung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften
seit Hegels Phänomenologie und Logik, worin eine wirkliche theoreti-
sche Revolution enthalten ist.«10
Mit seiner abstrakten Antithese zum Idealismus legt Feuerbach für Marx
den Grund zu einem neuen, nichtidealistischen Denkansatz11, sosehr
zeitweilig auch bei Marx später von ihm wieder aufgenommene wichtigedialektische Motive mit über Bord gehen. An manchen Stellen der »Hei-
ligen Familie« etwa sieht es so aus, als identifiziere Marx mit Feuerbach
die Dialektik schlechthin mit Idealismus. In der »Deutschen Ideologie«,
den »Thesen« und im gesamten späteren Werk kehrt M arx jedoch
verm itte lt durch Feuerbachs H egelk ritik — zu Hegelschen Positionen
zurück.
Die herkömmlichen Deutungen des Verhältnisses FeuerbachMarx be-schränken sich zumeist darauf, herauszuarbeiten, inwieweit Feuer-
bachs atheistische Krit ik an Religion und spiritualistischer Metaphysik
die Marxsche Hegelkritik angeregt oder erst ermöglicht habe. Die
naturalistischanthropologische Basis der kritischen Motive Feuerbachs
tritt dabei weniger hervor, obwohl sie für die Entstehungsgeschichte der
materialistischen Dialektik von weitaus größerer Bedeutung ist, als
gewöhnlich angenommen wird. Erich Thier12 ist einer der wenigen, die
darauf hinweisen, daß Feuerbachs Einfluß auf Marx nicht so sehr auf
10 Nationa lökonom ie und Philosophie, S. 134 f.11 In seinem Au fsatz Ludw ig Feuerbach und der Au sga ng der.klassischen deutschen Phi lo-
sophie beschäftigt sich Ka rl Löw ith eingehend mit der Rolle Feuerbachs nach dem Zusam-menbruch des spekulativen Idealismus und weist mit Recht darauf hin, daß man demSpezifischen der Feuerbachschen Philosophie als dem Bewußtsein dieses Zusammen-
bruchs unter den Bedingungen des Vorm är z nicht gerecht wird, wenn man Feuerbachabstrakt an den Denkleistungen der deutschen Idealisten mißt: „Mit Feuerbach beginnt
die Epoche eines . . . traditionslosen P hilosophierens, das — von rückwärts her betrachtet— zwar ein Verfall in begriffliche und methodische Primitivität ist, vorwärts gesehen aberder produ ktive Versuch: die Fragestellungen der Philosophie gemäß dem faktisch verän -derten Existenzbewußtsein dieser Generationen umzubilden.« In: Logos, Bd. XV II,Tübingen 1928, S. 327. Zur Beurteilung der Rolle Feuerbachs in der Entstehungsge-schichte des dialektischen Materialismus vgl. auch Ernst Bloch, SubjektObjekt, Berlin1952, S. 378—384, wo besonders die über den mechanischen Materialismus hinauswei-senden Momente der naturalistischanthropologischen Theorie Feuerbachs herausge-stellt werden. Von Interesse ist auch das endgültige Marxsche Urteil über Feuerbach, dassich herausbildet, als er während der fünfziger und sechziger Jahre im Zusammenhang
mit der ökonomischen Analyse zum zweiten Male sich gründlich über seine Beziehungzu Hegel verständigt: »Verglichen mit Hegel ist Feuerbach durchaus arm. D ennoch w arer epochemachend nach Hegel, weil er den Ton legte auf gewisse, dem christlichenBewußtsein unangenehme und für den Fortschritt der Kritik wichtige Punkte, die Hegelin einem mystischen clairobscur gelassen hatte.« Marx an Schweitzer, Brief vom24. 1. 1865. In: Ausgewählte Briefe, S. 181.
12 Vgl. seine Einleitung zu Nation alökonom ie und Philosophie, S. 25.
*4
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seinem Atheismus beruhte, der dem Kenner der französischen Aufklä-
rung und der linkshegelianischen Bibelkritik schon vorher geläufig war,
als vielmehr auf seinem Natur und Menschpathos. Wichtiger noch als
die von Engels in seiner Monographie hervorgehobene Schrift »Das
Wesen des Christentums« aus dem Jahre 1841 sind fü r das Verständnis
des Marxschen Naturbegriffs die beiden Arbeiten »Vorläufige Thesen
zur Reform der Philosophie« und »Grundsätze der Philosophie derZukunft« aus den Jahren 1842/43. Feuerbachs Kritik an Hegel setzt an
bei der C ru x jedes idealistischen Systems, dem Begriff der N atur. Für
Hegel ist die Natur gegenüber der Idee ein Abgeleitetes: »Die Natur ist
in der Zeit das Erste, aber das absolute prius ist die Idee; dieses absolute
prius ist das Letzte , der wahre An fang , das A ist das Q.«13
Hegels Naturphilosophie versteht sich als die Wissenschaft von der Idee
in ihrem Anderssein. In der Natur tritt uns die Idee in einer noch nichtzum Begriff geläuterten, unmittelbaren Gestalt entgegen. Sie ist der
Begriff, gesetzt in seiner Begrifflosigkeit. Die Natur ist für Hegel kein in
sich bestimmtes Sein, sondern das Moment der Entäußerung, das die Idee
als abstraktallgemeine durchläuft, um im Geiste restlos in sich zurückzu-
kehren. Einer der merkwürdigsten und problematischsten Übergänge der
Hegelschen Philosophie überhaupt ist der gleichermaßen von Feuerbach
und Marx kritisierte von der »Logik«, deren Resultat die reine Idee ist,
zur »Naturphilosophie«, das heißt vom Gedanken zum sinnlichmateriellen Sein: »Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie... sich
entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens
und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als
Natur frei aus sich zu entlassen,«14
Nicht genug damit, daß bei Hegel dunkel bleibt, inwiefern die Idee in
ihrem Übergang in die Natur sich gleichsam entdialektisiert, inwiefern
sie, das sie als absolute immer schon bei sich selbst ist, dazu kommt, sichzu einer Welt gegenständlichmateriellen Daseins zu entäußern, zu zer-
streuen — die einmal von der Idee hervorgebrachte Natur hebt stufen-
weise alle naturhaften Bestimmtheiten auf, geht in den Geist als ihre
höhere Wahrheit über. Nicht umsonst erinnert die Weise, in der Hegel
diesen Übergang von der Natur zum Geist darstellt, an das gerade von
Marx kritisierte stofflose Ende der in der »Phänomenologie« ausgetrage-
nen Dialektik des Wissens und seines Gegenstandes auf der Stufe des
absoluten Wissens: »Wir haben in der Einleitung zur Philosophie des
Geistes bemerklich gemacht, wie die Natur selber ihre Äußerlichkeit und
13 System der Philosophie, II, Glöckner, Zus atz zu § 248, S. 58.14 En cyclopädie der philosophischen Wissenschaften, Ho ffmeister, § 244, S. 201.
15
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Vereinzelung, ihre Mate rialität als ein Unwahres, dem in ih r wohnenden
Begriffe nicht Gemäßes aufhebt, und dadurch zur Immaterialität gelan-
gend in den Geist übergeht.«15
Insofern die Natur fortschreitend ihre Äußerlichkeit ablegt und die Seele
hervorbringt, glaubt Hegel, von ihr auf den immateriellen Charakter der
Natur überhaupt schließen zu können: »Indem so alles Materielle durch
den in der Natur wirkenden ansichseyenden Geist aufgehoben wird,und diese Aufhebung in der Substanz der Seele sich vollendet, tritt die
Seele als die Idealität alles Materiellen, als alle Immaterialität hervor, so
daß Alles, was Materie heißt, — so sehr es der Vorstellung Selbstständig-
keit vorspiegelt, — als ein gegen den Geist Unselbstständiges erkannt
wird.« 16
Diesem naturphilosophischen Idealismus Hegels hält Feuerbach, wie
gesagt, abstraktantithetisch seinen Naturalismus entgegen. Ist für ihnHegels Philosophie eine Philosophie auf dem Standpunkt der Philo-
sophie, so versteht sich Feuerbach selbst als einen Philosophen auf dem
Standpunkt der Nichtphilosophie. Anstatt mit Philosophie zu beginnen,
um wieder mit Philosophie zu endigen, will er mit Nichtphilosophie
beginnen, um durch Philosophie hindurch zur Nichtphilosophie zurück-
zugelangen. In den »Vorläufigen Thesen« umreißt Feuerbach sein Pro-
gramm einer »Negation aller Schulphilosophie«17 folgendermaßen:
»Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was viel-mehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das
also, was bei Hegel nur zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der
Philosophie aufnehmen... Die Philosophie hat daher nicht mit sich,
sondern mit ihrer Antithese, mit der Nic htphilo sophie zu beginnen.
Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischo-
lastische Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus. * 18
Die neue Philosophie beansprucht gegenüber den übrigen Wissenschaf-ten keine Sonderrolle mehr, sondern hat gleich diesen die Natur zur
Voraussetzung, ein Gedanke, der sich bei M arx, entsprechend abgewan-
delt, bis ins »Kapital« verfolgen läßt: »Alle Wissenschaften müssen sich
auf die Natur gründen. Eine Lehre ist solange nur eine Hypoth ese,
solange nicht ihre natürliche Basis gefunden ist.«19
Die Natur, ohne welche die Vernunft stofflos wäre, gründet in sich. »Sein
15 System der Philosophie, III, Glöckner, Zu satz zu § 389, S. 54.16 A. a. O., S. 58.
17 Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie. In: Kleine philosophische Schriften,(184245), herausgegeben von M. G. Lange, Leipzig 1950, S. 74.
18 A. a. O ., S. 67 i.19 A. a. O , S. 77.
16
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ist aus sich und durch sich.«20 Natur ist causa sui. Feuerbach kritisiert vor
allem die Hegelsche Ansicht, daß die Natur eine Entäußerung der abso-
luten Idee sei: »Die Hegelsche Lehre, daß die Natur, die Realität von der
Idee gesetzt — ist nur der rationelle Ausdruck von der theologischen
Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immate-
riellen, d. i. abstrakten Wesen geschaffen ist. Am Ende der Logik bringt
es die absolute Idee sogar zu einem nebulösen >Entschluß<, um eigen-händig ihre Abkunft aus dem theologischen Himmel zu dokumentie-
ren.«21
Aus einem absoluten Subjekt wird für Feuerbach das Denken, der Geist,
zu einer Qualität des Menschen neben anderen Naturqualitäten. Alles
Bewußtsein ist das Bewußtsein leibhaftiger Menschen. Die Wissenschaft
vom Menschen als eines bedürftigen, sinnlichen, physiologischen Wesens
ist daher die Voraussetzung aller Theorie der Subjektivität: »Nur derMensch ist der Grund und Boden des Fichteschen Ichs, der Grund und
Boden der Leibnizschen Monade, der Grund und Boden des Absolu-
ten.«22
Beim Ausgang der klassischen deutschen Philosophie erweist sich das
überempirische Ich, das »Bewußtsein überhaupt« endgültig als eine
Abstraktion von den endlichen Subjekten. Schon in Kants Philosophie ist
die Frage nach dem Verhältnis von transzendentalem und empirischpsy-
chologischem Ich sehr schwierig. Obwohl Kant seinem Programm nachauf der strengen Unterscheidung der beiden Iche bestehen muß, gelingt
es ihm bei der konkreten Durchführung der Vernunftkritik nicht zu
verhindern, daß ihre Dif fe renz verschwim mt und sie ineinander überge-
hen. Dadurch bekommt schon sein transzendentales Subjekt eine gewisse
anthropologische Tönung. Bei Feuerbach, als dem Endstadium der gan-
zen Gedankenbewegung, wird der Mensch, gerade als empirisches und
natürliches Wesen, zum eigentlichen Thema: »Die neue Philosophiemacht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des
Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der
Philosophie — die Anthropolo gie also, mit Einschluß der Physiologie, zur
U niversalwissenschaft .« 23
Ganz wie Feuerbach in seiner Religionskritik die religiösen Inhalte als
eine Entfremdung sinnlichmenschlicher zu begreifen sucht, versteht er
auch den absoluten Geist als eine Entfremdung des endlichen Menschen-
20 A. a. O ., S. 73.21 A. a. O ., S. 72 f.22 A. a. O ., S. 77.23 Gru ndsätze der Philoso phie der Zuk unft , § 54, S. 167. In: Kleine philosophische Schrif-
ten, a. a. O.
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geistes. Dadurch wird Hegels Präexistenz der logischen Kategorien vor
der Erschaffung der Welt und eines endlichen Geistes aufgehoben und
die logischen Formen werden zu Funktionen vergänglicher Menschen
erklärt: »Die Metaphysik oder Logik ist nur dann eine reelle, immanente
Wissenschaft, wenn sie nicht vom sogenannten subjektiven Geiste abge-
trennt wird. Die Metaphysik ist die esoterische Psycholog ie.«24
Der Gedanke, daß nicht vom absoluten Geiste, sondern von leibhaftigenMenschen auszugehen sei, ist auch für die Marxsche Theorie der Subjek-
tivität von großer Wichtigkeit. Auch für Marx gilt der Satz: »Die Reali-
tät, das Subjekt der Vernunft ist nur der Mensch. Der Mensch denkt,
nicht das Ich, nicht die Vernunft.«25
Die unaufhebbare Differenz von Begriff und Realität, vonHegel zwar
anerkannt, aber zugleich wieder entwertet dadurch, daß sie, als bloße
Denkbestimmung, zur Subjektseite hinzugeschlagen wird, ergibt sich
zwingend aus der Reduktion des absoluten Geistes auf den menschlichen.
Es ist nicht möglich, durch lückenlose Deduktion das »Wirkliche« in den
Griff zu bekommen. Feuerbach drückt diesen Gedanken auf eine sehr
scharfsinnige Weise aus: »Das Wirkliche ist im Denken nicht in ganzen
Zahlen, sondern nur in Brüchen darstellbar. Diese Differenz ist eine
normale — sie beruht auf der Natur des Denkens, dessen Wesen die Allge-
meinheit ist, im Unterschied von der Wirklichkeit, deren Wesen die Indi-
vid ualität ist. D aß aber diese Differenz nicht zu einem förm lichen Wider-spruch zwischen dem Gedachten und dem Wirklichen kommt, dies wird
nur dadurch verhindert, daß das Denken nicht in gerader Linie, in der
Identität mit sich fortläuft, sondern sich durch die sinnliche Anschauung
unterbricht. Nur das durch die sinnliche Anschauung sich bestimmende
und rektifizierende Denken ist reales, objektives Denken — Denken
objektiver Wahrheit.*26
Indem Marx, über Feuerbach hinausgehend, nicht nur die sinnliche Anschauung, sondern die gesamte menschliche Pra xis als konstitutives
Moment in den Erkenntnisprozeß einführt, wird er zugleich der Feuer
bachschen Forderung gerecht, daß sich die neue Philosophie »toto genere
von der alten«27 zu unterscheiden habe. Erst indem sich Feuerbachs
Auto ritäte n Mensch und N atur als dialektische Momente der Praxis
erweisen, gelangen sie zu ihrer Konkretion. Wie Feuerbach spricht auch
24 Vo rläu fige Thesen, S. 58.25 Grund sätze, S. 163.26 A. a. O., § 48, S. i S9 f.27 A. a. O., § 6 5, S. 170.
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Marx von der »Priorität der äußeren Natur«28. Freilich mit dem kriti-
schen Vorbehalt, daß alle Priorität nur eine innerhalb der Vermittlung
sein kann.
Wenn M arx die N atur — das Material menschlicher T ätigkeit — als dasje-
nige bestimmt, was nicht subjekteigen ist, was in den Weisen menschli-
cher Aneignung nicht aufgeht, was mit den Menschen schlechthin
unidentisch ist, so versteht er diese außermenschliche Wirklichkeit dochnicht im Sinne eines unvermittelten Objektivismus, also ontologisch. Bei
Feuerbach steht das mit bloßen Naturqualitäten ausgestattete Gattungs-
wesen Mensch als leerbleibende Subjektivität29 der N atur als toter
Objektivität passivanschauend, nicht praktischtätig gegenüber. Was
Feuerbach als Einheit von Mensch und Natur bezeichnet, bezieht sich nur
auf das von ihm romantisch verklärte Faktum der Naturentsprungenheit
des Menschen, nicht aber auf seine geschichtlichgesellschaftlich vermit-
telte Einheit mit der Natur in der Industrie, eine Einheit, die auf allen
Stufen ebenso Verschiedenheit, Aneignung eines Fremden, Auseinander-
setzung ist. Feuerbachs Mensch tritt nicht als eigenständige Produktiv-
kraft auf, sondern bleibt an vormenschliche Natur gefesselt. Zwar setzt
körperliches Tun diese Naturbasis als einen bewußtseinstranszendenten
Gegenblock voraus. Alle Arbeit ist Arbeit an einem festen Sein, das sich
jedoch gegenüber den Subjekten ebensosehr als ein Nichtiges, Durc h
dringbares erweist. Feuerbachs anthropologische Hervorhebung desMenschen gegenüber der sonstigen Natur bleibt abstrakt. Natur insge-
samt ist für ihn ein geschichtsfremdes, homogenes Substrat, dessen Auflö-
sung in eine Dialektik von Subjekt und Objekt den Kern der Marxschen
Kritik bildet. Natur ist für Marx Moment menschlicher Praxis wie
28 Deutsche Ideologie, S. 42. Vgl. dazu ferner Hei lige Familie, S. 308, wo M arx sagt: »InHegels Geschichtsphilosophie, wie in seiner Naturphilosophie, gebiert der Sohn die
Mutter, der Geist die N atur . . . das Resultat den Anfang.«29 Das bringt den abstrak t bleibenden Naturalisten Feuerbach in eine eigentümlich kom ple-
mentäre Beziehung zu Kierkegaard. Auch Feuerbach forder t dazu auf, »in der Existenz«zu denken. Vg l. Grun dsätze, S. 164. Beide bezichtigen Hegel der Abstra ktheit im Namen
weit abstrakterer Prinzipien, als sie im Hegelschen Idealismus vorliegen. Weder mit H iifeeiner auf ihre sozialhistorischen Voraussetzungen hin nicht reflektierten naturalistischenPrioritätsthese noch als religiöse Innerlichkeit gelangt das den Idealismus kritisierendeDenken in ein konkreteres Medium. In seinem Buch Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart1950, ordnet Karl Lö with M arx und Kierkegaard einander als Hege lkritiker zu, währenddoch in Wahrheit Marx als vermittelnder Denker Hegel weit näher steht als Kierke-
gaard. Marx sieht, daß es nicht darauf ankommt, Hegels Theorie der Vermittlung durchden Kultus eines wie immer beschaffenen »unmittelbar Gegebenen« einfach zu ersetzen,sondern daß über Hegels Form der Dialektik einzig hinaus gelangt, wer den bei Hegelidealistisch gemeinten Begriff der Vermittlung gegen seine idealistische Fassung selber
kehrt. Zum ontologischen C ha rakter des Feuerbachschen Materialismus vgl. auch LucienSebag, Marx, Feuerbach et la critique de la religion. In: La Nouvelle Critique, Paris1955, Nr. 64, S. 32.
19
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zugleich die Totalität dessen, was ist. Indem Feuerbach unreflektiert bloß
auf der Totalität beharrt, verfällt er naivrealistisch in den Mythos einer
»reinen Natur«30 und identifiziert in ideologischer Weise31 das unmittel-
bare Sein der Menschen mit ihrem Wesen. Es kommt M arx nicht in den
Sinn, Hegels Weltgeist durch ein ebenso metaphysisches Prinzip, wie eine
materielle Weltsubstanz es wäre, einfach zu ersetzen. Er verwirft den
Hegelschen Idealismus nicht abstrakt wie Feuerbach, sondern sieht inihm die Wahrheit in einer noch unwahren Gestalt ausgedrückt. Daß die
W elt eine durchs Subjekt verm ittelte ist, sieht der Idealismus richtig.
Marx meint jedoch, diesen Gedanken erst dadurch in seiner vollen Trag-
weite nach Hause bringen zu können, daß er nachweist, was es mit dem
eigentümlichen Pathos des »Erzeugens« von Kant bis Hegel auf sich hat:
der Erzeuger einer gegenständlichen Welt ist der gesellschaftlichhistori-
sche Lebensprozeß der Menschen. Daß mit der beginnenden Neuzeit das
außermenschliche Natursein immer mehr zum Moment gesellschaftlicher
30 Vgl. dazu H enri Lefèbvre, Le matérialisme dialectique, Paris 1949, wo es au f S. 49 heißt:»L’humanisme de Feuerbach est donc fondé sur un mythe: la pure nature. La nature etl’objet lui semblent »donnés de toute éternité«, dans une harmonie mystérieuse avecrhomme— harmonie que seul perçoit le philosophe. L’objet est posé comme objet d’intui-tion, non comme produit de l’activité sociale ou praxis. La nature de Feuerbach est cellede la forêt vierge, ou d’un attol récemment émergé dans le Pacifique.« Vgl. auch S. 89» . . . la nature ellemême n’existe pour nous que comme contenu dans l’expérience et la
pratique humaine«. Die Kritik an Feuerbachs »reiner Natur« läßt sich noch weiter trei- ben. Nicht nur ist, wie Lefèbvre mit Recht anführt, N atur ein je schon menschlich Bear- beitetes, sondern auch die noch nicht in menschliche Produktion einbezogenen Naturb e-reiche Lefèbvres U rwa ld oder Ato ll im Paz ifik — lassen sich einzig unter den Kategoriender bereits angeeigneten Natur anschauen und begreifen. Ganz wie in Hegels Ästhetik,entgegen der landläufigen Ansicht, die Wahrnehmung des Naturschönen das Kunst-schöne bereits voraussetzt, so wird auch bei Marx die noch nicht gesellschaftlich vermit-telte Natur nur unter dem Aspekt möglicher Bearbeitbarkeit relevant.
3 1 A u f diesen Umstand mach t besonders der frühe Engels aufmerksam in einem in derDeutschen Ideologie abgedruckten Fragment über Feuerbach (S. 598—600), das sich auf
den § 27 der Gru nds ätze der Philosophie der Zuk unft bezieht (S. 132 f.). Bei Feuerbachheißt es: »Was mein Wesen, ist mein Sein. Der Fisch ist im Wasser, aber von diesem Seinkannst Du nicht sein Wesen abtrennen. Schon die Sprache identifiziert Sein und Wesen.Nur im menschlichen Leben sondert sich, aber auch nur in abnormen, unglücklichenFällen, Sein vom Wesen — ereignet es sich, daß man nicht da, wo man sein Sein, auch sein
Wesen hat, aber eben wegen dieser Scheidung auch nicht wah rh aft, nicht mit der Seeleda ist, wo man wirklich, mit dem Leibe is t . . . Aber alle Wesen sind — naturwidrige Fälleausgenommen — gern da, wo, und gern das, was sie sind, d. h. ihr Wesen ist nicht vonihrem Sein, ihr Sein nicht von ihrem Wesen abgetrennt.« Dem entgegnet Engels ideolo-giekritisch: »Eine schöne Lobrede auf das Bestehende. Naturwidrige Fälle, wenige,
abnorme Fälle ausgenommen, bist du gerne mit dem siebten Jahre Türschließer in einerKohlengrube, vierzehn Stunden allein im Dunkeln, und weil dein Sein, so ist es auch dein Wesen . . . Es ist dein >Wesen<, unter einen Arbeitszw eig subsumiert zu sein.« Indem derreiche Vermittlungszusammenhang Hegels bei Feuerbach zu der einen positiven Unm it-telbarkeit zusammenschrumpft, wird sein naiver Materialismus zum ebenso naiven Idea-lismus, der die in der gesellschaftlichen Realität gerade nicht vorhandene Identität vonErscheinung und Wesen des Menschen als simple Naturgegebenheit betrachtet.
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Veranstaltungen herabgesetzt wird, reflektiert sich ph ilosophisch darin,
daß die Bestimmungen der Objektivität in immer höherem Maße ins
Subjekt einwandern, bis sie schließlich in der vollendeten nachkantischen
Spekulation ohne Rest in ihm aufgehen. Der Produktionsprozeß bleibt
demzufolge auch bei Hegel, trotz großartiger empirischer Einsichten im
einzelnen, im ganzen doch ein geistiger. In Hegels Logik, sagt Feuerbach,
ist das Denken »in ununterbrochener Einheit mit sich selbst; die Gegen-stände desselben sind nur Bestimmungen des Denkens, sie gehen rein im
Gedanken auf, haben nichts für sich, was außer dem Denken bliebe«32.
Der Widerspruch von Subjekt und Objekt wird bei Hegel innerhalb des
Subjekts als des Absoluten aufgehoben. Sosehr auf den einzelnen Stufen
des dialektischen Prozesses Nichtidentität das weitertreibende Moment
ist, so sehr triumphiert doch am Ende des Systems idealistische Identität.
Umgekehrt setzt sich in der Marxschen Dialektik in letzter Instanz dasNichtidentische durch, und zwar gerade, weil Marx im Gegensatz zu
Feuerbach die Bedeutung der Hegelschen Dialektik voll anerkennt:
»Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach
Abstreifung ihrer mystischen Form . . ,«33
Unter der »mystischen Form« der Hegelschen Dialektik versteht Marx
die idealistische Fassung des Gedankens der Vermitteltheit alles Unmit-
telbaren. An Feuerbachs Naturmonismus hält er insofern fest, als auch für
ihn Subjekt und Objekt »Natur« sind. Zugleich überwindet er dessenabstraktontologischen Charakter dadurch, daß er Natur und alles
Naturbewußtsein auf den Lebensprozeß der Gesellschaft bezieht. Da die
verm ittelnden Subjekte, endliche, raumzeitlich bestimmte Menschen, sel-
ber ein Stück der durch sie verm ittelten dinglichen W irklichkeit sind,
führt der Gedanke der Vermitteltheit des Unmittelbaren in seiner Marx-
schen Version nicht zum Idealismus. Bei Marx erweist sich die Unmittel-
barkeit der N atur, sofern er sie Feuerbach gegenüber als gesellschaftlichgeprägt herausstellt, nicht als verschwindender Schein, sondern ihre
genetische Priorität gegenüber den Menschen und ihrem Bewußtsein
bleibt bestehen.
Die außermenschliche Wirklichkeit, von den Menschen zugleich unab-
hängig wie mit ihnen vermittelt oder doch vermittelbar, beschreibt Marx
mit den von ihm synonym gebrauchten Termini »Materie«, »Natur«,
»Naturstoff«, »Naturding«, »Erde«, »gegeständliche Daseinsmomente
der Arbeit«, »gegenständliche« oder »sachliche Arbeitsbedingungen«.Insofern auch die Menschen einen Bestandteil dieser Wirklichkeit bilden,
32 Feuerbach, Gru ndsätze, § 1 1, S. 99.33 Briefe an Kuge lmann, Brief vom 6. 3. 1858, S. 57.
2 I
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ist der Marxsche Naturbegriff identisch mit der Gesamtwirklichkeit34.
Der Begriff der Natur als der Gesamtwirklichkeit läuft jedoch auf keirje
abschlußhafte »Weltanschauung« oder dogmatische Metaphysik hinaus,
sondern umschreibt lediglich den Denkhorizont, in dem der neue Mate-
rialismus sich bewegt, der nach einem Wort von Engels in der Erklärung
der Welt aus sich selbst besteht35. Dieser Begriff von Natur ist »dogma-
tisch« genug, um alles, was bei Marx Mystizismus oder Ideologie heißt,aus der theoretischen Konstruktion auszuschließen; er ist zugleich
undogmatisch und weitherzig genug gefaßt, um zu vermeiden, daß Natur
nun ihrerseits eine metaphysische Weihe erhält oder gar zu einem letzten
ontologischen Prinzip erstarrt.
Natur in diesem umfassenden Sinne ist der einzige Gegenstand der
Erkenntnis. Sie schließt die Formen der menschlichen Gesellschaft so in
sich ein, wie sie umgekehrt nur vermöge dieser Formen gedanklich und
wirklich erscheint. Darin dem Feuerbachschen Sensualismus verhaftet,
geht Marx von der Sinnlichkeit als »Basis aller Wissenschaft«36 aus.
Materialistische Theorie ist ihm mit wissenschaftlicher Haltung schlecht-
hin identisch: »Nur wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt, sowohl
des sinnlichen Bewußtseins als des sinnlichen Bedürfnisses ausgeht — also
nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht — ist sie wirkliche
Wissenschaft .»37
Die sinnliche Welt und die endlichen Menschen in ihrer jeweiligensozialen Verflechtung — Wesen und Erscheinung zugleich — sind die
einzigen Größen, mit denen die Marxsche Theorie rechnet. Es gibt für
Marx im Grunde nur »den Menschen und seine Arbeit auf der einen, die
Natur und ihre Stoffe auf der anderen Seite«38. Aus der objektiven Logik
der menschlichen Arbeitssituation versucht er, die Struktur auch der
anderen Lebensbereiche zu begreifen: »Die Technologie enthüllt das
aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produk-tionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebens-
verhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen .«39
Am Bilde ihres jeweiligen Kampfes mit der N atur orientiert, deuten die
Menschen in den verschiedenen Sphären ihrer Kultur die Welt, wobei für
34 Vgl. dazu Kritik der politischen Ökonomie, S. 269.35 Dialektik der Na tur, S. 13.
36 Natio nalöko nom ie und Philosophie, S. 194.37 A. a. O., S. 194. Dieses Prinzip gilt auch für den reifen Marx. Vgl. Das Kapital, Bd. I,
S. 389, Fußn. 89. Auch Sidney Hook vertritt in seinem Buch From Hegel to Marx, N. Y.1936, S. 28, die Ansicht, daß Marx den Materialismus als »clearest expression of themethodology of science« versteht.
38 Da s Kapital, Bd. I, S. 192.39 A. a. O. , S. 389, Fußnote 89.
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Marx wie für Feuerbach alle sich auf supranaturale Seinsregionen bezie-
henden Vorstellungen Ausdruck einer negativen Organisation des
Lebens sind. Die geschichtliche Bewegung40 ist eine wechselseitige Be-
ziehung von Menschen zu Menschen und zur Natur. Zwar umschließt
das Weltmaterial Subjekt wie Objekt, wesentlich bleibt aber, daß sich
historisch gegenüber der Einheit des Menschen mit der Natur ihre
Unversöhntheit, letztlich die Notwendigkeit der Arbeit, durchsetzt.Natur interessiert Marx in erster Linie als Moment menschlicher Praxis.
So heben schon die Pariser Manuskripte mit aller Entschiedenheit
hervor: » .. . die N atu r, abstrakt genommen, für sich, in der Trennung
vom Menschen fixie rt, ist für den Menschen nichts.«41
Solange die Natur nicht bearbeitet ist, ist sie ökonomisch wertlos, genauer
gesprochen, bloßes Wertpotential, das seiner Verwirklichung harrt: »Das
bloße N aturm ate ria l, soweit keine menschliche Arbeit in ihm vergegen-
ständlicht ist, soweit es daher bloße Materie ist, unabhängig von der
menschlichen Arbeit existiert, hat keinen Wert, da Wert nur vergegen-
ständlichte Arb eit i s t .. .«42
40 Marx kritisiert an Feuerbach in der Deutschen Ideologie, daß bei ihm geschichtlicheBewegung und Natur auseinanderfallen: »Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt dieGeschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er keinMaterialist.« (S. 43) Aber auch dort, wo Natur in die Geschichtsbetrachtung aufge-nommen wird, geschieht dies keineswegs immer so, daß sie als Moment gesellschaftlicher
Produktion auftritt. Bekannt sind namentlich seit Montesquieu die verschiedensten»geographischen Milieutheorien«, die in der N atur einen mechanisch wirkenden Au ßen -faktor sehen, dem sich die Menschen ebenso mechanisch anzupassen haben. Auch G. W.Plechanows M arxdeutung ist nicht ganz frei von solchen darwinistischen Entstellungen.In seinen Beiträgen zur Geschichte des Materialismus, Berlin 1946, erklärt er auf S. 135:»Der Charakter des natürlichen Milieus bestimmt den des sozialen Milieus.« Selbst inHegels Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, S. 187, findet sich der »Naturzu-sammenhang« bloß als »geographische Grundlage der Weltgeschichte«, nicht primär alsgegenständliche Voraussetzung gesellschaftlicher Arbeit, sosehr sonst bei ihm das
Arbeitsverhältn is reflektiert ist. Engels wendet sich in der Dia lektik der N atu r (S. 245 f.)
mit Nachdruck gegen die geographische Milieutheorie, indem er den menschlichenSubjektfaktor hervorhebt: „Die naturalistische Auffassung der Geschichte, wie z. B.mehr oder weniger bei Dra per und anderen N aturforschern, als ob die N atu r ausschließ-lich auf den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine geschichtlicheEntwicklung ausschließlich bedingten, ist daher einseitig und vergißt, daß der Menschauch auf die Natur zurückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbedingungen schafft.
Von der >Natur< Deutschlands zur Zeit, als die Germanen einwanderten, ist verdam mt wenig übrig. Erdoberfläche, Klim a, Veg etat ion, Fauna, die Menschen selbst haben sichunendlich verändert und alles durch menschliche Tätigkeit, während die Veränderungen,die ohne menschliches Zutun in dieser Zeit in der Natur Deutschlands, unberechenbar
klein sind.« Zum Verhältnis von geographischer Milieutheorie und MarxscherGeschichtsauffassung vgl. auch Leo Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesell-schaft, Halle 1948, S. 511. Uber die bloß mittelbare Einwirkung geographischer Gege-
benheiten auf den Geschichtsverlau f vgl. J. W. Stalin, Ober dialektischen und histori-schen Materialismus. In: Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S. 662 f.
41 Nationa lökono mie und Philosophie, S. 264.42 Rohen twurf, S. 271. Zum Ro hen twurf vgl. II. Kapitel, Abschnitt A.
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Einige sonst bei Marx nicht explizit ausgesprochene philosophische
Motive lassen sich auch seinen Hinweisen zur Geschichte der Philosophie
in der »Heiligen Familie« entnehmen. Dafür, daß der Marxsche Materia-
lismus nicht ontologisch zu verstehen ist, spricht insbesondere die allge-
meine Charakteristik des Hegelschen Systems, die uns hier begegnet. »In
Hegel sind drei Elemente, die spinozistische Substanz, das Fichtesche
Selbstbewußtsein, die Hegelsche notwendigwiderspruchsvolle Einheit von beiden, der absolute Geist. Das erste Element ist die metaphysisch
travestierte N atu r in der Trennung vom Menschen, das zweite ist der
metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, das
dritte ist die metaphysisch travestierte Einheit von beiden, der wirkliche
Mensch und die wirkliche Menschengattung.«43
Die Marxsche Frontstellung ist hier eine dreifache. Im spinozistischen
Substanzbegriff bekämpft er die Vorstellung eines menschlich unvermit-telten Ansich der Natur, im Fichteschen Selbstbewußtsein, das heißt hier
im Subjektbegriff des deutschen Idealismus insgesamt, kritisiert er die
Verselbständigung des Bewußtseins und seiner Funktionen gegenüber der
Natur. Das vermittelnde Subjekt ist nicht einfach »Geist«, sondern der
Mensch als Produktivkraft. In Hegels Absolutem schließlich, der Einheit
von Substanz und Subjekt, sieht er die nicht konkreth istorisch herge-
stellte, sondern »metaphysisch travestierte« Einheit der Momente. Wie
die Natur nicht vom Menschen, so ist umgekehrt auch der Mensch undseine geistigen Leistungen nicht von der Natur ablösbar. Die menschliche
Denkfunktion ist ein naturhistorisches Produkt. Marx bezeichnet den
Denkprozeß als Naturprozeß: »Da der Denkprozeß selbst aus den Ver-
hältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozeß ist, so kann das wirk-
lich begreifende Denken immer nur dasselbe sein, und nur graduell, nach
der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird,
sich unterscheiden.«44 Von vornherein auf falschem Wege befindet sich, wer im Materialismus
eine einheitliche Idee, in seiner Geschichte eine rein immanente gedank-
liche Entwicklung erblickt45. Sieht man von gewissen formalen Zügen ab,
die aller materialistischen Philosophie eigentümlich sind, so zeigt es sich,
daß der Materialismus in seiner Methode, seinem spezifischen Interesse,
überhaupt in seinen inhaltlichen Merkmalen gesellschaftlichhistorisch
wandelbar ist. Was in einem Jahrhundert von höchster W ic htigkeit für
43 Heilige Familie, S. 272.44 Briefe an Kugelmann, Brief vom 11. 7. 1868, S. 68.45 Zum philosophiegeschichtlichen Gegensatz von Idealismus und Materialismus vgl.
besonders M ax Horkheimer, Materialismus und Metaphysik. In: Ze itschrift für So zial-forschung, Jahrgang II, Heft 1, Leipzig 1933.
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ihn ist, kann sich im darauffolgenden als nebensächlich erweisen. Stets
aber ist er, wie alle Philosophie, ein gedanklicher Aspekt des Lebenspro-
zesses der Menschen: »Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme
in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der
Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das
Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber
freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie fnitden Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere mensch-
liche Sphären längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und mit den
Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen, daß auch der
>Kopf< von dieser Welt oder diese Welt die Welt des Kopfes sei.«46
Steht für den Materialismus der bürgerlichen Aufklärung des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts die Materie in ihrer physikalischen oder
physiologischen Bestimmtheit im Mittelpunkt, so muß sie bei einer
Gestalt des Materialismus, dessen wesentlicher Inhalt in der Kritik der
politischen Ökonomie besteht, im weitesten Sinne als gesellschaftliche
Kategorie auftreten. Die metaphysischen und naturwissenschaftlichen
Sätze, namentlich die der Mechanik, auf denen, von wenigen Ausnahmen
abgesehen, der gesamte vormarxsche Materialismus fußt, beruhen gar
nicht auf ursprünglichen Fragestellungen, sondern sind etwas durchaus
Abgeleitetes. Schon in seinem ph ilosophiehistorischen Exkurs in der
»Heiligen Familie« zeigt Marx, wie sehr der physikalische Materialismusin der Richtung seines Interesses wie in seinen dogmatischen Aussagen
über die Wirklichkeit an historisch begrenzte Probleme der gesellschaftli-
chen Emanzipation des Bürgertums gebunden ist. Dementsprechend tre-
ten bei Marx die traditionellen Gegenstände des Materialismus in dem
Maße zurück, in dem er sie in ihrer gesellschaftlichen Funktion wie
Genesis begreift. Was zu den ABCThesen eines jeden Materialismus
gehört, hat auch bei ihm seinen Ort, freilich nicht als isolierte Behaup-tung, sondern wesentlich als etwas in der dialektischen Theorie der
Gesellschaft Aufgehobenes und erst von ihr aus ganz zu Verstehendes.
Das »Kapital« kritisiert am seitherigen Materialismus ausdrücklich den
Umstand, daß ihm die Beziehung seiner Formulierungen zum geschicht-
lichen Prozeß entgeht: »Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen
Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß ausschließt, ersieht man
schon aus den abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wort-
führer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.«47
46 Marx, D er leitende Artik el in Nr . 179 der Kölnischen Zeitung. (1842) In: Marx/Engels,Über Religion, S. 22.
47 Das Kapital, Bd. I, S. 389, Fußnote 89.
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In geradezu klassischer Weise zeigt die Marxsche Polemik gegen Feuer-
bach in der »Deutschen Ideologie«, wie die Naturw issenschaften , eine
Hauptquelle materialistischer Aussagen, gar kein unmittelbares
Bewußtsein der natürlichen Wirklichkeit liefern, weil das menschliche
Verhältn is zu dieser nicht prim är ein theoretisches, sondern ein prak
tischumgestaltendes ist. Ihrem Blickfeld, ihrer Methodik, ja, dem Inhalt
dessen nach, was jeweils Materie heißt, sind die Naturwissenschaftengesellschaftlich determiniert. Die erwähnte Polemik gegen Feuerbach,
die im Zusammenhang mit den zur gleichen Zeit verfaßten »Thesen«
verstanden werden muß, steht ganz im Zeichen des bereits behandelten
Marxschen Übergangs vom »anschauenden« zum »neuen«, das heißt dia-
lektischen Materialismus. Marx zeigt, daß die Feuerbachschen Aussagen
über Natur keine letzten Befunde darstellen, sondern so hochgradig
verm ittelt sind wie die N atur selbst: »Feuerbach spricht nam entlich vo n
der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur
dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre
ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? ... Selbst die Gegen-
stände der einfachsten sinnlichen Gewißheit< sind ihm nur durch die
gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Ver-
kehr gegeben... Selbst diese >reine< Naturwissenschaft erhält ja ihren
Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch
sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fort- währende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grund-
lage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch
nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheuere Verän-
derung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die
ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine
eigne Existenz sehr bald vermissen würde.«48
Zw ar ist für Marx die sinnliche Welt nicht »ein unm ittelbar von E wigk either gegebenes, sich stets gleiches Ding, sondern das Produkt der Industrie
und des Gesellschaftszustandes«49, aber diese gesellschaftlich vermittelte
W elt bleibt zugleich eine natürliche, die geschichtlich jeder menschlichen
Gesellschaft vorausliegt. Bei aller Anerkennung des gesellschaftlichen
Moments »bleibt... die Priorität der äußeren Natur bestehen und aller-
dings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen, durch gene
ratio aequivoca erzeugten Menschen; aber diese Unterscheidung (von
vorgesellsc haftlich er und gesellschaftlich verm itte lter N atur, A . S.) hatnur insofern Sinn, als man den Menschen als von der Natur unterschieden
48 Deutsche Ideolog ie, S. 41 f.49 A. a. O ., S. 40 f.
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betrachtet. Übrigens ist diese der menschlichen Geschichte vorherge-
hende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur,
die heutzutage, ausgenommen etwa auf einzelnen australischen Korallen-
inseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach
nicht existiert.«50 Daß hier Marx gegenüber dem gesellschaftlichen Ver-
mittlungsfaktor die Priorität der äußeren Natur und damit ihrer Gesetze
festhält, ist erkenntnistheoretisch sehr wichtig und an späterer Stelleausführlich zu diskutieren.
Nicht nur weil die arbeitenden Subjekte das Naturmaterial mit sich
verm itteln, läßt sich von diesem nicht als von einem obersten Seins-
prinzip sprechen. Die Menschen haben es ja nie mit Materie »als sol-
cher« bei ihrer Produktion zu tun, sondern stets nur mit ihren konkre-
ten, quantitativ und qualitativ bestimmten Daseinsweisen. Ihr Allgemei-
nes, die Unabhängigkeit vom Bewußtsein, existiert nur im Besonderen.Es gibt keine Urmaterie, keinen Urgrund des Seienden. Nicht nur wegen
ihrer Relativität auf Menschen, in ihrem »Sein für anderes«, sondern
ebensowenig in ihrem »Sein an sich« taugt die materielle Wirklichkeit zu
einem ontologischen Prinzip. Der dialektische Materialismus kann mit
noch geringerem Recht als der dialektische Idealismus Hegels eine
»Ursprungsphilosophie« genannt werden. Es gibt keine selbständige Sub-
stanz, die unabhängig von ihren konkreten Bestimmtheiten existieren
könnte. Engels spricht sich über den Materiebegriff in den »Noten zum AntiDühring« folgen derm aßen aus: »NB Die Materie als solche ist eine
reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitati-
ven Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existie-
rende unter dem Begriff Materie zusammenfassen. Materie als solche, im
Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien, ist also nichts
SinnlichExistierendes.«51
Noch einmal geht er auf die Frage der Materie in der »Dialektik derNatur« ein: »Die Materie und Bewegung k a n n . . . gar nicht anders
erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewe-
gungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto
auch die Materie und Bewegung als solche. «52
Neuere Versuche einer Systematisierung des dialektischen Materialismus
verzichten ebenso ausdrücklich auf den Begriff der Materie als eines
substantiellen »Trägers« sekundärer Akzidentien. Wie der Geist, so ist
auch die Materie kein absolut »fundamentales«, kein einheitliches Erklä
50 A. a. O ., S. 42.51 An tiDü hrin g, S. 470.52 Dia lektik der Na tur, S. 251.
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rungsprinzip der Welt: »Im Gegensatz zum metaphysischen Materialis-
mus verwirft der dialektische Materialismus die Vorstellung von einem
>letzten<, unveränderlichen Wesen der Dinge<, von einer >absoluten
Grundsubstanz*, auf deren >endgültige< Eigenschaften und Erscheinun-
gen sich alles Existierende zurückführen lasse. In der Natur gibt es nichts
Unveränderliches und keine absolute Grundsubstanz.«53
Sosehr diese dialektische Fassung des Materiebegriffs beweist, daß Engelsund die sich an ihn anschließende heutige Philosophie in Rußland der
Gefahr einer Ontologie sich bewußt sind und ihr entgehen möchten,
sowenig kann das gelingen, wenn sie mit dem Begriff Materie die Entste-
hung des Universums überhaupt verständlich machen wollen. Wo immer
Materie zur umfassendmetaphysischen Welterklärung herangezogen
wird, geht man von ihr, ob man will oder nicht, als von einem allge-
meinen Prinzip aus, nicht aber von einer ihrer konkreten Daseinsweisen.
Auch darauf weist Engels in einem Fragment seiner »Dialektik der
Natur« hin: »Causa finalis — die Materie und ihre inhärente Bewegung.
Diese Materie keine Abstraktion. Schon in der Sonne die einzelnen Stoffe
dissoziiert und in ihrer Wirkung unterschiedslos. Aber im Gasball des
Nebelflecks alle Stoffe, obwohl separat vorhanden, in reine Materie als
solche verschwimmend, nur als Materie, n ic h t' mit ihren spezifischen
Eigenschaften wirkend.«S4
Nur, wo mit Marx die materielle Realität als je schon gesellschaftlich verm ittelt anerkan nt wird, lä ßt sich Onto logie verm eiden und kommt die
Engelssche Formulierung wirklich zu ihrem Recht, daß Materie als solche
eine Abstraktion ist, daß nur bestimmte Daseinsweisen der Materie
existieren.
Sehr wesentlich für das Verständnis des Zusammenhangs des Marxschen
53 Grun dlagen der marxistischen Philosophie, Berlin 1959, herausgegeben von F. W. Konstantinow, Übersetzung aus dem Russischen, S. 131. Zur Frage des nichtontologischenCharakters des Materiebegriffs im dialektischen Materialismus vgl. auch den Aufsatz
von G ötz Red low, Lenin über den marxistischen philosophischen B egrif f der Materie. In:Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 1959, 7. Jahrgang, H eft 2. Die Einsicht, daßes für den dialektischen Materialismus kein letztes Seinsprinzip geben k ann, a uf das allesandere sich reduzieren ließe, hat sich in Rußland erst in jüngster Zeit durchgesetzt. Wiestark die Sowjetphilosophie in den frühen zwanziger Jahren während ihrer von Deborinund seinen Schülern bestimmten Phase in ihrer Materieauffassung vom spinozistischenSubstanzbegriff abhängig w ar, zeigt G. L. Kline in seinem Buch Spin oza in Soviet
Philosophy, London 1952, mit großer Deutlichkeit. Die unmittelbar nachstalinistischePhase der Philosophie in Rußland läßt sich als eine realontologische Deutung der mate-rialistischen Dia lektik, in manchem an N. Hartm ann erinnernd, kennzeichnen. Man
benutzt in Rußland sogar den Terminus »»materialistische Onto logie«, wie er vonaristotelischthomistischer Seite seit je zur Kennzeichnung des Marxismus verwandt
wird.54 Dialek tik der Natur. S. 259.
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mit dem philosophischen Materialismus überhaupt ist auch die traditio-
nelle Frage nach dem Sinn von Geschichte und Welt. Die materialistische
Dialektik ist nichtteleologisch, so merkwürdig das zunächst klingen
mag. Weder ist ihr die Geschichte eine chaotische Faktensammlung wie
für Schopenhauer noch ein einheitlichgeistiger Sinnzusammenhang wie
für Hegel. Marx verselbständigt die Geschichte nicht pantheistisch. Am
ehesten noch nimmt sein Denken eine rechtfertigendidealistische Fär- bung an, w o er mit H egel auf die unumgängliche N otw endig keit von
Herrschaft und Grauen in der »Vorgeschichte« verweist. Zwar kommt
durch die einander gesetzmäßig ablösenden Gesellschaftsformationen so
etwas wie eine übergreifende Struktur in die menschliche Geschichte,
keineswegs aber im Sinne einer durchgehenden »Teleologie«. Die Welt
als Ganzes sieht Marx keiner einheitlichen sinnverleihenden Idee unter-
worfen. Es gib t bei ihm ein zig, was Hegel den »endlichteleologischen
Standpunkt«55 nennt: endliche Ziele endlicher, raumzeitlich beding-
ter Menschen gegenüber begrenzten Bereichen der natürlichen und
gesellschaftlichen Welt. Der Tod als das antiutopische Faktum par excel
lence »erweist... die Ohnmacht aller sinngebenden Metaphysik und
jeder Theodizee«56. Alle in der W irklichkeit auftretenden Ziele und
Zwecke gehen zurück auf Menschen, die ihren sich wandelnden Situa-
tionen gemäß handeln. Abgelöst von ihnen gibt es keinen Sinn. Nur wo
das Subjekt wie Hegels Geist welthaft zu einem unendlichen ausgeweitet wird, können seine Zwecke zugleich die der W elt selber sein. Hegel gilt
der »endlichteleologische Standpunkt« als etwas Beschränktes, in die
Theorie des absoluten Geistes Aufzuhebendes. Marx dagegen weiß von
keinen anderen Zwecken in der Welt als denen, die von Menschen gesetzt
sind. Sie kann daher nie mehr Sinn enthalten, als es den Menschen
gelungen ist, durch die Einrichtung ihrer Lebensverhältnisse zu realisie-
ren. Auch wenn eine bessere Gesellschaft herbeigeführt wird, wird damitder leiderfüllte Weg der Menschheit zu ihr hin nicht gerechtfertigt: »Daß
die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirk-
licht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann,
ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der
Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt. Zwischen
diesen beiden Tatsachen gibt es eine Reihe von erklärenden Zusammen-
hängen, aber keinen rechtfertigenden Sinn.«57
55 System der Philosophie, II, a. a. O. , § 245, S. 35.56 Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930,
S. 91 f.57 A. a. O.y S. 92.
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Dadurch, daß Marx nicht von der Vorstellung eines den Menschen vorge-
gebenen Gesamtsinnes ausgeht, wird Geschichte zu einer Abfolge immer
wieder neu einsetzender Einzelprozesse, begreifbar nur von einer Philo-
sophie der Weltbrüche, die bewußt auf den Anspruch lückenloser Deduk-
tion aus einem Prinzip verzichtet. Wer die seitherige menschliche
Geschichte begreift, hat damit keineswegs einen Sinn der Welt überhaupt
begriffen. Eine Formulierung wie die folgende aus Hegels »Vernunft inder Geschichte« wäre für Marx völlig undenkbar: »Wir müssen in der
Geschichte einen allgemeinen Zweck aufsuchen, den Endzweck der Welt,
nicht einen besonderen des subjektiven Geistes oder des Gemüts, ihn
müssen wir durch die Vernunft erfassen, die keinen besonderen endlichen
Zweck zu ihrem Interesse machen kann, sondern nur den absoluten.«58
Das in mancher Hinsicht allzu metaphysische Marxverständnis Ernst
Blochs ist unter anderem gekennzeichnet durch die in seinen Schriften
immer wieder auftretende These, auch in der Marxschen Philosophie
gebe es so etwas wie einen Endzweck der Welt. Er spricht in einer seiner
Arbeiten59, ganz wie Hegel, von dem »wohlfundierten Realproblem
eines >Sinns< der Geschichte, in Verbindung mit einem >Sinn< der Welt«,
das dem dialektischen Materialismus aufgegeben sei. Es wird bei der
Darstellung der Marxschen Utopie des Verhältnisses von Mensch und
Natur zu erörtern sein, welche Konsequenzen aus Blochs Annahme eines
Weltsinnes bei Marx sich für seinen U topie begrif f ergeben. H ie r ist imZusammenhang mit dem Problem des Weltsinnes noch auf einen anderen
Gesichtspunkt aufmerksam zu machen. Marx verteidigt seinen unerbitt-
lichen Atheismus nicht nur unter Hinweis auf die Resultate der modernen
Naturwissenschaften60 oder ideologiekritisch. Ähnlich wie für Sartre ist
für Marx die Möglichkeit der Freiheit des Menschen nur durch die Nicht-
existenz eines »sinnstiftenden« Gottes verbürgt. Der Mensch ist essentiell
nicht festgelegt. Noch ist sein Wesen nicht total erschienen. Konträr, inder seitherigen Geschichte, die sich ja als »Vorgeschichte« dadurch
auszeichnet, daß die Menschen ihrer eigenen Kräfte gegenüber der Natur
58 Die Vernunft in der Geschichte, Hoffmeister, Hamburg 195 5, S. 29.59 Differenzierungen im Be gri ff Fortschritt, Berlin 1957, S. 44.60 Vgl. dazu Nationalökono mie und Philosophie, S. 196, wo Marx ganz im Sinne naturwis-
senschaftlicher Aufklärun g argumentiert: »Die Erdschöpfung hat einen gewaltigen Stoß
erhalten durch die Geognosie, d. h. durch die Wissenschaft, welche die Erdbildung, das Werden der Erde als einen Pro zeß der Selbsterzeugung darstellt. Die generatio aequivocaist die einzige praktische Widerlegung der Schöpfungstheorie.« Auch in der DeutschenIdeologie, vgl. S. 42, vertritt er die These, daß das organische Leben aus der anorgani-schen Natur hervorgegangen sei. Der reife Marx, der die Resultate der Naturwissen-schaften aufmerksam verfolgt, bezieht sich häufiger auf Darwins Evolutionismus als dernaturhistorischen Voraussetzung seiner Geschichtslehre.
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nicht mächtig sind, wurde das menschliche Wesen brutal unter die mate-
riellen Bedingungen der Erhaltung ihrer Existenz subsumiert. Zu einer
realen Versöhnung von Wesen und Existenz gelangt die menschliche
Gattung nur, sofern sie sich zunächst theoretisch als die Ursache ihrer
selbst begreift. Hierauf gehen besonders die Pariser Manuskripte ein:
»Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen
steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines ändern lebt, betrachtet
sich als abhängiges Wesen. Ich lebe aber vollständig von der Gnade eines
ändern, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens
verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat,
wenn er der Quell meines Lebens ist, und mein Leben hat notwendig
einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine Schöpfung ist.«61
Marx weist die ontologisch gestellte Frage nach dem Schöpfer des erstenMenschen und der Natur als ein »Produkt der Abstraktion«62 zurück:
»Frage dich, wie du auf jene Frage kömmst; frage dich, ob deine Frage
nicht von einem Gesichtspunkt aus geschieht, den ich nicht beantworten
kann, weil er ein verkehrter ist?... Wenn du nach der Schöpfung der
Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du also vom Menschen
und der Natur. Du setzest sie als nichtseiend, und willst doch, daß ich sie
als seiend dir beweise. Ich sage dir nun: gib deine Abstraktion auf, so
gibst du auch deine Frage auf, oder willst du an deiner Abstraktion festhalten, so sei konsequent, und wenn du den Menschen und die Natur als
nichtseiend denkend, denkst, so denke dich selbst als nichtseiend, der du
doch auch Natur und Mensch bist. Denke nicht, frage mich nicht, denn
sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der
Natur und des Menschen keinen Sinn.«63
Diese merkwürdig emphatische und für das Marxsche Verhältnis zu aller
prima philosophia typische Stelle macht noch einmal deutlich, worum es bei M arx geht. Die auf das vorm enschliche und vorgesellschaftlich e Sein
der Natur gerichteten Fragen lassen sich nicht »abstrakt« stellen; sie
setzen jeweils schon eine bestimmte Stufe theoretischer und praktischer
Aneig nung der N atur vo raus. Alle verm eintlich absolut ersten Substrate
sind immer schon behaftet mit dem, was aus ihrer Wirksamkeit erst
hervorgehen soll, und eben deshalb keine absolut ersten. Die Frage nach
dem »Entstehungsakt«64 von Mensch und Natur ist für Marx deshalb
6 1 Na tionalökono mie und Philosophie, S. 196.61 A. a. O ., S. 197.63 A. a. O.64 A. a. O., S. 198.
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auch weniger eine metaphysische als eine historischgesellschaftliche:
»Indem... für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Welt-
geschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch
die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so
hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner
Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß. Indem die
Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für denMenschen als Dasein der Natur, und die Natur für den Menschen als
Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die
Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur
und den Menschen — eine Frage, welche das Geständnis von der Unwe-
sentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt — praktisch unmög-
lich geworden.«65
Der Marxsche Atheismus — ein im Grunde bereits »postatheistisches«Bewußtsein — wendet sich gegen jede Abwertung von Mensch und
Natur66. Für den Idealismus ist Gott, für den mit dem Humanismus
identischen Materialismus der Mensch das höchste Wesen. Im Gottesbe-
griff sieht Marx den abstraktesten Ausdruck von Herrschaft, stets
verbunden mit einem dogmatisch vorgegebenen einheitlichgeistigen
Gesamtsinn der Welt. Ist Gott, so kommt der revolutionäre Mensch als
Hersteller zwar nicht eines Weltsinnes, aber doch eines sinnvollen gesell-
schaftlichen Ganzen, in dem jeder Einzelne sich aufgehoben und geehrt weiß, nicht mehr in Betracht. Prometheus ist für M arx nicht um sonst der
vornehmste Heilige im philosophischen Kalender. Das menschliche
Selbstbewußtsein, sagt er in seiner Dissertation, muß als »oberste Gott-
heit«67 anerkannt werden. Geht die Theorie von vornherein von dem
historischen Vermittlungszusammenhang von Mensch und Natur in der
gesellschaftlichen Produktion aus, so ist auch der Atheismus nicht länger
eine bloß »weltanschauliche« Behauptung: »Der Ath eismus, als Leug-nung dieser UnWesentlichkeit (von Natur und Mensch, A. S.) hat keinen
Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation Gottes, und setzt durch
diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozia-
lismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem
theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und derNatur als des Wesens.«6*
A ls w ie problematisch auch im mer der Materialismus in der G eschic hte der
65 A . a . O .66 Vgl. auch die Kr itik an E. Sue in der Heiligen Familie, S. 314 , wo M arx am Christentum
bemängelt, daß es N atu r »zur Schöpfung erniedrigt«.67 In: Marx/Engels, Uber Religion, S. 8.
68 Natio nalöko nom ie und Philosophie, S. 198.
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Philosophie sich erwiesen haben mag, sofern er als umfassende Welter-
klärung auftrat, sein eigentliches Interesse besteht gerade bei seinen
bedeutendsten Vertretern nicht prim är in einer dogmatisch en Sammlung
metaphysischer Thesen. Wo er sich auf solche einläßt, haben sie eine ganz
andere Akzentuierung als die ihnen entgegengesetzten idealistischer
Herkunft. Aus der Ansicht, daß alles Materielle wirklich und alles Wirk-
liche materiell sei, gehen für den Materialisten unmittelbar keinerleiethische Maximen hervor.
Äußerlich zw ar an theologischm etaphysische Fragestellungen, wie sie
der Hegelschen Philosophie eigentümlich sind, gebunden, versteht sich
auch der Marxsche Materialismus nicht in erster Linie als Antwort auf die
bewegenden Fragen, die traditionellerweise der M etaphysik zugeschrie-
ben werden. Darin den großen Enzyklo pädisten verw andt, ist er in den
letzten Fragen der Metaphysik so großzügig, wie er unerbittlich ist in bezug auf die N öte, die aus der unmittelbaren Praxis der Menschen
hervorgehen. In der »Deutschen Ideologie« gibt es einen Abschnitt von
Moses Heß, in dem auf drastischaufklärerische Weise die Idealisten
gekennzeichnet werden: »Alle Idealisten, die philosophischen wie die
religiösen, die alten wie die modernen, glauben an Inspirationen, an
Offenbarungen, an Heilande, an Wundermänner, und es hängt nur von
der Stufe ihrer Bildung ab, ob dieser Glaube eine rohe, religiöse oder eine
gebildete, philosophische Gestalt annimmt.. .«69
Befaßte sich der Marxsche Materialismus mit abstrakten weltanschauli-
chen Bekundungen, wie sie heute vielfach in den östlichen Ländern noch
üblich sind, so unterschiede er sich in nichts von jenem oben glossierten
schlechten Idealismus. Nicht das Abstraktum der Materie, sondern das
Konkretum der gesellschaftlichen Praxis ist der wahre Gegenstand und
Ausgangspunkt materialistischer Theo rie. Demgem äß erklärt M arx in
seiner achten Feuerbachthese: »Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten,
finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im
Begreifen dieser Praxis.«70
Statt um die Frage nach der spirituellen oder materiellen Natur der
Seele, die selbst in ihrer materialistischen Beantwortung zu Zeiten eine
idealistische, nämlich ablenkende Funktion in der Gesellschaft haben
kann, kümmert sich der Marxsche Materialismus vorab um die Möglich-
keit, Hunger und Elend auf der Welt abzuschaffen. Mit den ethischen
Materialisten der Antike, deren Ansichten über die Lust selbst der Idea
69 Deutsche Ideologie, S. 578.70 Thesen über Feuerbach. In: Marx/Engels, Uber Religion, S. 56.
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list Hegel nicht fernsteht, hat Marx ein eudämonistisches Moment
gemeinsam. Sosehr zwar der Materialismus zunächst keine sittliche Hal-
tung ist, nicht in der blinden Vergötzung grobsinnlicher Freuden besteht,
sowenig reduziert er sich freilich auf der anderen Seite bloß auf eine
Theorie oder Methode. »Es geht dem Materialisten nicht um die absolute
Vernunft, sondern um das Glü ck — auch in seiner verpönten Gesta lt: der
Lust — und nicht so sehr um das sogenannte innere Glück, das sich gar zuoft mit dem äußeren Elend zufriedengibt, sondern um einen objektiven
Zustand, in dem auch die verkümmerte Subjektivität zu ihrem Recht
kommt.«71 Wenn daher Engels in seiner Feuerbachschrift72 über das
angebliche »Philistervorurteil« höhnt, das den Materialismus nicht nur
als Theorie versteht, sondern auch mit sinnlichen Genüssen in Verbin-
dung bringt, so fragt es sich, was die ungeheueren und nicht nur theoreti-
schen Anstrengungen der Menschen, über den Kapitalismus hinauszuge-
langen, für einen Wert haben sollen, wenn es nicht auch um die Lust, um
die Herbeiführung sinnlichen Glücks dabei gehen soll. In der Engelsschen
Formulierung steckt etwas von jenem asketischen Zug, den Heine schon
früh an der sozialistischen Bewegung wahrnahm und der später zu einer
der Ursachen menschenfeindlicher Praxis werden sollte. Wer schon
nichts Rechtes zu beißen hat, soll wenigstens nicht ohne »wissenschaft-
liche Weltanschauung« sein.
Die theoretische Anstrengung, die darauf abzielt, daß kein Mensch aufder Welt mehr materielle und intellektuelle N o t leidet, bedarf keiner
metaphysischen »Letztbegründung«. Der kritische Materialismus ver-
schmäht es, darin die Tradition bloßen Philosophierens fortzusetzen, daß
er »Welträtseln« nachspürt oder sich im Stil neuerer Ontologie unent-
wegt radik al in Frage stellt. Seine gedankliche Konstruktion ist die endli-
cher Menschen und erwächst aus bestimmten geschichtlichen Aufgaben
der Gesellschaft. Er will den Menschen aus dem selbstgeschmiedeten
Käfig undurchschauter ökonomischer Determination heraushelfen.
Wenn die materialistische Theorie die gesellschaftlichen Voraussetzun-
71 He inz Maus, Materialismus. In: Zur Klärung der Begriffe, herausgegeben von HerbertBurgmüller, München 1947, S. 63.
72 Ludw ig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso phie, S. 29. Brechthat sehr scharfsinnig das »deutsche« Verhältnis zum Materialismus erfaßt: »Die Deut-
schen haben eine schwache Begabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machensie sofort eine Idee draus, ein Materialist ist dann einer, der glaubt, daß die Ideen vonden materiellen Zuständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Materienicht mehr vor. Man könnt glauben, es sind nur zwei Sorten von Leuten in Deutschland,Pfaffen und Pfaffengegner. Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, diealle philosophischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, diealle Weinsorten kennen.« In: Flüchtlingsgespräche, Berlin und Frankfurt 1961, S. 20 f.
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gen noch der zartesten Kulturgebilde herausarbeitet, so ist sie nichts
weniger als die positive »Weltanschauung«, die heute im Osten aus ihr
gemacht wird. Im Grunde ist sie ein einziges kritisches Urteil über die
seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ihrer blind
mechanisch ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herabwürdigen
lassen. Ernst Bloch sagt daher mit Recht, »daß es bisher noch kein
menschliches Leben gegeben hat, sondern immer nur ein wirtschaftliches,das die Menschen umtrieb und falsch machte, zu Sklaven, aber auch zu
Ausbeutern«73. Ökonom ie wird von der Theo rie so scharf pointiert wie
von der gesellschaftlichen W irklichkeit selber. Sie ist jedoch sowenig wie
das Proletariat ein metaphysisches Erklärungsprinzip für Marx. Von
ihrer alles beherrschenden soll sie wieder zur dienenden Rolle zurückge-
brach t werden. Das »M aterialistische« der Marxschen Theorie ist gerade
kein Bekenntnis zum heillosen Primat der Ökonomie, dieser menschen-feindlichen, von der Wirklichkeit vollzogenen Abstraktion. Jene ist viel-
mehr der Versuch, endlich das Augenmerk der Menschen auf die gespen-
stische Eigenlogik ihrer Verhältnisse zu richten, auf diese Pseudophysis,
die sie zu Waren macht und zugleich die Ideologie mitliefert, sie seien
bereits mündige Subjekte.
Horkheimer kennzeichnet die Anarchie der kapitalistischen Produktion
folgendermaßen: »Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle
eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allge-meinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen
Betriebsamkeit der Individuen, der Industrien und Staaten.«74
Indem die kapitalistische Gesellschaft von ihrem eigenen Lebensprozeß
beherrscht wird, nimmt ihre Ratio nalität einen irrationalen, mythisch-
schicksalhaften Charakter an, worauf Thalheimer aufmerksam macht:
»So steht die kapitalistische Gesellschaft ihrer eigenen Wirtschaft
gegenüber nicht anders, als der australische Wilde dem Blitz, demDonner, dem Regen gegenübersteht.«75
73 Ernst Bloch, Spuren, Berlin 1950, S. 39. Völlig ver fehlt ist, verglichen mit einer solchenDeutung, der Versuch Alfred Seidels, den Marxschen Materialismus als hämische Entlar-
vungslehre zu interpretieren. In seiner Dissertation Pro du ktivk räfte und Klassenkam pf,Heidelberg 1922, heißt es auf S. 25: » . . . in jener Bezeichnung seiner Geschichtsau ffas-sung als materialistische drückt sich der nihilistischanalytische >wahrheitssadistische<Zug von Marx aus, der mit diabolischer Freude alle Ideale und Ideologien herunterreißt
und nüchtern entzaubernd auf materielle Umstände und materialistische Interessenzurückführt«. Seidels These wird hier deshalb angeführt, weil sie noch immer weit
verbreitet ist.74 M ax Horkheim er, Materialismus und Moral. In: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahr-
gang II, Heft 2, Leipzig 1933, S. 167.75 Au gust Thalheimer, Ein führung in den dialektischen Materialismus, WienBerlin 1928,
Marxistische Bibliothek, Bd. 14, S. 26.
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Die gesellschaftlich nicht richtig organisierte Naturbeherrschung, mag
sie auch noch so hoch entwickelt sein, bleibt Naturverfallenheit. Im-
mer wieder wird der Denunziant eines Übels so verstanden, als werde
es von ihm glorifiziert oder propagiert. Das Schulbeispiel einer völligen
Entstellung und Verzerrung dessen, was bei den Kritikern der politischen
Ökonomie Materialismus heißt, ist das Buch von Peter Demetz »Marx,
Engels und die Dichter«76. Demetz tut so, als habe Marx alles das erfun-den, wogegen seine Lehre steht. Nicht der Marxsche Materialismus hat,
wie Dem etz meint, »die Gestalt des Dichters des Elements der Freiheit
beraubt und damit zum eigentlich unpersönlichen Diener wirtschaftl i-
cher Vorgänge herabgewürdigt«77, sondern die reale Entwicklung der
den Menschen entfremdeten, weil unbeherrschten Produktion. Nicht,
weil M arx ein primitiver Ökonom ist ist, verz ic htet er in seinen Schriften,
bei Programmentwürfen und dergleichen auf alle moralisierenden undidealischen Redensarten mit geradezu asketischer Wachsamkeit.
Bezeichnend für seine Haltung ist ein Brief an F. A. Sorge, in dem er sich
über das Aufkommen eines »faulen Geistes« in der Partei beklagt und
von einer »ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores«
spricht, »die dem Sozialismus eine >höhere, ideale< Wendung geben
wollen, das heißt die materialistische Basis (die ernstes objektives
Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch
moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit,Gleichheit und fraternité«78. Gerade, indem Marx sich die materiellen
Probleme nicht abmarkten läßt, hält er dem hinter idealistischer Phra-
senhülle verborgenen humanen Kern eher die Treue als jene, die das
geschichtlich noch immer Ausstehende als bereits realisiert ausgeben.
Nicht die geistigen Inhalte als solche sind für Marx Ideologie, wohl aber
ihr uneingelöster Anspruch, gesellschaftliche W irklichkeit zu sein.
Die erste Natur als außerhalb der Menschen bestehende Dingwelt beschreibt Hegel als blindes, begriffloses Geschehen. D ie W elt des
Menschen, soweit sie Gestalt annimmt in Staat, Recht, Gesellschaft und
Ökonomie, ist ihm »zweite Natur«79, manifestierte Vernunft, objektiver
Geist. Dem hält die Marxsche Analyse entgegen, daß die zweite Natur
bei Hegel eher zu beschreiben wäre mit den Begriffen, die er selbst auf
die erste anwendet, nämlich als Bereich der Begrifflosigkeit, in dem
76 Peter Dem etz, Marx, Engels und die Dich ter, Stuttgart 1959.77 A. a. O., S. 94.
78 Marx an F. A. Sorge, Brie f vom 19 .O ktob er 1877. In: Marx/Engels, Au sgewählte Briefe,S. 364.
79 Vgl. etwa Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hoffmeister, Berlin 1956, Einleitung§ 4, S. 28.
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blinde N otw endig keit und blinder Zufall koinzidieren. Hegels zweite
Natur ist selber noch erste. Noch immer sind die Menschen aus der
Naturgeschichte nicht herausgetreten80. Diese Tatsache erklärt die vielen
Marxkritikern als unangemessen erscheinende quasinaturwissenschaftli
che Methode der Marxschen Soziologie, die schon wegen der »naturhaf-
ten« Beschaffenheit ihres Gegenstandes keine Geisteswissenschaft sein
kann. Wenn Marx die Geschichte der bisherigen Gesellschaft als einen»naturhistorischen Prozeß«81 behandelt, so hat das zunächst den kriti-
schen Sinn, daß »die Gesetze der Ökonomie in aller... plan und
zusammenhanglosen Produktion den Menschen als objektive Gesetze,
über die sie keine Macht haben, entgegentreten, also in Form von
Naturgesetzen«82. Marx hat die aus der perennierenden »Vorgeschichte«
gewonnene Erfahrung im Sinn, daß trotz aller technischen Triumphe im
Grund noch immer die Natur und nicht der Mensch triumphiert. Alsgesellschaftlich unbeherrschte ist die »ganze ausgetüftelte Maschinerie
moderner Industriegesellschaft bloß N atu r, die sich zerfleischt«83.
Uber eine solche kritische Akzentuierung hinaus gebraucht Marx jedoch
den Begriff der Naturgeschichte in dem weiteren, sich auf die gesamte
W irklichkeit erstreckenden Sinne der evolutionistischen Theo rien des
neunzehnten Jahrhunderts. Wenn er dem »abstrakt naturwissenschaftli-
chen Materialismus« vorwirft, daß er den »geschichtlichen Prozeß*64
ausschließt, so hat er nicht nur den der Gesellschaft, sondern ebensosehrden der Natur im Auge85.
Wie bei den meisten mechanischen Materialisten des achtzehnten Jah r-
hunderts, so gibt es auch in der Philosophie Hegels, die in der Natur das
materielle Auseinander gleichgültiger Existenzen sieht, keine Naturge-
schichte im strengen Sinne: »Solcher nebulöser im Grunde sinnlicher
Vorstellungen , wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der
Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen derentwickelteren Thierorganisationen aus den niedrigeren u.s.w. ist, muß
sich die denkende Betrachtung entschlagen.«86
80 Vgl. dazu den Engelsschen B rief vom 29. 3. 1865 an F. A . Lange. In: Marx/Engels, Au sgew ählte Briefe, S. 202 f.
81 Da s Ka pital, Bd. I, S. 8.
82 AntiD ühring, S. 447.83 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialek tik der Aufkläru ng, F rankfurt 1969,
S. 270.84 Das Kap ital, Bd. I, S. 389, Fußnote 89.85 Vgl. dazu Kurt Sauerland, De r dialektische Materialismus, a. a. O ., S. 163.86 System der Philosophie, II, a. a. O ., Zu satz zu § 249, S. 59. An einer Stelle wie dieser
wird greifbar, was gegen Hegel mit Recht als abstrakter Idealismus der Naturb etrach
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Für Marx dagegen ist das gesetzmäßige Hervorgehen der Naturformen
auseinander eine Selbstverständlichkeit. Sein Entwicklungsbegriff ist
nicht nur an Hegel, sondern auch an Darwin geschult. Darauf weist
Engels in seiner Rezension des ersten Bandes des »Kapitals« hin, wo er
zur Marxschen Methode sagt: »Soweit er sich bemüht, nachzuweisen, daß
die jetzige Gesellschaft, ökonomisch betrachtet, mit einer ändern, höhe-
ren Gesellschaftsform schwanger gehe, insoweit bestrebt er sich, nurdenselben allmählichen Umwälzungsprozeß auf dem sozialen Gebiet als
Gesetz hinzustellen, den Darwin naturgeschichtlich nachgewiesen
hat.«87
Daß Marx die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation
als einen naturgeschichtlichen Prozeß «88 auffaßt, bedeutet, daß er die
geschichtlichen Abläufe in ihrer strengen Notwendigkeit betrachtet,
ohne sich auf aprioristische Konstruktionen oder psychologische Erklä-
rungsprinzipien einzulassen. Die Verhaltensweisen der Individuen ver-
steht er als Funktionen des objektiven Prozesses. In der seitherigen
Geschichte sind sie weniger als freie Subjekte denn als »Personifikation
ökonomischer Kategorien*89 aufgetreten.
In seiner für das Verständnis des historischen Materialismus wesentlichen
Schrift »Was sind die >Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die
Sozialdemokraten?« aus dem Jahre 1894 geht Lenin besonders auf den
»naturhistorischen« Charakter der Marxschen Forschungsmethode undihre Beziehung zum Darwinschen Evolutionismus ein: »Wie Darwin
der Vorstellung ein Ende bereitet hat, als seien Tier und Pflanzenarten
durch nichts miteinander verbunden, zufällig entstanden, >von Gott
erschaffen<, unveränderlich, wie er als erster die Biologie auf eine völlig
wissenschaftliche Grundlage gestellt hat, indem er die Veränderlichkeit
der Arten und die Kontinuität zwischen ihnen feststellte — so hat Marx
seinerseits der Vorstellung ein Ende bereitet, als sei die Gesellschaft einmechanisches Aggregat von Individuen, an dem gemäß dem Willen der
Obrigkeit (oder, was dasselbe ist, der Gesellschaft und der Regierung)
beliebige Veränderungen vorgenommen werden können, das zufällig
entsteht und sich wandelt, hat er als erster die Soziologie auf eine wissen-
tung geltend gemacht worden ist. Greifbar wird eine höchst charakteristische Inkonse-quenz. Der Begriff der Entwicklung, genommen am Leben, wird Hegel zum Movens des
Geistes, wodurch dieser in der Tat jene Abstraktheit, Dürre und L eblosigkeit verliert, wiesie für formale Logik und Reflexionsphilosophie kennzeichnend sind. Höchst paradoxer- weise wird Natur, an deren Bild Hegel die Konkretion des Begriffs gewann, selber zueinem Abstrakten; ihr wird schlecht vergolten.
87 Marx/Engels, Kleine ökonom ische Schriften, S. 301.88 Da s Kapital, Bd. I, S. 8.89 A . a. O.
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schaftliche Grundlage gestellt, indem er den Begriff der ökonomischen
Gesellschaftsformation als Gesamtheit der jeweiligen Produktionsver-
hältnisse festlegte und feststellte, daß die Entwicklung solcher Formatio-
nen ein naturgeschichtlicher Prozeß ist.«90
An die Stelle aller Räsonnements über die Gesellschaft und den Fort-
schritt im allgemeinen tritt bei Marx die konkrete Analyse einer Gesell-
schaft, nämlich der bürgerlichkapitalistischen. Der Marxsche Materialis-mus ist so wenig wie Darwins Theorie eine inhaltliche Totalerklärung,
sondern der Versuch, den geschichtlichen Prozeß sachgerecht, ohne
metaphysische Dogm en, zu begreifen: »Genau so, w ie .. . der Tran s-
formismus keineswegs den Anspruch erhebt, die >gesamte< Geschichte
der Entstehung der Arten zu erklären, sondern nur den, die Methoden
dieser Erklärung auf die Höhe der Wissenschaft zu bringen, hat auch
der Materialismus in der Geschichte nie den Anspruch erhoben, alles
erklären zu wollen, sondern nur den, die nach einem Ausdruck von Marx
(>Das Kapital«) >einzig wissenschaftliche« Methode der Erklärung der
Geschichte herauszuarbeiten.«91
Marx selbst ist sich übrigens der Beziehung seiner Theorie zu Darwin, bei
aller Anerkennung der Spezifität sozialer Gesetze, bewußt: »Darwin hat
das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt,
d. h. a uf die Bildun g der Pflanzen und Tierorgane als Produktionsinstru-
mente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsge-schichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der mate-
riellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche
Aufm erksamkeit? U nd wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico
sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte
unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht
haben?«92
Ganz ähnlich unterscheidet Engels in der »Dialektik der Natur« dieNatur von der Menschengeschichte: »Jetzt auch die ganze Natur in
Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß
selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschie-
den.«93
Natur und Menschengeschichte bilden für Marx eine Einheit in der
90 W. I. Lenin, Was sind die >Volksfreunde< und wie kämpfen sie gegen die Sozialde mokra-ten? In: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, Stuttgart 1952, S. 94.
91 A. a. O ., S. 98. Lenin bezieht sich hier au f den ersten Band des Kapitals, S. 389, Fußn ote89.
92 Das Kapital, Bd. I, S. 389, Fußn ote 89.93 Dia lektik der Na tur, S. 252.
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Verschiedenheit. Dabei löst er weder die Menschengeschichte in pure
Naturgeschichte auf noch die Naturgeschichte in Menschengeschichte.
A u f der einen Seite ist zw ar die Geschichte der Gesellschaft ein »wirkli-
cher Teil der Naturgeschichte«94, setzen sich in ihr die für die vormensch-
liche Geschichte charakteristischen Sachverhalte fort, so daß Marx die
Produktionsinstrumente, durch deren Herstellung und Anwendung die
Menschen sich wesentlich von den Tieren unterscheiden, als »verlängerteLeibesorgane«95 bezeichnen kann. Wie die Tiere, so müssen auch die
Menschen sich ihrer Umgebung anpassen. Dazu bemerkt die »Dialektik
der Aufklärung«: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist
handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden.
Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien,
Organisationskräfte — und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen
wie die Zäh ne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zw eck dienen und
nur besser funktionieren — ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpas-
sung.«96
Demgegenüber ist auf der anderen Seite die spezifische Differenz
zwischen geschichtlichen Abläufen in der Natur und in der Gesellschaft
nicht zu vernachlässigen. Sie läßt es nicht zu, daß, wie bei den verschie-
densten Spielarten des Sozialdarwinismus, Naturgesetze einfach auf
gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden. In einem Brief an
Kugelmann kritisiert M arx scharf den Versuch F. A . Langes, sich überden Reichtum der menschlichen Geschichte auf abstraktnaturwissen-
schaftliche Art hinwegzusetzen: »Herr Lange h a t .. . eine große Entdek
kung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes
Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (der
Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) >struggle
for life<, >Kampf ums Dasein<, und der Inhalt dieser Phrase ist das
Malthussche Bevölkerungs oder rather Ubervölkerungsgesetz. Statt alsoden >struggle for life<, wie er sich geschichtlich in verschiedenen
bestimmten Gesellschaftsform en darstellt, zu analysieren, hat man nichts
zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase >struggle for life< und
diese Phrase in die Malthussche >Bevölkerungsphantasie< umzuset-zen.«97
Von Naturgeschichte läßt sich im Grunde nur reden, wenn man die von
bew ußten Subjekten gemachte Menschengeschichte voraussetzt. Sie ist
deren rückwärtige Verlängerung und wird von den Menschen als nicht
94 Na tionalökonom ie und Philosophie, S. 194.95 Das Kapital, Bd. I, S. 187.96 Horkheimer/Adorno , Dia lektik der Aufk lärung , a. a. O ., S. 234.97 Marx an Kugelmann, Brief vom 27. 6. 1870. In: Briefe an Kugelmann, S. 110 f.
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Gesetzen der belebten Natur«100. Eben diese »eigenartigen Gesetze« der
Gesellschaft sind es, die bei Kautsky unter den Tisch fallen. Während für
Marx die kosmische und biologische Entwicklungsgeschichte nur die »na-
turwissenschaftliche Unterlage«101 seiner Geschichtsauffassung bilden,
ihr Hauptanwendungsgebiet aber die Geschichte der Gesellschaft ist,
stülpt Kautsky dieses Verhältnis um. Die menschliche Geschichte ist ein
Anhängsel der Naturgeschichte, ihre Bew egungsgesetze bloße Erschei-nungsformen biologischer. Karl Korsch, übrigens einer der wenigen
Autoren in der um fangreichen M arxliteratu r, bei denen sich ein
Verständnis der komplizierten D ia le ktik von N atur und Geschichte fin-
det, kritisiert nachdrücklich Kautskys Entstellung der Marxschen
Geschichtstheorie: »Nicht die Natur oder die organische Natur und ihre
Entwicklungsgeschichte im allgemeinen, und auch nicht einmal die
menschliche Gesellschaft in ihrer allgemeinen geschichtlichen Entwick-
lung, sondern die moderne »bürgerliche Gesellchaft< bildet für sie (Marx
und Engels, A . S.) die wirklich e Grun dlage, aus der alle früheren
geschichtlichen Gesellschaftsformen materialistisch zu begreifen sind.«102
Die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Menschengeschichte hat
für Marx auch einen ideologiekritischen Aspekt. In der Tat ist es bis
heute ein festes Bestandstück der Verteidigung von Herrschaft gewesen,
historischgesellschaftlich bedingte Tatbestände wie Kriege, Verfolgun-
gen und Krisen in unabwendbare Naturtatsachen umzufälschen. Marxhat zunächst die Klassenverhältnisse im Auge, wenn er sagt: »Die Natur
produziert nicht auf der einen Seite Geld oder Warenbesitzer und auf
der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist
kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das
allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat
einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler
ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer
Formationen der gesellschaftlichen Produktion.«103
Marx kennt keine starren Gegebenheiten, weder solche der" geistigen
noch solche der biologischmateriellen Natur des Menschen. In seiner
Kritik an Max Stirner in der »Deutschen Ideologie« bemerkt er: »Wie
Sancho bisher alle Verkrüppelungen der Individuen und damit ihrer
100 Ka rl Ka utsk y, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, Berlin 1927, S. 630.101 Marx an Lassalle, Brief vom 16. 1. 1861. In: Ausgewä hlte Briefe, S. 150.102 Ka rl Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassun g, Le ipzig 1929, S. 34. Vg l. auch
die vorzügliche Arbeit desselben Verfassers, Marxismus und Philosophie, Leipzig 1930,S. 135 ff.
103 Das Ka pital, Bd. I, S. 177.
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Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte , ohne sich um
die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärte er diese Verkrüp-
pelung jetzt aus dem bloßen Naturprozeß der Erzeugung. Er denkt nicht
im entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich
nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppe-
lungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch
entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden kön-nen. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassen-
unterschiede etc., von denen Sancho gar nicht spricht, können und
müssen historisch beseitigt werden.«104
Die hier behandelte Frage nach dem Verhältnis von Natur und
Geschichte hat schließlich noch eine methodischwissenschaftstheoreti-
sche Seite. Seit Dilthey und der südwestdeutschen Schule des Neukantia-
nismus ist es üblich geworden, historischen und Naturwissenschaften
prinzipiell verschiedene Forschungsweisen zuzuordnen. Unterscheidet
Dilthey zwischen kausal »erklärender«, den Naturwissenschaften eigen-
tümlicher und intuitiv »verstehender« Methode der historischen Geistes-
wissenschaften, so zerschneiden Windelband und Ric kert die W irklich-
keit noch radikaler in zwei schlechthin getrennte Bereiche. Natur wird
kantianisch als das Dasein der Dinge unter Gesetzen gefaßt. Dem
entspricht der »nomothetische« Charakter der Naturwissenschaften. Die
Geschichte besteht aus einer Fülle wertbezogener, im G run de unverbundener»individueller« Befunde, die nur einer beschreibenden, »idiographischen«
Methode zugänglich sind, wodurch sie zu etwas jenseits aller rationalen
Analy se w ird 105.
Für Marx gibt es keine Trennung schlechthin von Natur und Gesell-
schaft, damit auch keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied
zwischen den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft. So
schreibt er in der »Deutschen Ideologie«: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von
zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die
Geschichte der Menschheit abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes
nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte
der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.«106
104 Deutsche Ideologie, S. 449.
105 Zum ideologischen Mom ent der Trenn ung von naturwissenschaftlicher und historischerMethode vgl. auch Ernst Bloch, Uber Freiheit und objektive Gesetzlichkeit, politischgefaßt. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2. Jahrgang, Heft 4, Berlin 1954,S. 831 f.
106 Deutsche Ideologie. In: Mega, Bd. V, 1. Ab tg., Berlin 1932, S. 567. Diese Textvaria nte wurde in die endgült ige Fassung der Deutschen Ideologie, wie sie in der zugänglicheren Au sgabe Berlin 1953 vo rliegt , nicht aufgenommen.
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Ein »Gegensatz von Natur und Geschichte«107 wird von den Ideologen
dadurch erzeugt, daß sie das produktive Verhältnis der Menschen zur
Natur aus der Geschichte ausschließen. Natur und Geschichte, sagt Marx
gegenüber Bruno Bauer, sind »nicht zwei voneinander getrennte »Din
ge<«108. Die Menschen haben immer eine »geschichtliche Natur und eine
natürliche Geschichte«109 vor sich.
Der Vorwurf, daß Marx allzu »naturalistisch« verfahre, wenn er im»Kapital« vom geschichtlichen Prozeß der ökonomischen Gesellschafts-
formation als von einem naturgeschichtlichen spricht, kann ihn eben
deshalb nicht treffen, weil in ihm dogmatisch die hier gerade kritisierte
These vom prinzipiellen methodischen Unterschied zwischen dem Ver-
halten des Natur und des Geschichtsforschers vorausgesetzt wird. Wis-
senschaftliches Denken kann keinen Bereich sui generis anerkennen, der
gesetzmäßiger Erklärung absolut unzugänglich wäre.
Der Methodendualismus bei Dilthey und WindelbandRickert beruht bei
allen Bemühungen dieser Autoren um die Geschichte auf geschichtsfrem-
den Abstraktionen, die freilich zunächst auch den kritischen Sinn haben,
daß der Geschichtsdeutung nicht dadurch Tür und Tor geöffnet werden
sollte, daß beliebige Sinnschemata an sinnindifferente Befunde herange-
tragen werden. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet, und es sieht
so aus, als sei der Geschichtsverlauf vö llig strukturlos und bloß noch der
Einfühlung und idiographischen Deskription zugänglich.Marx wendet sich in der Rezension »Die moralisierende Kritik und die
kritische Moral« auf eine für das Verständnis seiner Methode höchst
instruktive Weise gegen die undialektischen Alternativen, die, wie wir im
erörterten Fall gesehen haben, entweder Natur und Geschichte ineinan-
der aufgehen lassen oder aber ihre Differenz verabsolutieren: »Es
bezeichnet den ganzen Grobianismus des »gesunden Menschenverstan-
dess der aus dem »vollen Leben< schöpft und durch keine philosophischenund sonstigen Studien sich seine Naturanlagen verkrüppelt, daß er da,
wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und
daß er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht. Stellt er
unterschiedene Bestimmungen auf, so versteinern sie sich ihm sofort
unter der Hand, und er erblickt die verwerflichste Sophistik darin, diese
Begriffsklötze so zusammenzuschlagen, daß sie ins Brennen gera-
ten.«110
107 Deutsche Ideologie, S. 36.108 A. a. O ., S. 41.109 A. a. O.110 Aus: Franz Mehring, Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich
Engels, 2. Bd. (Juni 18441847), Stuttgart 1920, S. 456.
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Wie es für M arx keine reine Im manenz in der Abfolge der Ideen gibt, die
»geistesgeschichtlich« zu erforschen wäre, so gibt es auch keine reine,
geschichtlich unmodifizierte Natur als Erkenntnisgegenstand der Natur-
wissenschaften. N atur, die Sphäre des Gesetzmäßigen und Allgemeinen,
ist ihrem Umfang und ihrer Beschaffenheit nach jeweils bezogen auf die
Zwecke gesellschaftlich organisierter Menschen, die von einer bestimm-
ten historischen Struktur ausgehen. Die historische Praxis der Menschen,ihr körperliches Tun, ist das immer wirksamer werdende Bindeglied
zwischen den getrennt erscheinenden Bereichen. Der Marx der Pariser
Manuskripte verspricht sich von der Natur und Geschichte versöhnenden
Rolle der Praxis im Kommunismus sogar ein Zusammenfallen von Natur-
wissenschaft und Geschichtsw issenschaft, die er hier als Wissenschaft vom
Menschen bezeichnet: »Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl
die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wissenschaft von demMenschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine
Wissenschaft sein.«111
Eine Wissenschaft deshalb, weil innerhalb ihrer Verschiedenheit vermit-
tels der Industrie die »gesellschaftliche Wirklichkeit der Natur«112 und
die mit ihr sich entwickelnde natürliche Wirklichkeit des Menschen
einander immer angemessener werden, so daß die »natürliche Wissen-
schaft vom Menschen mit der menschlichen Naturwissenschaft«113 iden-
tisch wird.
B) Zur Kritik der Engelsschen Form der N atu rdia lektik
Ein Versuch, den Begriff der Natur bei Marx darzustellen, kommt um
eine Erörterung der Engelsschen Ansätze zu einer dialektischmateriali-
stischen Theorie der Natur nicht herum. Soweit Engels als strenger Anhänger des historischen Materialism us auftritt, ist ihm bew ußt, daß die
erscheinende Natur wie alles naturwissenschaftliche und philosophische
Wissen von ih r stets schon bezogen sind auf die wechselnden Formen
gesellschaftlicher Praxis. Ähnlich wie Marx, versucht er daher auch
immer wieder nachzuweisen, daß die Naturwissenschaft ihrem jeweiligen
Arbeitsmaterial, wie ihrer Methode und Problemstellung nach Ausdruck
und Hebel der fortschreitenden Produktivkräfte in einem ist114.
11 1 Nation alöko nom ie und Philosophie, S. 194 f.112 A. a. O ., S. 195.113 A. a. O.114 Vgl. dazu die problematische Behauptung des Aufsatzes Von der Philosophie des Prole-
tariats zur proletarischen Weltanschauung von Iring Fetscher, daß Engels »für die ge-
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Im folgenden ist zu zeigen, daß Engels da, wo er über die Marxsche
Fassung des Verhältnisses von Natur und Sozialgeschichte hinausgeht, in
eine dogmatische Metaphysik zurückfällt. Um eine solche handelt es sich
bei ihm, so sehr er es versch mäht, für seine Dialektisieru ng der N aturw is-
senschaften noch den Begriff einer Naturphilosophie in Anspruch zu
nehmen. — Anstatt die Engelssche Ansicht a limine als baren Unsinn
abzutun, wie dies bei einigen Kritikern der Fall ist, kommt es freilichzunächst darauf an, sich über die problemgeschichtliche Situation zu
verständigen , aus der heraus Engels zu ihr gelangt ist. Keineswegs aber
genügt dazu der Hinweis auf irgendwelche parteitaktischen oder politi-
schen Weltanschauungsbedürfnisse der Arbeiterschaft, wie Fetscher115
meint, bei dem das Spezifische der philosophischen Entwicklung von
Engels zu kurz kommt.
Mit dem Zusammenbruch der Systeme der klassischen Philosophie gehtauf der einen Seite jedes Verständnis der idealistischen Problematik und
mit ihr die Dialektik verloren, auf der anderen Seite wird der flach-
mechanische »Reisepredigermaterialismus«, Ausdruck der endgültigen
Trennung von Naturwissenschaft und Philosophie, in den fünfziger Jah-
ren immer einflußreicher. Engels geht es um eine Naturkonzeption, die
zwar materialistisch ist, aber zugleich nicht einfach hinter die Resultate
der Dialektik zurückfällt. Im »AntiDühring« schreibt er: »Marx und ich
waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischenPhilosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der
Natur und Geschichte hinüber gerettet hatten.«116
Dieses »Hinüberretten« bezieht sich nicht nur auf die erste Auseinander-
setzung mit Hegel, die mit der »Deutschen Ideologie« und den Feuer-
bachthesen, diesem eigentlichen Geburtsdokumen t des dialektischen
Materialismus, abschließt, sondern mehr noch auf die zw eite Hegelaneig-
sellschaftliche Bedingtheit auch des naturwissenschaftlichen Erkennens kein Auge« zuhaben scheine. In: Marxismusstudien, Zweite Folge, herausgegeben von I. Fetscher,Tübingen 1957, S. 42, Fußnote 1. Hier wird versucht, gerade diese Seite des EngelsschenDenkens zum Verständnis des Marxschen Naturbegriffs heranzuziehen. Merkwürdig ist bei Engels eben das beziehungslose N ebeneinander eines gesellschaftlich vermittelten undeines dogmatischmetaphysischen Naturbegriffs.
115 Marxismusstudien, S. 41. So verdankt sich zw ar der zwischen 187 618 78 entstandene
AntiD ührin g solchen äußeren parteipolitischen Umständen. Engels ist aber schon seitdem Jahre 1858 mit dem Versuch einer dialektischen Durchdringung der Naturwissen-schaften beschäftigt. Im Brief an M arx vom 14. 7. 18 j8 bittet er um die Übersendung derHegelschen Naturphilosophie und bemerkt: »So viel ist gewiß, hätte er heute eine N atur-philosophie zu schreiben, so kämen ihm die Sachen von allen Seiten entgegen geflogen.«In: Ausgewählte Briefe, S. 130.
116 AntiDühring, S. 10.
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nung117, deren Beginn für Engels wie für Marx in das Jahr 1858
fällt118.
Bis zu den Feuerbachthesen läßt sich von einer Differenz in den theoreti-
schen Ansichten von Marx und Engels kaum sprechen. Gegen Ende der
fünfziger Jahre trennen sich jedoch teilweise die Wege der Autoren.
Beide wenden sich, wenngleich auf sehr verschiedene Art, positiver
Wissenschaft zu.Marx konkretisiert in der großen historischökonomischen Analyse des
»Kapitals« das gemeinsam erarbeitete Programm der Thesen, damit auch
die für die »Deutsche Ideologie« so wesentliche Frage nach dem
Verhältnis von N atur und gesellschaftlicher Praxis, indem er versucht,
»durch Kritik eine Wissenschaft«, nämlich die politische Ökonomie,
»erst auf den Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu
können«119.Engels dagegen interpretiert mit Hilfe dialektischer Kategorien fertig
1 17 Deren Bedeutung für den mittleren und späten Marx w ird von den meisten Interpretenübersehen, wie insgesamt außer acht gelassen wird, daß seine Hinwendung zur positiven
Wissenschaft Philosophie als wesentliches Moment nicht ausschließt und umgekehrt.Marx hat ein gebrochenes Verhältnis sowohl zum Begriff der Wissenschaft als auch zudem der Philosophie. Gegenüber einem begrifflosen Empirismus, der sich in derOrdnung der »alltäglichen Erfahrung« erschöpft, »welche nur den täuschenden Scheinder Dinge erfaßt«, (Lohn, Preis und Profit, S. 71. In: ökonomische Aufsätze, Singeno. J.) hebt Marx in hegelianischphilosophischer Weise die Rolle der begrifflichen Arbeithervor. Gegenüber spiritualistischer Metaphysik aller Schattierungen, auch der Hegelschen, zögert Marx auf der anderen Seite nicht, empirischnaturgeschichtliche Befundeanzuführen. Dialektischer M aterialismus ist weder W issenschaft als positivistische F ak-tensammlung noch Philosophie im Sinne eines spekulativen Uberfliegens des Tatsächli-chen. Es ist daher verfehlt, wenn Fetscher das wissenschaftsgebundene Denken vonEngels schlechthin dem Marxschen als einem ausschließlich philosophischen entgegen-setzt. Fetscher hält sich an das Programm der »Aufhebung der Philosophie durchihre Verwirklichung«, wie es sich beim jungen Marx findet, und konfrontiert es als »Phi-
losophie des Proletariats« mit der »proletarischen Weltanschauung« (Marxismusstudien,S. 2660), wie sie von Engels während der siebziger und achtziger Jahre ausgearbeitet
worden sei. M it Recht erblickt er in den Lehren des späten Engels eine problem atische»weltanschauliche« Ausweitung des Marxschen Ansatzes, übersieht aber zugleich, daßdie Schriften des mittleren und späten Marx, namentlich das Kapital und sein Rohent-
w urf ihrem philosophischen Gehalt nach mehr bedeuten als eine gelegentliche Wieder-aufnahme des Entfremdungsmotivs, daß sie, teils eine implizit, teils eine explizit ausge-sprochene materialistische Philosophie in sich bergen.
118 Vgl. dazu den Brie f von M arx an Engels vom 14. 1. 1858, in dem er über seine Vorarbeiten zum Kapital berichtet und ausdrücklich auf H eg el zu sprechen kom mt: »In
der Methode des Bearbeitens hat es mir großen Dienst geleistet, daß ich by mere accident— Freiligrath fand einige, ursprünglich dem Bakunin gehörige Bände H egels und schicktesie mir als Präsent — Hegels Logik wieder durchgeblättert hatte. Wenn je wieder Zeit fürsolche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in zwei oder drei Druckbogen das Ratio-nelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinenMenschenverstand zugän glich zu machen .. .« . In: Ausgew ählte Briefe, S. 121.
119 Marx an Engels, Brief vom 1. 2. 1858, a. a. O ., S. 123.
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vorliegende Resultate der modernen Naturw isse nschaft. Während Marx,
darin sehr hegelianisch, die dialektisch darzustellende Wissenschaft erst
aus der Kritik ihres seitherigen Standes hervorgehen läßt, die materiali-
stische Dialektik daher von den Inhalten der politischen Ökonomie an
keiner Stelle ablöst, bleibt die Engelssche Naturdialektik notwendig eine
der Sache äußerliche Betrachtungsweise. Das wird besonders deutlich,
wenn er etwa, völl ig unbeküm mert um ihre idealistisch spekulativen Voraussetzungen, Hegelsche Kategorien auf den biologischen Begriff der
Zelle »anwendet«: »Die Zelle ist das Hegelsche Ansichsein und geht in
ihrer Entwicklung genau den Hegelschen Prozeß durch, bis sich schließ-
lich die >Idee<, der jedesmalige vollendete Organismus daraus entwik
kelt.«I2°
Da es uns hier wesentlich um die Differenz des Engelsschen und des
Marxschen Naturbegriffs121 zu tun ist, beschränken wir uns darauf, die
metaphysischen Grundthesen des späten Engels122 anzuführen, um aus
ihnen die Motive einer Kritik zu gewinnen. — Es sei vorausgeschickt, daß
Engels’ Naturlehre nicht so sehr eine »Subtilisierung der damals allge-
mein herrschenden vulgärmaterialistischmonistischen Konzeptionen«
ist, wie es sich Fetscher123 darstellt, als vielmehr der Versuch einer dialek-
tischen Fortbildung der systematischen Gestalt des französischen Aufklä-
rungsmaterialismus. Mit deutlicher Anspielung auf Holbach spricht
120 Engels an M arx, Brie f vom 14. 7. 1858. In: Ausgew ählte Briefe, S. 130.121 Inwieweit sich Marx dieser Differenz seines Naturbe griffs zum Engelsschen bewußt war,
ist nicht ganz auszumachen. Fest steht, daß er mit dem Manuskript des AntiDühring ver trau t war und sich im Kapital, Bd. I, S. 323, auf das von Engels so sehr hervorgeho- bene »Gesetz des Übergangs von Quan tität in Qualität« beruft als gleich bewährt inGeschichte und Naturwissenschaft Zur Frage der theoretischen Differenzen zwischenMarx und Engels vgl. auch Manfred Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungenMarx, Frankfurter Dissertation, Berlin i960, S. 159.
122 Die an sie und Lenin sich anschließenden Versuche im Ostbereich, mit ihrer Hilfe
den jeweils neuesten Stand der Physik philosophisch zu bewältigen, bleiben hier außerBetracht. Sie sind durchaus von Interesse, weil sie zeigen, daß die Sowjetphilosophenunter dem Schein strenger Bindung an die empirischen Daten der Naturwissenschaftmitunter vor spekulativen Formulierungen im Stil SchellingHegelscher Naturphiloso-phie nicht zurückschrecken. Wie Hegel mit der Anzahl der Planeten, so haben auch siedie größte Mühe, die Resultate der Empirie mit den Thesen ihres »weltanschaulichen«Materialismus in Einklang zu bringen, was, wie bekannt, unter Stalin sogar zu einergrotesken Verfemung der Einsteinschen Relativitätstheorie führte, von der maninzwischen abgekommen ist Stets sind es vorliegende Resultate der Naturwissenschaf-ten, die man mit Hilfe von reflexionsphilosophisch gehandhabten dialektischen Katego-
rien zu ordnen sucht Davon, daß die östlichen Naturwissenschaften sich methodischunmittelbar an die Engelssche Naturdialektik anschlössen, kann keine Rede sein. Wo eseinmal zu einem derartigen Versuch kommt, wie in dem Buch Die dialektische Methodein der Biologie von Jacob Segal, Berlin 19 58, springt einem sofo rt ins Auge, wie sehr dieDia lektik in dieser Fassung zu einer Sammlung von Gem einplätzen werden muß, die demempirischen Forscher unter anderer Form längst bekannt sind.
123 Vgl. Marxismusstudien, S. 27.
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Engels in der Feuerbachschrift von seinem Unternehmen als von »einem
für unsere Zeit genügenden »System der Natur<«124. Daneben spielt die
romantische Naturphilosophie mit ihrem qualitativdynamischen Cha-
rakter für Engels eine nicht unerhebliche Rolle125.
Die bis in die unmittelbare Gegenwart für den sowjetischen Materia-
lismus verbindliche Metaphysik besteht in folgenden, im »AntiDühring«
entwickelten Thesen: i. » D ie .. . Einheit der W elt besteht in ihrer M ate-rialität.«126 2. »Die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und
ein Sein außer der Zeit ist ebenso großer Unsinn wie ein Sein außerhalb
des Raums.«127 3. »Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie
und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben, oder kann es sie
geben... Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in
Beziehung auf diese oder jene bestimmte Bewegungsform.«128
Was diesen Materialismus von allen mechanischen Materialism en vonDemokrit bis Holbach unterscheidet, ist sein nichtreduktiver Charakter.
Innerhalb der materiellen Einheit der Welt erkennt Engels Formunter-
schiede an. Die höheren Daseins und Bewegungsformen der Materie
gehen nach seiner Ansicht zwar aus den niederen hervor, ohne sich jedoch
auf diese bruchlos reduzieren zu lassen. Es gibt keine letzte Grundform
materieller Bewegung. Mechanische, chemische., biologische und psychi-
sche Bewegungsform sind qualitativ voneinander verschieden und doch
Erscheinungsweisen des einen materiellen Wesens der Welt. Das Fort-schreiten vom Niederen zum Höheren versucht Engels mit Hilfe der
Dialektik einsichtig zu machen, die er folgendermaßen definiert: »Die
Dialektik ist... die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs und
Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Den-
kens.«129
124 Lud wig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, S. 45. Daßim Gegensatz zu Fetschers Ansicht Engels mit dem französischen Materialismus desachtzehnten Jahrhunderts viel mehr gemein hat als mit den Vulgarisatoren seiner Zeit,geht schon daraus hervor, daß Engels bereits in den frühen vierziger Jahren lebhaftesInteresse an der französischen Aufklärung bekundet, wobei er, freilich anders als Marx,der in der Heiligen Familie, S. 261, am Materialismus etwa des Helvetius zu rühmen
weiß, daß er ihn »sogleich in bezug auf das gesellschaftliche Leben« faßt, das Schw erge- wicht mehr auf die metaphysische Seite legt. 1844 bezeichn et Engels in dem im Vorw är tserschienenen Artikel Die Lage Englands, I. Das 18. Jahrhundert bei aller sich damalsschon abzeichnenden Kritik den Materialismus als »die Spitze der Wissenschaft des 18.
Jahrhunderts«, als »das erste System der Naturphilosophie«, als das Ergebnis einer »Vol-lendung der Naturwissenschaften«. In: MarxEngels, Werke, Bd. I, S. 551.
125 Da zu seine Äußerungen im AntiD ühring, S. 11 f.126 A. a. O., S. 51.127 A. a. O., S. 61.128 A. a. O., S. 70.129 AntiDühring, S. 173.
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Aus den drei genannten Bereichen glaubt die »Dia lektik der Natur« ,
übrigens Engels’ reifstes philosophisches Werk der Spätzeit, drei dialekti-
sche Grundgesetze abstrahieren zu können, die ebenfalls in die sowjet-
marxistische Theorie eingegangen sind: i. »Das Gesetz des Umschlagens
von Q uantität in Q ualit ät und umgekehrt: 2. das Gesetz von der Durc h-
dringung der Gegensätze; 3. das Gesetz von der Negation der Nega-
tion.«130Der Gerechtigkeit halber sei vermerkt, daß Engels im Unterschied zu
seinen gegenwärtigen östlichen Anhängern gar nicht in erster Linie
darauf bedacht ist, die Dialektik den Naturwissenschaftlern als unmittel-
bare Forschungsmethode zu empfehlen. Was ihm im Grunde vorschwebt,
ist eine enzyklopädische Verarbeitung des modernen naturwissenschaftli-
chen Materials: »Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure
Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit,
ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach sei-
nem inneren Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbar gewor-
den ist.«131
Mit dieser Idee, Geschichte und System der Natur wie der Naturwissen-
schaft zu einer Einheit zu verschmelzen, nimmt Engels Erwägungen
seiner Frühzeit wieder auf. Das erste Modell einer solchen Einheit sieht
er 1844 in einem Artikel über das achtzehnte Jahrhundert im Werk der
französischen Enzyklopädisten: »Der Gedanke der Enzyklopädie warfür das 18. Jahrhundert charakteristisch; er beruhte auf dem Bewußtsein,
daß alle diese Wissenschaften unter sich Zusammenhängen, war aber
noch nicht imstande, die Übergänge zu machen, und konnte sie daher nur
einfach nebeneinander stellen.«132
Hatten die Did erot und D ’Alem bert noch in An lehnung an Francis Bacon
die Wissenschaften nach Erkenntnisvermögen eingeteilt, so setzt sich im
neunzehnten Jahrhundert die Tendenz durch, sie nach Sachzusammen-
hängen zu ordnen. So in den Wissenschaftshierarchien St. Simons und
Comtes, von denen Engels sicherlich nicht unbeeinflußt geblieben ist.
Besonders aber schließt er sich Hegel an, »dessen ... Zusammenfassung
und rationelle Gruppierung der Naturwissenschaften eine größere Tat ist
als all der materialistische Blödsinn (solcher Autoren wie Büchner, Vogt
etc., A. S.) zusammen«133, wenn er eine Klassifikation der Naturwissen-
130 Dialektik der Natu r, S. j 3. Das »Gesetz der Ne gation der Negation« geriet während derStalinschen Ära als Relikt des Hegelianismus bei Marx in Verruf und ist erst nach demXX. Parteitag der KPdSU wieder »rehabilitiert« worden.
131 A. a. O ., S. 312.
132 Engels, Die Lage Englands. I. Das 18. Jahrhundert. In: MarxEngels, Werke, Bd. I,
S. SSI.133 Dialek tik der N atu r, S. 2 17.
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schäften von der Mathematik über Mechanik, Physik, Chemie bis zur
Biologie auf der Grundlage der verschiedenen Bewegungsformen der
Materie zu geben versucht: »Wie eine Bewegungsform sich aus der
ändern entwickelt, so müssen auch ihre Spiegelbilder, die verschiednen
Wissenschaften, eine aus der ändern mit N otw endig keit hervorge-
hen.«134
Um auf die angeführten abstraktmetaphysischen Thesen und dialekti-schen Gesetze zurückzukommen, so sind sie, wie oben gesagt, bestenfalls
eine Interpretations und Darstellungsmöglichkeit naturwissenschaftli-
cher Forschungsresultate. Keineswegs aber haben sie etwas mit der natur-
wissenschaftlichen Methode selber zu tun, die ja formallogisch orientiert
und undialektisch in dem Sinne ist, daß sie auf die historische Vermitt-
lung ihrer Gegenstände nicht reflektiert.
Marx äußert sich im »Kapital« ausdrücklich zur Frage nach dem Verhältnis von Forschungs und Darstellungsw eise einer Wissenschaft:
»Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungs-
weise unterscheiden. Die Forsch ung hat sich den Stoff im Deta il anzueig-
nen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren
innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die
wirkliche Bew egung entsprechend dargestellt werden. Gelin gt dies und
spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als
habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.«135Nun sind bei einem Gegenstand wie der von Menschen gemachten
Sozialgeschichte Forschungs und Darstellungsweise bei aller formellen
Verschiedenheit doch innerlich aufeinander bezogen, während die Deu-
tung der von aller menschlichen Praxis abgelösten Natur dieser letztlich
gleichgültig bleiben muß.
Wenn der frühe Engels in den »Umrissen zu einer Krit ik der N atio nal-
ökonomie« am Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts auszusetzenhat, daß er »nur statt des christlichen Gottes die Natur dem Menschen als
A bsolutes«'36 gegenüberstellt, so verfällt auch seine eigene Altersphilo-
sophie diesem Verdikt. In dem Maße, wie ihre Behauptungen bezüglich
der Natur von der lebendigen Praxis der Menschen isoliert sind, fallen sie
unter die Kritik der Feuerbachthesen. Natur und Mensch schließen sich
bei Engels nicht prim är verm ittels historischer Praxis zusammen; der
Mensch erscheint nur als Evolutionsprodukt und passiver Spiegel des
Naturprozesses, nicht aber als Produktivkraft. Wenn die materialistische
134 A. a. O ., S. 166.135 Da s Kapital, Bd. I, S. 17.1 36 Umrisse zu einer Kritik der Na tiona lökonom ie. In: Kleine ökonomische Schriften, S. 10.
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Naturauffassung, wie er in der Feuerbachschrift sagt, nichts ist »als
einfache Auffassung der Natur so wie sie sich gibt, ohne fremde
Zutat«137, so bedeutet das gegenüber der Marxschen Position einen
Rückfall in naiven Realismus138. Nicht nur lassen sich für Marx, was die
sinnliche Welt im allgemeinen betrifft, ursprünglich Gegebenes und
durch Praxis vermittelte »fremde Zutat« nicht trennen, sondern darüber
hinaus, hat er ein klares Bewußtsein davon, daß von dem »materiellenSubstrat« der besonderen Warenkörper, »das ohne Zutun des Menschen
vo n N atur vo rhanden ist«139, nur unter Abstraktion von aller vermit-
telnden nützlichen Arbeit die Rede sein kann.
Daß sich für Engels die äußere Wirklichkeit zum Inbegriff bloßer »Tatsa-
chen« verfestigt, zeigt unter anderem sein Versuch, in einem Brief an
C. Schmidt die Differenz zwischen idealistischer und materialistischer
Dialektik anzugeben. Hier heißt es: »Die Verkehrung der Dialektik bei Hegel beruht darauf, daß sie >Selbstentwicklung des Gedankens< sein
soll und daher die Dialektik der Tatsachen nur ihr Abglanz, während
die Dialektik in unserm Kopf doch nur die Widerspiegelung der sich in
der natürlichen und menschengeschichtlichen Welt vollziehenden, dialek-
tischen Formen gehorchenden, tatsächlichen Entwicklung ist.«140
Engels verkennt hier einmal, daß es zu einer »Dialektik der Tatsachen«
überhaupt erst kommt, wenn »natürliche und menschengeschichtliche
Welt« nicht als zwei getrennte Bereiche betrachtet werden. Zum anderen
beschränkt sich bei M arx die Denkbewegung keineswegs auf eine bloße
Widerspiegelung des Tatsächlichen . Die unkritische Verdoppelung der
bestehenden Verhältnisse im Bew ußtsein hat fü r M arx gerade ideologi-
schen Charakter. Im Abschnitt C des III. Kapitels ist zu zeigen, wie für
Marx das widerspiegelnde Bewußtsein zugleich ein Moment der »prak-
tischkritischen«141 Tätigkeit des Menschen ist. Stets geht der Gedanke
als wesentlicher Bestandteil in die von ihm widergespiegelte Realität ein.Die objektivökonomische Dialektik, welche Marx zufolge die Kulturge-
halte trägt, birgt in sich selbst bereits den Geist tätiger Subjekte.
137 Engels, Lud wig Feuerbach, a. a. O., S. 67.138 Natur bleibt daher im genauen Hegelschen Sinn bei Engels »unbegriffen«. »Einen
Gegenstand begreifen«, sagt Hegel, »h eiß t. . . nichts als ihn in der Form eines Bedingten
und Vermittelten fassen, somit insofern er das Wahre, Unendliche, Unbedingte ist, ihnin ein Bedingtes und Vermitteltes zu verwandeln und auf solche Weise, statt das Wahredenkend zu fassen, es vielmehr in Unwahres verkehren.« In: Encyclopädie der philo-sophischen Wissenschaften im Grundrisse, a. a. O., § 62, S. 86.
139 Da s Kapital, Bd. I, S. 47. Vg l. auch Kapitel II, Abschnitt A.140 Engels an C. Schmidt, Brie f vom 1. 11. 1891. In: Ausgew ählte Briefe, S. 525 f.141 Vg l. die erste Feuerbachthese. In: Uber Religion , S. 54.
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Während N atur und Geschichte bei M arx unauflöslich ineinander verw o-
ben sind, sieht Engels in ihnen zwei verschiedene »A nwendungsgebie-
te«142 der materialistischdialektischen Methode. Dadurch, daß die
Momente der Dialektik von den konkretgeschichtlichen Gehalten abge-
löst werden und zu den drei oben aus der »Dialektik der Natur« ange-
führten hypostasierten »Grundgesetzen«, die der Realität gegenüberste-
hen, zusammenschrumpfen, wird die Dialektik zu dem, was sie bei Marx
am allerwenigsten ist, Weltanschauung, positives Weltprinzip143.
Im vorigen Abschnitt wurde bereits dargetan, daß Engels zwar auf der
einen Seite darauf besteht, daß »Materie als solche« ein ens rationis ist,
daß nur bestimmte Daseinsweisen der Materie existieren, daß bei ihm
aber andererseits, wo das kosmogonische Problem geklärt werden soll,
Materie nicht in ihren Bestimmtheiten, sondern als oberstes Prinzip
auftritt. Der Engelssche Naturbegriff ist also in letzter Instanz doch onto-logisch. Das kann selbst die katholische Interpretation, die im allge-
meinen dazu neigt, den dialektischen Materialismus als Ontologie hinzu-
stellen, von Marx da, wo sie ihn in seiner spezifischen Differenz zu
Engels wirklich einmal ernst nimmt, nicht behaupten. Jakob Hommes
bem ängelt in seinem Buch »Der technische Eros« am Marxschen Mate
142 Da rin folgt ihm noch die heutige sowjetische Philosophie mit ihrer von Stalin in derSchrift Uber dialektischen und historischen Materialismus 1938 eingeführten starrdogmatischen Unterscheidung von dialektischem und historischem Materialismus, wovonder eine es nur mit der Natur, der andere es nur mit der Gesellschaft zu tun haben soll.
Als ob nicht bei Marx der M aterialismus eben deshalb historisch wäre, weil er dialektischist und umgekehrt. Als ob nicht das historischgesellschaftliche Sein der Menschen dieNatur als Moment so in sich enthielte, wie diese umgekehrt das gesellschaftliche Seinumschließt. Mit zwei verschiedenen »Untersuchungsfeldern« der Dialektik operierenauch Dieter Bergner und W olfgang Jahn in ihrem Pamphlet Der Kreuz zug der evangeli-schen Akademien gegen den Marxismus, Berlin i960. Die einwandfrei nachweisbaresachliche Differenz der Naturkonzeptionen von Marx und Engels verflüchtigt sich bei
ihnen zur bloßen Verschiedenheit des methodischen Vorgehens: »Es besteht... dieMöglichkeit, die Aufmerksamkeit auf die materielle Grundlage des Denkens zu richten,das heißt die Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zu untersu-chen, oder von dieser Problematik zu abstrahieren und sich mit den Problemen der objek-tiven Dialektik in der Natur zu beschäftigen.« (S. 51 f.) Daß genau diese, für Engels’Theo rie der N atu r wie für alle materialistische Metaphysik ch arakteristische Abstraktionzugleich die Grenze der Möglichkeit einer Dialektik markiert, bleibt den Verfassern
verborgen.143 Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen von H erbert Marcuse, die sich auf die Fort-
setzung der Engelsschen Konzeption der Dialektik in der gegenwärtigen sowjetischen
Philosophie beziehen: »Consequently, in trying to present dialectic >as such<, SovietMarxists can do nothing but distill from the concrete dialectical analysis of the >classics<certain principles, illustrate them, and confront them with >undialectical< thought.« In:Soviet Marxism, London 1958, S. 143. Es ist kein Zufall, daß es bei Marx keine abstrakte
Aufzäh lu ng dialektischer »Gesetze« und »Prinzipien« g ib t— mit Recht spricht Marcuse vo n »empty shells« — und daß er sich im Gegen satz zu Engels kaum des Ausdrucks»Weltanschauung« bedient.
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rialismus, daß seine realistische Position in der Erkenntnistheorie durch
die dialektische Methode doch wieder entwertet werde. Ein Vorwurf, der
sich im Grunde gegen das subjektive Moment, die umgestaltende Praxis,
wendet, wie M arx sie aus dem deutschen Idealismus in seine Theorie
überführt hat. Hommes ist durchaus im Recht, wenn er sagt, daß die
wirklichen Dinge, die M arx zufo lg e im menschlichen Bewußtsein sich
widerspiegeln, »in keiner Weise mehr die vom Menschen unab hängigexistierende Natur als solche«144 darstellen. Zwar werde bei Marx der
Gegenstand nicht durch das theoretische Wirken des Menschen gesetzt,
aber die gegenständliche Welt verliere den Charakter der Geschöpflich
keit, werde letztlich doch nur zur Verkörperung menschlichen Tuns.
Der »ontologische« Zug des Engelsschen Verständnisses der Natur geht
ohne weiteres auch aus den oben zitierten metaphysischen Grundthesen
hervor. Diese verdanken sich, wie im vorherigen Abschnitt hinsichtlich
der Naturwissenschaften zu zeigen versucht wurde, keineswegs einer »ur-
sprünglichen« Fragestellung, sondern sind samt und sonders historisch-
gesellschaftlich vermittelt.
So ist zur Engelsschen These, daß die Einheit der Welt in ihrer Materia-
lität bestehe, zunächst einmal zu sagen, daß die Frage nach der Einheit
der Welt idealistischer Philosophie angehört. Bei Kant stiftet die formale
Einheit des Selbstbewußtseins das Bewußtsein der Einheit der erschei-
nenden Welt. Indem die Hegelsche Dialektik über das starre Gegenüber von Form und Materie der Erkenntnis, wie es fü r Kants Philosophie
kennzeichnend ist, hinausgelangt, kommt sie dem, was auch für Kant im
Grunde schon vorauszusetzen ist, noch näher, nämlich der organisieren-
den Rolle gesellschaftlicher Arbeit. Natur wird, in den Dienst ihrer
Prozesse gestellt, in der Tat zu einer Einheit, mit dem Geist identisch,
bloßes »Substrat von Herrschaft«145. D aß im nachkantischen Idealis-
mus der Geist zu einem allgemeinen, an die individuellen Iche nichtgebundenen Subjekt wird, bezeugt den rationalen, systematisierenden
Charakter der gesellschaftlichen Arbeit146. Bei Marx, der in der gesell-
schaftlichen Produktion die Wahrheit der abstraktidealistischen
erblickt, kehrt die Vorstellung eines solchen überindividuellen Subjekts
wieder, wenn er etw a im »K apital« das sich reproduzierende Ganze als
144 Jakob Hommes, Der technische Eros, Freiburg 1955, S. 80.145 Horkh eimer/Ad orno, Dialekt ik der Au fklärun g, a. a. O ., S. 15.146 Vgl. zu diesem Punkt Ad orn o in den Aspekten der Hegelschen Philosophie, wo es heißt:
»Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben durch die geschlossene Universa-lität von gesellschaftlicher A r b e i t F r a n k f u r t 1957» S. 31.
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»Gesamtarbeiter«147 bezeichnet und die individuellen Arbeiten sich ihm
als bloße Organe dieses Gesamtarbeiters darstellen.148
Reale Herrschaft und, nicht nur eine »lange und langwierige Entwicklung
der Philosophie und Naturwissenschaft«149, wie Engels meint, so sehr sie
freilich hinzugehört, bringt den Begriff der Welteinheit zustande. Die
Rede von der Materialität der Welt bedeutet somit gar nichts Positives.
Sie spricht nur naiv den totalen Materialcharakter des natürlich Gege- benen aus. »Das Sein wird« immer schon »unter dem Aspekt der V er-
arbeitung und Verwaltung angeschaut.«150 Was die These von der Raumzeitlichkeit alles natürlichen Seins angeht, so
ist zwa r richtig, daß Raum und Zeit nicht ohne Dinge zu denken sind und
umgekehrt. Für Marx erscheint die Natur nur durch die Formen gesell-
schaftlicher Arbeit hindurch. Darin noch über ihn hinausgehend, hat die
Durkheimschule, obgleich mit großen Schwierigkeiten belastet, nachzu-
weisen versucht, daß mit den höchsten form alen Bedingungen der
Erkenntnis auch Raum und Zeit gesellschaftlich entsprungen sind.
Ähnlich steht es um die These von der Bew egung als der Daseinsweise der
Materie. Wie aller Materialismus erkennt auch der dialektische an, daß
die Gesetze und Bewegungsformen der äußeren Natur unabhängig und
außerhalb eines jeglichen Bewußtseins existieren. Dieses Ansich wird
aber nur relevant, insofern es zum Füruns wird, das heißt insofern die
N atu r einbezogen ist in menschlichgesellschaftliche Zw ecke 1S1.Der Engelssche Versuch, den Bereich der vor und außermenschlichen
Natur im Sinne einer rein objektiven Dialektik zu interpretieren, muß inder Tat zu der von einigen Kritikern152 immer wieder hervorgehobenen
147 Vgl. Das Kapital, Bd. I, S. 533 f.148 Vgl. dazu vo r allem das III. Kapitel.
149 AntiDühring, S. 51.150 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 91. Wenn Heidegger im
Brief über den Humanismus Marx vor allzu »billigen Widerlegungen« durch denHinweis zu verteidigen sucht, daß sein Materialismus nicht in der nackten These besteht,»alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß allesSeiende als das Material der Arbeit erscheint«, so entgeht ihm, daß es sich hier nicht umeine einfache Alternative handelt. Das Verhältnis des vormarxschen zum historischenMaterialismus ist komplexer. Der Marxsche löst den seitherigen Materialismus nichteinfach ab, sondern ist zugleich dessen kritische Selbstreflexion, indem er zeigt, was derSatz »alles ist nur Stoff« in letzter Analyse bedeutet: alles ist nur Stoff für die jeweils
herrschende Praxis. Zitiert nach M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern1954, S. 87 f.i 5 i Ein Gedanke, der näher ausgeführt wird im Abschnitt A des III. Kapitels.152 Vgl. dazu M erleau Pon ty, der in dem Au fsatz Marxisn\e et philosophie die Frage stellt,
wie ein Materialismus beschaffen sein müsse, um zugleich im strengen Sinne als dialek-tisch gelten zu können: »On s’est quelquefois demandé avec raison comment un matéria-lisme pouvait être dialectique, comment la matière, si l’on prend le mot à la rigueur,
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Unverträglichkeit von Dialektik und Materialismus führen. Wird die
Materie als in sich dialektisch strukturiert dargestellt, so hört sie auf,
Materie im Sinne der exakten Naturwissenschaft zu sein, auf welche
Engels und seine russischen Nachfolger ihre Ansicht glauben stützen zu
können.
Diskussionen um die Blochsche Philosophie haben gezeigt, daß die Idee
einer Naturdialektik, die sich auch unabhängig von menschlicher Denk-tätigkeit und Produktion vollziehen soll, notwendig zu der pantheistisch
hylozoistisch en Auffassu ng eines »Natursubjekts« führen muß, wom it die
materialistische Position selbstredend verlassen w ir d 153.
Die für Engels wesentlichen Kategorien der Naturdialektik wie Qualität,
Quantität, Maß, Kontinuität, Diskretion etc. sind sämtlich dem ersten
Teil der Hegelschen Logik, der »Logik des Seins«, entlehnt, die Hegel in
der »Propädeutik« bezeichnenderweise noch »ontologische Logik«
nennt. Eine gewissermaßen »vorsubjektive« Dialektik ist dort deshalb
möglich, weil sich im Fortgang der Sache die »Logik des Seins« als
verm ittelt durch die des »Wesens« und schließ lich durch die des
»Begriffs« erweist, Natur in Geist, Objektivität gänzlich in Subjektivität
übergeht, was dem Engelsschen Materialismus natürlich verwehrt
ist154.
Entfällt, wie bei Marx, der sich realisierende absolute Begriff als Motor
der Widersprüche und verbleiben als Träger des Geistes einzig geschicht-lich bedingte Menschen, so kann auch von einer eigenständigen Dialektik
pouvait contenir le principe de productivité et de nouveauté qui s’appelle une dialecti-que.« In: Sens et nonsens, Paris 1948, S. 228. Zur Kritik an der Engelsschen Naturdia-lektik vgl. auch die scharfsinnige Ana lyse von J. P. Sartre, Matéria lisme et révolution. In:Situations, I, Paris 1947. Vgl. ferner Iring Fetscher, Stalin über dialektischen und histori-schen Materialismus, Frankfurt 1956, S. 22, S. 38.
153 Vgl. dazu den von östlicher Seite gegen Bloch geschriebenen Sammelband, Ernst Blochs
Revision des Marxismus, Berlin 1957, dessen Autoren die Engelssche Position gegenBloch auszuspielen versuchen, wobei sie völlig übersehen, daß ihnen in Blochs »Abwei-chung« von der orthodoxen Lehre diese nur in konsequenterer Gestalt begegnet. Selbstder Bloch besonders angekreidete »Teleologismus« h at sein Vo rbild bei Engels. So betontdie Dia lektik der Natur, S. 221, gegen Haeckel, der in diesem Fall der zwa r primitivere,aber strengere Materialist ist: »Daß die Materie das denkende Menschenhirn aus sichentwickelt, ist ihm purer Zu fa ll. . . In Wahrheit aber ist es die N atur der Materie, zurEntwicklung denkender Wesen fortzuschreiten, und dies geschieht daher auch notwendigimmer, wo die Bedingung . . . dazu vorhanden.« Vg l. auch S. 259, wo Engels die Materiesogar als »causa finalis« bezeichnet. Bei Engels, dessen Materiekonzeption sich bemüht,
gleich weit entfernt zu sein von Mechanismus und Vitalismus, was etwa die Frage nachdem Wesen des organischen Lebens angeht, liegt die geheime Spiritualisierung derMaterie nicht so unmittelbar auf der Hand wie bei Bloch, dessen Fortentwicklung desEngelsschen Materiebegriffs im Sinne romantischer Naturspekulation offenbart, was imGrunde auch schon für Engels gilt.
154 Vgl dazu auch Herbert Marcuses Bemerkungen zur Hegelschen Logik und ihrem Verhältn is zum Materialismus. In: Soviet Marxism , a. a. O ., S. 143.
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der den Menschen äußerlichen Natur nicht die Rede sein. Es fehlen hier
alle für Dialektik wesentlichen Momente. Darauf hat als erster in der
Marxforschung Georg Lukäcs in »Geschichte und Klassenbewußtsein«
kritisch hingewiesen: »Die Mißverständnisse, die aus der Engelsschen
Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wesentlich darauf, daß
Engels — dem falschen Beispiel Hegels folgend — die dialektische
Methode auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch dieentscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Sub-
jekt und O bje kt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Verän-
derung des Substrats der Kategorien als G rund lage ihrer Veränderun g im
Denken etc. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind.«155
Die der menschlichen Gesellschaft vorausgehende Natur bringt es nur zu
Polaritäten und Gegensätzen einander äußerlicher Momente, bestenfalls
zur Wechselwirkung, nicht aber zum dialektischen Widerspruch. Wie dasHolbachsche, so ist auch das Engelssche »System der Natur« ein System
bloßer Wechselw irkungen : »Wechselwirkung ist das erste, was uns entge-
gentritt, wenn wir die sich bewegende Materie im ganzen und großen,
vom Standpunkt der heutigen Naturw issenschaft betrachten.«156
Die Kategorie der Wechselwirkung aber steht, wie Hegel sagt, »so zu
sagen an der Schwelle des Begriffs«157, das heißt sie steht zwischen dem
kausalmechanischen und dem dialektischbegreifenden Denken. Dem
vordialektisch en Charakter der N atur selbst entspricht der EngelsscheBegriff von Dialektik, der eigentümlich changiert zwischen der alten
Mechanik und einer strengen Dialektik, wie sie bei Hegel und Marx
vorliegt.
Da in der Natur selber nur die Keime zur Dialektik angelegt sind,
können die bei Engels über den alten mechanischen Materialismus
hinausweisenden Momente nicht ganz zu ihrem Recht kommen. Gegen-
über dem an sich schon undialektischen blanken Objektivismus, denEngels erkenntnistheoretisch vertritt, erweist sich die Frage, ob die Bewe-
gungsgesetze der Natur mechanischer oder dialektischer Art seien, als
völl ig sekundär.
Die hier zur Engelsschen Naturauffassung vorgebrachten kritischen
Bemerkungen bedeuten indessen nicht, daß der Begriff einer Dialektik
der Natur schlechthin zu verwerfen wäre. Es ist vielmehr nachzuweisen,
daß die Marxsche Theorie selber schon die Dialektik der Natur enthält,
mit der Engels sie glaubt ergänzen zu müssen. Insofern für Marx alles
1 5 5 Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Diale ktik ,Berlin 1923, S. 17.
1 56 D ialek tik der N atur , S. 246.157 System der Philosophie, I, a. a. O ., Zus atz zu § 1 56, S. 346.
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8/9/2019 Alfred Schmidt-Der Begriff Der Natur in Der Lehre Von Marx-Europäische Verlagsanstalt (1993)
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II. Kapitel
Die gesellschaftliche Vermittlung der Natur und die
naturhafte Vermittlung der Gesellschaft
A ) Natur und'Warenanalyse
Die Natur als das den Menschen gegenüberstehende Material ist Material
als ungeformtes nur im Hinblick auf die Zwecke ihrer Tätigkeit. An sich
ist der Naturstoff, den Marx der Materie gleichsetzt, bereits geformt, dasheißt, er unterliegt physikalischen und chemischen Gesetzen, die von den
Naturwissenschaften in ständigem Kontakt mit der materiellen Produk-
tion ermittelt werden. N ich t obw ohl, sondern gerade weil die Natu rstoffe
eigengesetzlich sind, lassen sich menschliche Zwecke vermittels der
Naturprozesse realisieren. Dabei sind die Inhalte dieser Zwecke nicht
nur historischsozial, sondern ebensosehr durch die Struktur der Materie
selber begrenzt. Stets bleibt es freilich eine Funktion des Standes der
materiellen und intellektuellen Produktivkräfte, welche und in welchemUmfange die der Materie immanenten Möglichkeiten verwirklicht wer-
den können, wie auch die Struktur der Materie keineswegs ein für
allemal feststeht. Ihr Begriff reichert sich vielmehr ununterbrochen an im
Verlaufe der Geschichte der Naturw issenschaften, die aufs engste verw o-
ben ist in die der gesellschaftlichen Praxis. Aus diesem Gru nde macht
Lenin den Materiebegriff des dialektischen im Gegensatz zu dem des
mechanischen Materialismus auch nicht abhängig von irgendwelcheninhaltlichen Aussagen, die an einen historisch bestimmten Stand des
naturwissenschaftlichen Bewußtseins gebunden sind, sondern hält wie
Marx daran fest, daß die Menschen, unter welchen geschichtlichen
Bedingungen sie auch leben mögen, sich einer unaufhebbaren dinglichen
W elt gegenüber sehen, die sie sich, um zu überleben, aneignen müssen.
Als im Zusammenhan g mit den einschneidenden Neuen tdec kungen der
Physik um die Jahrhundertwende allgemein vom »Verschwinden der
Materie« und der künftigen Unmöglichkeit eines philosophischen Mate-rialismus gesprochen wird, weist Lenin in »Materialismus und
Empiriokritizismus« darauf hin, daß der philosophische Materiebegriff
von den geschichtlich wechselnden Ansichten der Physiker über die
Struktur der Materie nicht berührt wird. »Denn die einzige >Eigenschaft<
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der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus
gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb
unseres Bewußtseins zu existieren.«1 Nicht der Materialismus überhaupt,
sondern seine traditionelle mechanische Form ist für Lenin hinfällig
geworden. Die Mechanik, jahrhundertelang Totalerklärung der Welt,
w ird durch den naturw is senschaftl ic hen Fortschritt zum blo ßen M om ent
der Erkenntnis wie der physischen Welt selber herabgesetzt: »>DieMaterie verschwindet< heißt: es verschwindet jene Grenze, bis zu welcher
w ir die M aterie bisher kannten, unsere Kenntnis d rin gt tiefe r, es
verschw in den solche Eig enschaften der M ate rie , die frü her als absolut,
unveränderlich, ursprünglich gegolten haben (die Undurchdringlichkeit,
die Trägheit, die Masse usw.) und die sich nunmehr als relativ, nur
einigen Zuständen der Materie eigen entpuppen.«2
Dieser erkenntnistheoretischen Definiton der Materie als der außer-
halb und unabhängig von allem Bewußtsein existierenden objektiven
Re alität entspricht vö llig die schon vo m jun gen M arx in der »Fleiligen
Familie« unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Arbeit gegebene
Materiebestimmung: »Die Materie selbst hat der Mensch nicht geschaf-
fen. Er schafft sogar jede produktive Fähigkeit der Materie nur unter der
V orau ssetzun g der M aterie.« 3
Mit ähnlich objektiver Blickrichtung schreibt er in den Pariser Manu-
skripten: »Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges, w ir kliches, sinnlich es, gegenständliches W esen ist, heiß t, d aß er wirkli- '
che, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, seiner
Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirklichen, sinnlichen Gegen-
ständ en sein Leben äuß ern kan n.« 4 — »Ein W esen, welches seine N atu r
nicht außer sich hat, ist kein natürliches, nimmt nicht Teil am Wesen der
N a t u r . « 5
In durchaus Hegelscher Weise wird hier Natur als Ä ußerlichkeit bestim m t. D ie N a tu r hat wesentlich dinglichen C h arak ter. A u ch der
Mensch ist ein Naturding. Eine Ansicht, in der Marx auf allen Stufen
seiner Entwicklung Feuerbach folgt, der bei aller auch ihm gegenüber
anzumeldenden Kritik darin über den herkömmlichen Material ismus mit
1 W . I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizism us, Mo skau 1947, S. 276.
2 A . a. O .3 H eilige Fam ilie, S. 15 1. Es versteht sich, da ß beide M ateriebestimm ungen A spekte ein
und desselben Sachverhalts sind, nämlich der Einheit von Arbeits und Erkenntnispro-
zeß. Zu dem strengen gegenstandstheoretischen Realismus bei Marx vgl. auch Rohent-
w u rf, S. 384 und S. 388 f.
4 Nationalökonomie und Philosophie, S. 249.
5 A . a. O ., S. 250.
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seiner vorwiegend mechanischen oder physiologischen Betrachtungs-
weise hin ausgeht, d aß er M ensch und N a tu r qualitativgegen stän d li ch
begreift. Für M arx hat Feuerbach gegenüber den »reinen M ate ria liste n«
den Vorzug, »daß er einsieht, wie^auch der Mensch sinnlicher Gegen
stand< ist«6. In seiner Arbeit vergegenständlicht sich der Mensch, ohne
aber damit Naturgegenständlichkeit als solche zu »setzen«. Vermittlung
ist für Marx nicht identisch mit Setzung7. Das menschliche Wesen»schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist,
w eil es von H aus aus N a tu r ist. In dem A k t des Setzens fä llt es also n icht
aus seiner >reinen Tätigkeit in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern
sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätig
keit, seine Tätigkeit als einer Tätigkeit eines gegenständlichen natürli-
chen W esens.«8
Erneut aufgenommen werden solche Motive im »Kapital«. Daß die
A rb eit ein P rozeß zw ischen D ingen ist, bildet hier die philosophisch-
materialistische Voraussetzung der ökonom ischen A nalyse: »Der Mensch
selbst, als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, ist ein Naturgegen-
stand, ein Ding, wenn auch ein lebendiges, selbstbewußtes Ding, und die
A rb eit selbst is t dingliche Äuß erun g jener Kraft .«9
A n anderer Ste lle heißt es von der A rb eitskraft, sie sei »vor allem in
menschlichen Organismus umgesetzter Naturstoff«10. Die Arbeit, selbst
nur Äußerung einer Naturkraft, ist stets auf ein Substrat verwiesen, welches sich in A rb e it n ic ht auflösen lä ßt. A u f dieses natürliche Substrat
der Arbeit geht Marx in systematischer Form wiederum im »Kapital« ein,
und zwar bei seiner Analyse des Doppelcharakters der Ware und der in
ihr vergegenständlichten Arbeit. Die Ware ist eine Einheit entgegenge-
setzter Bestimmungen. Als »Zelle«11 der bürgerlichen Gesellschaft
reflektiert sie in sich die Beziehung von Natur und historischem Prozeß,
wie sie au f der Stufe avancierter P ro d u k tiv kräfte sich darstellt. Sie
enthält Natur als »Sein an sich« wie als »Sein für anderes«.
A ls Tau schw ert setzende is t die A rb eit fü r M arx abstraktallgem eine und
gleiche, als Gebrauchswert setzende ist sie konkretbesondere und
besteht aus den verschiedensten Arbeitsw eis en. D er Tau schw ert ein er
6 D eutsc he Ideo logie , S. 42.
7 Eine solche Identität erkennt Marx in dem emphatischen Hegelschen Be gr iff der »V er-söhnung«, worin in der Tat eine Vermittlung von Widersprüchlichem als ein positiv
Gesetztes erscheint
8 H eilig e Fam ilie, S. 84.9 Da s Kap ital, Bd. I, S. 21 1.
10 A . a. O ., S. 223.
11 W . I. Lenin, Au s dem philosophischen N ac hla ß, Berlin 1954» S. 287.
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W are enthält absolu t kein en N atu rsto ff. E r is t gegen über ih ren natürli-
chen Qualitäten gleichgültig, weil in ihm als der Verkörperung menschli-
cher Arbeit überhaupt, gemessen durch die verausgabte Zeit, al le Natur-
bestim m theiten ausgelö scht s in d 12. Ist der T au sch w ert ein e fü r die
b ü rgerliche P ro d u ktion sform typisch e »übernatü rliche E ig ensch aft«13,
so tritt uns in den Gebrauchswerten die Ware in ihrer »hausbackenen
Naturalform«14 entgegen. An ihr ist die vorliegende Untersuchung ihrer A u fgab e gem äß beso nders interessiert . G ebrauchsw erte sind durch
beso ndere zw eckgerichtete T ätig k e it verm ittelte beso ndere N atu rstoff e,
die der Befriedigung besonderer menschlicher Bedürfnisse dienen. Näher
bestim m t M arx sie so: »D ie G ebrauchsw erte R ock, L ein w an d usw., kurz
die Warenkörper, sind Verbindungen von zwei Elementeny Naturstoff
und Arbeit. Zieht man die Gesamtsumme aller verschiednen nützlichen
Arbeiten ab, die in R ock, L einw and usw . steck en , so bleibt stets ein mate
i rie lles Substrat zurück , das ohne i u t u n des Menschen von Natur
vorhanden is t.« 15
W ie die A rb e it der form ale , so ist der N a tu rs to ff der m ateria le »W ert-
bildner«. W obei nach dem bereits über den C h arak te r der A rbeit
Gesagten die Trennung von Naturstoff und Arbeit keine absolute sein
kann. Am einzelnen Gebrauchswert mag sich noch in abstracto scheiden
12 Vg l. dazu D as K ap ital, Bd. I, S. 88, w o es heißt: »D a Tausc hw ert eine bestimm te gesell-
schaftliche Manier ist, die auf ein Ding verwandte Arbeit auszudrücken, kann er nicht
mehr N atu rsto ff enthalten, a ls etwa der Wechselkurs.* 13 A . a. O ., S. 62.
14 A. a. O., S. 52.
15 A .a .O . , S . 47. Zum Naturalm om ent der Arb eit vgl . auch die K rit ik des Gothaer
Program m s, S. 17, wo die N at u r als »erste Quelle aller Arbe itsmittel und Gegenstände«
bezeic hnet wir d. M it R ech t w endet sich hie r M arx gegen die ideolo gis ch e Form ulieru ng
des ursprünglichen Program m entwu rfs, daß die Arbeit »die Quelle alles Reichtums und
aller Kultur« sei. »Denn aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, derkein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts und Kulturzu-
ständen der Sklave der anderen Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegen-
ständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbei-
ten, also auch nur mit ihrer Erlaubnis leben.« Zur Interpretation der Rolle der Natur in
der Krit ik des Go thaer Programm s vgl . Th. W . Adorn o, Aspekte der Hegelschen Philo-
soph ie, a. a. O ., S. 28, und W. B enjam in, Sch riften , Bd . 1, Fr an kfu rt 195 5, S. 500 f. Au chin der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie findet sich auf S. 30 der Gedanke,
daß die Arbeit keineswegs als einzige Quelle des stofflichen Reichtums gelten könne: »Da
sie die T ätig k eit ist, das Sto ffliche für diesen oder jenen Zw eck anzue ignen , bed arf sie des
Stoffes als Voraussetzung.« Die Vorstellung, daß die Arbeit einzige Quelle des Reich-tums sei, gehört zu dem die Zirkulationssphäre insgesamt kennzeichnenden ideologi-
schen Schein. In der Zirkulationssph äre entsteht der Tru g, d aß alle Elemente des Produk-
tionsprozesses der Warenzirkulation entstammen: »Diese einseitige Auffassung über-
sieht die von den Warenelementen unabhängigen Elemente des Produktionsprozesses.«
In: Das Kapital, Bd. II, S. 94. Auch hier hat Marx das der Gesellschaft vorgegebene
Naturmaterial im Auge. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, a. a. O., S. 11.
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lassen, was auf Arbeit, also tätige Menschen, zurückgeht und was als
»materielles Substrat« der Warenkörper naturgegeben ist. Was aber die
Erfahrungswelt im ganzen angeht, so ist hier eine Trennung des Natur-
stoffs von den praktischgesellschaftlichen Weisen seiner Veränderung
real nicht durchführbar. In welchem quantitativen und qualitativen Ver-
hältnis Mensch und Naturstoff am Zustandekommen der Arbeitspro-
dukte beteiligt sind, ist für Marx generell nicht zu entscheiden. Daßdieses Verhältnis nicht formelhaft fixierbar ist, macht eben den Prozeß
der Momente zu einem dialektischen16. Einmal erzeugt, steht die Welt
der aus A rbe it plus N atu rsto ff zusamm engesetzten Gebr auchsw erte —
verm enschlichte N a tu r — den Mensch en eben so als ein O bje ktives, als ein
von ihnen u n abh än gig Dase ie ndes gegenüber, w ie der m enschlich noch
nicht durchdrungene Naturstoff in seiner ersten Unmittelbarkeit.
Dadurch, daß menschliche Produktivkraft als intel lektuelle wie prakti-sche dem Naturstoff sich aufprägt, wird dessen bewußtseinsunabhängiges
Dasein nicht so sehr aufgehoben wie vollends bestätigt. Die bearbeiteten
Naturstoffe bleiben Bestandteile der sinnlichen Welt: »Die Form des
H olzes z. B. w ird verän dert, wenn man aus ihm einen Tisch m acht.
Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches
Ding.«17
A u f im m er höheren Stufen der Produktio nsprozesse ste llt sich die n atur-
hafte Unmittelbarkeit — jetzt als menschlich vermittelte — wieder her.Eben diesen Zusamm enhang hat M arx im A uge, w enn er sagt: »Während
des Arbeitsprozesses setzt sich die Arbeit beständig aus der Form der
Unruhe in die des Seins, aus der Form der Bewegung in die der Gegen-
ständlichkeit um.«18
Im dinghaftfertigen Resultat der Arbeit erlischt die es vermittelnde
Bewegung, wie es umgekehrt, sofern es in weitere Prozesse eingeht,
w iederum zum blo ßen M om ent verm itteln der B ew egung herabgesetzt w ird. W as a u f ein er Produktio nsstufe ein U nm ittelb ares ist, ist a u f ein er
anderen ein Vermitteltes: »Wenn ein Gebrauchswert als Prod u kt aus
dem Arbeitsprozeß herauskommt, gehn andre Gebrauchswerte, Produkte
früherer Arbeitsprozesse, als Prod uktio nsm ittel in ihn ein. Derselbe
Gebrauchswert, der das Produkt dieser, bildet das Produktionsmittel
je ner A rbeit. Produ kte sind daher n icht nur das Resultat, sondern
zugleich Bedin gung des A rbeitspro zesses.«19
16 Vg l. dazu auch De utsche Ideologie, S. 41.
17 D as K ap ital, Bd. I, S. 76.18 A . a. O ., S. 197.
19 A. a. O., S. 189.
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Diese den Arbeitsprozeß definierende »Vergegenständlichung als Entge
genständlichung«20 hat darüber hinaus noch einen allgemeineren theo-
retischen Gehalt. Im Gegensatz zu dem, was die Engelssche Feuerbach-
schrift behauptet, daß nämlich »die Welt nicht als ein Komplex von
fertigen D in gen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen«21,
b ild et fü r M arx das dia lektis che Prozeßdenken zum verd inglichten
Bewußtsein keine abstrakte Alternative. Wie man die Dinge nicht meta-
physischstarr als fertig und unveränderlich ansehen darf, ohne in einen
Irrtum zu verfallen, so darf man sie umgekehrt auch nicht restlos in die
Momente der sie vermittelnden gesellschaftlichen Prozesse auflösen, was
den gleichen metaphysischen Fehler mit umgekehrten Vorzeichen bedeu-
ten würde. Es kommt vielmehr darauf an, die konkrete Dialektik von
Unmittelbarkeit und Vermitteltheit des dinglichen Seins in ihrer jeweili-
gen Gestalt zu entfalten.Insbesondere an die im »Kapital« im Abschnitt über den »Fetischcha-
rakter der Ware und sein Geheimnis«22 angestellten Erwägungen haben
sich idealistische Feh linterpretationen angeschlossen. M ar x zeig t hier,
daß die kapitalistische Produktion, indem sie die Arbeitsprodukte in
W aren überfü hrt, den zugrunde lieg enden gesellschaftl ic hen V erh ältnis-
sen eine »gespenstige Gegenständlichkeit«23 verleiht, wobei die Waren-
form der Arbeitsprodukte »mit ihrer physischen Natur und den daraus
entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen hat.
Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst,
welches hier für sie die phantasm agoris che Form vo n D in gen
annimmt.«24 Indem die Arbeitsprodukte zu Waren werden, verkör-
pern sie nicht länger den lebendigen Austausch der Menschen mit der
Natur, sondern treten als tote und dinghafte Realität auf, als objektive
Notwendigkeit, von der das menschliche Leben wie von einem blinden
Schicksal beherrscht wird.Getäuscht durch den »gegenständlichen Schein«25, der auf die gesell-
schaftl iche Verwandlung der Arbeitsprodukte in Waren zurückgeht,
haben die Ökonomen weitschweifige und dem Wesen der Sache nach
unergiebige Erörterungen über die Rolle der Natur bei der Bildung des
Tauschwerts angestellt, wobei sie das wirkliche Verhältnis von
20 Nationalökonomie und Philosophie, S. 243.21 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie,
S. 42.
22 D as Ka pit al, Bd. I, S. 76—89.23 A . a. O ., S. 42.
24 A . a. O ., S. 78.
25 A . a. O ., S. 88.
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Gebrauchswert und Tauschwert verkehrten. Dem falschen Bewußtsein
stellt es sich so dar, daß »der Gebrauchswert der Sachen unabhängig von
ihren sachlichen Eigenschaften, dagegen ihr Wert ihnen als Sachen
zukommt«26. Die Naturbestimmtheit der Ware erscheint als gesell-
schaftliche, ihre gesellschaftliche als ihr anhaftende Naturbestimmtheit.
Die Ökonomen sind verdutzt, »wenn bald als gesellschaftliches Verhält-
nis erscheint, was sie eben plump als Ding festzuhalten meinten, unddann w ieder als D in g sie neckt, was sie kau m als gesellschaftliches
V erhältnis fix iert hatte n.« 27
Gesellschaftlich ist die Produktion immer. Immer ist sie »Aneignung der
Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer
bestim mten G esellschaftsform «28, wenn auch die Indiv id uen zunächst
unabhängig voneinander ihren Privatarbeiten nachgehen. Der
Gebrauchswert der von ihnen erzeugten Dinge realisiert sich ohne
Austa usch »im unm ittelb aren V erhält nis zw is chen D in g und M ensch«29.
Der gesellschaftl iche Charakter der voneinander unabhängig betriebe-
nen Privatarbeiten offenbart sich dagegen erst im Austausch der Arbeits-
produkte, das heißt im gesellschaftl ichen Gesamtprozeß. Die vorbürger-
lichen Produktionsformen, deren Wesen in persönlichen Abhängigkeits-
verhältnissen zw is chen den M ensch en besteht, sind durchsichtig genug,
um zu verhindern, daß »Arbeiten und Produkte. . . e ine von ihrer
Realität verschiedne phantastische Gestalt«30 annehmen. Die Arbeits-produkte werden nicht zu Waren. Die »Naturalform der Arbeit«31 als
konkretbesondere und nicht die Arbeit als abstraktallgemeine und glei-
che stellt hier die G ru nd form gesellschaftlicher A rbe it dar.
Die spezifisch Marxsche Entdeckung, daß historische Verhältnisse in der
W arenfo rm versach lich t w erden, kann zu dem id ealistischen M iß v er-
ständnis führen, M ar x habe alle ökon om ischen Katego rien a ufgelöst in
Beziehungen von Menschen, es gebe daher in der Welt keine leibhaftig-materiellen Dinge, sondern nur Beziehungen und Prozesse32. Zweifellos
ist es ein Hauptmotiv der Marxschen Analyse, die zu Dingen verfestigte
Oberfläche der ökonomischen Realität zu durchstoßen, um zum dahinter
26 A. a. O., S. 89.
27 Zu r Kr itik der politischen Ökon om ie, S. 28.
28 A .a .O ., S. 241. Z ur gesellschaftlichen Bestimm theit jeder menschlichen Na turan eig
nung vgl . auch Lohn arbeit und Kap ital. In: öko nom ische A ufsätze, S. 27 f.29 Das Kapital, Bd. I, S. 89.30 A. a. O., S. 83.
31 A. a. O.
32 So an einigen Stellen bei Bloch, dessen stark vom frühen Lukäcs inspirierte Kritik am
bürg erl ic hen »W ar endenken« in die G efa h r ein er Pre isgabe der m ateria listischen Posi-tion gerät.
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stehenden Wesen, den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen,
vorzu d rin gen. W obei allerdin gs diese Bezie hungen für M arx , w ie schon
ausgeführt, keineswegs ein Letztes bedeuten. Gerade die Analyse des die
Zirkulationssphäre tragenden Produktionsprozesses ergibt, daß die
menschliche Arbeit durchaus nicht den einzigen »Bildner« stofflichen
Reichtums darstellt. Die Daseinsweise der abstraktallgemeinen Arbeit,
ihre »Erscheinungsform«33 ist stets die konkretbesondere und setzt einauf menschlichgesellschaftliche Bestimmungen irreduzibles Natursub-
strat voraus. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind durch Naturdinge
verm ittelt und um gekehrt. Ständig sind sie solche der M ensc hen »zuein -
ander und zur Natur«34.
Sowenig sich Natur in die Momente eines metaphysisch gefaßten »Gei-
stes« auflösen läßt, so wenig geht sie auf in den historischen Weisen ihrer
praktischen Aneignung. Dieser neuhegelianisch»aktualistischen« An-
sicht verfällt Lukäcs in seiner im übrigen für die Geschichte der Marxin-
terpretation bedeutsamen Schrift »Geschichte und Klassenbewußtsein«.
Im Zusammenhang mit seiner ausführlichen Erörterung der philosophi-
schen Aspekte des Warenfetischismus kommt er auch auf den Marxschen
Naturbegriff zu sprechen: »Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie,
d. h. was auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung
als Natur gilt, wie die Beziehung dieser Natur zum Menschen beschaffen
ist und in welcher Form seine Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, also was die N a tu r der Form und dem Inhalt , dem U m fan g und der G egen -
ständlichkeit nach zu bedeuten hat, ist stets gesellschaftlich bedingt.«35
Lukäcs weist mit Recht darauf hin, daß alles Naturbewußtsein wie die
erscheinende Natur selber historischsozial bedingt sind. Natur ist aber
für Marx nicht nur eine gesellschaftliche Kategorie. Sie läßt sich nach
Form, Inhalt, Umfang und Gegenständlichkeit keineswegs ohne verblei-
benden Rest in die his to rischen Prozesse ih rer A n eign u n g auflösen. Ist
Natur eine gesellschaftliche Kategorie, so gilt zugleich der umgekehrte
Satz, daß Gesellschaft eine Naturkategorie darstel lt . Obwohl für den
Material isten Marx die Natur und ihre Gesetze unabhängig von al lem
menschlichen Bewußtsein und Willen bestehen, lassen sich Aussagen über
sie überhaupt nur mit Hilfe gesellschaftlicher Kategorien formulieren
und anwenden. Ohne die menschlichen Anstrengungen zur Beherrschung
der Natur ist der Begriff der Naturgesetze undenkbar. Die gesellschaft
33 D as Ka pit al, Bd . I, S. 64.34 A . a. O ., S. 85.
35 Ge org Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische D ialektik,Berlin 1923, S. 240.
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l iehe Geprägtheit der Natur und ihre Eigenständigkeit bilden eine
Einheit, innerhalb deren die Subjektseite durchaus nicht die ihr von
Lukäcs zugeschriebene »erzeugende« Rolle spielt36. Die durch menschli-
che Arbeit »filtrierte«37, nicht eigentlich hervorgebrachte Stoffwelt
ble ib t jenes vo n M arx so oft hervorgehobene » S u b s tr a t ... , das ohne
Zutun des Menschen... vorhanden ist«38. Es handelt sich daher auch bei
der von Marx ins Auge gefaßten theoretischen und praktischen Aufhe- bung der E ntfrem du ng nicht so sehr darum , wie H egel, die G egenständ -
lichkeit als solche, sondern ihren entfremdeten Charakter aufzuheben39.
In seiner Phänomenologie durchschaut der Hegelsche Geist auf immer
höheren Stufen seiner Entwicklung die ihm zunächst äußerliche Welt der
Gegenstandsformen als ein Scheinhaftes, als ein von ihm selber Gesetz-
tes, bis er schließlich im absoluten Wissen in der Reflexion auf die Tota-
lität der von ihm durchlaufenen Momente restlos aus seiner Entäußerung
in sich zurückkehrt. Marx, der mit Feuerbach den Geist einzig als den
endlicher und vergänglicher Menschen versteht, kritisiert deshalb Hegels
Philosophie als gigantischen Subjektivismus, bei dem das absolute Selbst-
bewußtsein aller G egenständ lichkeit zu G runde liegt40. D ie Hegelsche
36 So kritisiert Siegfried Marek in seiner Schrift Die Dialektik in der Philosophie der
Gege nw art, i . H albban d, Tübingen 1929, auf S. 131 die Darstellung des M arxschen
Naturbegriffs bei Lukäcs, wobei er mit Recht die Frage stellt, »ob das Sein der Natur
restlos als G esellscha ftspro du kt aufzufassen« sei.
37 D as Ka pital, Bd. I, S.' 186.38 A . a. O ., S. 47.
39 Vgl. dazu die Marxsche Kritik am Hegelschen Begriff des absoluten Wissens in dem
Pariser Manuskript Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt. Zur
Marxschen Kritik und Deutung von Hegels Phänomenologie vgl. besonders G. Lukäcs,
Der junge Hegel, Berlin 1954.
40 Eine Kritik, die freilich nicht nur am strengen H ege l der Phänom enologie gewon nen ist.
M arx hat es gerade während der Entstehungszeit seiner Theorie w eniger mit dem H ege l-
schen Idealismus selbst als mit seiner junghegelianischen Verzerrung zu tun. Bei Bruno
Bauer und seinem An han g w ie bei den »wahren Sozialisten« läßt sich die Tend enz nach
weise n, H egels »Geist« a u f ein bein ah e fich tisch gefa ßtes unendlich es Selb st bew ußts einzu reduzieren. So auch bei Karl Grün, dessen extremen Subjektivismus Marx und Engels
in der Deutschen Ideologie kritisieren, wo es auf S. 495 f. heißt: »Wir sehen hier übri-
gens, was die >wahren S o zia list en unter der »freien Tätigkeit« verstehen. Unser Verfasser
verrä t un s unvorsic htigerw eis e, daß sie die T ä tig k e it ist, die »nicht durc h die D in ge außer
uns bestimmt wird«, d. h. der actus purus, die reine, absolute Tätigkeit, die nichts als
Tätigkeit ist und in letzter Instanz wieder auf die Illusion vom »reinen Denken« hinaus-
läuft. Diese reine Tätigkeit wird natürlich sehr verunreinigt, wenn sie ein materielles
Substrat und materielles Resultat h a t. . . « D aß die an dieser Stelle kritisierte Position
nicht einfach m it der Hegelschen gleichzusetzen ist, l iegt auf der H and. Wenn auch M arx
in seiner Polemik gelegentlich den Hegelschen Idealismus ohne große Umstände mit demder Junghegelianer in einen T o p f wirft, so bleibt ihm letztlich doch die wesentliche D iffe-
renz des objektiven von den Spielarten des subjektiven Idealismus bewußt. So, wenn er
etwa in der H eiligen F am ilie au f S. 341 schreibt: »Es versteht sich endlich von selbst, daß, wen n H egels Ph än om enolo gie ih rer sp ekula tiv en Erbsünde zu m T ro tz an vie le n Punkte n
die Elemente einer wirklichen Charakteristik der menschlichen Verhältnisse gibt, Herr
Bruno und Konsorten dagegen nur eine inhaltslose Karikatur l iefern . . .«
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Spekulation kümmert sich weniger darum, daß das menschliche Wesen
sich in einer ihm selbst entgegengesetzten Weise verg egen ständ licht
Marx denkt hier an die reale Trennung der Arbeitsprodukte von ihren
Produzenten , sondern daß es »im Unterschied vom und im Gegensatz
zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und
als das aufzuhebende W esen der E ntfremd ung «41.
Im Gegensatz dazu besteht für Marx die Aufhebung der Entfremdungnicht in Philosophie, sondern im Sozialismus als der höchsten Gestalt
realer Vermittlung von Mensch und Natur, wobei deren Gegenständlich-
keit nicht einfach verschwindet, sondern das Äußerliche, Anzueignende
ble ib t, auch wenn es den Mensch en ad äqu at w ird. A rbeiten müssen die
Menschen immer: »Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche
A rbeit, ist die A rb eit daher eine von allen G esellschaftsfo rm en u nabhän-
gige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um
den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche
Leben zu vermitteln.«42
In stärkerem Maße noch bedient Marx sich im »Rohentwurf«43 des
41 Na tiona löko no m ie und Philosophie, S. 24 1, vg l. auch S. 244.42 D as Ka pita l, Bd. I, S. 47.
43 D ie unter dem Tite l Grundrisse der K ritik der politischen Ö kon om ie herausgebrachten
Vorarbeiten zu m ersten Band des K a p ita ls so wie zu der Schrif t Z u r K ritik der politisch en
Ökonomie aus den Jahren 1857—59 wurden bislang für das philosophische Marxver-
ständnis fast gar nicht herangezogen, obwohl sie gerade hinsichtlich der Beziehung von
Marx zu Hegel und — vermittelt durch Hegel — zu Aristoteles außerordentlich viel neues
M aterial enthalten. Entwicklun gsgesch ichtlich gesprochen, stellen sie das Bindeglied dar
zwischen den Pariser Manuskripten und der ausgebildeten materialistischen Ökonomie
des reifen Marx. Der Rohentwurf, der trotz seines teilweise fragmentarischen Charakters
zweifellos die philosophisch bedeutendsten Formulierungen von Marx enthält, macht
mehr noch als die endgültige Fassung des Kapitals selbst deutlich, daß gerade auch dasDenken des späteren Marx stärker von Hegelschen Positionen bestimmt ist als er selbst
W o rt habe n w ollte . Ein Stu diu m des R ohentw urf s kann insbes ondere zum A bbau derheute die Marxforschung erheblich belastenden Legende beitragen, nach der nur dasDenken des »jungen Marx« philosophisch von Interesse sei, während die spätere ökono-
mische Sachproblematik alle Impulse des realen Humanismus verschüttet habe. Ein
be so nd ers ch arak te ris tisch es Beis pie l fü r die unhaltbare These, d aß zw is ch en dem
Denken des jungen und des reifen Marx ein absoluter Bruch bestehe, liefert Ralf Dahren-
dorf in seiner Dissertation Marx in Perspektive, Hannover 1952, S. 165 f . Für Dahren-
do rf fällt das Marxsche W erk »in zwei durch keinen sinnvollen prinzipiellen Zusamm en-
hang verknüpfbare Teile« auseinander. Er unterscheidet eine »prophetische Geschichts-konzeption« der Frühzeit von den »sozialwissenschaftlichen Hypothesen« des mittleren
und reifen Marx. Dahrendorf übersieht, daß die wesentlichen Kategorien der MarxschenD ialektik gerade im Spätw erk en tfaltet werden und es für eine objektive Interpretation
nur darauf ankommt, sie aus ihrer ökonomischen Verkleidung herauszulösen. Indem die
offizielle Interpretation, Marx scheinbar ernstnehmend, auf dem »ethischen Kern«, dem
»existentiellen Anliegen« der Theo rie des jungen M arx insistiert, verba ut sie zugleich denBlick a uf die gerade hinsichtlich einer Verwirklichung des vom jungen M arx Gemeinten
be deu tsam e A naly se des Gesa m tp ro zesses kapit alisti scher Produktio n.
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»Kapitals« philosophischer Kategorien, w o er den unauflösbaren Zu sam -
menhang von Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Naturseins von
Menschen entfaltet.
In ihrer formgebenden und zweckmäßigen Tätigkeit gehen die Menschen
über die naturwüchsige, noch abstrakte Unmittelbarkeit des stofflichen
Daseins hinaus. G an z im Sinne Hegels versteht M arx die produ ktive
Tätigkeit zugleich als eine Konsumtion44, ein Verzehren, sowohl des bearbeiteten M ate ria ls als auch der T ä tig k e it selber. A rb e it ist die nic ht
nur gedankliche, sondern leibhaftige Negation des Unmittelbaren, eine
Negation, die ebensosehr Negation der Negation ist, insofern sich,
nachdem die Menschen theoretischpraktisch durch die Naturstoffe hin-
durchgegangen sind, deren materielle Gegenständlichkeit jeweils wieder-
herstellt.
Der Produktionsprozeß hat drei abstrakte Momente. Die Materie, die insich unterschieden ist in Rohstoff und Instrument, und die Form, welche
als Arbeit eine stoffliche Beziehung selber stofflicher Momente darstellt.
Nicht nur der bearbeitete Rohstoff, sondern auch das auf ihn angewen-
dete Instrument wird durch die Arb eit aus der M öglichke it in W irklich-
keit übersetzt und durch seine Beziehung zum Material aufgezehrt. Im
»neutralen Produkt«45 der Arbeit sind die drei Momente des Prozesses
ebensosehr vernichtet wie reproduziert: »Der ganze Prozeß erscheint
daher als p rod u ktive K onsum tio n , d. h. als Ko nsu m tion, d ie wed er im
N ichts endet, noch in der bloßen Subjektivierung des Gegenständlichen,
sondern die selbst wieder als ein Gegenstand gesetzt ist. Das Verzehren
ist nicht einfaches Verzehren des Stofflichen, sondern Verzehren des
Verzehrens selbst; im A u fheben des Stofflich en A ufheben dieses A u fh e-
bens und daher Setzen desselben. Die Form gebende (Gro ßschr . b. M .,
A . S.) T ätig ke it verzeh rt den G egensta nd und verzeh rt sich selbst, aber
sie verzehrt nur die gegebne Form des Gegenstands, um ihn in neuergegenständlicher Form zu setzen, und sie verzehrt sich selbst nur in ihrer
subjektiven Form als Tätigkeit. Sie verzehrt das Gegenständliche des
Gegenstandes — die G leichg ültigk eit gegen die Form — und das Sub jektive
der Tätigkeit, formt den einen, materialisiert die andre. Als P rod u kt ist
aber das Resultat des Produktionsprozesses Gebrauchswert.«46
44 V gl. dazu auch Das K apita l, Bd. I, S. 191. Z ur D ialektik von Kon sum tion und Pro du k-
tion vgl. besonders Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 244—249. Bemerkenswertist, daß sich Marx, wo er die Identität von Konsumtion und Produktion entwickelt, der
außermenschlichen Natur als eines Modells bedient. Auf S. 244 sagt er: »Die Konsum-
tion ist unmittelbar auch Pro duk tion, wie in der N atu r die Konsum tion der Elemente undder chemischen Stoffe Produktion der Pflanze ist.«
45 Ro hen tw urf, S. 208.46 A. a. O.
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A lle durch A rb e it angeeig neten N atu rsto ffe sind G ebrau chsw erte. A ber
nicht alle Gebrauchswerte sind angeeignete, das heißt menschlich vermit-
telte Naturstoffe. Luft, Wasser und dergleichen sind wie alle Natur ohne
Zutun des Menschen vorhanden. Ihr für den Menschen nützlicher
Charakter verdankt sich jedoch keiner Arbeit. Im allgemeinen ist das
A rbeitsm ittel, das Produktio nsinstrum ent, »ein D in g oder ein K om ple x
vo n D ingen, die der A rb eiter zw is chen sich und den Arbeits gegenstandschiebt, und die ihm als L eit er seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand
dienen«47, selber bereits Gebrauchswert, eine »Verbindung von
N atu rst o ff und menschlicher Ar be it«48. D a aber ursprüng lich der Arb eits-
prozeß nur zwischen den Menschen und der Erde als dem »allgemeinen
Gegenstand »49 der Arbeit vonstatten geht, gehen in ihn immer auch
Produktionsmittel ein, die nicht schon selber Produkte sind, also keine
V erbindun g des N atu rstoffs m it m enschlicher Z u tat darstellen, obw ohl
alle Natur einzig im jeweiligen historischen Rahmen gesellschaftlicher
Prozesse bedeutsam wird. Sie bringen Gebrauchswerte hervor, ohne
zugleich Tauschwerte hervorzubringen.
A lle A rb e it hebt dam it an, die D in ge v o n ihrem »unm itte lb aren Zu sam -
m enhang mit dem Erd gan zen loszulösen«50, H o lz zu fällen, E rz aus
seiner Ader zu brechen. Die meisten Arbeitsgegenstände, mit denen es
die Menschen zu tun haben, sind jedoch durch frühere Arbeit bereits »fil-
triert«51. Sie sind »Rohmaterial«. Die Rohmaterialien können nunals »Hauptsubstanz« oder als »Hilfsstoff«52 zur Bildung eines Produkts
beitragen. O b ein G ebrau chsw ert als R ohm aterial, A rbeit sm ittel oder
Produkt fungiert, hängt ganz von der Rolle ab, die er im Arbeitsprozeß
spielt.
Z u seiner eigentlichen Bestim m ung gelangt ein G ebrau chsw ert, indem er
negiert w ird. In der K on sum tion b ew ährt er sich. W ird er als bereits bear-
beiteter S to ff w eiteren P rodu ktion sp rozessen zu gefü h rt, so erw eist er sichals ein gleichsam noch >unwahres Dasein< der Natur für den Menschen,
als ein noch nicht genügend mit ihm Vermitteltes, seinen Bedürfnissen
noch nicht hinreichend Angemessenes. Die in ihm bereits vergegenständ-
lichte, dinghaft erstarrte Arbeit wird, sofern der Stoff, in den sie einge
47 D as Ka pital, Bd. I, S. 187. V gl. dazu auch S. 189, wo M arx ausdrü cklich sagt: »W as aber
die A rbeit sm itte l insbesondere betrifft, so zeigt ihre ungeheuere Me hrzah l dem ob erfläch-lichsten Blick die Spur vergangner Arbeit.«
48 A . a. O ., S. 192.
49 A . a. O ., S. 186.
50 A. a. O.
51 A . a. O .
j2 A . a. O ., S. 189.
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gangen ist, weiterer Bearbeitung unterworfen wird, wieder verlebendigt,
w obei die alte verm ittelte U n m ittelb arkeit, sich in neuen, re ichere n
Gebrauchswerten53, »vermittelteren Unmittelbarkeiten« aufhebt,
in ihnen untergeht: »Die lebendige Arbeit muß diese Dinge ergreifen, sie
von den Toten erw ecken, sie au s nur m öglichen in w irklich e und
w irkende G ebrauchsw erte verw andeln . V om Feuer der A rb e it beleckt,
als Leiber derselben angeeignet, zu ihren begriffs und berufsmäßigenFunktionen im Prozeß begeistet, werden sie zwar auch verzehrt, aber
zweckvoll, als Bildungselemente neuer Gebrauchswerte, neuer Produkte,
die fähig sind als Lebensmittel in die individuelle Konsumtion oder als
Prod uktionsm ittel in neuen Arb eitspro zeß einzugehen.«54
V erzeh rt die in dividuelle K on su m tion die G ebrau chsw erte als L ebens-
mittel des lebendigen Individuums, so verzehrt sie die produktive
Konsumtion als »Lebensmittel der Arbeit, seiner sich betätigenden A rb eitskraft«55. U m die P ro d u k te vergangener A rb e it in ih rem din gli -
chen Sein als Gebrauchswerte zu erhalten, ist es erforderlich, daß sie
w eiterhin in K o n ta k t m it lebendig er A rb eit stehen, d aß sie als Resultate
wie E xistenzbedingun gen des Arbeitsprozesses in ih n »hin ein gew or-
fen«56 werd en, wie M ar x sich ausdrü ckt.
W erden die in einem G ebrau chsw ert steckenden M öglich keiten w eder im
Sinne individueller noch produktiver Konsumtion realisiert, wird er also
nicht im Dienste menschlicher Zwecke benutzt, so fällt er dem »natürli-
chen Stoffwechsel«57 anheim. Die sich auf der Basis der ersten erhebende
zweite, künstliche, vermenschlichte Natur verwandelt sich in erste Natur
zurück, die »Umsetzung« der Naturstoffe durch Menschen wird durch
die zerstörende Kraft außermenschlicher Natureinflüsse rückgängig
gemacht. Jeder Autofriedhof bestätigt den Marxschen Gedanken, daß
»die beständige Auflösung des Individualisierten (das heißt hier mensch-
lich Angeeigneten, A. S.) in das Elementarische ebensosehr ein Momentdes Naturprozesses ist, wie die beständige Individualisierung des Ele
mentarischen«58.
53 V gl. auch Ro hen twu rf, S. 267.54 D as K apital, Bd. I , S. 191. D ie Weiterverarbeitung vo n Gebrauchswerten, die
fortgesetzte Umwandlung der mineralischen, pflanzlichen, tierischen und menschli-chen Natur — als Resultat wie Bedingung der Veränderung der außermenschlichen —
kann sich über größ ere Zeiträu m e erstrecken. D azu heißt es au f S. 189: »Tiere und Pflan -
zen, die man als Na turp rod uk te zu betrachten pflegt, sind nicht nur Produkte vielleicht
der Arbeit von vorigem Jahr, sondern, in ihren jetzigen Formen, Produkte einer durch vie le G enerati onen, unte r m en sc hlicher K on tr olle, verm itt els t m en sc hlicher A rb eit fo rt-
gesetzten U mw andlung.«5 5 A . a. O ., S. 192.
56 A. a. O., S. 191.57 A. a. O.
58 Ro hen twu rf, S. 11 6.
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M arx deutet diesen natürlichen Z erfa ll der nich t zu m enschlichen
Zwecken negierten Gebrauchswerte noch auf eine andere, philosophisch
nicht minder relevante Weise. Bei unseren seitherigen Erörterungen
haben w ir imm er wieder angeführt, da ß für M arx die Gebrauchswerte
V erbin dungen von zw ei Elem ente n sind, vo n N a tu rs to ff und form ieren-
der Arbeit. Zwar hat die Natur »schlummernde Potenzen«59, zwar sind
die ihr eigenen Formen menschlicher Formierung zugänglich, doch wird bei M arx der N a tu r und M ateriebegriff, den der vorm enschlichen N a tu r
miteingeschlossen, nicht in ein »halbmythisches Na turs ub jekt« 60 ver w an -
delt, wodurch er zur Hegelschen Identität von Subjekt und Objekt
zurückkehrte, die er doch gerade materialistisch kritisiert. Das Weltma-
terial Natur, Subjekt wie Objekt der Arbeit umfassend, ist kein homo-
genes Substrat. Das Moment ihrer Nichtidentität hält sich, gerade auf
G run d der Arbeit, die doch andererseits Sub jekt und O bje kt auch verbin-det, unter allen gesellschaftlichen Bedingungen durch. Was die physische
Natur selbst angeht, so kann nur eine eschatologisch orientierte Meta-
physik wie die Blochsche davon sprechen, »daß ihr Bedeutungsgehalt. . .
in der Zeit noch nicht erschienen« sei, daß er »gleich dem der Menschen
noch in utopischer Latenz«61 stehe.
Nichtidentität von Subjekt und Objekt bedeutet, bezogen auf das hier
diskutierte Problem, daß die menschliche Form den Naturstoff gegen-
über gleichgültig, äußerlich bleibt, was sich eben dann besonders bem erkbar m acht, w enn ein G ebrau chsw ert dem natürlichen Z e rfa ll aus-
gesetzt wird.
Marx hebt diese Gleichgültigkeit von Form und Stoff energisch hervor,
w obei er a u f den U nterschied der naturw üchsig en G eform th eit des S tof-
fes, von der alle Arbeit auszugehen hat, von seinen menschlich vermit-
telten Formbestimmtheiten zu sprechen kommt: »Aus (der) bloß verge-
genständlichten Arbeitszeit, in deren dinglichem Dasein die Arbeit nurnoch als verschwundene, als äußerliche Form ihrer natürlichen Substanz
besteh t, die die se r Substanz selbst äußerlich is t (z. B. dem H o lz die Form
des Tisches, oder dem E isen die Form der W alze ), als blo ß existierend in
der äußren Form des Stofflichen, entwickelt sich die Gleichgültigkeit des
Stoffs gegen die Form; sie erhält sie durch kein lebendiges, immanentes
Gesetz der Re produ ktion, wie der Baum z. B. seine Form als Baum erhält
(das H o lz erh ält sich als Baum in bestimm ter Form , w eil diese Form eine
Form des H olzes ist; während die Form als Tisch dem H o lz zu fäl l ig ist,
59 D as K ap ital, Bd. I, S. 185.
60 Vg l. Ernst Bloch, D as Prinzip Hoffnu ng, Bd. II, Berlin 19 55 ,8. 244 f.
61 A . a. O ., Bd. III, Berlin 1959, S. 391.
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nicht die immanente Form seiner Substanz), sie existiert nur als dem
Stofflichen äußre Form, oder sie existiert selbst nur Stofflich. (Großschrb.
b. M ., A . S.) D ie A u flösu n g, der ih r S to ff daher ausgesetz t ist, lö st sie
ebenso auf.«62
Indem der Gebrauchswert sich auflöst, geht das seinem Stoff mitgeteilte
A rbeitsquantum verlo ren.
Freilich handelt es sich hierbei um eine bloß relative Gleichgültigkeit der
Form gegenüber dem Stoff. In dem schon oben erwähnten Fall, daß ein
Produkt aus Naturstoff und Arbeit weiteren Arbeitsprozessen einverleibt
w ird, is t es kein esfalls gle ich gü lt ig, w ievie l und welche A rb eit es bereits
in sich birgt: »Das Quantum der vergegenständlichten Ar be it wird erhal-
ten, indem ihre Q ua lität als Gebrauchswerte fü r fernere Arb eit erhalten
w ir d durch den K o n ta k t m it der lebendig en A rbeit.« 63
Ist für den einfachen Produktionsprozeß charakteristisch, daß in ihm diequalitative Bestimmtheit der bereits verausgabten Arbeit erhalten bleibt,
so erweist sich dieses Erhalten im Verwertungsprozeß zugleich als ein
Erhalten des Arbeitsquantums. Zwar fügt lebendige Arbeit der bereits
vergegenständlichten neues A rbeit squantu m hin zu. A b er es ist nic ht das
hinzutretende Arbeitsquantum, wodurch das vergegenständlichte erhal-
ten wird, sondern die Qualität der Arbeit als lebendiger Arbeit über-
haupt. Dem Produkt hinzugefügt, hebt sie die an ihm bestehende Gleich-
gültigkeit von Form und Stoff auf: »Die vergegenständlichte Arbeit hört
auf tot an dem Stoff als äußre, gleichgültige Form zu existieren, da sie
selbst wieder als Moment der lebendigen Arbeit gesetzt ist; als Beziehung
der lebendigen Arbeit auf sich selbst in einem gegenständlichen Material,
als Gegenständlichkeit lebendiger Arbeit (als Mittel und Objekt) (die
gegenständlichen Bedingungen der lebendigen Arbeit). Indem so die
lebendige Arbeit durch ihre Verwirklichung im Material dieses selbst
verändert, eine V eränderu ng, die durch den Z w eck der A rb eit bestim m tund die zweckmäßige Tätigkeit derselben — (eine Veränderung, die nicht
w ie im to ten G egensta nd das Setz en der Form als äußerlich dem Stoff,
b lo ßer verschw in dender Schein seines Bestehens), — w ir d das M ateria l so
in bestimmter Form erhalten, der Formwechsel des Stoffs dem Zweck der
A rb eit unterw orfe n. D ie A rb e it is t das lebendig e, gesta ltende Feuer; die
V ergän gli chkeit der D in ge, ih re Z eitlich keit, als ih re Form ung durch die
lebendige Zeit.«64
62 Rohentwurf, S. 265.
63 A. a. O., S. 268.64 A. a. O., S. 265 f.
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V o n Stufe zu Stufe n im m t der bearbeitete S to ff im Produ ktion sprozeß
eine dem menschlichen Konsum nützlichere Form an, »bis er zuletzt die
Form erhalten, worin er direkt Gegenstand desselben werden kann, wo
also die Aufzehrung des Stoffs und die Aufhebung seiner Form menschli-
cher G enu ß w ird, seine Verän deru ng sein G ebrau ch selbst ist«6S.
Die höchste Form der Vermittlung des Stoffs ist zugleich die höchste
Form seines unmittelbaren Daseins als eines Gebrauchswerts für dieMenschen. Soweit menschliche Arbeit es vermag, verwandelt sie das An-
sich der N atu r in ein Füruns.
B ) D er B e g r iff des Stoffw echsels von M ensch und Natur:
historische Dialektik und »negative* Ontologie
Sieht der von Feuerbach und der Romantik bestimmte Marx der Pariser
Manuskripte in der Arbeit einen Prozeß fortschreitender Humanisierung
der Natur, einer Humanisierung, die zusammenfällt mit der Naturalisie-
rung des Menschen, in der von Arbeit geprägten Geschichte also die sich
immer deutlicher herstellende Gleichu ng Naturalism us = H um anis-
mus66, so bedient sich der w eitaus kritischere M ar x der ökon om ischen
A n aly se, w o er den z w a r veränderlichen, aber im G ru nd e unaufhebbaren
Kampf der Menschen mit der Natur erörtert, des naturwissenschaftlichgefärbten, aber deshalb nicht weniger spekulativen Terminus »Stoff-
wechse l« . D ie ser Stoffw echsel ist an die den M ensc hen vorgegebenen
Naturgesetze gebunden. Alle Formierung des Naturstoffes muß den
materialeigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. »Der Mensch kann in
seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, das heißt nur die
Form en der Stoffe ändern .«61 Darüber hinaus geht auch die Formierung
selbst nicht ohne Unterstützung durch Naturkräfte vonstatten, zu denenMarx auch die tätigen Subjekte rechnet.
Indem die M enschen die im N atu rm ate rial »schlumm ernden Potenzen «68
entbinden, »erlösen« sie es: das tote Ansich in ein lebendes Füruns
verw andeln d , verlä n gern sie gle ic hsam die Reih e der vo n der N atu rg e-
schichte hervorgebrach.ten Gegenstände und setzen sie auf einer qualita-
tiv höheren Stufe fort. Durch menschliche Arbeit hindurch treibt die
Natur ihren Schöpfungsprozeß weiter. Die umwälzende Praxis gelangt
65 A . a. O ., S. 226.
66 N ationalöko no m ie und Philosophie, S. 181.67 D as K ap ital, Bd. I, S. 47.68 A . a. O ., S. 185.
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so zu einer nicht nur gesellschaftlichen, sondern auch »kosmischen«69
Bedeutung.
Es ist außerordentlich bemerkenswert, daß hier, wo Marx menschliche
A rb e it als F orm verän deru n g der M aterie gem äß ih rer G esetzm ä ß ig-
keit70 bezeichnet, er zugleich einen ganz allgemeinen philosophischen
Sachverhalt im Auge hat: die Welt ist in bestimmten Formen sich bewe-
gende Materie. Daß Marx mit Engels71 in dieser Frage zumindest inabstracto einig ist, geht schon daraus hervor, daß er zur Erhärtung seiner
oben zitierten Ansicht, daß der Mensch sich in der Produktion nur so
verhalten könne w ie die N a tu r selbst, das 1773 erschienene W erk »M edi
tazioni sulla Economia Politica« des italienischen Ökonomen Pietro
V erri heranzie ht. Bei V erri heiß t es: »Alle Erschein ungen des W eltalls,
seien sie hervorgerufen von der Hand des Menschen oder durch die allge-
meinen Gesetze der Physik, sind nicht tatsächliche N euschöpfungen, son-dern lediglich eine Umformung des Stoffes. Zusam m ensetzen und Tren
nen sind die einzigen Elemente, die der menschliche Geist immer wieder
bei der A n aly se der V orstellu ng der R eproduktion findet; und eben so
verh ält es sich m it der R eprodu ktion des W e r t e s .. . und des Reichtu m s,
wenn Erde, L u ft und W asser a u f den Feld ern sich in K o rn verw andeln ,
oder auch wenn sich durch die H an d des Menschen die Absche idun g eines
Insekts in Seide verwandelt, oder einige Metallteilchen sich anordnen,
um eine Repetieruhr zu bilden.«72So wie die von Menschen unabhängigen Naturprozesse ihrem Wesen
nach stofflichenergetische Umsetzungen sind, so fällt auch die menschli-
che Produktion aus dem Naturzusammenhang nicht heraus. Natur und
69 Vgl. dazu Roger Garaudy, La theorie materiaüste de la connaissance, Paris 1953, S. 301. DerGedan ke einer solchen »kosmischen« D imen sion des menschlichen Tuns läßt sich bis zur alchi-
mistischen Transmu tationslehre der Renaissancephilosophen, einer noch magischen K eimform
moderner Naturbeherrsch ung, zurü ckver folgen. D er Mensch treibt das in der W elt Ang elegte zuseinem Ende. So heißt es etwa bei Paracelsus: »Denn die N atur ist so subtil und so scharf in ihren
Dingen, dass sie ohne gr oße Kunst n icht will gebraucht werden: Denn sie gibt nichts an Tag, das
auf sein Statt vollendet sei, sondern der Mensch muß es vollenden: diese Vollendung heisset
Alchim ia.« In: Paracelsus, seine W eltschau in W orten des W erke s, herau sgegeben vo n E. Jaeckle,Zürich 1942, S. 83.
70 Freilich kann menschliche Praxis nur so verfahren, wie die Natur selber, nämlich die
Formen ihrer Stoffe ändern. Jedoch konnte M arx nicht ahnen, daß es dem zw anzigsten
Jahrhundert Vorbehalten sein sollte, die Wirksamkeit von an sich in der Natur enthal-
tenen Energien ins Ungeheuerliche zu steigern. Der künstlich herbeigeführte Zerfall
radioaktiver Elemente geht zwar nur auf der Basis des natürlichen vonstatten, stellt aberihm gegenüber eine durchaus neue Q ua lität dar.
7 1 So bemängelt die Feue rbachsch rift au f S. 24 am alten M aterialism us dessen U nfäh igke it,
»die Welt als einen Prozeß, als einen in einer geschichtlichen Fortbildung begriffenenSto ff aufzufassen«.
72 Pietro Verri, in der Au sgabe der italienischen Ökon om en von C usto di, Parte M oderna,
Bd. X V , S. 22. Bei M arx zitiert im K apita l, Bd. I, S. 47 f., Fuß note 13.
75
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Gesellschaft sind einander nicht starr entgegengesetzt. Der gesellschaft-
lich tätige Mensch »tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht
gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und
Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in
einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er
durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert,
verändert er zugle ich seine eig ne N atu r.« 73
Der Stoffwechsel hat zum Inhalt, daß die Natur humanisiert, die
Menschen naturalisiert werden. Seine Form ist jeweils historisch
best im m t. D ie A rbe itskraft, je ner in »mensch lich en O rgan ism us um ge-
setzte Naturstoff«74, betätigt sich an außermenschlichen Naturstoffen;
Natur setzt sich mit Natur um. Wie die Menschen ihre Wesenskräfte den
bearbeitete n N atu rd in gen ein verle ib en, so gew in nen um gekehrt die
Naturdinge als im Laufe der Geschichte immer reicher werdendeGeb rauch swerte eine neue gesellschaftliche Q ua lität.
Daß die Dinge zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse qualitativ ver-
ändert werden, das eben will Marx mit dem Terminus »Bewegung (des
Menschen, A. S.) auf die Natur« ausdrücken. Bewegung, diese wesentli-
che Kategorie dialektischen Denkens, ist für den dialektischen Materia-
lismus im Unterschied zum mechanischen »nicht bloß Ortsveränderung,
sie ist auf den übermechanischen Gebieten auch Qüalitätsverände
rung«75.
Zwar unterscheiden sich die angeeigneten Naturstoffe qualitativ von den
menschlicher Tätigkeit noch nicht unterworfenen. Zugleich aber muß
beachte t w erden, d aß die ingeniö sesten m enschlichen E rfindungen ver-
wiesen sin d a u f das, w as die N atu rbasis der M ö glich keit nach in sich
b irgt. N u r von ihr aus kann das vo n V erri angefü hrte »U m form en«, »das
Zusammensetzen und Trennen« erfolgen, können quantitative Verände-
rungen zu qualitativen führen. Die Natur ist und bleibt dasjenige,»womit und worin er (der Arbeiter, A. S.) allein seine Arbeit verleibli
chen kann.«76
Mit dem Begriff des »Stoffwechsels« leitet Marx ein völlig neues
V erständnis der m enschlichen Beziehung zu r N a tu r ein. M it der A u fk lä -
rung, wie sie namentlich seit Bacon in diesem Punkt sich entfaltet hat,
teilt er zunächst die Ansicht, daß Natur wesentlich unter dem Gesichts-
punkt des menschlichen Nutzens betrachtet werden müsse. Den Begriff
73 D as Kap ital, Bd. I, S. 185.
74 A. a. O., S. 233, Fußnote 27.
75 D ialektik der N atu r, S. 269.
76 D as Ka pita l, Bd. I, S. 200.
76
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Leb ens «79*, das selbst ein Stü ck N at u r ist, und da m it als deren S elbstb ew e-
gung.
Einzig so läßt sich sinnvoll von einer »Dialektik der Natur« sprechen.
Der Naturdialektiker Marx bleibt nicht bei dem vormenschlichen Natur-
sein un d seiner Geschichte kon tem plativ stehen hierin ist sonderbarer-
weise Engels a u f w eite Strecken m it dem von ih m sonst so scharf kriti-
sierten Feuerbach einig , betrachtet die Wirklichkeit nicht nur »unter
der Form des Objekts«80, aber bei aller Anerkennung Hegels auch nicht
nur »unter der Form des Subjekts«, sondern hält an der Unauflöslichkeit
der Momente ineinander fest. Das Bewußtsein dieser Unauflöslichkeit
macht überhaupt den Kern seines Materialismus aus81. Im Gegensatz
zum Hegelschen wird das Marxsche SubjektObjekt nie ganz ins Subjekt
hineingenommen.
W as oben die in M arx angelegte N atu rsp eku latio n gen annt w orden ist,stellt nichts anderes dar als den sein gesamtes Werk durchziehenden
Versuch, in im m er neuen und zum T eil m erkw ürdig b io lo gis chen M eta-
phern die wechselseitige Verschränkung von Natur und Gesellschaft
innerhalb des naturalen Ganzen auf ihren angemessenen Begriff zu brin-
gen. Den im »Kapital« sich identisch durchhaltenden Ausdruck »Stoff-
wechsel« schein t M arx schließlich fü r die beste Form ulierung des Sach-
verhalts gehalten zu haben .
In den Pariser Manuskripten erscheint Natur im Anschluß an Hegels
»Ph änom enologie des Geistes« als »der unorganische Leib des Menschen,
näm lich die N atu r, sow eit sie nicht selbst m ensch licher K ör p er ist«82. Sie
ist sein Leib, »mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht
zu sterben«83. Wie der Vorgang der Assimilation in der belebten Natur
überhaupt das Unorganische in ein Organisches verwandelt, so assimi-
liert sich der Mensch in der Arbeit jenen »unorganischen Leib«, macht
ihn aber mehr und mehr zu einem »organischen« Bestandteil seinerselbst. Das aber ist ihm nur möglich, weil er unmittelbar selbst zur Natur
gehört, die keineswegs bloß eine seiner Innerlichkeit gegenüberstehende
A u ßen w elt ist: » D aß das physische und geis tige Leben des M enschen mit
der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur
79a Das K apital, Bd. I, S. 192.
80 Erste The se über Feuerb ach. In: Ub er Relig ion , S. 54.81 Zu m Problem eines dialektischen un d zu gleich m aterialistischen D enken s vgl.
Th. W . Ado rno , Zu r Me takritik der Erkenntnistheorie, Stu ttgart 1956, wo es au f S. 193heißt: »Die theoretische Grenze gegen den Idealismus liegt nicht im Inhalt der Bestim-
mung ontologischer Substrate oder Urworte, sondern zunächst im Bewußtsein der Irre
duktibilität dessen was ist, auf einen wie immer gearteten Pol der unaufhebbaren Diffe-renz.«
82 N ation alök on om ie und Philosophie, S. 148.83 A . a. O., vgl. dazu auch D ialektik der N atu r, S. 191.
78
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zu den objektiven Bedingun gen der Arbeit, und zun ächst den natürlichen
— objektiven Bedingungen der Arbeit — denn, wie das arbeitende Subjekt
natürliches Individuum, natürliches Dasein — erscheint die erste objektive
Bedingung seiner Arbeit als Natur, Erde, als sein unorganischer Leib; es
selbst ist nicht nur der organische Leib, sondern diese unorganische Na tur
als Subjekt .«92
Daß der Mensch ans Vorgefundene natürliche Dasein gekettet ist wie anseinen Leib, ist hier nicht mehr kennzeichnend für den Arbeitsprozeß
schlechthin, sondern für seine vorbürgerlichen Formen. Sklaverei und
Leibeigenschaft kennen im Grunde keine Trennung der Arbeit von ihren
naturgegebenen Voraussetzungen. Beide Momente verschmelzen zu
einer undifferenzierten Natu rbasis für die Existenz des Sklavenhalters
oder Feudalherrn: »Der Sklave steht in gar keinem Verhältnis zu den
objektiven Bedingungen seiner Arbeit; sondern die A rb e it selbst, sowohl
in der Form des Sklaven, wie der des Leibeignen, wird als unorganische
Bedin gung der Produktion in die Reihe der andren Naturwesen gestellt,
neben das Vieh oder als Anhängsel der Erde.. . Diese natürlichen
E xis tenzbedin gungen, zu denen er sich als zu ihm selbst gehörigem, unor-
ganischem Leib verhält, sind selbst doppelt; i. subjektiver und 2. objek-
tiver Natur. Er findet sich vor als Glied einer Familie, Stammes, Tribus
etc.........als solches Glied bezieht er sich auf eine bestimmte Natur ... als
unorganisches Dasein seiner selbst, als Bedingung seiner Produktion undReproduktion.«93
Diese ursprüngliche und gerade deshalb abstrakte Identität des Men-
schen mit der Natur, die so weit geht, daß der Mensch nicht nur als eine
W eise des organis chen D asein s der N a tu r au ftritt, sondern die N atu r
umgekehrt auch als »unorganisches Dasein seiner selbst«94, geht mit dem
Entstehen bürgerlicher Produktionsbedingungen über in ihr ebenso
abstraktes Gegenteil: die radikale Scheidung der Arbeit von ihren objek-
tiven Naturbedingungen. Soweit die Einheit von Mensch und Naturstoff
in Gestalt von Gebrauchswerten auch noch unter bürgerlichen Verhält-
nissen erhalten bleibt, ist sie für Marx eine Selbstverständlichkeit und
nichts der Erklärung Bedürftiges, eben weil sie »den disparatesten
Produktionsepochen gemeinsam«95 ist. Was die Kritik der politischen
Ökonomie interessiert und erklären will, ist die erwähnte und nur für die
92 Ro hen twu rf, S. 388; Sperrung in den letzten beiden Zeilen vom Verfasser.93 A .a .O ., S. 389.
94 A . a . O . , S . 763.
95 A .a .O ., S. 389.
80
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bürgerliche G esellsch aft typis che »Trennung zwischen diesen unorgani-
schen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein,
eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von
Lohnarbeit und Kapital«96.
Unterm Kapitalismus scheidet der Arbeiter als objektive Bedingung der
Produktion aus, wodurch er sich zu dieser erst im eigentlichen Sinne »ver-
hält«, was beim Sklaven und Leibeigenen als eines bloßen Akzidens derErdmaterie nicht der Fall ist. Der Kapitalist eignet sich den Arbeiter
nicht unmittelbar als Naturding, sondern vermittelt durch den Tausch als
Träger abstrakter Arbeit an. Der Arbeiter wird so ein »objektivloses, rein
subjektives Arbeitsvermögen«97, das in den entfremdeten dinglichen
Voraussetzungen der A rb e it »als für sich seiendem W ert«98 seine N e g a -
tion erblickt.
Marx schildert hier eine bedeutsame Seite der in der Literatur vieldisku-tierten Dialektik des Übergangs von der antikfeudalen zur bürgerlichen
Ära: solange die N a tu r agrarisch angeeig net w ird, also ein von den
Menschen schlechterdings Unabhängiges ist, sind diese mit ihr abstrakt
identisch, versinken sie sozusagen im naturalen Sein; wo es ihnen
dagegen gelingt, die Natur allseitig technischökonomisch und wissen-
schaftlich zu beherrschen, indem sie sie in eine Maschinenwelt verwan-
deln, erstarrt sie zu einem abstrakten, den Menschen äußerlichen An
s ich" .
Von hier aus lä ß t sich auch ein B lick w erfe n a u f das an anderer Stel le zu
behandelnde U top iep roblem : die ric htige G esellschaft w äre ein Prozeß,
in dem die Menschen weder mit der Natur einfach in eins zusammen-
fallen n och vo n ihr r ad ika l geschieden sind 100.
Es wurde oben gesagt, d aß die Analyse der Trennun g von Loh narbeit und
Kap ital bei M arx hinau släuft a uf die des Tauschwertcharakters der W are,
der gegenüber ihrem Gebrauchswert gleichgültig ist. Der besonderenBlickrichtung dieser Analyse auf die Warenform der Arbeitsprodukte
unter bürgerlichen Produ ktionsverhältnissen m ag auch der bei dem D ia -
lektiker Marx merkwürdige Umstand zuzuschreiben sein, daß er überall
dort, wo er den Arbeitsprozeß als Stoffwechsel zwischen Mensch und
Natur beschreibt, sich mit einer Aufzählung seiner abstrakten, weil für
alle Produktionsstufen zutreffenden Momente »zweckmäßige Tätigkeit
oder Arbeit«, »Gegenstand«, »Mittel«101, begnügt und von seiner jewei
96 A . a. O ., S. 397.97 A. a. O.
98 A . a. O .
99 Vg l. zu dieser Pro blem atik das III. Kap itel.100 Vg l. dazu das IV. Ka pitel.
101 D as K ap ital, Bd. I, S. 186.
81
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ligen geschichtlichen Bestimmtheit absieht. Sofern die Arbeit als Erzeu-
gerin von Gebrauchswerten auftritt, ist sie für Marx »eine von allen
Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen
ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und
Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.«102
W enn M arx sagt, d aß die allgem ein e N a tu r der Produ ktion von
Gebrauchswerten dadurch nicht geändert werde, daß sie im Dienste desKapitalisten vonstatten geht, und deshalb den Arbeitsprozeß »unabhän-
gig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form«103 als einen Prozeß
betrachtet, »worin der M ensch seinen Stoffw echsel m it der N a tu r durch
seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert«104, so heißt das noch
lange nicht, daß für Marx »die allgemeinsten Strukturen des Menschen
und der Arbeit übergeschichtlich, zeitlos sind«105, wie der diese Stelle
interpretierende Thomist Marcel Reding meint, der den dialektischen
Materialismus als Ontologie versteht.
Der Wechsel der geschichtlichen Phasen ist gegenüber der Beschaffenheit
der Momente des Arbeitsprozesses keineswegs schlechthin gleichgültig.
Marx besteht in der »Kritik der politischen Ökonomie« darauf, daß alle
Bearbeitung der Natur nur »innerhalb und vermittelst einer bestimmten
Gesellschaftsform«106 sich abspielt. Das Denken fixiert zwar allgemeine
Bestimmungen, die allen ökonomischen Formationen gemeinsam sind,
»aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sindnichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche
geschichtliche Prod uktion sstufe begriffen ist«107.
Das Allgemeine, soweit es mehr ist als eine für die Forschung zweckmä-
ßige Abbreviatur, ist bei Marx stets ein »Konkretum« im Hegelschen
Sinne. Es birgt eine Fülle besonderer Bestimmtheiten in sich108. Wenn
Marcel Reding behauptet, Marx erkläre die »Struktur der Arbeit und des
arbeitenden Menschen«109 für invariant, so verliert er damit das ebenso
w ichtige M om ent des H is toris chen, ohne w elches seine Aussage arm und
leer bleibt. An einem sehr eindringlichen Beispiel läßt sich zeigen, wie
ernst Marx die historische Dialektik von Identität und Nichtidentität der
Menschennatur nimmt. Geschichte ragt selbst in die physiologische
Struktur des Menschen hinein: »Hunger ist Hunger, aber Hunger, der
102 A . a. O ., S. 47.
103 A. a. O., S. 185.104 A. a. O.
105 M arcel Red ing, D er politische Atheism us, G ra z 195 7, S. 92.
106 Zu r K ritik der politischen Ökon om ie, S. 241.107 A. a. O., S. 242.
108 V gl. daz u a. a. O ., S. 237.
109 Marcel Reding, a. a. O., S. 92.
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durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegessnes Fleisch befriedigt, ist
ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und
Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern
auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produ-
ziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv.«110
Die Menschennatur, dieses »Ganze von Bedürfnissen und Trieben«111, ist
nur als ein historischer Prozeß zu begreifen, in dem nicht etwa einkonstanter und ein variabler Bestandteil unvermittelt nebeneinander
bestehen, so ndern in dem das Beso ndere das Leben des A llgem ein en
ausmacht112. Das menschliche Wesen entspringt jeweils einer bestimm-
ten Gesellschaftsform, es ist »kein dem einzelnen Individuum innewoh-
nendes Abstraktum«, sondern »das Ensemble der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse«113.
Marx ist kein positiver Ontologe. Und doch ist das angeführte ontologi-
sche Mißverständnis Redings kein Zufall. Ihm kommt das bei Marx gele-
gentl ich nicht ganz explizierte Verhältnis von Nominalismus und
Begriffsrealismus entgegen, wie es sich in seiner Behandlungsweise des
Verhältnisses allgem ein er und beso nderer G esetzm äßigkeit im G eschic hts-
verlau f w id erspie gelt . So w ird auch in einem A u fsatz A d orn os, der
darauf hinweist, daß selbst die dialektische Theorie über Comtes Unter-
scheidung von sozialer Statik und Dynamik nicht ganz hinaus ist,
festgestellt: »Er (Marx, A. S.) konfrontiert die invarianten Naturgesetzeder Gesellschaft mit den spezifischen einer bestimmten Entwicklungsstu-
fe, >den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftli-
chen Antagonismen mit den >Naturgesetzen der kapital istischen Pro-
duktion^«114
Hiernach unterscheidet Marx zwischen den für eine Gesellschaftsforma-
tion allgemein geltenden Gesetzen und ihren mehr oder weniger entfal-
teten Erscheinungsformen. Er fixiert darüber hinaus in noch einschnei
i io Zu r Kr itik der politischen Ök on om ie, S. 246.
i n R oh entw urf, S. 157.112 Zu r geschichtlichen Bestim mth eit der M enschenn atur vg l. auch die zahlreichen und für
das Marxverständnis äußerst wichtigen Stellen im Rohentwurf. Vgl. ferner Vernon
Venable , H um an N a tu re: T h e M a rxian V iew , N . Y . 1945, eine m ateria lr eic he D isserta -
tion, die allerdings die Pariser Manuskripte und den Rohentwurf außer Betracht läßt.
Zum Verhältnis von Triebstruktur und Sozialgeschichte äußert sich Ernst Bloch bei
seinem Versuch einer marxistischen D eutun g der Psychoanalyse. In: Das P rinzip H o ff-nung, Bd. I, Berlin 1954, S. 80 ff.
113 Sechste These über Feuerbach . In: U ber R eligion, S. 55.
114 Th. W. Adorno, Uber Statik und Dynamik als soziologische Kategorien. In: Soziologica
II, Frank furter Beiträge zur So ziologie, Bd. 10, S. 237, FN 21. V gl. K arl M arx, D as
Kapital, Bd. I , Buch 1, Vorwort zur 1. Auflage, zitiert nach der von Friedrich Engels
herausgegebenen 10. Auflage, Hamburg 1922, S. IV.
83
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denderer Weise den Stoffwechsel von Mensch und Natur in seinen
abstrakten Momenten als »ewige Naturnotwendigkeit«115 gegenüber sei-
nen konkretgeschichtlichen Gestalten. Bei alldem kann es sich freilich
nicht nur darum handeln, daß die Dialektik des Besonderen und Allge-
meinen ungenügend ausgetragen würde, also um ein rein theoretisch zu
entscheidendes Problem, sondern um die Tatsache, daß unsere geschicht-
liche W irklich keit selber, zun ächst einm al als »Vorgeschichte« verstan-den, von perennierenden Kategorien beherrscht wird, die allem Wechsel
gegenüber relativ gleich gü ltig sind, so daß nach M arx die Lo hn arbe it ein
Moment von Sklaverei wie noch von Knechtschaft an sich hat, ebenso wie
Knechtschaft und Sklaverei ein Moment der Lohnarbeit: der Unterschied
besteht darin, d aß die A rb e itskraft das eine M al unm ittelb ar, das andere
Mal auf dem Umweg über den Markt reproduziert wird. Es gab ausge-
zeichnet gehegte Sklaven im Altertum, und es gibt in den höchstentwik
kelten Ländern der Gegenwart Wanderarbeiter unter dem Niveau116.
Entscheidend dafür, daß Herrschaft über Menschen zustande kommt, ist
freilich eine gewisse Stufe von Arbeitsproduktivität: «Braucht der Arbei-
ter alle seine Zeit, um die zur Erhaltung seiner selbst und seiner Rasse
nötigen Lebensmittel zu produzieren, so bleibt ihm keine Zeit, um unent-
geltlich für dritte Personen zu arbeiten. Ohne gewissen Produktivitäts-
grad der Ar be it keine solche disponible Z eit für den Arbe iter, ohne solche
überschüssige Zeit keine Mehrarbeit und daher keine Kapitalisten, aberauch keine Sklavenhalter, keine Feudalbarone, in einem Wort keine
Großbesitzerklasse.«117
Sich kritisch gegen jene wendend, die versuchen, mit dieser als natur-
w üchsig sich darste llenden P ro d u k tiv itä t der A rb eit »mystische V orstel-
115 D as K ap ital, Bd. I, S. 47.
116 Es ist von Interesse, da ß etw a zu r gleichen Ze it der wah rlich keiner SozialrevolutionärenNeigung en verd ächtige Schopen hauer genau wie Ma rx das Mom ent der Identität an den
ver sch ie denen H errschaft sfo rm en w ahrgenom m en hat. Bei Schopenhauer h eiß t es: »Ar
muth und Sklaverei sind . . . nur zwe i Formen, fast mochte man sagen, zwei Nam en, der
selben Sache, deren Wesen darin besteht, daß die Kräfte eines Menschen großentheils
nicht für ihn selbst, sondern für Andere verwendet werden; woraus für ihn theils Ueber
ladung mit Arbeit, theils kärgliche Befriedigung seiner Bedürfnisse hervorgeht. Denn die
N atu r hat dem Menschen nur so viel Kräfte gegeben, daß er, unter mä ßiger Anstrengung
derselben, seinen Un terhalt der Erde abgewinnen kan n: großen Ueberschuß von Kräften
hat er nicht erhalten. Nimmt man nun die gemeinsame Last der physischen Erhaltung
des Daseyns des Menschengeschlechts einem nicht ganz unbeträchtlichen Theiledesselben ab; so wird dadurch der übrige übermäßig belastet und ist elend. So zunächst
entspringt also jenes Uebel, welches, entweder unter dem Namen der Sklaverei, oder
unter dem des Proletariats, jederzeit auf der großen Mehrzahl des Menschengeschlechtes
gelastet hat.« In: Säm tliche We rke, herausgegeben vo n D r. Pau l Deussen, 5. Bd.,
München 1913, Parerga und Paralipomena, 2. Bd., S. 268.1 17 D as K ap ital, Bd. I, S. 536.
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lungen«118 zu verbinden, entwickelt Marx, daß der Mehrwert nur »in
dem ganz allgemeinen Sinn« eine »Naturbasis« hat, »daß kein absolutes
Naturhindernis den einen abhält, die zu seiner eignen Existenz nötige
A rbeit von sich selbst ab und einem ändern a u fzu w älz en , z. B. ebenso -
wenig , wie absolu te N atu rhindernisse die einen abhalten, das Fle isch der
ändern als Nahrung zu verwenden«119.
W as ferner die P ro d u k tiv itä t der A rb e it angeht, vo n der bei der B etrach-tung des spezifischen Kapitalverhältnisses auszugehen ist, so ist diese
nicht einfach »Gabe der Natur, sondern einer Geschichte, die Tausende
von Jahrhunderten u m faß t« 120. A b er auch dann, w enn die natu rgesetzte
Produktivität der Arbeit aufhört, die ebenso naturgesetzte Quelle der
Herrschaft des Menschen über den Menschen zu bilden, auch dann, wenn
das historisch Entsprungene sich nicht länger zu einem »Naturwüchsi-
gen« perpetuiert, bleibt das Leben von seiner allgemeinsten Notwendig-
keit, dem Stoffwechsel von Mensch und Natur bestimmt. Zwar wird diese
N otw en digk eit M arx zufo lge eine beherrschte sein, und die Menschen
werden nur m it der dinglichen N a tu r, nic ht m ehr m itein ander im
Kam pfe liegen. A be r dieser K am p f bedeutet, daß au ch die klassenlose
Menschheit ein mit ihr letztlich Unidentisches sich gegenüber weiß, so
daß Reding mit seiner These von der Zeitlosigkeit der Struktur der
A rbeit au f ironische W eise doch noch recht behält. Es gibt in der T a t so
etwas wie eine, allerdings negätiv zu fassende Ontologie121.M arx liebt es, sich in einer m itunter etwas drastischen A rt die N o t-
w endigkeit gesellschaft licher Prozesse am M odell von N a tu rv erh ä lt-
nissen zu verdeutlichen, wofür das beste Beispiel der hier diskutierte
Begriff des Stoffwechsels selbst ist. Wie Engels, so verfolgt auch er die
naturwissenschaftlichen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts und
dessen philosophische Verallgemeinerungen im Hinblick auf eine Weiter-
entwicklung der Theorie der Gesellschaft. Die Vorarbeiten zum »Kapi-
tal« fallen in das Jahrzehnt von 1850—1860, in dem in Deutschland der
naturwissenschaftlich orientierte Materialismus der Büchner, Vogt und
M oleschott mächtig ins K rau t schießt. Nu n hat sich M arx gan z w ie Engels
w ie derholt äußerst krit is ch zu dieser dogm atis chen und zum eis t grob -
mechanischen Form des Materialismus ausgesprochen122, was aber nicht
118 A . a. O ., S. 537. 119 A . a. O ., S. 536 f. 120 A. a. O ., S. 537.
121 Zum Problem einer »negativen On tologie« bei M arx vgl. auch besonders die Soziolo gi-schen Exkurse, a. a. O ., S. 30, sowie das IV. K apitel.
122 Vgl. d azu die Briefe an Ku gelmann , die, wie auch der Briefwechsel mit Engels, bezeugen, daß
Marx nicht nur mit dem m aterialistischsensualistischen Phys iologen Cabanis und m it de Tr acy,
von dem de r Ide ologieb eg riff stam mt, sondern auch mit der M aterialismusdiskussion der fü nfz i-
ger Jahre, zum T eil an H and des von ihm allerdings kritisierten Buches über die Geschich te des
Materialismus von F. A. Lange, vertraut ist.
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auszuschließen braucht, daß er ihm gewisse Motive verdankt. Wie aus
einer gelegentlichen Bemerkung hervorgeht, ist Marx mit dem Gebrauch
des Begriffs »Stoffwechsel« bei dem Wortführer der materialistischen
Bewegung, Jacob Moleschott, durchaus vertraut gewesen. Zunächst unter
dem Einfluß der Schellingschen Naturphilosophie und des Hegelianis-
mus stehend, wird der heute fast ga nz vergessene M oleschott später
nicht zuletzt durch seine Bekanntschaft mit Feuerbach — zu einem Natur-forscher und physiologischen Materialisten mit sozialer Tendenz, in des-
sen Lehren der späte, immer entschiedener zu einem naturwissenschaft-
lich gefärbten Materialismus neigende Feuerbach die Durchführung sei-
nes Jugend program m s einer »Philosophie der Z uku nft« erb lickt123.
Zu denken wäre etwa an solche populären Schriften wie »Physiologie des
Stoffwechsels in Pflanzen und Tieren«, 1851, »Der Kreislauf des
Lebens«, 1857, oder »Die Einheit des Lebens«, 1864. Der in diesen
Schriften vorgetragene und mit einer Fülle empirischen Materials
gestützte Materialismus, der am Bilde der Physiologie des Menschen die
Natur als einen großen Umsetzungs und Stoffwechselprozeß schildert,
ist immer wieder von spekulativen Spuren durchsetzt. Wie alles Sein der
Dinge ein Sein durch Eigenschaften darstellt, so gibt es für Moleschott
keine Eigenschaft eines Dinges, die sich nicht bloß dadurch manifestierte,
daß dieses Ding zu anderen in eine Beziehung tritt124.
Es seien hier nur aus dem Buch »Der Kreislauf des Lebens« einige hand-feste Äußerungen Moleschotts zu seiner Stoffwechsellehre angeführt, aus
denen sich mit einem gewissen Grad von Sicherheit entnehmen läßt, daß
diese von Marx, selbstverständlich nicht unverwandelt, benutzt worden
ist: »Was der Mensch ausscheidet, ernährt die Pflanze. Die Pflanze
verw and elt die L u ft in feste Bestandte ile und ernährt das Th ie r. Raub
thiere leben von Pflanzenfressern, um selbst eine Beute des Todes zu
w erden und neues keim endes Leben in der Pflan zen w elt zu verbreiten.
Diesem Austausch des Stoffs hat man den Namen Stoffwechsel gegeben.
Man spricht das Wort mit Recht nicht ohne ein Gefühl der Verehrung
aus. Denn wie der Handel die Seele ist des Verkehrs, so ist das ewige
Kreisen des Stoffs die Seele der Welt.«125 »Bewegung der Grundstoffe,
123 V gl. dazu: D ie Na turw issensch aft und die Revolution , eine Feuerbachsche Rezension der
Moleschottschen Sch rift Lehre der Na hrun gsm ittel, 1850. In: Ka rl Grü n, Lu dw ig Feuer- bach in seinem Brie fw echsel und N a ch la ß sowie in se in er philoso phis chen C harakteren t- w ick lu ng. Le ipzig und H eid elb erg 1874, Bd. II , S. 81.
124 Vgl. Jacob Mo leschott, De r Kreislauf des Lebens, M ainz 1857, S. 27 f. Gedankeng änge
dieser A rt m achen M olescho tt in den Au gen F. A . Langes zu einem »Epigonen der
Naturphilosophie«. In: Geschichte des Materialismus, 2. Buch, Iserlohn 1875, S. 97.125 Jacob Mo leschott, De r K reislau f des Lebens, a. a. O ., S. 40 f.
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Feuerbachs Naturalismus sieht er den »phantastischen Jugendtraum«133
der Schellingschen Naturspekulation verwirklicht.
Moleschotts Vorstellung von der Natur als einem Kreislaufprozeß findet
sich schon beim frühen Schelling recht häufig134. »Der erste Übergang
zur In divid u alität «, heißt es bei ihm, »ist Form ung und Gestaltung der
Materie.«135 Die Dinge werden durch Bearbeitung aus dem unmittelba-
ren Naturzusammenhang herausgelöst und nehmen eine individuellePrägung an. Zu dieser menschlichen Prägung führt unbewußt der Natur-
prozeß selbst hin. Besteht für Schelling schon der über die anorganische
Materie hinaustreibende »organisirende Proceß« im »unendlichen Indi-
vid ualism en der M ate rie «136, so setzt sich dieses Individualisieren, ver-
mittelt durch menschliche Arbeit, auf höherer Stufe fort: »Im gemeinen
Leben wird alles, was von sich selbst oder durch Menschenhand Figur
erhalten hat, als Individuum betrachtet oder behandelt.«137
Im »Rohentwurf« spricht Marx, sich ganz der Schellingschen Sprache
bed ienen d, von der »beständige(n ) Individ ualisierung des Ele m entari-
schen«, welche ebensosehr ein Moment des Naturprozesses ist, wie die
»beständige Auflösung des Individualisierten in das Elementari-
sche«.138
Der Arbeitsprozeß ist eingebettet in den großen Naturzusammenhang.
Natur als die höhere Einheit von Gesellschaft und jeweils angeeignetem
Natursegment setzt sich in letzter Instanz gegenüber allen menschlichenEingriffen durch. Die menschlich durchdrungenen Naturstoffe sinken in
erste Unmittelbarkeit zurück. Mit Recht führt Schelling an, daß von
keiner rohen Materie gesagt werden könne, sie sei zerstörbar, »als inso-
fern sie durch menschliche Kunst eine bestimmte Form erhalten hat«139.
W ie der B eg riff des Leb enspro zesses, von dem in den M arxschen
Schriften seit der »Deutschen Ideologie« die Rede ist, sich bei Schelling
und Hegel nur auf die organische Natur bezieht, so gehört auch die V orstellu ng von der äußere n N a tu r als des unorganis chen Leibes des
Menschen, wie sie in den Pariser Manuskripten auftaucht, oder die
Bezeichnung des Arbeitsprozesses als Stoffwechsel von Mensch und
*33 Vgl Ka rl Grü n, L. Feuerbach, a. a. O ., S. 361.
134 Vgl F. W. J. von Schelling, Ideen zu einer Philosophie der N atu r, 1797/9 8. In : Sämmtliche Werke, 1. A bt. , II. Bd., Stuttgart und Au gsbur g 1857, S. 54, S. m . Au ch die
Engelssche Naturdialektik spricht von dem »ewigen Kreislauf, in dem die Materie sich b e w e g t. . . « In : D ia le ktik der N a tu r, S. 27 f.
135 Sche lling, Ideen, a. a. O ., S. 518.136 A . a. O ., S. 520.
137 A. a. O., S. 518.
138 Ro hen twu rf, S. 116. Vgl. daz u auch Ab schn itt A dieses Kap itels.139 Sche lling, Ideen, a. a. O ., S. 519.
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vo n ihnen hergestellte n G egensta ndsfo rm en doch zum in dest a u f solche
Grundstoffe wie Erde, Wasser und Luft angewiesen142. Darüber hinaus
geht auch eine zum Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge so wichtige
Erscheinung wie die Teilung der Arbeit nicht nur aus der immanenten
Entfaltung der Ökonomie hervor, sondern ist auch durch Vorgefundene
Naturtatsachen bedingt: »Es ist nicht die absolute Fruchtbarkeit des
Bodens, sondern seine Differenzierung, die Mannigfaltigkeit seinernatürlichen Produkte, welche die Naturgrundlage der gesellschaftlichen
Teilung der Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der
Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Vermannigfachung seiner
eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten, Arbeitsmittel und Arbeitsweisen
spornt.«143
Marx betont besonders, daß Gebiete mit gewissen geographischen und
klimatischen Mängeln zunächst eher die Entwicklung der Industrie för-
dern als solche, die über einen großen, ohne menschliches Zutun vorhan-
denen Reichtum an Lebensmitteln verfügen: »Eine zu verschwenderische
N atu r >hält ihn (den M enschen, A. S.) an ihrer H an d wie ein Kin d am
Gängelband<. Sie macht seine eigne Entwicklung nicht zu einer Natur-
notwendigkeit. Nicht das tropische Klima mit seiner überwuchernden
V egetation , so ndern die gem äßigte Zon e ist das M utterla nd des K ap i-
tals.«144
A u ch der histo rischen V eränderu ng der Subjektseite sin d natü rlicheGre nzen gesetzt. Schon in der »D eutschen Ideologie« geht M arx v on der
»körperlichen Organisation« der Individuen und »ihr dadurch gegebenes
V erh ältnis zu r übrig en N a tu r« 145 aus. W eit ausführlicher b efaßt sich das
»Kapital« mit der Frage, inwiefern der Arbeitsprozeß an die Physiologie
des Menschen gebunden ist: » .. . wie verschieden die nützlichen Arbeiten
oder produktiven Tätigkeiten sein mögen, es ist eine physio lo gische
W ahrheit, d aß sie Funktionen des menschlichen Organismus sind, unddaß jede solche Funktion, welches immer ihr Inhalt und ihre Form,
w esentlich Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Sinnesorgan
usw. ist.«146 »D er einzelne M ensch kann nicht au f die N atu r w irken ohne
Betätigung seiner eignen Muskeln unter Kontrolle seines eignen Hirns.
W ie im N atu rsystem K o p f und H an d zusam m engehören, verein t der
A rb eitsp rozeß K o p farb eit und H an d arbeit.« 147
142 V gl. dazu auch Ernst Bloch, Da s Prinzip Ho ffnun g, Bd. II, a. a. O ., S. 239.143 D as K ap ital, Bd. I, S. 539.
144 A . a. O ., S. 538 f.
145 Deu tsche Ideologie, S. 16.
146 D as Ka pital, Bd. I , S. 77.
147 A. a. O., S. 533.
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W ie sehr die arbeitenden Subje kte an die V oraussetzungen des N a tu rsy -
stems gebunden sind, zeigt gerade die moderne Industrie. In ihr differen-
zieren sich zwar die Arbeitsprozesse erheblich, indem sie sich immer
mehr in »bewußt planmäßige und je nach dem bezweckten Nutzeffekt
systematisch besonderte Anwendungen der Naturwissenschaft«148 ver-
wandeln . Z u gle ich aber enthüll t die T echnolo gie »die wenigen großen
Grundformen der Bewegung, worin alles produktive Tun des menschli-chen Körpers, trotz aller Mannigfaltigkeit der angewandten Instrumente,
notwendig vorgeht, ganz so, wie die Mechanik durch die größte Kompli-
kation der Maschinerie sich über die beständige Wiederholung der einfa-
chen mechanischen Potenzen nicht täuschen läßt«149.
Es ist kein Zufall, wenn Marx hier die Mechanik, ein ungeschichtliches
Modell, zum Vergleich heranzieht. Seiner materialen Seite nach unter-
l iegt der Arbeitsprozeß keinem die Produktionsstufen radikal voneinan-der trennenden Wandel, weshalb Marx ausdrücklich sagt, daß nicht was,
sondern wie produziert wird, die Produktionsstufen voneinander unter-
scheidet150.
Marx stellt mit dem Begriff des Stoffwechsels den gesellschaftlichen
A rbeitsprozeß am Bilde eines N atu rvo rgan gs dar. W ie w eit er dabei
geht151 und mit welchem relativen Recht er sich einer solchen Analogie
bedient, w ird hie r zu zeig en versucht. W ie seit der A n tik e die V eränd e-
rung gesellschaftlicher Gebilde bis hin zu Machiavelli und Pareto alsnaturgesetzlicher Kreislauf verstanden worden ist, so findet sich auch
schon ebenso früh der Versuch, die Veränderung und wechselseitige
Umsetzung der Naturdinge vermittels gesellschaftlicher Kategorien zu
deuten. Ein häufig auftretendes Modell ist dabei der Austausch von Ware
und Geld, von Geld und Ware. So in der Dialektik des Heraklit: »Alle
Dinge sind Austausch für Feuer und Feuer für alle Dinge so wie Waren
für Gold und Gold für Waren.«152Etwas Analoges begegnet uns bei Marx. Ihm stellt sich der Stoffwechsel
von M ensch und N a tu r — ein S p ezialf a ll der U m setzu ng von N atu rd in gen
— so unter die Kategorie des Austausches dar, wie er umgekehrt zur
Charakterisierung des Austauschprozesses auf den Begriff des Stoffwech-
sels rekurriert. Im unmittelbaren Arbeitsprozeß, dem Stoffwechsel von
148 A . a. O ., S. 512.149 A. a. O.
150 V gl. a. a. O ., S. 188.
151 So bezeichnet Ma rx die mechanischen Ar beitsm ittel als das > K n ochen und Muskelsy
stem der Produ ktion* > solche Arbeitsmittel, die als Behälter des Arbeitsgegenstandesdienen, als das • Gefäßsystem der Produktion«. Vgl. a. a. O., Bd. II, S. 188.
152 H erm ann Diels, Fragm ente der Vo rso kra tiker , I, Berlin 1922, 4. A uflag e, fr. 90.
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III. K a pitel
Die Auseinandersetzung von Gesellschaft und Natur und
der Erkenntnisprozeß
A ) N aturgesetz und Tele olo gie
Die bedürftige Menschennatur ist auf die dingliche Äußerlichkeit ange-
wiesen. M arx w ird n icht müde zu beto nen, d aß die Menschen, um ih r
Leben zu reproduzieren, in einem ununterbrochenen Austauschprozeß
mit der Natur stehen müssen. Die Menschen verändern die »Formen derNaturstoffe«1 in einer ihnen um so nützlicheren Weise, je genauer sie
diese Formen kennen. Der Erkenntnisprozeß ist daher für Marx kein
blo ß in nertheoretischer V o rg an g. E r steht im D ie nste des Leb ens. In der
Vorstellung, d aß er ein se lb stg enügsa m es, vom Leb en abgespaltenes D a -
sein habe, kurz in aller kontemplativen Philosophie, sieht Marx einen
Ausdru ck m enschlicher Selb ste ntfrem dung. Bei Strafe ihres U n tergangs
müssen sich die Menschen mit den »Formen«,2 das heißt den Gesetzen
des von ihnen bearbeiteten Materials, mit dem Wesen der sie umge-
benden N aturerscheinungen, vertrau t m achen. A lle N atu rbeherrschung
setzt die Kenntnis der natürlichen Zusammenhänge und Prozesse voraus,
wie sie, um gekehrt, erst aus der praktis chen U m gestaltu ng der W elt
hervorwächst3.
Daß die Menschen die Natur nur beherrschen können, indem sie sich
ihrerseits den Naturgesetzen unterwerfen, ist ein bereits für die früh-
bürgerliche W issenschaftsgesin nung charakteris tischer G edanke. » N a-ture is only subdued by Submission«4, heißt es bei Francis Bacon im
1 D as Ka pi tal, Bd. I, S. 76.2 Dieser bei Engels fehlende und vom reifen Marx h äufig zur Kenn zeichnung der Eigenbe-
stimmtheit der zu bearbeitenden Naturstoffe gebrauchte Begriff der »Form« dürfte
philosophiehistorisch auf Aristoteles und die Formenlehre Francis Bacons zurückgehen,
in der sich häufig antikes Erbe mit modernem Denken mischt. Ähnlich wie für Bacon,ist auch für M arx die Gefo rm theit der Stoffe gleichbedeutend dam it, daß sie allgemeinen
Gesetzen unterliegen. W ie für Baco n, ist auch für Marx die Erkenntnis der »Formen« der
Natur nichts als ein Mittel ihrer besseren Beherrschung. j M arx weis t im K a p ital, Bd. I, d arau f hin, d aß ganze N atu rw is senschaften ih r Entste hen
praktischgese llschaftlichen Erfordernissen verd anken . Vg l. besonders S. 539, Fuß note 5.
4 Francis Bacon , N ovu m Org an on , Lon don 1893, S. 11.
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»Novum Organon«. Schon für Bacon setzen sich die theoretisch
erkannten Ursachen in Regeln praktischen Verhaltens um.
A u f ein er fo rtgeschrit teneren Stufe der bürgerlichen G esellschaft in te r-
pretiert Hegel5 den homo sapiens ausgehend vom homo faber. Bereits
w ährend seiner vorphänom enolo gischen Phase beschäftigt er sich mit
dem Verhältnis von materialeigener Gesetzmäßigkeit und menschlichen
Zwecken. Arbeit verbindet beide Momente.Die materialistische Version der Dialektik ist darin zwar an Hegel
geschult, daß sie hinter dem Verhältnis von Naturgesetz und Teleologie
das allgemeinere von Notwendigkeit und Freiheit aufspürt. Sie geht aber
insofern über Hegels Fassung des Problems hinaus, als sie nachweist, daß
die Triebe, Begierden und Zwecke, wie überhaupt die Arten des mensch-
lichen Interesses an der Natur, jeweils gesellschaftlich vermittelt sind.
Zum Verständnis dieser gesellschaftlich vermittelten Einheit von Natur-
gesetz und Teleologie ist es zunächst erforderlich, näher noch als in den
vorhergehenden K apiteln a u f solche K ategorie n w ie N a tu r, M aterie ,
Gesetz, Bewegung und Zweck einzugehen.
Zwar bezeichnet Marx in seiner Feuerbachkritik die gesellschaftliche
Produktion als »die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt«6. Er hält
aber zugleich daran fest, daß die gesellschaftliche Vermittlung der Natur
deren »Priorität«7 nicht sowohl aufhebt als bestätigt. Die Materie
existiert unabhängig von den Menschen. Diese schaffen jede »produktiveFähigkeit der Materie nur unter der Voraussetzung der Materie«8. Es
entspricht daher diesem Marxschen Gedanken, wenn Lenin in seiner
Schrift »Die Agrarfrage und die >MarxKritiker<« sich gegen die vulgär-
ökonomische Vorstellung wendet, es sei möglich, Naturkräfte durch
menschliche Arbeit zu ersetzen : »Naturkräfte durch menschliche Arbeit
zu ersetzen, ist, allgemein gesprochen, ebenso unmöglich, wie es unmög-
lich ist, Meter durch Zentner zu ersetzen. Sowohl in der Industrie als auchin der Landwirtschaft vermag sich der Mensch der Macht der Natur-
kräfte, sofern er deren Wirken einmal erkannt, nur zu bedienen und die
A u sn ü tzun g derselben durch M asc hin en, W erkzeu ge usw . zu erleich-
tern,«9
Die dem Naturmaterial eigenen Gesetze, mit denen alle menschlich
5 Zum H egelschen Praxisb egriff vgl. auch Wilhelm R. Beyer, De r B eg riff der Praxis beiH egel. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jahrgan g VI, H eft j , Berlin 1958.
6 De utsche Ideologie, S. 42.7 A. a . O.
8 H eilige Familie, S. i j i .
9 Lenin, D ie Ag rar fra ge und die >MarxKritiker<. In: Sämtliche Werk e, IV , 1. Halbban d, W ien B erli n 1928, S. 221.
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gesellschaftliche Zielsetzung zu rechnen hat, werden vom dialektischen
Materialismus weder ignoriert noch fetischisiert10.
In der gegenwärtigen Marxliteratur bestehen bezüglich der Frage nach
der Eigenbestimmtheit der Natur innerhalb ihrer Vermittlung erhebliche
Unklarheiten. JeanYvez Calvez, der e inige Äußerungen von Marx in
den Pariser Manuskripten verabsolutiert, wo gegenüber dem seitherigen,
die menschliche Praxis nicht beachtenden Materialismus das Moment dergesellschaftlichen Vermittlung scharf pointiert wird11, läßt, ähnlich wie
Lukacs in »Geschichte und Klassenbewußtsein«, die Natur formal und
inhaltlich in den gesellschaftlichen Formen ihrer Aneignung aufgehen.
Ohne daß es ihm ganz bewußt würde, gelangt er so zu einem merkwür-
digen soziologisch drapierten »Erzeugungsidealismus«, der sich gerade
auch in der Frage der Naturgesetze äußert. Calvez schreibt: »La nature
sans l’homme n’a pas de sens, elle n’a pas de mouvement, elle est chaos,matière indifférenciée et indifférente, donc finalement néant.«12
Mit einer solchen Formulierung verträgt es sich schlecht, wenn Calvez im
gleichen Atemzug davon spricht, daß die menschliche Tätigkeit nur im
Rahmen der dem Naturstoff eigentümlichen Gesetze stattfindet und
dazu bestimmte Stellen aus dem »Kapital« anführt13. Ähnlich wider-
spruchsvoll ist die Interpretation des Marxschen Naturbegriffs bei Geor-
ges M .M. C ott ier, der einerseits mit Rech t die » autono m ie propre« der
Natur, ihren die menschlichen Möglichkeiten limitierenden Charakter
hervorhebt14, die Natur demnach als bestimmte und in Einzeldingen
erscheinende gelten läßt, andererseits und gänzlich unvermittelt mit der
erwähnten Aussage die Natur in aristotelischscholastischer Sprache als
»materia prima«15 bezeichnet, das heißt als gestaltloses Substrat, ohne
»immanente Form«16, wie sie ihr von Marx zugesprochen wird. Marx
spricht zwar auch von den in der Natur »schlummernden Potenzen«17.
Er hat dabei aber keineswegs ein ontologisches Substrat bloßer Möglich-keiten im Auge, sondern bestimmte leibliche Energien des Menschen
sowie Stoffe, die seinen Zwecken unterworfen werden.
Um auf die bei Calvez geleugnete Selbstbewegung der Materie zurückzu
10 Vg l. dazu Bloch, D as Prinz ip H offnun g, Bd. II, a. a. O ., S. 240.
11 Vg l. etwa Nation alökon om ie und Philosophie, a. a. O ., S. 264.
i* J«“Y. Calvez, La pensée de Karl Marx, Paris 1956, S. 380; vgl. auch S. 378.
13 A . a. O ., S. 396.14 Georges M .M . C ottier , L’Athéism e du jeune M arx. Ses origines Hégéliennes, Paris 1959,
S. 319.
15 A . a. O ., S. 321.
16 Rohentwurf, S. 265.
17 Das Kapital, Bd. I , S. 185. Zum Verhältnis von Materie und Ontologie vgl. auch die
entsprechenden Ausführungen im I. Kapitel, Abschn itt A .
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Teleologie versteht Marx den Umstand, daß es im Pflanzen und Tier-
reich so etwas wie eine »natürliche Technologie«28 gibt. Bei Darwin
bilden sich M arx zufolge die Pfla nzen und T ierorgan e als »P roduktions-
instrumente«29 im Prozeß der Anpassung und des Austauschs
mit den äußeren Bedingungen heraus. Uber die »ersten derartig instinkt-
mäßigen Formen«30 zweckmäßigen Verhaltens gegenüber der Natur
kommen auch die archaischen Menschen noch nicht hinaus. Insgesamtsieht Marx in der vormenschlichen Naturgeschichte die Voraussetzung
angelegt für den von gesellschaftlich organisierten Menschen bewußt
geführten Kampf mit der Natur.
W enn H egel auch die A nsicht als »läppisch« verspotte t, die in allen
m öglichen N aturerscheinungen das Wirken eines zw ecktätigen Schöp fer-
gottes vermutet31, so kennt seine idealistische Philosophie nichtsdestowe-
niger die Idee eines »Weltendzweckes«32. Im ersten Kapitel wurde
bereits beto nt, daß gerade die L eugnung eines solchen E ndzw eckes und
vorgegebenen Sinnes der W elt die M arxsche Theorie m it der T rad ition
des philosophischen Materialismus und Skeptizismus seit der Antike,
aller antimetaphysischen, antirationalistischen Philosophie im weiteren
Sinne, verbindet. Die »Welt« ist für Marx kein metaphysisch gefaßtes
Universum, sondern wesentlich die »Welt des Menschen«33. Der Zweck
sensu stricto ist daher stets eine Kategorie der menschlichen Praxis,
w om it M arx sich m ate ria listisch beschränkt a u f das, was H egels » N atu r-philosophie« den »endlichteleologischen Standpunkt« nennt. Bei Hegel
heißt es: »Praktisch verhält sich der Mensch zu der Natur, als zu einem
Unmittelbaren und Äußerlichen, selbst als ein unmittelbar äußerliches
und damit sinnliches Individuum, das sich aber auch so mit Recht als
Zw eck gegen die Naturgegenstände benimmt.«34
W ie der »zweckmäßige Wille*3S des Menschen gegenüber der Natur sich
durchsetzt, entwickelt Marx ausführlich im »Kapital«: »Wir unterstellendie Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich ange-
hört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln,
und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen
menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten
28 D as Ka pi tal, Bd. I, S. 389, Fu ßno te 89.
29 A. a. O.30 A . a. O ., S. 185.
3 1 Vg l. H egel, System der Philosophie, II, a. a. O ., S. 36.32 Vg l. Hege l, D ie V ernu nft in der Geschichte, a. a. O., S. 29.33 H eilige Fam ilie, S. 11.
34 H ege l, System de r Philosop hie, II, a. a. O ., § 245, S. 35.35 D as K ap ital , Bd. I, S. 186.
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Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in
seinem K o p f geba ut hat, b evo r er sie in W achs baut. A m Ende des A rbe its-
prozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon
in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht
daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirk-
licht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und
Weise seines Tuns als G esetz bestim m t und dem er seinen W illen unter-ordnen m uß .«36
In der »Kritik der politischen Ökonomie« geht Marx, die Dialektik von
Konsumtion und Produktion darlegend, in ähnlicher Weise auf den
vorwegnehm enden C h a rak te r der m enschlichen Zw ecksetzu ng ein: »Die
Konsumtion schafft den Trieb der Produktion, sie schafft auch den
Gegenstand, der als Zweck bestimmend in der Produktion tätig ist. Wenn
es klar ist, daß die Produktion den Gegenstand der Konsumtion äußerlichdarbietet, so ist daher ebenso klar, daß die Konsumtion den Gegenstand
der Produktion ideal setzt, als innerliches Bild, als Trieb und als
Zweck.«37
Die bei der Arbeit verfolgten ZweckInhalte sind bei Hegel und Marx
begrenzt. Bei beid en ob jektiv durch das zu r V erfü gu ng steh ende M aterial
und seine Gesetze, subjektiv durch die Trieb und Bedürfnisstruktur des
Menschen. In Beziehung auf letztere geht Marx, wie gesagt, über Hegel
insofern konkretisierend hinaus, als er die historischsozialen Wurzeln
menschlicher Zw ecke näh er bestimm t.
Daß der Mensch das Resultat seiner Tätigkeit gedanklich vorwegnimmt,
bed eutet, w ie H egel sagt, kein »H erum treib en in leeren G edanken und
Zwecken«38, sondern schließt ein allgemeines Wissen von der Beschaf-
fenheit der Naturgegenstände bereits ein39. Das vorwegnehmende Wis-
sen setzt ebensosehr ein schon vollzogenes praktisches Handeln voraus,
aus dem es hervorgeht, wie es umgekehrt die Voraussetzung eines jedenHandelns bildet.
Die Materialgebundenheit des menschlichen Tuns ist keine absolute.
Zwar ist auf der einen Seite richtig, daß der zwecksetzende Wille nur im
Einklang mit den materialeigenen Gesetzen, denen er ja von sich aus
nichts hinzufügen kann, sich realisiert; andererseits aber ist das Natur-
material von einer gewissen Plastizität. So kann innerhalb der Grenzen
seiner physikalischen und chemischen Beschaffenheit der Naturstoff
36 A. a. O.
37 Zur Kritik der politischen Ökon om ie, S. 246.
38 H egel, Phäno m eno logie des Geistes, Meiner, H am bu rg 1952, S. 287.
39 Vgl. dazu auch Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin und Stuttgart 1954,S. 97.
99
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H o lz die Basis der verschiedensten G ebrauch swerte abgeben, gan z w ie es
umgekehrt in bestimmtem Umfang möglich ist, einen Gebrauchswert,
ohne seine Nützlichkeit zu beeinträchtigen, aus den verschiedensten
Naturstoffen herzustellen.
Innerhalb der Grenzen seiner Eigenbestimmtheit bleibt ein Stoff den
A rten se iner m enschlichen Form ie rung gegenüber gle ich gü lt ig , w as eben
bedeutet, daß die Z iels etzu ng nic ht nur dem Stoff, so ndern auch der Stoffder Zielsetzung untergeordnet ist. Treffend und den oben angezogenen
Stellen aus Marx erstaunlich verwandt sind die Bemerkungen Paul Valé
rys in der »Kleinen Rede an die Graphischen Künstler« über die Bezie-
hung von vorwegnehmendem Bewußtsein und gegebenem Stoff: »Der
Mensch handelt; er übt seine Kräfte an einem fremden Stoffe, er sondert
seine Verrichtungen von deren stofflichem Unterbau ab, er hat davon ein
klar umrissenes Bewußtsein; darum kann er sie sich ausdenken undaufeinander abstimmen, ehe er sie ausführt; er kann ihnen die mannig-
fachsten Leistungen aufgeben und sie recht verschiedenen Stoffen anpas-
sen — und gerade dieses Vermögen, seine Vorhaben zusammensetzen oder
seine Entwürfe in gesonderte Verrichtungen zerlegen zu können, ist es,
was er seine Intell ig enz nen nt. E r ist dem Stoffe seines Unternehm ens
nicht eingeschmolzen, sondern er geht zwischen diesem Stoffe und
seinem Denkbild, zwischen seinem Geiste und seinem Modell hin und her
und tauscht in jedem Au genb lick, was er will gegen das, was er kann, undwas er kan n, gegen das, was er erreicht .«40
Indem der Mensch aus der mythischen Naturverfallenheit heraustritt,
streift seine Arbeit ihre »erste instinktartige Form«41 ab. An die Stelle des
naiven Gebrauchs der Natur, vermittelt einzig durch die Leibesorgane,
tritt die bewußte und zweckgerichtete Produktion. Mit fortschreitender
A u fk läru n g zerreißt die ursprüngliche Einheit des M ensc hen m it der
Natur, um sich als vermittelte wieder herzustellen. Diese höhere, durchs W erkzeu g verm ittelte Einheit von M ensch und N a tu r nennt M a rx Indu-
strie. Mit Hegel und der Aufklärung stimmt er in der Einschätzung der
anthropologischen Rolle des Werkzeugs überein: »Der Gebrauch und die
Schöpfung von Arbeitsmitteln, obgleich im Keim schon gewissen Tierar-
ten eigen, charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozeß
und Franklin definiert daher den Menschen als >a toolmaking animal<, ein
W erkzeu g fabriz ie rendes T ier.« 42
A usgehend von der H an d , diesem »Werkzeug der Werkzeuge»*3, wie
40 Paul Valéry, Ub er Kunst, Fran kfurt 1959, S. 69.41 D as Ka pital, Bd. I, S. 186.42 A . a. O ., S. 187 f.
43 H egel, System der Philosop hie, III, Glö ckn er, S. 248.
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des Tätigen gegen das Passive, ist selbst passiv nach der Seite des Arbei-
tenden, und tätig gegen das Bearbeitete.«52
Dem folg t M ar x im »K apital« in der Th eorie des W erkzeu gs als der
daseienden, der materialisierten Vermittlung von Arbeiter und Arbeits-
gegenstand. D a der Mensch »dem N atu rsto ff selbst als eine Na turm acht
gegenübertritt«53, ist das Werkzeug dasjenige, vermöge dessen Tätigkeit
der N atu rst o ff sich m it sich selbst zusamm enschließt.
Unmittelbar hat es der Arbeiter nicht mit der noch unangeeigneten
Natur, seinem Arbeitsgegenstand, zu tun, sondern mit dem Arbeitsmittel,
das für Marx mit dem Werkzeug identisch ist und von ihm folgender-
maßen definiert wird^ »Das A rbeitsm ittel ist ein Ding oder ein Komplex
von D in gen, die der A rbeiter zw is chen sich und den Arbeitsgegenstand
schiebt, und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand
dienen. Er benutzt die mechanischen, physikalischen, chemischen Eigen-schaften der Dinge, um sie als Machtmittel auf andre Dinge, seinem
Z w eck gem äß, wirken zu lassen.«54
Hier schließt sich Marx unmittelbar der Lehre von der »List der
Vernunft« an, wie sie in H egels »Logik « und »E nzyklo pädie« entfaltet
w ird. D ie von M arx zitie rte Ste lle la utet: »D ie V ern u nft ist eben so listig
als mächtig. Die List besteht überhaupt in der vermittelnden Thätigkeit,
welche, in dem sie die O bjekte ihrer eigenen N a tu r gem äß a u f einander
einwirken und sich an einander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in
diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausfüh-
rung bringt.«5S
Halten wir an der oben angeführten Marxschen Definition des Werk-
zeugs als des Vermittlers von zweckbestimmter Arbeit und Arbeitsgegen-
stand fest, so lassen sich, je nach der Rolle, die es im Arbeitsprozeß spielt,
drei Formen des Werkzeugs unterscheiden. Es kann sich identisch erhal-
ten, es kann stofflich eingehen in das Ar beitsp rod uk t und es kan n schließ-
52 He gel, Jenenser Realphilosophie, Leip zig 193 2,$. 22 1.53 D as K ap ita l, Bd. I, S. 185.
54 A . a. O ., S. 187. V gl. a. a. O . auch über die gesc hichtliche R olle des Tie rs als eines
A rbeitsm it te ls . M arx verw endet den B eg riff des »M ittels« noch in ein em um fassen de ren
Sinne. Potentielles Mittel für menschliche Zwecke ist zunächst die gesamte materielle
Realität. Als solche ist sie Produktionsmittel. Die Produktionsmittel wiederum zerfallen
in die hier erörterten, von Menschen bedienten Arbeitsmittel oder Produktionsinstru-mente und in Arb eitsgegenstände. V gl. auch a. a. O ., S. 189.
5 5 H ege l, System der Philosophie, I, a. a. O ., § 209, Zusa tz, S. 420. W ähr end M arx m ateria-
listisch die »List der Vernunft« auf die menschliche Arbeitssituation beschränkt, sieht
Hegel ihre Hauptwirksamkeit im Verhältnis der göttlichen Vorsehung zum Weltganzen
und seiner Entwicklung, weshalb sie auch in seiner Geschichtskonstruktion eine große
Rolle spielt.
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allem an die chemische Fabrikation, bei der dem Rohmaterial Hilfsstoffe
zugesetzt werden, »um darin eine stoffliche Veränderung zu bewirken,
w ie C h lo r zu r ungeble ic hten L ein w and , K ohle zum Eisen, Farbe zur
W olle« 60. W ie W erkzeuge überhaupt, so verm itteln auch solche Stoffe
menschliche Zwecke mit dem Arbeitsmaterial, ohne daß jedoch eines
»der angewandten Rohmaterialien als die Substanz des Produkts wieder
erscheint «61. Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand gehen hier ineinanderüber. H ilfsstoffe im engeren Sinne sind fü r M arx solche, die nicht unm it-
telbar auf das Material angewandt werden und ohne mit dem Produkt
etwas zu tun zu haben, »vom A rbeitsm ittel konsum ie rt (werden),
w ie K ohle von der D am pfm aschin e, O el vom R ade, H eu vom
Z u gp ferd . . .«62.
Mit Recht bemerkt Lenin63, daß Hegel, indem er die Rolle des Werk-
zeugs nicht nur für den Arbeits, sondern auch für den Erkenntnisprozeß
hervorhebt, zu einem Vorläufer des historischen Materialismus wird. Wie
Hegel insgesamt die metaphysische Starre, die über allen vordialekti-
schen Fassungen des Problems von Freiheit und Notwendigkeit liegt,
überwindet, so verflüssigt er auch den verdinglichten Gegensatz von
Teleologie und N aturk ausa lität. W enn für M arx die List des Menschen
darin besteht, »die mechanischen, physikalischen, chemischen Eigen-
schaften« der von ihm als Arbeitsmittel benutzten Dinge »als Macht-
mittel auf andre Dinge, seinem Zweck gemäß, wirken zu lassen«64, soliegen diesem Gedanken Hegels Erörterungen über das Verhältnis der
Kategorien MechanismusChemismusTeleologie in der »Wissenschaft
der Logik« zu Grunde. Sie sind für das Verständnis der materialistischen
D ialektik von großer W ichtigkeit.
Mechanismus und Chemismus sind Kategorien der Objektivität, die
Hegel deshalb unter der Naturnotwendigkeit65 zusammenfaßt, weil
beid e gegenüber dem Z w eck , als dem »fürsichseyenden Begriff*66, das V ersenktsein des Begriffs in die Ä u ß erli ch keit kennzeic hnen. Besteht die
These des Mechanismus darin, daß die Naturkörper bei allen Unter-
schieden das eine Gemeinsame haben, daß sie einander gleichgültig und
abstraktäußerlich gegenüberstehen, so hebt der Chemismus, den Hegel
etwas weiter faßt als den Gegenstandsbereich der Chemie, hervor, daß
60 D as K ap ital, Bd. I, S. 190.61 A . a. O .
62 A. a . O.
6 3 Lenin, Aus dem philosophischen N ac hla ß, a. a. O ., S. 109.64 D as K ap ital, Bd. I, S. 187.
6 5 H egel, Wissenschaft der L og ik, a. a. O., vgl. S. 385.
66 H egel, System der Philosophie, I, a. a. O ., § 204, S. 413.
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sie ebensosehr nur sind in ihrer schlechthinnigen Bezogenheit aufeinan-
der, im Wechsel der Formen, wobei freilich zugleich ihre unmittelbare
Selbständigkeit gewahrt bleibt. Hegel beschreibt den chemischen Prozeß
folgendermaßen: »Der Proceß ist das Herüber und Hinübergehen von
einer Form zur ändern, die sich zugleich noch äußerlich bleiben. — Im
neutralen Produkte sind die bestimmenden Eigenschaften, die die
Extreme gegen einander hatten, aufgehoben.«67 Angesichts des U m stands, d aß der chemisch e Prozeß, bei dem die G egen -
sätze vermittelt werden und doch innerhalb der Vermittlung als solche
erhalten bleiben, an sich schon das ist, was der menschliche Arbeits-
prozeß fü r sic h ist, nimmt es nicht wunder, daß Marx im »Rohentwurf«
ebenfalls vo m »neutralen Resu ltat«68 spricht, wen n er ausdrück en w ill,
daß im G ebrauch swert N atursto ff und menschliche Arb eit zw ar verbun -
den sind, sich aber zugleich äußerlich bleiben. Das Neutrale ist ein
Trennbares69.
Erst mit dem organischen Leben70, mit dem Erscheinen des Menschen als
eines selbstbewußten, tätigen Subjekts kann sich Natur mit sich selbst
zusammenschließen, deshalb nämlich, weil sie in der Arbeit sich von sich
abstößt, in »Naturstoff« und zwecksetzender »Naturmacht« Mensch sich
selbst gegenüber tritt, wie Marx sagt71. Das Fürsichsein des Menschen
besteht in se inem Verm ögen, die N a tu r in ih rem M echanismus und
Chemismus für sich arbeiten zu lassen, durch sie hindurch seine Zweckezu realisieren. In der Teleologie der Arbeit erblickt Hegel die höhere
Einheit und »Wahrheit« von Mechanismus und Chemismus72. In ihr
67 A . a. O ., § Z02, S. 412 .
68 Rohentwurf, S. 208.
69 A. a. O., vgl. besonders S. 265.
70 Vg l. die von Lenin im Anschluß an Hegel gegebene Bestimm ung: »Leben = das indivi-duelle Sub jekt scheidet sich ab vo n dem Ob jektiven.« Aus dem philosophischen N ach laß,
a. a. O., S. 125.
71 D as K ap ital, Bd . I, S. 185. D a He gel, wie Ad orn o sagt (vgl. Aspe kte, a. a. O ., S. 29),
nicht den Geist zu einem Moment der Arbeit, sondern die Arbeit zu einem Moment des
Geistes erklärt, so kann er auch nicht in Marxscher Weise in der Zweckbeziehung eineSelbstverm ittlung der N at u r sehen, sondern muß sie als Schluß »des selbständigen freien
Begriffs« betrach ten, »der sich durch die O bje ktiv ität m it sich selbst zusammenschließt«,
(Lo gik, II, a. a. O ., S. 390). D er realisierte Z w eck ist daher n icht nur »E inheit desSubjektiven und Ob jektiven«, in M arxscher Sprache: Verbindung von A rbeit und N atu r-
stoff, sondern, als Vorstufe der Idee, deren an sich seiende Identität.72 Zu m V erhältnis der Katego rien M echanismusChem ismusTeleologie vgl. G. Lukäcs,
D er junge H ege l, Be rlin 1954» S. 397 ff. Vgl. ferner Lenin, Au s dem philosophischen
N ach laß, a. a. O ., S. 107 ff., w o das Z we ckve rhältnis als ein bisher nicht genügend beac htete s M om en t in der Bezie hung H egel M arx deutl ich gem acht w ir d. Lenin über-
setzt wesentliche Abschnitte der Hegelschen »Logik« ins MateriaiistischDialcktische,
w obei er die m ech anischen und ch em isch en G esetze als » G rundla gen der zw eck m äßig en
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kehren, wenngleich auf höherer Stufe, die Momente des chemischen
Prozesses wieder. Arbeiter und Arbeitsgegenstand sind einander äußer-
lich und doch durchs Werkzeug aufeinander bezogen: »Die teleologische
Beziehung ist der Schluß, in welchem sich der subjektive Zweck mit der
ihm äußerlichen Objektivität durch eine Mitte zusammenschließt, wel-
che die Einheit beider, als die zw eckm äßig e T hätig keit , und als die unter
den Zw eck unmittelbar gesetzte Objektivität, das M ittel, ist.«73Die endlichteleologische Tätigkeit des Menschen sprengt den Naturzu-
samm enhang nicht. Es bedarf zu ihrer Erkläru ng keines der N atu r trans-
zendenten Prinzips (sosehr sie als geschichtliche Tätigkeit Natur »ne-
giert«). Die der Natur gegenüber zunächst fremden Zwecke bedienen
sich ihrer nicht nur, sondern haben selbst natürliche Ursachen. Mit der
Gesellschaft vermittelt, s ind die Naturdinge zwar, wie MerleauPonty
sagt, »transnaturel«, nicht aber »surnaturel«74 geworden.Hegel hat wie nur Marx ein Bewußtsein von der schlechten Unendlich-
keit, die im Naturzwang zur Reproduktion des Lebens liegt. So, wenn er
über das Resultat der menschlichen Arbeit spricht: »Es ist... nur eine an
dem Vorgefundenen Material äußerlich gesetzte Form zu Stande gekom-
men, die wegen des beschränkten ZweckInhalts gleichfalls eine zufällige
Bestimmung ist. Der erreichte Zweck ist daher nur ein Objekt, das auch
w ie der M ittel oder M aterial für andere Z w ecke is t und so fo rt ins Unend-
liche .«75
Das Arbeitsprodukt, der realisierte Zweck, bleibt »ein.. . in sich gebro-
chenes«76. Die in ihm gesetzte Versöhnung von Mensch und Natur ist
keine endgültige. Die meisten Naturgegenstände unterliegen einer gan-
zen Reihe von Bearbeitungen. Der nächst höheren Phase eines Arbeits-
prozesses erweist sich das geformte Material wiederum als ein Unquali-
fiziertes, was auch Marx bei seiner Analyse der Arbeit immer wieder
hervorhebt: »Durch ihren Eintritt als P rod uktion sm ittel in neue Arbeits-prozesse verlieren Produkte daher den Charakter des Produkts. Sie
funktionieren nur noch als gegenständliche Faktoren der lebendigen
A rbeit.« 77
W as für einen is oliert betrachte ten N a tu rs to ff im H in b lick a u f die Stufen
Tätigkeit des Menschen« hervorhebt. Die dem Zweck äußerliche mechanische und
chemische Kausalität ist zugleich das Mittel seiner Realisierung. Zielsetzende Tätigkeitund Naturgesetz durchdringen einander als zwei Seiten des einen objektiven Prozesses.
73 H ege l, System der Philosophie, I, a. a. O., § 206, S. 417 f.
74 Vg l. M aurice MerleauPon ty, Marxisme et philosophie, a. a. O ., S. 230.75 H ege l, System der Philosophie, I, a. a. O ., § 2 11 , S. 421.76 A. a. O.
77 Das Kapital, Bd. I , S. 191.
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seiner Umformung gilt , charakterisiert das Verhältnis von Mensch und
N atu r in der Geschichte d er Gesellschaft schlechthin.
In der hier erörterten Struktur der Arbeitssituation mit ihrem Ineinander
von wechse lseit iger G le ich gü ltig k eit und B ezogenheit der M om ente, m it
dem Angewiesensein des Menschen auf die objektive Welt und ihre
Gesetze und der Nichtigkeit dieser Welt gegenüber seiner umwälzenden
Praxis, reflektiert sich die widerspruchsvolle Einheit der Erkenntnismo-mente bei Marx, von der im folgenden zu reden ist, wobei gezeigt werden
soll, wie erkenntnistheoretischer Realismus und (gesellschaftlich gewen-
deter) Subjektivismus — vermittelt durch historische Praxis — bei Marx
sich durchdringen.
B) Zum B e g riff de r Erkenntnis theorie bei M arx
W er den N a tu rb e g riff eines im strengen Sin ne neuzeit lichen D enkers
erörtert, kommt nicht umhin, auf dessen erkenntnistheoretische Position
e inzugehen. Es gehört zum ökonomischen Übergang von der mittelal-
terlichen zur bürgerlichen Gesellschaft, daß Natur erkenntnistheoretisch
sich immer mehr als ein »Gemachtes«, immer weniger als ein schlicht
»Gegebenes« darstellt. Je umfassender die organisierten Eingriffe in die
Naturvorgänge werden, als desto unzulänglicher erweist sich ein Begriff
von Erkenntn is , der sich im passiv en N ach bild en objektiver Strukturen
erschöpft.
Kants Rede von der Natur als dem Dasein der Dinge unter Gesetzen
setzt die transzendentalphilosophische Reflexion auf die subjekteigenen
Formen voraus, unter deren Bedingung überhaupt erst so etwas wie eine
geordnete Welt der Erfahrung zustande kommt. In der nachkantischenSpeku lation, welche die Tra nszen den talphilosop hie in idealistische D ia -
lektik überführt, wird der Gedanke der subjektivbegrifflichen Vermit
teltheit eines jeglichen Unmittelbaren zum tragenden Motiv. Auch bei
Marx geht diese Problematik nicht verloren, wenn auch als Vermit-
telndes nicht ein unendlicher Geist, sondern der historische Lebenspro-
zeß endlicher M enschen fungiert.
In dem bis jetzt Dargestellten mußte die vorliegende Arbeit, die es mit
den Hauptmomenten des historischen Prozesses zwischen Natur und
Gesellschaft zu tun hat, schon deshalb, w eil für M arx Subjekt und O bjek t
der Erkenntnis nicht voneinander ablösbar sind, auf Schritt und Tritt
immer auch Probleme berühren, die unter den Begriff der Erkenntnis-
theorie fallen.
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Es soll nunmehr versucht werden, über das bis jetzt Gesagte hinausge-
hend, expliz i t auf die bei Marx vorliegende erkenntnistheoretische Posi-
tion zu reflektieren. Das ist um so notwendiger, als man in der Literatur
noch immer erheblichen Mißverständnissen begegnet, sei es, daß Marx
einfach mit der heute im Osten in populären Traktaten propagierten
»Abbildtheorie« zusammengebracht wird, sei es, daß die mit der Marx
schen Kritik am Idealismus zweifellos einhergehende Kritik an der philo-
sophischen Haltung als solcher so verstanden wird, als müsse Marx jedes
Interesse oder Verständnis für erkenntnistheoretische Fragen abgespro-
chen werden, sei es schließlich, daß philosophisch wesentliche Äußerun-
gen von Marx, nur weil sie nicht in der Sprache der traditionellen
Universitätsphilosophie vorgebracht werden, unbeachtet bleiben.
Zunächst einmal ist zu klären, in welchem Sinne bei Marx überhaupt von
einer Erkenntnistheorie gesprochen werden kann. Vor allem deshalb, w eil die krit ische Theorie im m er w ieder nach ir gendein er erkenntnis -
theoretischen »G run dlegu ng« du rchsuch t w ord en ist78, die M ar x nicht nur
nicht geben will, söndern dem fortgeschrittenen Stand des philosophi-
schen Bewußtseins nach, wie er ihm in Hegels System entgegentritt, auch
nicht zu geben braucht. M it Recht m acht Ko nrad Bek ker in seiner Disser-
tation darauf aufmerksam, daß die im Hegelschen Sinne »abstrakte«
kritizistische Fragestel lung nach den Bedingungen der Möglichkeit von
Erkenntnis für Marx durch Hegels Kantkritik gegenstandslos geworden
ist79.
Für Marx ist wie für Hegel die höchste Gestalt der Erkenntnistheorie die
Philosophie der Weltgeschichte. Der Erkenntnisvorgang läßt sich nicht
als eine ein für al lemal fixierbare Beziehung von Subjekt und Objekt
beschreiben . D ie Lehre vo n der Einheit v o n Theorie und P raxis, w ie sie
der klassischen deutschen Philosophie und, in abgewandelter Form, der
materialistischen Dialektik eigentümlich ist, bedeutet, daß den verschie-denen geschichtlichen Formen des menschlichen Kampfes mit der Natur
auch verschiedene theoretische Spiegelungen entsprechen, die zugleich
konstitutives M om ent und A usdru ck dieses Kam pfes sind.
W ie die abstrakten M om ente eines jeden A rbeitsprozesses, »die zw eck-
mäßige Tätigkeit oder die A rb e it selb st, ihr Gegenstand und ihr
78 D a sich eine solche »G rundlegung« bei M arx — aus hier zu erörtern den G ründ en — nifchtnachweisen läßt, versuchte der Austromarxismus, Marx als »naiven Realisten« mißver-
stehend, die Theorie subjektividealistisch bzw. neukantianisch zu »verbessern« oder zu
»ergänzen«.
79 Kon rad Bek ker, Marx* philosophische En twicklun g, sein Verh ältnis zu Hege l, Disserta-tion, Zürich—New York 1940, vgl. besonders S. 48.
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Mittel«*0, eine sich jeweils geschichtlich neu formierende Einheit in
der Verschiedenheit bilden, so treten auch Sinnlichkeit und Verstand,
Anschauung und B e g riff in w echseln de K on stellationen zuein ander. D ie
Erkenntnismomente ändern sich in dem Maße, in dem die Menschen in
ein neues produktives Verhältnis zueinander und zur physischen Natur
treten. Wie im Produktionsprozeß die »Trennung der Arbeit von ihren
gegenständlichen Daseinsmomenten — Instrument und Material — aufge-
hoben«81 ist, so lassen sich auch theoretisch Methode und Sache nicht
trennen.
Das erkennende Bewußtsein ist eine Form des gesellschaftlichen, nichts,
was sich abgelö st vo n Psych olo gie und menschlicher Geschic hte bestim -
men ließe82. Die theoretischen Funktionen, sinnliche wie rationale, bil-
den einen Aspekt des sich in geschichtlicher Arbeit entfaltenden mensch-
lichen Wesens. Dazu bemerkt Marx in den Pariser Manuskripten: »Mansieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordene gegenständ-
liche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen
Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie i s t . . .
Eine Psycholo gie , für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwär-
tigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur
wirklichen in halt vollen und reellen Wissenschaft werden.«83
Dem entspricht ganz, was er, von Feuerbach sich abgrenzend, von der
Sinnlichkeit sagt: »Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen
bisherigen W eltgeschichte.« 84
Daß auch die Fähigkeit rationaler Erkenntnis, von Marx »Verarbeitung
von A nschauu ng und V orstellu n g in B egriffe«85 genannt, kein e starre
Gegebenheit des Bewußtseins, sondern ein geschichtlich Entsprungenes
und Veränderliches darstellt, wurde bereits im vorigen Abschnitt bei der
Erörterung der Rolle des Werkzeugs hervorgehoben. Engels unter-
streicht in der »Dialektik der Natur« die große Bedeutung der prakti-schen Naturbeherrschung für die Entwicklung des Denkvermögens:
»Naturwissenschaft wie Philosophie haben den Einfluß der Tätigkeit des
Menschen a u f sein D enk en bisher ga nz vernachlässigt, sie kennen nur die
Natur einerseits, Gedanken andrerseits. Aber grade die Veränderung der
N atu r durch den M enschen, nicht die Natur als solche allein, ist die
80 Das Kapital, Bd. I, S. 186.81 Ro hen twu rf, S. 269.
82 Zum Sub jektbegriff des dialektischen Materialismus vgl. auch G. A . W etter, Der dialek-
tische Materialismus, Freiburg 1952, S. 254.
83 Na tion alöko no m ie und Philosop hie, a. a. O ., S. 192 f.84 A . a. O ., S. 190.
8 5 Kr itik der politischen Ö ko no m ie, S. 258.
109
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w esentl iche und nächste G ru n dlage des m enschlichen D enkens, und im
V erh ält nis, wie der M ensch die N a tu r verändern lernte , in dem
V erhält n is wuchs seine In tell igenz.«86
In einer seiner letzten Arbeiten, den kritischen Randglossen von 1879/80
zu Adolph Wagners »Lehrbuch der politischen Ökonomie«, l iefert Marx
eine Art Genealogie des begrifflichen Denkens, die trotz ihres hohen
erkenntnistheoretischen Interesses bis jetzt noch nicht ausgewertet wor-
den ist. Die merkwürdige Stelle soll daher, trotz ihres Umfangs, hier
wiedergegeben w erden: » . . . bei einem Professoralschulm eis ter sind die
Verhältnis se der M enschen zu r N a tu r vo n vornherein n icht praktisch e,
also durch die T at begründete Verhältnisse, sondern theoretische . . . (Der)
Mensch steht im Verhältnis zu Dingen der Außenwelt als Mittel zur Be-
friedigung seiner Bedürfnisse. Aber die Menschen beginnen keineswegs
damit, >in diesem theoretischen Verhältnis zu D in gen der A u ßenw elt zustehen<. Sie fangen, wie jedes Tier, damit an, zu essen, zu tr in ken etc.,
also nich t in einem V erh ältn is z u >stehen<, sondern sich aktiv zu verhalten,
sich gewisser Dinge der Außenwelt zu bemächtigen durch die Tat, und so
ihr Bedürfnis zu befriedigen. (Sie beginnen also mit der Produktion.)
D u rch die Wied erholun g dieses Prozesses prä gt sich die Eige nscha ft dieser
Dinge, ihre Bedürfnisse zu befriedigen«, ihrem Hirn ein, die Menschen
w ie T iere lernen auch >theoretisch< die äußern D in ge, die zu r B efrie dig ung
ihrer Bedürfnisse dienen, vo r allen ändern unterscheiden. A u f gewissem
Grad der Fortentwicklung, nachdem unterdes auch ihre Bedürfnisse und
die Tätigkeiten, wodurch sie befriedigt werden, sich vermehrt und weiter-
entwickelt haben, werden sie auch bei der ganzen Klasse diese erfahrungs-
mäßig von der übrigen Außenwelt unterschiednen Dinge sprachlich
taufen. Dies tritt notwendig ein, da sie im Produktionsprozeß — i. e. An-
eignungsprozeß dieser D in ge — fortdauernd in einem werktätigen Um gang
unter sich und m it diesen D inge n stehn und bald auch im K am p f mitändern um diese Dinge zu ringen haben. Aber diese sprachliche Be-
zeichnung drückt durchaus nur aus als Vorstellung, was wiederholte
Bestätigung zur Erfahrung gemacht hat, nämlich daß den in einem
gewissen gesellschaftlichen Zusammenhang bereits lebenden Menschen
— dies der Sprache wegen notwendige Voraussetzung — gewisse äußere
D ing e zu r Be friedigun g ihrer Bedürfnisse dienen.«87
Zu nä ch st stellt M ar x hier, wie es seit den Feuerbachthesen seiner ph ilo
86 D ialekt ik der N atu r, S. 245.
87 Randglossen zu Adolph Wagners Lehrbuch der politischen Ökonomie. In: MarxEngels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 362 f.
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8/9/2019 Alfred Schmidt-Der Begriff Der Natur in Der Lehre Von Marx-Europäische Verlagsanstalt (1993)
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sophischen Entwicklung entspricht, gegenüber Adolph Wagner heraus,
daß die Beziehung der Menschen zur Natur nicht als solche abstrakt zu
fixieren ist, daß sie nicht in erster Linie theoretischbetrachtender,
sondern praktischum gestaltender A rt ist. D ie hieran sich anschließenden
Gedanken finden sich im ganzen Marxschen Werk nicht noch einmal in
solch drastischer W eise form uliert. Sie zeigen auch, da ß M ar x keines-
wegs, wie m itunte r gesagt w ird , ein gän zlich unpsycholo gischer D en ker
ist.
Die Produktion geht aus sinnlichen Bedürfnissen hervor. Mit ihr
entfalten sich alle über die Unmittelbarkeit des Vorhandenen hinausge-
henden menschlichen Fun ktionen. D ie N atu r erscheint zunäch st als eine
undifferenzierte, chaotische Masse äußerer Stoffe. Aus dem sich wieder-
holenden Umgang mit der Natur, wie er Mensch und Tier gemeinsam ist,
geht eine erste grobe Einteilung ihrer Gegenstände nach Maßgabe derdurch sie bereiteten Lust oder Unlust hervor. Es ist die elementare theo-
retische Leistung dieser Stufe, Unterschiede festzuhalten, Gegenstände,
mit denen sich lustbetonte Assoziationen verbinden, aus den übrigen
herauszuheben. Der ökonomisch fortgeschritteneren und daher organi-
sierten menschlichen Gruppe und den in ihr aufkommenden Gegensät-
zen entspricht als höhere theoretische Leistung die nominalistische Klas-
sifikation88 der N aturg egen ständ e, jetzt im H inb lick a u f w irkliche
Beherrschung. Das Besondere wird unter das AbstraktAllgemeine subsu-
miert. Wie für N ietzsche , so steht für M ar x ursprü nglich hinter der
geistigen Tätigkeit des Menschen der »Wille zur Macht« gegenüber den
Dingen und seinesgleichen. Der Geist ist ursprünglich leer. Die von ihm
gebildeten Begriffe sind das Produkt angehäufter praktischer Erfah-
rung89. Ihr Wert erschöpft sich im Instrumentalen. Bei allem Materia-
lismus dieser Ansich t ist indessen festzuhalten, d aß M arx in den Be griffen
keine naivrealistischen Abdrücke der Gegenstände selber, sondern Spie-gelungen von geschichtlich vermittelten Beziehungen der Menschen zu
ihnen erblickt.
88 Dieser schroffe N om inalismu s steht im Geg ens atz zur Einheit von Begriffsrealismus und
Nominalismus, wie sie bei der ökonomischen Analyse vorliegt. Vgl. zum Wesen der
Begriffe bei M arx auch den Br ief vom 20. 9. 1884 von Engels an K. Ka utsky. In: M arx
Engels, Ausgewählte Briefe, S. 451.
89 Lenin versucht gan z ähnlich im philosophischen N ach laß den axiomatischen Ch arak terder logischen Figuren aus gehäu fter Erfahrung abzuleiten: »D ie praktische Tä tigk eit desMenschen mußte Milliarden Male das Bewußtsein des Menschen zur Wiederholung der
ve rs ch iedenen lo gis chen Fig uren fü hre n, damit diese Figuren die Bedeutung von
A xio m en erhalten konnt en .« (S. 110) Diese Ableitung krankt wie die von Dürkheim
daran, daß die logischen Formen, die der Praxis entspringen sollen, zugleich schon
vorausgesetz t werden müssen, d am it es überhaupt zu r P raxis kom m t.
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der bisherigen Literatur nicht genügend beachteten erkenntnistheoreti-
schen Charakter der Dialektik in ihrer Hegelschen wie Marxschen
Versio n: »Im >Kapital< w erden au f eine D iszip lin (n äm lich die politi sche
Ökonomie, A. S.) Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie des Material is-
mus (man braucht nicht drei Worte: das ist ein und dasselbe) angewendet,
der alles, was bei Hegel wertvoll ist, sich angeeignet und dieses Wertvolle
w eiterentw ic kelt hat.« »D ie D ia lek tik ist eben die Erkenntnistheorie(Hegels und) des Marxismus: gerade diese >Seite< der Sache (es ist nicht
eine >Seite<, sondern das Wesen der Sache) ließ Plechanow unbeachtet,
von anderen M arxisten g an z zu schweig en.« 92
Im folgenden Abschnitt, der sich mit dem Inhaltlichen des Erkenntnis-
problems bei M ar x besch äftigt, ist zu zeigen, in w elcher Weise die histori-
sche Praxis der Menschen in ihrer Totalität die logische Einheit nicht nur
der subjektivmenschlichen Erkenntnisvermögen, sondern auch dessen,
was je weils E rfah ru ngsw elt heiß t, konstituie rt.
C) W eltkonstitution als historische Praxis
Nichts un terscheidet den authentischen so sehr vom vulgäre n M arxismus,
wie sein V erh ält nis zu den aus der D enkbew egu ng von K an t bis H egel
sich ergebenden Problemen. Trotz aller kritischen Einwände gegen Phi-losophie überhaupt ist Marx seinem ganzen Ansatz nach dem deutschen
Idealismus zutiefst verpflichtet. So kritisieren die Feuerbachthesen am
gesamten herkömmlichen Materialismus, daß er die Wirklichkeit einsei-
tig als in der Anschauung gegebenes Objekt, »nicht aber als menschliche
sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv«93 gefaßt habe. Nachdem ein-
mal die idealistische Philosophie, namentlich in ihrer Kantischen Gestalt,
gezeigt hat, daß die anschaulich gegebene Erfahrungswelt kein Letztesist, sondern immer schon das Resultat formierender und Einheit stif-
tender subjektiver Leistungen, ist Marx sich dessen bewußt, daß materia-
listische K ritik, w ill sie nicht in einen prim itiven O bjektivism us z urü ckfa l-
len, nicht darin bestehen kann, die idealistische Einsicht als solche
abstrakt in Abrede zu stellen, sondern in einer nicht mehr idealistischen
Neufassung des Problems, wie eine gegenständliche Erfahrungswelt und
ein einheitliches Bewußtsein von ihr möglich seien.
92 Lenin, Au s dem philosophischen N ach laß , a. a. O ., S. 288, S. 249, vg l. auch S. 126. Mitdem ungenügenden Verständnis des erkenntnistheoretischen Charakters der Dialektik
hängt auch zusammen, daß sie bei Autoren wie Plechanow fast stets als eine Art von
»Beispielsammlung« auftritt.93 Erste These über Feuerbach. In: M arxE nge ls, U ber Religion , S. 54.
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Die organisierte gesellschaftliche Arbeit, das »reale Subjekt«94, der im
Lebensprozeß Gestalt annehmende »general intellect«95, das Wirken des
die individuellen Tätigkeiten übergreifenden »Gesamtarbeiters«96
erweist sich dem Materialismus als die Wahrheit des idealistischen
Begriffs von Sub jektivität.
Mit der allzu abstrakten Fassung des Moments der subjektiven Tätigkeit
und damit, daß diese sich von Kant bis Hegel immer mehr zur spekula-tiven Konstruktion der Welt erweitert, geht für Marx notwendig der
Umstand einher, daß das andere, auch am seitherigen Materialismus
schon wahre Moment, daß nämlich Sein und Dingstruktur auf Denken
sich nicht reduzieren lassen, verlorengeht. In einer materialisierten
Gestalt kehrt in seiner Theorie das Problem der Weltkonstitution inso-
fern wieder, als sie versucht, vermittels des Praxisbegriffs sowohl das
idealistische Erzeugungsmoment als auch das Moment der Bewußtseins-
unabhängigkeit am äußeren Sein zu retten. Marx kritisiert daher den
alten Materialismus, indem er idealistisch, den Idealismus, indem er
materialistisch argumentiert. Das Eigentümliche dieser doppelten Front-
stellung arbeitet J.P. Sartre in seiner Schrift »Matérialisme et révolu-
tion«, allerdings unter dem Aspekt der Revolution, scharf heraus: »Idéa-
lisme et matérialisme font s’évanouir pareillement le réel: l ’un parce qu’il
supprime la chose, l ’autre parce qu’il supprime la subjectivité. Pour que
la réalité se dévoile, il faut qu’un homme lutte contre elle; en un mot, leréalisme révolutionnaire exige pareillement l ’existence du monde et de la
subjectivité; mieux, il exige une telle corrélation de l’une et de l’autre
qu ’on ne puisse con cev oir une su bjectivité en dehors du monde ni un
monde qui ne serait pas éclairé par l’effort d’une subjectivité.«97
Schon vor seiner kritischen Auseinandersetzung mit Feuerbach nimmt
M arx A nsto ß an dem starren D ualismu s der erkenntnistheoretischen
Positionen, der seit Descartes das neuzeitliche Denken beherrscht unddessen Überwindung von der deutschen Philosophie auf spekulativer
Basis versucht wurde. In den Pariser Manuskripten heißt es: »Man sieht,
w ie Subje ktiv is m us und O bje ktivism u s, Spir itualism us und M ateria lis-
mus, Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand ihren
Gegensatz, und damit ihr Dasein als solche Gegensätze verl ieren; man
sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine
praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich
94 Kr itik der politischen Ö ko no m ie, S. 2 $8.
95 Ro hen tw urf, S. 594.
96 D as K ap ital, Bd. I, S. 533 f.97 JeanPaul Sartre, M atérialisme et révolution. In: Situations, I, Paris 195 7, S. 213.
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l ichkeit zu ihrer Verän derun g überzugehen. »Das Bewußtsein . . . wider-
spiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.«102. In
Industrie überführt, wird Natur zu einem Nichtigen. Ihr »Ansichsein« als
eine dem tätigen Bewußtsein »entgegengesetzte Wirklichkeit ist zum lee-
ren Scheine herabgesunken«103, sagt Hegel in der »Phänomenologie«.
In der dargelegten praktischen Verschlingung von Objektivismus und
Subjektivismus, wie sie die Dialektik der Arbeit bei Hegel und Marxkennzeichnet, reflektieren sich die Grundpositionen neuzeitlicher
Erkenntnistheorie. Umgekehrt, und das ist der in dieser Form nur Marx
eigentümliche, materialistische Gedanke, reflektieren diese Grundposi-
tionen praktische Stufen der Produktion und ihren historischen Über-
gang ineinander.
Soweit die Menschen auf ein unabhängig von ihnen existierendes Mate-
rial verwiesen sind, ist in der Tat, wie der Sensualismus behauptet, nichtsin ihrem Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen war. Die andere Seite,
daß nämlich die passive Aneignung der Natur ebensosehr ihre Umgestal-
tung beinhaltet, bezeugt, daß Hegels Umkehrung des sensualistischen
Prinzips in den Satz, daß nichts in den Sinnen sei, was nicht vorher im
Intellekt war, mit dem Übergang in die bürgerliche Ära immer mehr
W ahrheit für sich beanspruchen kann. D ie M enschen lassen sich ihre
Zwecke nicht passiv von der Natur vorschreiben, sondern subsumieren
vo n vornherein diese unter jene. »Am Ende des Arbeitsprozesses kom m tein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung
des Arbeiters, also schon ideell vorhand en w ar .«104
Die vormarxschen Materialisten, nach deren Lehre die Natur als solche,
abgelöst von ihrer praktischen Veränderung durch die Gesellschaft, als
Quelle der verschiedenen Formen der Rückspiegelung im Bewußtsein zu
gelten hat, verkennen, daß bereits die einfachsten Wahrnehmungsbilder
A b strak tio n voraussetzen und begriffliche Elem ente enthalt en 105. Wiealle Abstraktion auf Wahrnehmung, so beruht al le Wahrnehmung als
solche von wirklich oder vorwegnehmendgedanklich bearbeiteten D i n -
102 Len in, Au s dem philosophischen N ach laß , a. a. O ., S. 134.
103 H egel, Phän om enologie des Geistes, a. a. O ., S. 287.
104 D as Ka pit al, Bd. I, S. 186.
105 Vg l . dazu auch M. H orkheimer u. Th . W. Adorn o, D ialektik der Aufklärun g, a . a. O. ,
S. 107 f., wo auf das wahrnehmungsphysiologische Moment verwiesen wird. In seiner
Sch rift W iderspiegelun g und Be griff, Berlin 1958, die eine prinzip ielle Kläru ng des in dermarxistischen Literatur immer wieder zur Kennzeichnung der Erkenntnisrelation
benutz te n Begrif fs der »W id er sp ie ge lung« versucht, ze ig t J. H . H orn , d aß die Q uelle der
punktuellen Empfindungen schlechterdings »Natur« sein muß. Die Differenz zwischen
gesellschaftlich angeeigneter und noch unangeeigneter Natur ist auf der Stufe des
Empfindens irre leva nt »Aber bereits in den W ahrnehm ungen ist ein gedanklichbegrifflich es Elem ent m it enth a lten . . S. 94, vg l. a uch S. 96 ff.
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gen auf begriffl ichen Operationen. An den Wahrnehmungsinhalten läßt
sich nicht trennen, was auf bloße Natur und was auf menschlichen
Eingriff zurückgeht. Im Anschluß an die Marxsche These, daß die
Psychologie nur dann eine inhaltsvolle Wissenschaft werden könne, wenn
sie von der Geschichte der Industrie nicht abgetrennt werde, legt der
Psychologe S. L. Ru binstein dar, wie die gesamte W ahrne hm un gsw elt
und die Wahrnehmungsweisen von den Formen der menschlichen Betäti-gung an den Naturgegenständen abhängen: »Wenn wir speziell die
menschlichen Wahrnehmungen und ihre historische Entwicklung
betrachten, so ze igt sich h i e r . . . die A b h än g ig k eit der Form der R ezep -
tion von der des Handelns als eine Abhängigkeit der spezifisch menschli-
chen Wahrnehmung und ihrer Entwicklung von der der gesellschaftli-
chen Praxis: Die gesellschaftliche Praxis verwandelt die Natur und
erzeugt das gegenständliche Sein der vermenschlichten Natur. Damitruft sie neue Formen der spezifisch menschlichen Wahrnehmung teil-
weise hervor, te ilw eise en tw ickelt sie diese. D ie spezif is ch m enschlich en
Formen der Wahrnehmung sind nicht nur Voraussetzung der spezifisch
menschlichen Tätigkeit, sondern auch ihr Produkt.«106
Wie die M enschen in ih rer Praxis nicht bei der sich darbie te nden U n m it-
telbarkeit des Naturseins beharren, sondern zu seiner vermittelteren
industriellen Aneignung übergehen, so bleiben sie auch nicht beim sinn-
lichkonkreten Wissen stehen, wie die Wahrnehmungen es liefern, son-dern gehen zum begrifflichen Wissen über, das tiefere Wirklichkeits-
schichten erschließt und sich somit als »konkreter« erweist als das sinn-
liche Wissen, das seiner Form nach farbig und lebendig, inhaltlich
dagegen arm an Bestimmu ngen und daher ab strakt ist. Au ch im M ateria-
lismus gilt Hegels Einsicht von der Konkretheit des Begriffs, durch
welch e die Fülle der im G egenstand waltenden Bezie hungen und G esetz-
mäßigkeiten enthüllt wird. Allerdings mit der wesentlichen Korrektur,daß der Begriff ans erkennende endliche Bewußtsein gebunden bleibt,
weshalb er auch n icht als »D em iu rg des W irklich en «107 aufzutreten
verm ag. D ie im Z usam m enhang m it der Sch rift »Zur K ritik der p o li ti-
schen Ökonomie« entstandenen methodologischen Erwägungen halten
gegenüber Hegel ausdrücklich fest, daß die »Bewegung der Katego-
rien«108 streng unterschieden werden muß von der durch sie reprodu-
zierten Wirklichkeit. Die ökonomische Analyse hebt an mit dem »Kon-
106 S. L. Rubinstein, Grundlagen der allgemeinen Psychologie, Moskau 1946, Berlin 1948,
Übersetzung aus dem Russischen, S. 131.107 Das Kapital, Bd. I, S. 18.
108 Kritik d er politischen Ö ko no m ie, S. 2 $8.
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kreten« im landläufigen Sinne, mit einer Fülle dessen, was die Positivi
sten als »Tatsachen« bezeichnen. Näher betrachtet, zeigt es sich jedoch,
daß diese Tatsachen in ihrer Isolierung pure Abstraktionen sind. Erst
indem das wirklich begreifende Denken die vielen abstrakten und einsei-
tigen Bestimmungen des gegebenen Prozesses verarbeitet, entsteht ein
Konkretes: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung
vie ler Best im m ungen ist, also Einheit des M annigfaltigen . Im D enken
erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht
als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher
auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist.«109
Insofern ist die erste Unmittelbarkeit, jenes im positivistischen Sinn
»Konkrete«, von dem auszugehen ist, identisch mit dem Konkreten
höherer Ordnung, als welches es sich nach seiner theoretischen Durch-
dringung erweist. Daraus folgt indessen für Marx nicht, daß »die begrif fne W elt als solche erst das W irklich e is t«110. D er G a n g des
konkreten Begriffs erzeugt seinen Gegenstand nicht: »Hegel geriet. . .
auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassen-
den, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu
fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzustei-
gen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als
ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entste-
hu ngsp rozeß des K onk reten selbst.«111
Natürlich wäre Marx der letzte gewesen, der nicht ebensosehr zugegeben
hätte, daß der Erkenntnisprozeß nicht nur eine Reproduktion der mate-
riellen Verhältnisse darstellt, sondern auch deren Charakter in hohem
Grade zu bestimmen vermag. Das gilt nicht nur für die Theorie der
Gesellschaft, sondern vor allem auch für die Naturwissenschaften, die
sich zu einer »unmittelbaren Produktivkraft«112 entwickeln.
Es ist kein Zufall, daß die Anfänge der wirklichen Gesetzeserkenntnisder Natur in der Renaissance mit dem Entstehen der bürgerlichen Welt
einhergehen. Der Produktionsprozeß wird in immer höherem Maße zur
planmäßigen Anwendung naturwissenschaftl icher Einsichten; er geht
schließlich selbst in »Experimentalwissenschaft«113 über, wie Marx im
»Rohentwurf« sagt. Mit der Entwicklung dieses »experimentalwissen-
schaftlichen« Charakters der Produktion treten individuelle Leistungen
immer mehr in ihrer Bedeutung zurück: »Das Detailgeschick des indivi-
109 A . a. O ., S. 257.
1 10 A . a. O ., S. 2 J7 f.
i n A . a. O .
112 Ro hen twu rf, S. 594.
113 A. a. O., S. 599.
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duellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als ein winzig
Nebending vor der Wissenschaft, den ungeheuren Naturkräften und der
gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert
sind.«114
Die Geschichte erzwingt die Versöhnung des »allgemeinen gesellschaftli-
chen Wissens«115 mit der materiellen Produktion. Sie macht es immer
unabweisbarer, daß der Lebensprozeß der Menschen unter die wirksame»Kontrolle des general intellect«116 gebracht wird.
Marx stimmt mit der bürgerlichen Aufklärung darin überein, daß das
nicht auf die Bewältigung praktischer Aufgaben gerichtete Denken zur
Schrulle wird. »In der Praxis m uß der Mensch die W ahrh eit, das heißt die
W irklich keit und M acht, die D iesseitigkeit seines D enkens beweisen.« 117
Zur Praxis zählt bei Marx nicht nur der Lebensprozeß der Gesellschaft
als ein Ganzes und die revolutionäre Aktion, die aus seinen Antago-
nismen hervorgehen soll, sondern auch die Industrie im engeren Sinne
und das naturwissenschaftliche Experiment. Industrie und Experiment
bilden als K ontrollinstan zen ein wesentlich es M om ent des E rkenntnis-
prozesses. »Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich
schließlich n icht im .K o p f der Gelehrten, sondern in der Industrie.«118
Nicht innerhalb des begrifflichen Denkens, sondern nur insofern es expe-
rimentell erprobt wird, läßt sich über Wahrheit oder Unwahrheit eines
bestim mten Theorem s befinden. D eshalb fordert L enin im A n sch lu ß anMarx: »Der Gesichtspunkt des Lebens und der Praxis muß der erste und
grundlegende G esichtspun kt der Erkenntnistheorie sein . . . Freilich darf
dabei nicht vergessen werden, daß das Kriterium der Praxis dem Wesen
nach niemals irgendeine menschliche Vorstellung völlig bestätigen oder
w id erle gen kann. A u ch dieses K rite rium is t >unbestimmt< genug, um die
V erw an dlu n g der m enschlichen Kenntnisse in ein >Absolutum< zu verhin -
dern, zugleich aber auch bestimmt genug, um gegen alle Spielarten desIdealismus und Agnostizismus einen unerbittl ichen Kampf zu füh-
ren.«119
Näher noch geht Lenin bei seinem Hegelstudium auf den erkenntnis
114 Da s Kap ital, Bd. I, S. 445.
115 Ro hen twu rf, S. 594.116 A .a .O . Zum Verhältnis von N aturwissenschaft, Geschichte der Techno logie und
Geschichte der materiellen Produk tion vgl. auch Gerhard K osel, Prod uk tivkra ft Wissen-
schaft, bei dem nicht nur die gesellschaftliche Bedingtheit der Naturwissenschaft,sondern auch umgekehrt ihre Entwicklung zur eigenständigen Produktivkraft innerhalb
des Unterbaues v erfolg t wird.117 Zw eite These über Feuerbach. In: MarxEn gels, U ber Religion, S. 54.
118 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. In: Zeitschrift für Sozialfor-
schung, Jahrgang VI, Heft 2, Paris 1937, S. 252.1 19 Lenin, M aterialismu s und Em piriokritizism us, a. a. O ., S. 143.
119
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theoretischenr Aspekt des Marxschen Praxisbegriffs ein, dessen Keime er
schon in Hegel angelegt sieht: »Das theoretische Erkennen soll das
Objekt in seiner Notwendigkeit, in seinen allseitigen Beziehungen, in
seiner widerspruchsvollen Bewegung, an und für sich geben..Aber der
menschliche Begriff erfaßt, ergreift diese objektive Wahrheit des Erken
nens und bemächtigt sich ihrer >endgültig< erst dann, wenn der Begriff
zum >für sich Sein< im Sinne der Praxis wird.«120
Die inzwischen in alle Lehrbücher des dialektischen Materialismus einge-
w anderte Redeweise, daß M arx zu fo lge die his to rische Praxis die G ru n d -
lage der Erkenntnis und das Kriterium der Wahrheit sei, behält ihren
genuinen Sinn nur dann, wenn sie einmal nicht pragmatistisch121 mißver-
standen wird, zum anderen, wenn nicht vergessen wird, daß die erkennt-
nistheoretische Rolle der Praxis sich keineswegs darin erschöpft, gewis-
sermaßen als ein der Theorie äußerliches Anhängsel, rückwirkend dieÜbereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Denkinhalt und
Gegenstand festzustel len, sondern daß die Praxis überhaupt nur Wahr-
heitskriterium sein kann, weil sie — als ein geschichtliches Ganzes — die
Gegenstände der normalen menschlichen Erfahrung konstituiert, wesent-
lich an ihrer inneren Z usam m ensetzung beteiligt ist.
Die sinnliche Welt ist immer auch ein Produkt der Industrie. Vom
einfachsten Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs bis zur komplizierte-
sten Maschine ist sie, wie es im »Rohentwurf« heißt, »natürliches Mate-
rial, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder
seiner Betätigung in der Natur«122. Aus der Arbeitsbeziehung von
Subjekt und Objekt geht eine sich den einzelnen Menschen gegenüber
verselb stä ndig ende, feste und gegenständliche W elt hervor. »W as a u f sei-
ten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als
ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts.«123
Die von »Gedankenobjekten wirklich unterschiedenen Objekte«124, vondenen mit Feuerbach aller physikalische Materialismus spricht, werden
zu solchen überhaupt erst im strengen Sinne dadurch, daß Menschen,
120 Lenin, Aus dem philosophischen N ach laß , a. a. O ., S. 132 f.
121 D ar au f weist besonders Ernst Bloch bei seiner Interp retation der FeuerbachThesen hin.
V g l. D as Prinzip H offn u n g, Bd. I, a. a. O ., A bsch n it t 19. A us der prakti sch en N ü tzlich -
keit der Ideologie für den Fortbestand von Herrschaft geht für Marx gerade nicht ihre
W ahrheit herv or. Im O sten h at nach Lenin s To de, fr eil ic h auch unte r dem D ru ck m ate -
rieller Verhältnisse, der sich mit Marxscher Terminologie nur dünn rationalisierendeHinw eis darauf, d aß alles Den ken dem »sozialistischen Aufbau« zu dienen habe, weitge-
hend zur praktizistischen Verengung der Theorie und politischen Verdächtigung eines jeden fr eien G edankens gefü hrt.
122 Ro hen twu rf, S. 594.
123 D as Ka pita l, Bd. I, S. 189.
124 Erste Th ese über Feu erbach, a. a. O. , S. 54.
120
8/9/2019 Alfred Schmidt-Der Begriff Der Natur in Der Lehre Von Marx-Europäische Verlagsanstalt (1993)
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produktiv durch sie hindurchgehend, ihnen gerade ihre »naturwüchsige«
Eigenständigkeit nehmen.
Soweit Gegenständlichkeit in den sich historisch erweiternden Bereich
menschlichen Eingriffs fällt, ist sie ein Zusammengesetztes. Soweit sie
nicht in diesen Bereich fällt, ist sie zumindest gedanklich präformiert.
»Selbst dort, wo es sich um die Erfahrung natürlicher Gegenstände als
solcher handelt, ist deren Natürlichkeit durch den Kontrast zur gesell-schaftlichen W elt bestimm t und insow eit von ihr a bh än gig.«125 Da s
M odell von G egenständlichkeit ist für M arx das einzelne Arbeitsprod ukt,
der Gebrauchswert. Wie er, konstituiert sie sich aus zwei Elementen,
einem »materiellen Substrat«, das »ohne Zutun des Menschen von Natur
vorhanden ist«126, und form ie render A rbeit. Anders freil ic h, als die
neukantianisierenden Austromarxisten es sich vorstellten, die von außen
die Marxsche Theorie der Geschichte glaubten erkenntnistheoretischergänzen zu müssen, besteht so zwischen Marx und Kant eine bisher noch
nicht genügend beachtete Beziehung. Ganz wie bei Kant lassen sich auch
bei M arx Form und M aterie der erschein enden W elt nur in abstr acto,
nicht aber real trennen. Wie bei Kant, und das ist letztlich der Grund,
wesh alb es sinnvoll ist, bei ein er E rörterung der M arxschen D ia lek tik au f
die Kantische Konstitutionsfrage zu verweisen127, bleiben auch bei Marx
Form und Materie einander äußerlich, so verschieden von Kant Marx im
übrigen auch ihre Wechselbeziehung bestimmt. Was bei Kant »trans-
zendentale Affinität« heißt, die subjektive Geformtheit des sinnlichen
Materials und dessen zunächst chaotischen Charakter unterstellt, ist bei
Marx im »Kapital« die gesellschaftliche Geformtheit einer selber bereits
geformten Natur: »Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfah-
ren, wie die N a tu r selbst, d. h. n ur die Form en der Stoffe ändern .« 128
Mit diesem Gedanken knüpft Marx unmittelbar an Hegel an, der in
seiner Rechtsphilosophie, ebenfalls im Hinblick auf menschliche Arbeit,schreibt: »Immer aber ist die Materie nicht ohne wesentliche Form, und
125 M ax Ho rkheim er, Trad itionelle und kritische Theo rie, a. a. O ., S. 257.
126 D as Kap ital, Bd. I, S. 47.
127 Im Sinne einer Ko nstitutions theorie, die sich allerdings sow eit an Ka nt anlehnt, daß sie
dem bearbeiteten Naturstoff jede Eigenstruktur abspricht, stellt der Marxsche Materia-
lismus sich dar bei JeanYves Calvez, La pensée de Karl Marx, a. a. O. Calvez zufolge bes te ht der dialektische C ha rak ter dieses Materialismus darin, »que la totalité de l ’expé-
rience est constituée d’un r ap p o rt . . . entre l’homm e et la nature. La relation entre deux
termes est le mouv emen t entier du réel«, S. 378. Z ur m arxistischen D eutu ng des idealisti-schen Problems der Weltkonstitution vgl. auch die Husserlkritik von Tran Duc Thao,
Phénom énologie et matérialisme dialectique, Editions M inhTan , Paris 1 95 1, S. 228. Zu r V erm itt lu ng von erkenntn is th eoretischem Realism us und Subje ktivis m us in der M a rx -
schen Dialektik vgl. auch Joachim Schumacher, Die Angst vor dem Chaos, Paris 1937,S. 75.
128 D as Ka pita l, Bd. I, S. 47.
12 1
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nur durch diese ist sie etwas. Je mehr ich diese Form aneigne, desto mehr
komme ich auch in den wirklichen Besitz der Sache.«129
In dem Prozeß zwischen Kant und Hegel nimmt Marx einen nur schwer
zu fixierenden verm ittelnden O rt ein. Seine materialistische Kr itik an
Hegels Identität von Subjekt und Objekt führt ihn zu Kant zurück, ohne
daß doch bei ihm das mit dem Denken unidentische Sein wiederum als
unerkennbares »Ding an sich« aufträte. Wollte Kant mit dem Begriff der»transzendentalen Apperzeption« gleichsam ein für allemal dartun, wie
es zur einheitl ichen Erfahrungswelt kommt, so hält Marx, Kants These
vo n der N ich tid en titä t v o n Subje kt und O b jek t beib ehaltend, an der
nachkantischen, die Geschichte nicht ausklammernden Einsicht fest, daß
Subjekt und Objekt in wechselnde Konstellationen zueinander treten,
ganz wie die in verschiedenen Arbeitsprodukten verwirklichte Einheit
des Subjektiven und Objektiven zugleich beinhaltet, daß die »Proportion
zwischen A rb eit und N atu rst o ff sehr verschieden« 130 ist.
Insgesamt läßt sich sagen, daß in dem historischökonomischen Prozeß
der Subjektivierung des Objektiven und der Objektivierung des Subjek-
tiven unter vorindustriel len Verhältnissen dem objektiven Naturmoment
ein Übergewicht zukommt, daß dagegen unter den Bedingungen der
Industriegesellschaft das Moment des subjektiven Eingriffs gegenüber
dem naturgegebenen Material in wachsendem Maße sich durchsetzt.
Der Übergang zur industriel len Produktion bedeutet jedoch nicht nureine neue Stellung des Subjekts zu seinem Material, sondern auch, daß
sich dieses in den Bereich ökonomischen Interesses tretende Material
nach Um fang und A rt ändert: »Die äußeren Naturbedingun gen zerfal len
ökonomisch in zwei große Klassen, natürlichen Reichtum an L ebensm it-
teln, also Bodenfruchtbarkeit, fischreiche Gewässer usw., und natürlichen
Reichtum an A rbeitsm itteln , wie lebendige Wassergefälle, schiffbare
Flüsse, H o lz, M etalle, K oh le usw. In den Ku lturan fäng en gibt die erstere,auf höherer Entwicklungsstufe die zweite Art des natürlichen Reichtums
den Ausschlag.«131
Unter den Voraussetzungen einer agrarischen Wirtschaftsweise verhal-
ten sich die Menschen zu der sich ihnen unmittelbar als Reichtum an
Lebensmitteln darbietenden Natur passivempfangend: »Die Erde wird
hier noch als von Menschen unabhängiges Naturdasein anerkannt, noch
nicht als Kapital, d. h. ein Moment der Arbeit selbst. Vielmehr erscheint
die A rb eit als ihr M om ent.«132
129 H ege l, Gru ndlinien der Philosoph ie des Rechts, H offm eister, Berlin 1956 , § J2, S. 63.
130 Zu r K ritik der politischen Öko no m ie, S. 30.
131 D as K ap ital, Bd. I, S. 537 f.
132 N ation alöko no m ie und Philosophie, S. 174.
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w as ein N atu rd in g ist, w enn w ir die G esam theit der in dustrie llen und
naturwissenschaftlichexperimentellen Veranstaltungen kennen, die es
herzustellen gestatten. — Dieser Gedanke spielt eine erhebliche Rolle in
der von Engels w iederholt unternommenen K ritik des Kantischen »Dings
an sich«. Zu dem Ausspruch, daß es unerkennbar sei, sagt er in der »Dia-
lektik der Na tur« : »Er f ü g t . . . unsrer wissenschaftl ichen Kenntnis kein
W ort h in zu , den n wenn w ir uns n icht m it den D in gen beschäft ig en
können, so existieren sie für uns nicht.«137
Für die materialistische Theorie besteht wie für Hegel zwischen dem An-
sich und dem Füruns der Dinge, zwischen dem gesellschaftlich angeeig-
neten und dem noch unangeeigneten Naturbereich eine relative und
historische, keine prinzipielle Grenze. Mit den Erscheinungen der Natur
erfassen die Menschen immer auch ihr Wesen. Gegen Humes und Kants
Agnostiz ism us v e n d et die Engelssche Feuerbachschrift ein : »D ie schla-gendste Widerlegung dieser wie aller ändern philosophischen Schrullen
ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die
Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können,
indem wir ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsren
Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfaß-
baren >Ding an sich< zu Ende. D ie im pfla n zli ch en und tierischen K örper
erzeugten chemischen Stoffe blieben solche >Dinge an sich<, bis die orga-
nische Chemie sie einen nach dem ändern darzustellen anfing; damit
w urde das >Ding an sich< ein D in g fü r uns, w ie z .B . der F arb stoff des
Krap ps, das Alizarin , das w ir nicht mehr au f dem Felde in den K rap pw ur-
zeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und einfa-
cher hersteilen.«138
137 Dialek tik der N atur, S. 257.
138 Lu dw ig Feuerbach und der A us gan g der klassischen deutschen Philosophie, S. 19 f. ZumProblem des »Dings an sich« und der Praxis vgl. auch die Einleitung der englischen
A usg abe der Enge lsschen Sch rif t D ie E ntw ic klu ng des Sozialism us von der U to p ie zu r
W is sensch aft D as in der L itera tu r berü hm t gew ordene »A liza rin beis pie l« aus der
Feuerbachschrift hat immer wieder herhalten müssen, wenn man Engels philosophische
Un zuständ igkeit nachweisen wo llte. Schon L ukäcs schreibt in G eschichte und K lassenbe-
w ußts ein unte r V erkennung des w irkli chen Sachverhalt s a u f S. 145: » V or al lem g il t es
hier eine bei dem H egelkenner Engels fast unbegreifl iche terminologische U ngen auigkeit
richtigzustellen. Für Hegel sind >an sich< und »für uns< durchaus nicht Gegensätzet sondern im G egen teil: n otwe ndig e K orre late. D aß etwas b loß »an sich< gegeben sei,
bed eute t fü r H egel, d aß es b lo ß »für uns< ge geb en ist .« W ie ab er au s dem Zusa m m enhan g
hervorgeht, wendet sich En gels mit seiner Kritik vornehm lich gegen einen Agn ostizismus
vom T yp u s K ants . K ants , n ic ht H egels U nte rscheid ung des »Ans ich« und des »Füruns«
steht zur Diskussion. Engels macht sich in richtiger, wenngleich populärer Weise Hegels
Kantkritik zunutze. Die Erscheinungen sind dem Wesen nicht nur entgegengesetzt,
sondern zugleich konkrete Bestimmtheiten dieses Wesens. Vgl. zur Engelsschen Kritikdes » ping s an sich« auch die Dissertation von K . Be kker, M arx ’ philosophische Entw ick-
lung, sein Verhältnis zu Hegel, a. a. O., S. 4 6 f.
124
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Zum Problem der erkenntnistheoretischen Rolle der Praxis gehört auch
die Frage nach dem Verhältnis der historischen Kategorien, unter denen
Natur jeweils sich darstellt, zu ihrer objektiven Struktur. Zu unter-
scheiden sind bei M arx zun ächst einmal die im engeren Sinne ök o -
nomischen Kategorien, wie »Kapital«, »Ware«, »Wert«, von den lo-
gischerkenntnistheoretischen, wie »QualitätQuantitätMaß«, »Wesen
ScheinErscheinung«, deren sich die ökonomische Analyse bedient und
die Hegels »Wissenschaft der Logik« entstammen. Von den Kategorien
der bürgerlichen Ökonomie sagt Marx: »Es sind gesellschaftlich gültige,
also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser
historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Waren-
produktion.«139 W ährend die ökonom ischen K ategorien m it dem U n tergan g der von
ihnen ausgedrückten historischen Verhältnisse ihre Gültigkeit verlie-
ren140, verdanken sich die logischen Kategorien zwar auch empirisch-
menschlichen Voraussetzungen, haben aber eine allgemeinere und
umfassendere Gültigkeit. Sie sind gattungsgeschichtliche Sedimente,
jenes »Id ee lle«, vo n dem es in ein er nicht sehr glü cklichen Form ulierung
im Nachwort zur zweiten Auflage des »Kapitals« heißt, es sei »nichts
andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materiel-
le«141. Die Kategorien sind für Marx aus der lebendigen Praxis heraus-
wachsende gedankliche E tap pen und K notenpu nkte der th eoretisch en
Naturaneignung142. Sie drücken immer zugleich Strukturen der
materiellen W irklich keit und Stufen ihrer geistigpraktischen U m gestal-
tung aus.
D ) Bem erkungen zu den K ategorie n der mate ria listisch en D ia lek tik
139 D as K ap ital , Bd. I, S. 81 f.
I4° Vgl. dazu auch die Marxsche K ritik an Proud hon im Elend der Philosophie, wo die histo-rische Relativität der ökonomischen Kategorien mit Nachdruck hervorgehoben wird.
141 Da s K ap ital , Bd. I, S. 18.142 Zu dem von Lenin in seinem N ach laß geforderten Ausbau der Dialektik als Erkenntnis-
theorie gehören die Bestrebungen neueren Datums im Ostbereich, sich über den logisch-
historischen Ch arak ter d er dialektischen Kategorien im M aterialismus zu verständigen.
Interessant ist dabei, daß die Marxschen Texte in weitaus stärkerem Maße als bisher in
die Diskussion einbezogen werden. Die Untersuchungen gehen von dem richtigenGedanken aus, daß die Kategorien bei Marx nicht einfach die Hegelschen sind, versehen
mit einem materialistischen »Vorzeichen«, sondern daß es darauf ankommt, bis inseinzelne zu verfolgen, wie die logischen Kategorien Moment und Ausdruck der mate-riellen Wirklichkeitsstruktur in einem sind. Vgl. dazu auch die für die nachstalinistische
Phase typische, von M. M. Rosental und G. M. Schtraks herausgegebene Schrift, Kateg o-
rien der materialistischen D iale kt ik, M oskau 1956, Berlin 19 5 9, in der die Ka tegor ien als
»Grundbegriffe« definiert werden, die »die allgemeinsten und wesentlichsten Zusam-
menhänge und Beziehungen der Gegenstände widerspiegeln«, S. 15.
1 *5
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nition der Tiere als bloßer Maschinen sieht mit den Augen der Manufak-
turperiode im Unterschied zum Mittelalter, dem das Tier als Gehilfe des
Menschen galt, wie später wieder dem Herrn v. Haller in seiner Restau-
ration der Staatswissenscha ften«.«146
Er merkt im gleichen Zusammenhang zwar kritisch an, daß »Descartes
ebenso wie Bacon eine veränderte Gestalt der Produktion und praktische
Beherrschung der Natur durch den Menschen als Resultat der veränderten D enkm ethod e betrachtete«147, daß den Philo sophen, m it
anderen Worten, ihre gesellschaftliche Basis unbewußt blieb, es ist aber
nicht davon die Rede, daß die neuzeitliche Denkmethode nur Ideologie,
nicht auch zug leich Sp iegelung der wirklichen N atu r gewesen sei148.
In der »Dialektik der Natur« befaßt Engels sich mit der wichtigsten
Kategorie der Naturerklärung, der Kategorie der Kausalität. Weder ist
die Vorstel lung, da ß zw ei Ereignisse nach einer Regel mit No tw en digk eitaufeinander folgen, eine bloße, der menschlichen Sphäre entlehnte Pro-
je ktio n noch lä ß t sich das K ausalg esetz naivrealistis ch au s der N a tu r
einfach ablesen. Der Umstand, daß die Menschen in ihrer Produktion in
der Lage sind, Kausalzusammenhänge herzustellen, auch solche, die es
sonst in der Natur nicht gibt, relativiert für Engels den Begriff der Kausa-
lität als einer objektiven Kategorie nicht so sehr, als daß er diese Objekti-
v itä t vollends bestätig t: »W ir finden aber nic ht nur, d aß au f eine gew isse
Bewegung eine andre folgt, sondern wir finden auch, daß wir eine
bestim mte Bew egung hervorbrin gen können, in dem w ir die Bedin gungen
hersteilen, unter denen sie in der Natur vorgeht, ja daß wir Bewegungen
hervorbringen können, die in der Natur gar nicht Vorkommen (Indu-
strie), wenigstens nicht in dieser Weise, und daß wir diesen Bewegungen
eine vorher bestimmte Richtung und Ausdehnung geben können. H ier-
durch, durch die Tätigkeit des Menschen, begründet sich die Vorstellung
von Kausalität, die Vorstellung, daß eine Bewegung die Ursache einerändern ist. Die regelmäßige Aufeinanderfolge gewisser Naturphäno-
146 Das K apita l, Bd. I, S. 408, Fuß note 111 .147 A. a. O.
148 D aß die Wahrheit für M arx imm er der Proz eß der Mom ente, nie ein abstrakter Stand-
pu nkt ist, geht sehr schön h ervo r aus einer Stelle im Ro hen twu rf, S. 579, die sich auf den
Fetischcharakter der W are bezieht: »Der grobe Materialismus der Ö kon om en, die gesell-
schaftlichen Produktionsverhältnisse der Menschen und die Bestimmungen, die dieSachen erhalten, als unter diese Verhältnisse subsumiert, als natürliche E igenschaften der
Dinge zu betrachten, ist ein ebenso grober Idealismus, ja Fetischismus, der den Dingen
gesellschaftliche Beziehungen als ihnen immanente Bestimmungen zuschreibt und sie so
mystifiziert.« Wie gesellschaftliche Charaktere der Dinge nicht in natürliche mystifiziert
werden dürfen, so sind um gekehrt die unte r gesellsch aft lich bedin gte n K ategorie n sich
darstellenden natürlichen Sachverhalte nicht einfach in gesellschaftliche auflösbar.
1^7
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IV . K a pite l
Zur Utopie des Verhältnisses von Mensch und Natur
A u f den ersten B lick m ag es abw egig erscheinen, den B eg riff der U top ie
überhaupt im Zusammenhang mit der Marxschen Lehre erörtern zu
wollen. Sein em Selb stverständnis nach ist M arx kein U top ist. E r gla ubt,
die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft vollendet zu haben, über alles phantastis che Ausspin nen vollk om m ener
Menschheitsverhältnisse hinaus zu sein. Zeit seines Lebens kritisiert er
die Utopisten, während seiner Jugendzeit die Linkshegelianer und früh-
sozialistische Autoren wie Proudhon, Owen, Heß und Grün, später das
System Com tes.
Bei dieser K rit ik erweist sich M ar x als S chüler Heg els, der sich besonders
in der Vorrede der »Grundlinien der Philosophie des Rechts« gegen jedes
A usm ale n eines kün ftigen Zustandes, gegen jedes leere Sollen wendet,
das un verm ittelt dem Sein entgegeng esetzt wird.
Bemerkenswert ist nun, daß Marx, gerade indem er mit Hegel in der
A ble hn ung alles abstrakte n U topis ie rens überein stim m t, zum w ah r-
scheinlich größten Utopisten der Geschichte der Philosophie wird.
Gerade als Schüler Hegels wird er über die von diesem gesetzte Grenze,
die sich gegenüber jeder historischen Zukunft erhaben dünkt, hinausge-
trieben. A m Beg reifen und der A na lyse dessen, was ist, von H ege l gegenleere Ideale angeführt, läßt Marx es wahrlich nicht fehlen. Das Ernst-
nehmen des Gegebenen schließt jedoch nicht aus, bestimmte Aussagen zu
machen über die objektivgeschichtliche Tendenz eben dieses Gegebe-
nen; theoretische Aussagen, die in ihren Inhalten streng orientiert sind an
der analysierten und dialektisch bewegten Wirklichkeit und selbst ein
Moment dieser Wirklichkeit ausmachen.
In diesem Sinne versteht auch Ernst Bloch das uneingestanden utopische
Bewu ßtsein bei M arx . Es antizipiert eine kü nftige menschliche W irk lich-
keit nach Maßgabe der im Bestehenden angelegten realen Möglichkeit.
In seinem Werk »Das Prinzip Hoffnung«, das sich als eine Phänomeno-
logie und Enzyklopädie der Gestalten des utopischen Bewußtseins ver-
steht, versucht Ernst Bloch den Begriff der Utopie, der dem Marxschen
i z 9
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Denken an sich fremd ist, für die Theorie zu retten, indem er darauf
verw eis t, d aß bei M arx stre nge Situatio nsanaly se und antiz ip ie rendes
Bewußtsein zu Momenten eines geschichtlichen Prozesses werden, wäh-
rend die von Marx mit Recht kritisierten Utopisten deshalb abstrakt blei-
ben, w eil sie beim A usm ale n des K ü nftigen verharren, ohne im W irk li-
chen theoretisch die Kräfte aufzuspüren, die über seine jetzige Gestalt
hinaustreiben1.Zunächst einmal ist es von Interesse, daß das Utopieproblem zuerst bei
Engels auftaucht. In der Schrift »Umrisse zu einer Kritik der National-
ökonomie« aus dem Jahre 1844, die, wie auch ihr T itel verrät, M arx auf
die ökonomische Problematik aufmerksam macht, spricht Engels vom
Sozialismus als von der »Versöhnung der Menschheit mit der Natur und
mit sich selbst«2.
Daß Marx, namentlich in den Pariser Manuskripten, nicht nur von
Feuerbachs Hegelkritik, sondern auch von den Ansichten des damaligen
Feuerbachianers Engels sich leiten läßt, steht außer Zweifel. In den
Pariser Manuskripten äußert er sich zum Kommunismus folgenderma-
ßen: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums,
als menschlicher Selbstentfremdung, und darum als wirkliche Aneignung
des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als voll-
ständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen
Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesell-
schaftlichen, das heißt menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist
als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanis-
mus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites
zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die
w ahre A u flösu n g des Streits zw is chen Existenz und W esen, zwischen
Vergegenständlichung und Selb stbestä tig ung, zw is chen Freih eit und
Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelösteRätsel d er G eschichte und w eiß sich als diese Lö sun g.«3
Sosehr auf der einen Seite festzuhalten ist, daß das Marxsche Werk nicht
in zwei beziehungslose Teile zerfällt, sosehr lehrt gerade das Utopiepro-
blem a u f der anderen Seite, um w ievie l der m ittlere und späte M arx der
abstrakten und romantisierenden Anthropologie der Pariser Manu-
skripte voraus ist. Es ist kein Zufall, daß sie fragmentarisch blieben und
daher zu Lebzeiten von Marx nicht veröffentl icht wurden. Bei al ler
1 Oh ne daß die vorliegende A rbeit in allen Punkten dem, was nach B loch den Inhalt der
M arxschen U top ie ausm acht, zu folgen verm öchte, lehnt sie sich form al an das Blochsche
Marxverständnis in dieser Frage an.
2 Engels, Um risse zu einer K ritik der N ation alöko no m ie, S. 17.3 N ationalöko nom ie und Philosophie, S. 181.
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geschichtsphilosophischen Konkretisierung des Hegelschen und Feuer
bach schen E ntfrem dungsbegriffs kom m t M arx hie r von den Feuerbach
schen Idolen »Mensch« und »Natur« mangels genauerer Kenntnis der
ökonomischen Geschichte noch nicht ganz los. Besonders schimmert der
vorm ärzhaftsensualis tis che N atu rk u ltu s Feuerbachs durch, der auch der
Heineschen Lyrik jener Zeit nicht fremd ist, wenn Marx den Menschen
als das »wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erdestehende, alle Naturkräfte aus und einatmende«4 Wesen feiert. Wie das
Klima solcher problematischen naturfrohen Ungebrochenheit, so ver-
schwindet auch die Rede von »dem Menschen«, auf die man Marx heute
festzulegen versucht5, bald wieder aus seinen Schriften. So lassen sich die
kritischen Bemerkungen zu den »wahren Sozialisten« in der »Deutschen
Ideologie« und im »Kommunistischen Manifest« ebensogut als ein Stück
Selbstkritik verstehen, wenn Marx etwa im »Manifest« über Formulie-
rungen wie »Entäußerung« und »Verwirklichung des menschlichen
Wesens«6 sich lu stig m acht, die er in den Pariser M anu skrip ten vorher
selbst verwendet hat. Marx verzichtet auf den Gebrauch solcher Termini
wie »Entäußerung«, »Entfr em dung«, »R ückkehr des M en schen in sich«7,
sobald er merkt, daß sie im Munde kleinbürgerlicher Autoren zum ideo-
logischen Gerede werden, nicht aber zum Hebel empirischen Studiums
der W elt und ihrer Veränderu ng.
Die ätzende Schärfe, mit der Marx und Engels in der »Deutschen Ideolo-gie« gegen die stark von Feuerbach beeinflußten Lehren der »wahren
Sozialisten« zu Felde ziehen, zeigt deutlich, wie sehr sie zu diesem Zeit-
punkt nicht nur über Feuerbachs Anthropologismus und Entfremdungs-
begrif f, sondern auch über die Feuerbachsc he N aturechw ärm erei hin aus-
gelangt sind. Was den letzteren Punkt angeht, so sei hier nur auf die
Kritik der in den »Rheinischen Jahrbüchern« erschienenen »Sozialisti-
schen Bausteine« verwiesen, bei der die Autoren die folgenden seichten
4 A . a. O ., S. 248.
5 V gl. etwa den schon in anderem Z usamm enhang erwähnten A ufsa tz von I. Fetscher, Von
der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, wo die Marxsche
Philosophie im Grunde mit den Pariser Manuskripten gleichgesetzt wird. Vgl. ferner
Erwin Metzke, Mensch und Geschichte im ursprünglichen Ansatz des Marxschen
Den ken s. Beid e in: M arxism usstu dien , 2. Fo lge, a. a. O ., S. 26 60 bzw . S. 1—25. Im
Sinne einer kritischen A nth rop ologie wird M arx auch verstanden bei E. Thier u.
H. Weinstock. Selbst Bloch versteht Marx weitgehend anthropologisch. Die Reihe ließesich fortsetzen.
6 M anifest der kom mu nistischen Partei, S. 40.7 Was, ganz abgesehen davon , daß d er B eg riff der »Entfremdung« sich auch im Ka pital
und in den Theorien über den Mehrw ert noch häufig genug findet, in keiner Weise bedeu-tet, daß Marx die durch ihn bezeichneten gesellschaftlichen Sachverhalte nicht weiter
theoretisch ver folgt hätte.
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Um für diesen Satz einen Beweis zu finden, nimmt er die Natur zu Hilfe
und unterstellt, daß in ihr dieser Zwiespalt nicht existiere, und hieraus
schließt er, daß, da der Mensch ebenfalls ein Naturkörper sei und die
allgemeinen Eigenschaften des Körpers besitze, für ihn dieser Zwiespalt
ebenfalls nicht existieren dürfe. Mit viel größerem Rechte konnte Hobbes
sein bellum omnium contra omnes aus der Natur beweisen und Hegel,
auf dessen Konstruktion unser wahrer Sozialist fußt, in der Natur denZwiespalt, die liederliche Periode der absoluten Idee erblicken und das
Tier sogar die konkrete Angst Gottes nennen.«14
Noch drastischer offenbart sich die endgültige Marxsche Abkehr von
allem romantisierenden Feuerbachschen Kultus, sei es »des Menschen«,
sei es »der Natur« oder »des Weibes«, in der 1850 in der »Neuen Rheini-
schen Zeitung« veröffentlichten Rezension des Daumerschen Buches
»Die Religion des neuen Weltalters«. In scharfsinniger Weise durch-schaut hier die Marxsche Analyse am freilich klassischen Fall Daumers
den ideologischen Charakter eines Naturpathos, wie es bis in die unmit-
telbare Gegenwart hinein das Gegenteil von dem verteidigt, wovon es
spricht.
W egen der W ich tigkeit der id eolo gie krit ischen M otiv e ist es unverm eid -
lich, einige Stellen des Daumerschen Machwerks wiederzugeben. Bei
Daumer heißt es: »Natur und Weib s ind das wahrhaft Göttl iche im
Unterschiede von M ensch und M a n n . . . Hingebung des Menschlichen andas Natürliche, des Männlichen an das Weibliche ist die echte, die allein
wahre D em ut und Selb stentäußerung, die höch ste, ja ein zige T ugen d und
Frömmigkeit, die es gibt.«15
Dem entgegnet Marx: »Wir sehen hier, wie die seichte Unwissenheit des
spekulierenden Religionsstifters sich in eine sehr prononzierte Feigheit
verw andelt . H err D au m er flü chtet sich v o r der geschic htl ic hen T ragöd ie ,
die ihm drohend zu nahe rückt, in die angeblich Natur, d. h. in die blödeBauernidylle und predigt den Kultus des Weibes, um seine eigene weibi-
sche Resignation zu bemänteln. Der Naturkultus des Herrn Daumer ist
übrigens eigner Art. Es ist ihm gelungen, selbst gegenüber dem Chri-
stentum reaktionär aufzutreten. Er versucht, die alte vorchristliche
Naturreligion in modernisierter Form herzustellen. Dabei bringt er es
freilich nur zu einer christlichgermanischpatriarchalischen Naturfase-
lei, die sich z. B. folgendermaßen ausspricht:
14 A. a. O.
i 5 Zitiert in: Marx/Engels, U ber R eligion, R ezension von D aum er, Die R eligion des neuen W elt alters, S. 74 f.
Ï 33
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>Süße, heilige Natur,
L aß mich gehn a uf deiner Spur,
Leite mich an deiner Hand,
W ie ein K in d am Gängelban d!<
»Dergleichen ist aus der Mode gekommen; aber nicht zum Vorteil der
Bildung, des Fortschritts und der menschlichen Glückseligkeit.« Der
Naturkultus beschränkt sich, wie wir sehen, auf die sonntäglichenSpaziergänge des Kleinstädters, der seine kindliche Verwunderung dar-
über zu erkennen gibt, daß der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt,
daß die Tränen die Bestimmung haben, die Oberfläche des Auges feucht
zu erhalten. Von der modernen Naturwissenschaft, die in Verbindung
mit der modernen Industrie die ganze Natur revolutioniert und neben
anderen Kindereien auch dem kindischen Verhalten der Menschen zur
N atu r ein Ende macht, ist natürlich keine R e d e .. . Es wäre übrigens zu wünschen, d aß die träge B auernw irtsch aft B ayerns, der Boden, w orau f
die Pfaffen und die Daumers gleichmäßig wachsen, endlich einmal durch
modernen Ackerbau und moderne Maschinen umgewühlt würde.«16
Marx zeigt hier, daß die ideologische Verzerrung des menschlichen
Verhältnisses zur N a tu r zw ei kom plem entäre Seiten hat. E in m al, und das
ist für Marx im Jahre 1850 unter den zurückgebliebenen Zuständen
Deutschlands freilich wichtiger, steht die Verhimmelung der naturwüch-
sigen Unmittelbarkeit im Dienst einer reaktionären Technikfeindschaft,die vorkapitalistische Produktionsformen bewahren möchte; zum ande-
ren aber, und diese Seite der Naturideologie hat sich in der Folge als
w irksam er erwiesen, w ird dort, w o bereits kapitalistis che Prod u ktion sich
durchgesetzt hat, Natur angesichts ihrer immer rücksichtsloseren Aus-
plünderung als Refugium gepriesen. Von dem Stand eines theoretischen
Bewußtseins aus, das auch die jüngsten Etappen der unheilvollen
Dialektik industriel ler Entwicklung auf den Begriff gebracht hat, bem erkten d azu H orkh eim er und A d o rn o in der »D ia le ktik der A u fk lä -
rung«: »Natur wird dadurch, daß der gesellschaftliche Herrschaftsme-
chanismus sie als heilsamen Gegensatz zur Gesellschaft erfaßt, in die
unheilbare gerade hineingezogen und verschachert. Die bildliche Beteue-
rung, daß die Bäume grün sind, der Himmel blau und die Wolken ziehen,
macht sie schon zu Kryptogrammen für Fabrikschornsteine und Gasolin-
stationen.«17
16 A . a. O ., S. 75.
17 H orkh eime r/Ad orno , D ialektik der A ufkläru ng, a. a. O ., S. 1 57. Zu r kompensatorischen
Ideologie eines unmittelbaren außerökon omischen Zuga ngs zur N atu r in der nachliberalistischen Ä ra vg l. besonders die Bemerkungen von Leo Löw enthal in dem A ufsa tz: Knut
Hamsun. Zur Vorgeschichte der autoritären Ideologie. In: Zeitschrift für Sozialfor-schung, Jahrgang VI, Heft 2, Paris 1937, S. 295299.
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Die Marxsche Polemik ist, wie gesagt, in erster Linie gegen die patriar-
chalische Verherrlichung vorkapitalistischer Produktion gerichtet; sie
sieht zunächst im Fortschreiten der kapitalistischen Technisierung ein
Fortschreiten der Aufklärung. Der andere Aspekt, die Erhöhung der
unterjochten Natur, ist Marx, schon aus historischen Gründen, in seinem
ganzen Umfang nicht gegenwärtig. Daß er ihn aber im Kern erfaßt,
bezeugt seine schneid ende K ritik am D aum erschen Kultus des W eib es:»Es versteht sich von selbst, daß Herr Daumer nicht ein Wort von der
gegenwärtigen gesellschaftlichen Stellung der Frauen sagt, daß es sich im
Gegenteil bloß um das Weib als solches handelt. Er sucht die Frauen über
ihre bürgerliche Misere dadurch zu trösten, daß er ihnen einen ebenso
leeren wie geheimnisvoll tuenden Phrasenkultus widmet. So beruhigt er
sie damit, daß ihre Talente mit der Ehe aufhören, da sie dann mit den
Kindern zu tun haben, daß sie die Fähigkeit besitzen, selbst bis ins sech-zigste Jahr Kinder zu stillen usw. Herr Daumer nennt dies »Hingebung
des Männlichen an das Weiblichem«18
Dem realen Humanismus geht es nicht um letzte metaphysische Begriffe,
seien sie nun idealistischer oder materialistischer Art. Die von ihm ange-
strebte gesellschaftliche Emanzipation steht im Dienste der wirklichen,
individuellen Menschen. Daß es Marx um sie zu tun ist, davon legt ein
bisher u n veröffen tlichter B rie f an seine Frau vom 2 1 .6 . 18 56 in sehr
eindringlicher Weise Zeugnis ab. H ier schreibt M arx: » .. . A ber die Liebenicht zum Feuerbachschen Menschen, nicht zum Moleschottschen Stoff-
wechsel, nic ht zum Prole tariat, so ndern die Lie be zum Lie bchen und
namentlich zu Dir, macht den Mann wieder zum Mann .. ,«19
D er mittlere und reife M arx m acht sich an die historische Ana lyse der
kapitalistischen Produktionsverhältnisse, unbelastet vom »wahren Men-
schen« Feuerbachs, frei von der Naturidolatrie der naturwissenschaftli-
chen Materialisten seines Jahrhunderts, frei aber auch von aller metaphy-sischen Verklärung des Proletariats als des Heilsbringers20. An die Stelle
der abstrakten Rede von der menschlichen Selbstentfremdung, im heuti-
gen Kulturgespräch längst zur Phrase verkommen, tritt im »Kapital«
materiale Forschung.
Gemessen an den heute von einer bestimmten Interpretationsrichtung21
18 Rezension vo n Daum er, S. j6 .
19 Veröffentlicht vom Istituto Giangiacomo Feltrinelli in Mailand im Jahrbuch Annali1959, Bd. 1. Zitie rt in: W ISO , 4. Jah rgan g, H eft 24, Kö ln 1959, S. 1109.
20 V gl. dazu au ch Er nst Bloch , Spure n, a. a. O ., S. 38.
21 So reduziert sich etw a für K arl Lö w ith der historische Ma terialismu s in seiner Sch rift W eltgesch ic hte und H eilsg esch ehen, S tuttgart 19 5 3, S. 47 ff ., au f »H ei ls gesch ic hte in der
Sprache der Nationalökonomie«. Biblisches Heilsgeschehen, bürgerlicher Fortschritt,
Sozialismus und die ihnen entsprechenden theoretischen Haltungen sind nach Löwith in
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der Marxschen Theorie angedichteten chiliastischen und eschatologi
schen Legenden, ist der Inhalt dessen, was man die Marxsche Utopie des
V erhältnis ses der M ensch en zu ihrer eig en en und zu r äußeren N atu r
nennen könnte, zugleich bescheidener und großartiger. Bescheidener,
w eil m it der unaufhebbaren E n dlichkeit des M enschen und seinen
Möglichkeiten in der Welt ernst gemacht wird. Großartiger, weil an die
Stelle metaphysischer Deklarationen eine nüchterne Analyse der Bedin-
gungen der Möglichkeit konkreter Freiheit tritt. Konkrete Freiheit
besteht für M arx im engen A nschluß an H egel im Begreifen und Beherr-
schen des gesellschaftlich Notwendigen. Der Arbeiterphilosoph Joseph
D ietzgen form uliert in einem B rief an M arx äußerst treffend den Sinn
der materialistischen Geschichtsauffassung: »Sie sprechen zum erstenmal
in klarer, unwiderstehlicher, wissenschaftlicher Form aus, was von jetzt
an die bewußte Tendenz der geschichtlichen Entwicklung sein wird,nämlich, die bisher blinde Naturmacht des gesellschaftlichen Produk-
tionsprozesses dem menschlichen Bewußtsein unterzuordnen.«22
W ir müssen hie r a u f die im I. K ap ite l vorgebrachten Bem erkungen
hinsichtlich des Marxschen Materialismus zurückkommen. Er ist kritisch,
nicht positivbekenntnishaft gemeint. Die ökonomischen Verhältnisse
w erden nic ht g lo rifiziert, sondern so llen im G egen teil eine solche G estalt
erhalten, daß ihre Rolle im Leben der Menschen zurücktritt. Die
Menschen haben sich in der seitherigen Geschichte, wie Engels sagt,
bestim men lassen von der »Frem dherrschaft« 23 ih rer eigenen gesell-
schaftlichen Kräfte, weshalb sie im strengen Sinne aus naturgeschichtli-
chen Bedingungen noch gar nicht herausgetreten sind24. Solange die
ökonomischen Verhältnisse sich selbst überlassen sind, wirken sie wie
unberechenbare Naturmächte. »Aber einmal in ihrer Natur begriffen,
können sie in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischen
Herrschern in willige Diener verwandelt werden.«25 Indem die Men-schen die Gesetze ihres Lebenszusammenhangs nicht nur theoretisch zu
durchschauen, sondern ebensosehr praktisch zu beherrschen lernen, ver-
mögen sie den »naturgeschichtlichen« Materialismus aufzuheben, dessen
Opfer sie in ihrer seitherigen Geschichte geworden sind. Daß der Mate-
der Struktur identisch und werden von ihm in unvermittelten Gegensatz gebracht zu
einer zyklischen Auffassung des historischen Prozesses. In dieser Ansicht folgen ihm diemeisten V ertreter der anthropologisierenden R ichtung in der M arxforschung.
22 Beilage zum Br ief an liugeim an n vom 7. 12. 1867. In: Briefe an Kug elm ann, S. 48.23 A nt iD üh rin g, S. 395.
24 Vg l. dazu auch Th . W. A dorn o, Theorie der H albbildun g. In: De r Mon at, H eft 152,
September 1959, S. 31.
25 A ntiD üh ring, S. 346.
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rialismus von Marx seine Selbstaufhebung intendiert, darauf kann
gegenüber den zahlreichen, auch gewollten Mißverständnissen nicht oft
genug hingewiesen werden. In Beziehung auf diese Frage herrscht auch
zwischen Marx und Engels völl ige Einmütigkeit. Und doch besteht
zwischen den Autoren ein Unterschied, wenn man näher zusieht, auf
welche Weise sie den Ü b erg an g von der bürgerlichen zu r sozialistis chen
Gesellschaft beschreiben.Zum Ve rgleich m it M arx soll zunä chst die berühmte Stelle bei Engels im
»AntiDühring« angeführt werden. Engels schreibt: »Mit der Besitzer-
greifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenpro-
duktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produ-
zenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird
ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzel-
dasein hö rt auf. D am it erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn,endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in
w ir klich menschliche. D er U m kreis der die M enschen um geb enden
Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt
unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten
Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren
ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eigenen
gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende
Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit vo ller Sachkenntnis angew and t und dam it beherrsch t. D ie eigene V erge-
sellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und
Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat.
Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten,
treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die
Menschen ihre G eschichte m it vollem Bew ußtsein selbst machen, erst von
da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichenUrsachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen
gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem
Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.«26
A n der vie lleich t für das U topie proble m bed eute ndste n Ste lle seines
ökonomischen Hauptwerks äußert sich Marx folgendermaßen: »Das
Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch
Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der
Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen
Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürf-
nisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so
26 A. a. O., S. 351.
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muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und
unter al len möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erwei-
tert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber
zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die
Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaf-
tete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit
der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle brin-gen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn
mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen
Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen zu vollziehn. Aber es
ble ib t dies im m er ein Reic h der N o tw en d igke it. Jenseits desselben
begin nt die m ensch liche K raften tw ick lu n g, die sich als Selb stzw eck gilt,
das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwen-
digk eit als seiner Basis aufblühn kann . D ie V erk ü rzu ng des Arb eitstags ist
die Gru ndb edingun g.«27
Beide Autoren sind der Ansicht, daß das Glück der Menschen nicht
einfach dem Maß ihrer technischen Naturbeherrschung proportional ist,
sondern daß es sehr auf die gesellschaftliche Organisation der Naturbe-
herrschung ankommt, wenn die Frage entschieden werden soll, ob der
technische Fortschritt den Menschen zum Heil anschlägt oder nicht.
W ährend fü r Engels m it der V ergesellschaftu ng der Produktio nsm ittel
eigentl ich al les gut wird, der sprunghafte Übergang vom Reich derNotwendigkeit ins Reich der Freiheit gesetzt ist, sieht der sehr viel skep-
tischere, auch dialektischere Marx, daß das Reich der Freiheit das der
Notwendigkeit nicht einfach ablöst, sondern zugleich als untilgbares
Moment in sich behält. Darin, daß die vernünftigere Gestaltung des
Lebens die zu seiner Reproduktion erforderliche Arbeitszeit zwar
besc hränken, nie aber die A rb e it g an z abschaffen kann, spie gelt sich die
Zwieschlächtigkeit des Marxschen Materialismus. Er ist aufhebbar in derNichtaufhebbarkeit . Marx versöhnt Freiheit und Notwendigkeit mitein-
ander auf der Basis der Notwendigkeit28.
A u ch w enn in der klasse nlose n G esellschaft n icht lä nger ein T eil der
Menschheit den anderen, weitaus größeren, als Mittel zwischen sich und
die anzueignende Natur schieben kann, so bleibt Natur als zu bewälti-
gender Block auch für die solidarisch gewordenen Menschen ein
27 D as Ka pita l, Bd. III, S. 873 f.
28 Vg l. dazu A. D eborin, D ie Dia lektik bei Fichte. In: Ma rx/En gelsArchiv, herausgegeben
von D . R jazan o w , II. Bd., F ra n k fu rt 192 7, S. 51 ff . V g l. zu r U n aufh ebbarkeit der A rbeit
ferner Henri Lefèbvre, Le matérialisme dialectique, a. a. O., S. 101, wo die Arbeit als
Kampf der Natur mit sich gedeutet wird, »plus profonde que toutes les luttes des indi-
vid us et des espèces bio lo giq ues« .
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Problem. Wie schon wiederholt angeführt, insistiert Marx, fern von allen
teils ihm unterstellten, teils ihn mißbrauchenden demagogischen Ver-
sprechungen, an den verschiedensten Stellen des »Kapitals« darauf, daß
die Arbeit unabschaffbar is t : »Der Arbeitsprozeß. . . is t zweckmäßige
Tätigkeit zur Herstel lung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürli-
chen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwech-
sels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschli-chen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, viel-
mehr allen seinen Gesellschaftsformen gemeinsam.«29
De r Stoffwechsel zwischen M ensch und N atu r ist für M arx deshalb un ab-
hängig von aller geschichtlichen Form, weil er zurückreicht in vorgesell
schaftlichnaturgeschichtliche Verhältnisse un d »als Lebensäußerun g und
Lebensbewährung dem überhaupt noch nicht gesellschaftlichen Men-
schen gemeinsam ist mit dem irgendwie gesellschaftlich bestimmten«30.
Immer wird es, wie Marx in der »Deutschen Ideologie« sagt, den »mate-
rialistischen Zusammenhang der Menschen untereinander« geben, »der
durch die Bedürfnisse und die Weise der Produktion bedingt und so alt
ist wie die Menschen selbst.. .«31
W ie zu r H egelschen, so gehört auch zu r M arxschen D ialektik , d aß das
mit den Subjekten Nichtidentische stufenweise überwunden wird. Immer
größere Naturbereiche gelangen unter die Kontrolle der Menschen. Nie
aber, und das unterscheidet Marx vom letztlich doch abschlußhaftideali-stischen Denken Hegels, geht der Naturstoff auf in den Weisen seiner
theoretischpraktischen Bearbeitung.
V on der Positio n des reifen M arx aus lä ß t sich erst gan z die Philoso phie
der Pariser Manuskripte beurteilen. Sosehr etwa das Manuskript »Kritik
der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt« der Hegelschen
»Phänomenologie« vorhält, sie setze in letzter Instanz Gegenständlich
29 Das Kapital, Bd. I, S. 192. Vgl. auch Das Kapital, Bd. III, S. 884, wo Marx bei seiner A naly se der Verselb st ändig ung der vers ch iedenen T eil e des M ehrw ert s geg enein an der ,
wie sie in der »tr in itar is ch en Form el« sich ausd rü ck t, zeig t, w ie unte r bürg erlichenProduktionsverhältnissen die für alle Produktionsstufen vorauszusetzenden Beziehun-
gen stofflichnaturhafte Momente mit der spezifischhistorischen Gestalt der Gesell-
schaft zusammenzufallen scheinen: »Im KapitalProfit oder noch besser KapitalZins,Boden Grund rente, ArbeitArbeitslohn, in dieser ökonom ischen Trinität als dem Zusam -
menhan g der Bestandteile des Werts und des Reichtums ü berhau pt mit seinen Quellen ist
die M ystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesell-
schaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produk-tionsverhältnisse mit ihrer geschichtlichsozialen Bestimmtheit vollendet: die verzauber-
te, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la
Terre als soziale Charaktere, und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk trei-
ben.«
30 D as Ka pi tal, Bd. III, S. 869.
3 1 De utsch e Ideo logie , S. 26.
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keit und Entfremdung gleich; ferner sei zwar auch das Nichtidentische
b lo ß begrifflich zu erfassen, w odurch es aber noch la nge nic ht zu etw as
restlos Beg riffliche m werd e, — sosehr setzt sich bei M ar x a u f dieser Stufe
seiner Entwicklung doch das Moment der Identität von Mensch und
Natur durch. Es braucht hier nur an die bereits zitierte Formulierung
erinnert zu werden, der Kommunismus sei die »wahrhafte A uflösu ng des
W iderstreites zwis chen dem M enschen m it der N a tu r« 32 oder, w ie es ananderem Orte noch eindeutiger heißt, »die vollendete Wesenseinheit des
Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durch-
geführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanis-
mus der N atu r« 33.
Erst der reife Marx nimmt das Problem der Nichtidentität ganz ernst.
Sowenig für ihn Hegels Gleichung Subjekt = Objekt aufgeht, sowenig
geht seine eigene Gleichung Humanismus = Naturalismus auf. Nie sinddie Menschen in den Gegenständen ihrer Produktion restlos bei sich
selbst. Wenn Hegel in der »Phänomenologie« sagt, dem Selbstbewußt-
sein sei nur »derjenige Gegenstand gut und an sich, worin es sich selbst,
derjenige aber schlecht, worin es das Gegenteil seiner »finde«, »das
Gute« sei »die Gleichheit der gegenständlichen Realität mit ihm, das
Sch le chte aber ihre Ungleichheit«34, dann ist zur Marxschen Utopie zu
sagen, daß sie durchaus behaftet ist mit »dem Schlechten«, der Ungleich-
heit von Mensch und anzueignendem Material35. Nicht nur bleibt derden Menschen äußerliche Materieblock auch in der klassenlosen Gesell-
schaft, wenngleich unter günstigeren Bedingungen als in den seitherigen
Gesellschaften, das zu Assimilierende und zu Unterjochende; auch die
M enschennatur muß weiterhin ihren Trib ut zahlen.
Schon dem Marx der Doktordissertation ist von Hegel her der Gedanke
geläufig, daß der Mensch nur durch Arbeit zum Bewußtsein seiner selbst
gelangt. Arbeit aber setzt Triebverzicht voraus. »Daß der Mensch als
32 Nationalökonomie und Philosophie, S. 181.33 A . a. O ., S. 184.
34 H ege l, Phän om enolog ie des Geistes, a. a. O ., S. 356.
3 5 V öllig ver fehlt ist deshalb die sich einseitig au f die Pariser M anu skripte stützen de These
v o n G erd D icke, d a ß sich M a rx die klass enlose G esell sch aft »a ls W irk li ch k eit der abso -
luten Identität« vorgestellt habe. Nichts ist dem Marx des Kapitals fremder als eine
V ersöhnung, w ie sie D ic ke besc hreibt: »Die ab solu te Iden tit ät se lbst w ird nic ht meh r
dialektisch gesehen: die N ichtiden tität von Einzelmensch, G esellschaft und Na tur
verschw in det total in de re n Id entitä t.« In : G erd D ic ke, D er Id enti täts gedan ke bei Feu er - bach un d M a rx, W is senschaft liche A bhan dlu ngen der A rbeit sgem ein schaft fü r For-
schung des Landes No rdrheinW estfalen, Bd. 15, Köln und O plad en i960, S. 196 f.
Genau diese Gestalt der Identität wird von Marx scharf kritisiert, der Intention nach
sogar schon in den Pariser Manuskripten. Davon, daß Marx Hegel einer mangelhaften
Durchbildung des Moments der Identität zeiht, wie Dicke meint, kann keine Rede
sein. Das Gegenteil ist der Fall.
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Mensch sich aber sein einziges wirkliches Objekt werde, dazu muß er sein
relatives Dasein, die Macht der Begierde und der bloßen Natur in sich
gebrochen haben.«36 Dieser, Marx mit Freuds Lehre vom Realitätsprin-
zip verbindende Gedanke bezeugt, daß Marx entgegen der Ansicht, die
ihn einfach dem philosophischen Optimismus zurechnet, eher einen Platz
in der Tradition der großen europäischen Pessimisten behauptet. Der
Unaufhebbarkeit der stofflichen Momente der Arbeitsdialektik auch
nach dem Verschwinden der Klassenantagonismen entspricht psycholo-
gisch das Fortbestehen eines bestimmten Maßes an notwendiger Versa-
gung. Der fast bis zum Überdruß von Marx vorgebrachte Gedanke, stets
müsse die Menschheit einen Stoffwechsel mit der Natur führen, ganz
gleich unter welchen geschichtlichen Bedingungen sie lebe, hat sein
genaues Pendant in Freuds Realitätsprinzip37.
Materialistische Dialektik und Psychoanalyse spiegeln sich ineinander. W ie sch on anges ichts der Frage, ob M arx O n tologe sei, weil er von der
Gleichgültigkeit des Stoffwechsels gegenüber seinen geschichtlichen For-
men spricht38, darauf zu verweisen war, daß die vermeintliche
Geschichtslosigkeit der Struktur der Arbeit selber etwas geschichtlich
Vermitteltes ist, so entgegnet auch Herbert Marcuse der an sich berech-
tigten Kritik an Freud, daß er die jeweilige geschichtliche Begrenztheit
des Realitätsprinzips außer acht gelassen habe, mit dem Hinweis: »This
criticism is va lid, but its va lid ity does not vitiate the truth in Freud ’s gene-
ralization, namely, that a repressive organization of the instincts under-
lies a ll historical forms of the reality principle in civilization.«39
Es gehört wesentlich zu der als organisierter Herrschaft fortschreitenden
Zivilisation, daß die zu bloßem Material menschlicher Zwecke herabge-
w ürdigte N a tu r dadurch sich an den M enschen rächt, daß diese ihre
Herrschaft nur mit stets sich mehrender Unterdrückung ihrer eigenen
Natur erkaufen können. Die Entzweiung von Natur und Mensch in der A rb eit spie gelt in der U nversöhnbarkeit von Lust und R ealit ätsp rinzip
sich wider. W obei jedoch die Einsicht, »daß jede Ku ltur a uf Arb eitszw an g
36 Marx, Differenz der demokratischen und epikureischen Naturphilosophie. In: Mega,
Bd. I, S. 31.37 V gl. dazu eine Stelle bei H erbe rt Marcuse in Eros and Civiliza tion , Boston 1955 , S. 35,
w o die in ner e Bezie hung von M arx und Freud offensi ch tl ich w ir d: »Beh in d the reality
principle lies the fundamental fact of Ananke or scarcity (Lebensnot), which means thatthe struggle for existence takes place in a world too poor for the satisfaction of human
needs without constant restraint, renunciation, delay. In other words, whatever satisfac-
tion is possible necessitates work, more or less painful arrangements and undertakings
for the procurement of the means for satisfying needs.«38 Vg l. dazu die E rörterun gen im Ab schn itt B des II. Kapitels.
39 Ma rcuse, Eros and Civ iliza tion , a. a. O ., S. 34.
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und Triebverzicht beruht«40, Freud trotz aller psychologisch begründe-
ten Skepsis gegenüber dem Sozialismus in letzter Instanz sowenig wie
Marx dazu verhält, der Resignation das Feld zu überlassen. Die geheime
Utopie der Psychoanalyse, wie sie etwa in der Schrift »Die Zukunft einer
Illusion« sich andeutet, ist im Grunde die Marxsche, von »innen gese-
hen« : »Es wir d entscheidend, ob un d in w iew eit es geling t, die La st der
den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit dennotwendig verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen.«41
Gerade am Utopieproblem läßt sich nochmals mit al ler Deutlichkeit
zeigen, da ß N atu r für M arx kein positives m etaphysisches Prin zip ist.
Schon die »Deutsche Ideologie« spricht davon, daß der Geist den
»Fluch an sich« habe, »mit der Materie >behaftet< zu sein«42. Sofern die
Menschen als physiologische Wesen unmittelbar mit der Natur verfloch-
ten, Glieder ihres Kreislaufs sind, widerfährt ihnen, was aller Kreatur
w id erfährt; sie sterben m it allen T ie ren und es kom m t nichts nachher, wie
es bei Brecht.heißt. Sofern sie als Subjekte von ihr sich abheben, müssen
sie, um ihr Leben zu reproduzieren, mit ihr arbeitend, sie negierend, sich
auseinandersetzen, was unter allen gesellschaftlichen Formen Triebver-
zicht und Versagung bedeutet. Ob also das menschliche Verhältnis zur
Natur unter dem Aspekt der Einheit oder unter dem der Verschiedenheit
betr achtet w ird, vo n ein er M etaph ysizieru n g der N a tu r kan n, zum al
beim reifen M arx , n icht die Rede sein.Das Resultat der Naturbeherrschung hat sich in der seitherigen
Geschichte selbst wieder als Naturzwang in den von Menschen unbe-
herrschten gesellschaftlichen Prozessen dargestellt. In der richtigen
Organisation der Menschheit ist es möglich, den gesellschaftlich beding-
ten Naturzwang weitgehend aufzuheben, indem sich die Menschen, wie
Engels sagt, zu »Herren ihrer eignen Vergesellschaftung«43 machen. Der
nichtsdestoweniger übrigbleibende Materialismus ist dann nicht mehr»der bürgerliche der Gleichgültigkeit und Konkurrenz; die Vorausset-
zungen dieses groben atomistischen Materialismus, welcher« — ungeach-
tet aller ideologischen Beteuerungen — »die eigentliche Religion der
Pra xis w ar u nd ist, werden dann dah ingefallen sein«44.
Der übrigbleibende Material ismus wird nicht nur die Abschaffung des
Hungers in der Welt zum Inhalt haben, sondern auch eine aufrichtigere
40 S. Freud, Die Zukunft einer Il lusion, Gesammelte Werke, XIV, London 1948, S. 331.41 A . a. O ., S. 328.42 De utsche Ideologie, S. 27.
43 An tiDühring, S. 3 5 1.44 M ax Hor kheim er, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: Zeitschrift für Sozialforschung,
Jahrgan g V, H eft 2, Paris 1936, S. 219.
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Haltung des Menschen zu dem, was in der seitherigen Geschichte Kultur
und Geist heißt, nach sich ziehen.
Die Haltung des reifen Marx hat nichts von dem Überschwang und der
ungebrochenen Positivität, wie sie uns in den Pariser Manuskripten
gerade im Hinblick auf die zukünftige Gesellschaft entgegentritt. Sie ist
eher als skeptisch zu bezeichnen. Die Menschen können sich letztlich
nicht von N aturn otw end igkeiten emanzipieren. Sosehr auch in einer ver-nünftigeren Gesellschaft das Reich der Notwendigkeit als beherrschtes in
seiner Rolle gegenüber der Kultursphäre zurücktreten mag, Marx be
harrt darauf, daß die von ihm angestrebte Einrichtung der menschlichen
Verhältnis se kein eswegs über den U nterschie d eines Leb ensb ereichs, der
durch »äußere Zweckmäßigkeit«45 bestimmt wird, von einem anderen, in
dem sich »die menschliche Kraftentwicklung... als Selbstzweck gilt«46,
hinaus sein wird. Ein Jenseits der Sphäre der materiellen Produktion ble ib t erhalten, w ie ku rz im übrig en die zu r R eprod uktio n des Lebens
erforderliche Arbeitszeit immer sein mag. In der Geschichte der Klassen-
gesellschaft ist der Unterschied der beiden Lebensbereiche der von
ökonomischer Basis und ideologischem Überbau. Auch die nicht mehr
klassenmäßige Organisation der Gesellschaft hat die materielle Produk-
tion zu ihrer Basis. M arx behält diesen Be gr iff ausdrü cklich bei. D ie
außerökonomische Sphäre, Geist und Kultur, obwohl noch abgehoben
von der unm ittelb aren A rbeitsw elt , soll je doch ih ren U berbaucharakter verlieren47.
Der Geist hat es in einer mündig gewordenen Gesellschaft nicht länger
nötig, mit dem Nimbus »medizinmännischer Gewichtigkeit«48 sich zu
umgeben. Mit der Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den
Menschen und der an ihre Stelle tretenden solidarischen Leitung von
Produktionsprozessen und Verwaltung von Sachen entfällt die gesell-
schaftliche Notwendigkeit, die den Schein hervorbringt, als sei der Geistein ontologisch Letztes und Absolutes. Die aufgeklärten Menschen brau-
chen weder sich noch anderen etwas vorzumachen. Indem sie ihre
Geschichte der Naturbeherrschung zugleich als Naturverfallenheit49
durchschauen, erkennen sie ebensosehr die Rolle, die der Geist in ihr
gespielt hat, ja, daß Gteist als identisches Sichdurchhalten gegenüber der
45 D as Kap ital, Bd. III, S. 873.4 6 A. a . O.
47 Nichts bezeugt besser die völlige Verständnislosigkeit der sich marxistisch nennenden
A utoren im O sten gegenüber der Marxs 'chen Proble m atik , als wenn sie naiv von »sozia li-
stischer Ideologie« oder »sozialistischem Überbau« reden.
48 H orkh eim er, Egoismus und Freiheitsbewegun g, a. a. O ., S. 219.
49 Vg l . dazu auch H orkheimer/Ad orno, D ialektik der Au fklärung, a . a . O . , S. 46.
H 3
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M an nigfa ltigke it ohne N aturbeherrschun g nicht denk bar ist, deren sie'
auch weiterhin nicht entraten können. Gerade als seiner selbst nicht inne-
gewordener bleibt der Geist an blinde Natur gefesselt. »Durch die
Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur
zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade
der Natur versklavt.«50 Löst der zur Natur versteinerte Lebensprozeß in
bew ußte und p lan m äß ig befo lg te T aten der vergesellschafteten M en-schen sich auf, dann sollen die Weisen des falschen Bewußtseins
verschw in den. M arx unterscheid et zw ei G ru n d form en des fa lschen
Bewußtseins, Mythologie und Ideologie. Die Mythologie ist negativ
ökonomisch bedingt. Der unentwickelten Produktionsstufe der archai-
schen Gesellschaft entspricht eine unbegriffene äußere Natur: »Alle
Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in
der Einbildung und durch die Einbildung: verschwindet also mit der
w irklichen H errschaft über dieselb en.« 51
Drückt in der Mythologie der Zwang unbeherrschter physischer Natur
sich aus, so spiegelt sich in den ideologischen Bewußtseinsformen die
Entfremdung der menschlichen Verhältnisse, ihre Verdinglichung zu
einer u ndu rchsichtigen,, schicksa lhaft ü ber den Menschen w altenden
Macht: »Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eigenen
Kopfes, so wird er in der kapital istischen Produktion vom Machwerk
seiner eignen Hand beherrscht.«52Marx verspricht sich von der sozialistischen Einrichtung der Gesellschaft
das Verschwinden aller Ideologien, namentlich der Religion: »Der reli-
giöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwin-
den, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Men-
schen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und
zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses,
d. h. des materiellen P rod uktion sproz esses, streift nu r ihren m ystischen
Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen
unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht.«53
Indem das gesellschaftliche Sein der Menschen in sich rational wird,
verlieren die gedanklichen Spie gelu ngen dieses Seins ihren verzerrenden
Charakter. Wo sie ganz verschwinden, löst die gesellschaftliche Praxis
das von ihnen im Grunde Gemeinte ein. Die in der Religion verdinglicht
steckenden W ünsche w erden erfüllt. M ar x urteilt hier vorschn ell. Erst die
realisierte Utopie kann als Praxis zeigen, ob an den von ihm als ideolo-
50 A. a. O.
51 Zu r K ritik der politischen Ök ono m ie, S. 268.52 D as Ka pita l, Bd. I, S. 653.
53 A . a. O ., S. 85.
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gisch denunzierten geistigen Gebilden mehr ist als Schein, der mit der
falschen Gesellschaft verschwindet, oder ob Religion mit dem Sein des
Menschen schlechthin gesetzt ist, wie die Apologetik es will. Solange die
w irklich m enschliche O rd n u n g noch nicht hergestellt ist, bew ahrt das
Christentum, namentlich in Gestalt negativer Theologie, indem es darauf
verweis t, d aß das le tzte W ort über das Schic ksal der M enschen noch nic ht
gesprochen ist, in welch mystifizierender Form auch immer, dasGedächtnis daran, daß das menschliche Wesen in seinen bisherigen histo-
rischen Erscheinungsweisen sich nicht erschöpft54.
Angesichts der gegenw ärtig en M iß verstä ndnis se dessen, was die M arx
sche Utopie beinhaltet, schien es geboten, zunächst einmal auf die auch
von M arx stärker beto nte unaufh ebbare Seite des M ate ria lism us h in zu -
weisen, au f dasjenig e, w as die sozia list is che G esellschaft negativ mit
ihren historischen Vorgängerinnen verbindet. Was sie positiv von ihnen
trennt, hat Marx nur selten und sehr vorsichtig andeutend erwähnt55.
Einmal, um nicht in abstraktes Spintisieren zu verfallen, wie er es am
gesamten Frühsozialismus kritisiert, zum anderen, um nicht das Bild der
neuen Gesellschaft dadurch zu verfälschen, daß der alten entnommene
Kategorien unbesehen auf sie übertragen werden.
So selten Marx in seinem umfangreichen Werk zur künftigen Gesell-
schaft sich inhaltlich geäußert hat, ein Motiv hält sich identisch auf allen
Stufen seiner Entwicklung durch: die Emanzipation aller Seiten derMenschennatur. Der ökonomisch beschlagenere Marx der mittleren und
Spätzeit weiß, daß die wesentlichste Bedingung der Möglichkeit einer
solchen Emanzipation die Verkürzung des Arbeitstags ist. Aber schon im
Jahre 1847 sagt er in »Lohnarbeit und Kapital«: »Die Zeit ist der Raum
der menschlichen Entwicklung. Ein Mensch, der keine freie Zeit zur
V erfügu ng hat, dessen gan ze L ebenszeit abgesehen von den blo ß p h ysi-
schen Unterbrechungen durch Schlaf, Mahlzeiten usw., durch seine
A rbeit für den K apitalis ten in A nspruch genom m en w ir d, ist w enig er als
ein Lasttier.«56
54 Zu den inhaltlichen Problemen des Marxschen Atheismus vgl. besonders Ernst Bloch,
Das Prinzip Hoffnung, Bd. III, a. a. O., S. 389—404.
55 Thilo Ramm weist in seinem Aufsatz Die künftige Gesellschaftsordnung nach der
Theorie von Marx und Engels auf das Fehlen jeder systematischen Untersuchung des
Bildes der künftigen Gesellschaft, wie aus den Schriften der Autoren wenigstens inUmrissen sich ergibt, hin. D er grün dliche A ufsa tz, der sich vo r allem der po litischjuristi
schen Seite des Problems widmet, die im Rahmen dieser Arbeit außer Betracht bleibt,
kom mt ebenfalls zu dem R esultat, daß die in letzter Ze it zu sehr unter theologischescha
tologischem Gesichtspunkt betriebene Marxinterpretation am Kern der unmittelbar
historischen Problematik vorbeigeht. In: Marxismusstudien, a. a. O., S. 77—119.
56 Lohn arbeit und Ka pital. In: ök on om ische Aufsätze, S. 87.
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Das Problem der menschlichen Freiheit reduziert sich für Marx auf das
der freien Z eit. Zwar verschwindet in der vernünftigeren Gesellschaft,
w ie sch on erörtert w orden ist, der U nterschie d von ökonom ischer und
außerökonomischer Lebenssphäre nicht gänzlich. Dadurch aber, daß der
Selbsterhaltung der Menschen auf Grund des erreichten Standes der
Produktivkräfte nur noch ein vergleichsweise geringer Teil ihrer gesam-
ten Zeit gewidmet zu werden braucht, verliert dieser Unterschied etwas von seiner für die Klassengeschichte charakteris tis chen A bsolu th eit und
Starrheit57. Kultur ist nicht länger der Gegensatz schlechthin zur mate-
riellen Arbeit, wenn die bisher für den größten Teil der Menschheit
gültige Einteilung der Lebenszeit in den Hauptinhalt »entfremdete
Arbeit« und den N ebeninh alt »N ic htarbeit« d a h in fä llt 58, w enn die M en-
schen in allen Lebensbereichen im Hegelschen Sinne »für sich« tätig sind.
In allen Lebensbereichen, denn die Marxsche Rede von dem durch dieNatur gesetzten Fortbestand des Reichs der Notwendigkeit bedeutet
nicht, daß nur der sich als Selbstzweck geltenden »menschlichen Kraft-
entwicklung«59 jenseits der praktischen Arbeit ein wahrhaft mensch-
licher Charakter zugesprochen würde. In der nicht länger entfremdeten
A rb eit60 gelingt es den M enschen, aus der E n täuß eru ng ih rer Wesens-
kräfte wirklich in sich zurückzukehren, in der von ihnen umgestalteten
äußeren Welt heimisch zu werden.
Daß das verbleibende Reich der Notwendigkeit als humanisiertes so gut
eine Sphäre menschlicher Selbstverwirklichung werden kann wie das auf
ihm beruhende Reich der Freiheit, wird von Marx klar im »Rohentwurf«
ausgesprochen, wo er sich gegen die Ansicht von Adam Smith wendet,
daß Arbeit schlechthin ein Fluch, Ruhe dagegen identisch mit Freiheit
sei: »Daß das Individuum >in seinem normalen Zustand von Gesundheit,
Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit« auch das Bedürfnis
einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe,scheint A . Sm ith gan z fernzuliegen. A llerd ings erscheint das M aß der
57 Vgl. dazu den A ufsatz Trieblehre und Freiheit von H . M arcuse. In: Freud in der Gegen- w art, F rank fu rt 1957, S. 420.
58 A . a. CX, S. 409.
59 D as Ka pit al, Bd. III, S. 874.
60 Im An schlu ß an Freud und G ez a R öheim glaubrt H . M arcuse so gar so weit gehen zu
könn en, da ß er sagt, in einer ver nün ftig organisierten G esellschaft kön ne die Arbe it ihren
»ursprünglich libidinösen« Charakter zurückgewinnen. Vgl. Trieblehre und Freiheit,
S. 418. Für M arx ist demgegenüber die Arb eit ursprünglich Au sdruck von Lebensnot, keinfreies, lustvolles Spiel menschlicher Kräfte. Au ch die hu manisierte, nichtentfremdete und
freie Arb eit ist für ihn kein bloßes Amü semen t. Im R oh en tw urf spottet er au f S. 50 5 über
die romantische, »naiv grisettenmäßige« Ansicht Fouriers, freie Arbeit müsse zum Spaß
werden: »W ir klich freie A rbeit en, z. B. K om ponie ren is t grade zugle ic h verd am m te ste r
Ernst, intensivste Anstrengung.« Vgl. auch a. a. O., S. 599, wo er noch einmal kritisch
auf Fouriers These eingeht, Arbeit könne in einer freien Gesellschaft zum Spiel werden.
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A rbeit se lbst äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden Z w eck und
die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwin-
den. Daß aber diese Überwindung von Hindernissen an sich Betätigung
der Freiheit — und daß ferner die äußeren Zwecke den Schein bloß
äußerer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das
Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden — also als Selbstverwirkli-
chung, Vergegenständlichung des Subjektes, daher reale Freiheit, deren A ktion eb en die A rb eit, ahnt A . Sm ith ebenso wenig . A llerd ings hat er
Recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven, Fronde,
Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit
erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als >Freiheit und
Glück<.«61
Daß das Wesen der Arbeit reicher ist als ihre entfremdeten Gestalten
verm uten lassen, hätte die Praxis einer vernünftigeren Gesellschaft zu
zeigen. Marx zählt die realen Bedingungen auf, unter denen nach seiner
Ansic ht A rb e it zu r »travail attractif« , zu r »Selb stv erw ir klichung des
Individuums«62, kurz zu freier Arbeit werden kann: »Die Arbeit der
materiellen P ro d u k tion . kann diesen Ch ara kte r n ur erhalten, dadurch
daß i) ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2) daß sie wissenschaft-
lichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des
Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in
dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form,sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint.«63
W enn M arx hie r n ic ht die A rb e it als solche verw irft, sondern ihre bishe-
rigen historischen Formen, so hat er die schon von Hegel stammende
Einsicht im Sinn, daß Arbeit nicht nur Leiden, sondern immer auch
Menschwerdung bedeutet64. Keineswegs macht er sich damit zum Apo-
stel jener Vulgärmetaphysik von Arbeit und Leistung, wie sie zu Herr-
schaftszwecken immer wieder verkündet wird und schon in der altenSozialdemokratie heimisch war, die Arbeit als Heiland feierte, ohne daß
lange danach gefragt wurde, wie sie jeweils auf die Arbeiter sich
auswirkt65.
Die M arxsche A nsich t zu r Ar be it im »Verein freier M enschen«66 läß t sich
61 Ro hen twu rf, S. 505.62 A. a. O.
63 A. a. O.
64 Arb eit ist zugleich Ursache und W irkung des Üb ergangs der Menschen von der Na turzur Sozialgeschichte. Vgl. dazu den in der Dialektik der Natur, S. 179194, abge-druckten Aufsatz von Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen.
6$ Vgl. zum vulgärmarxistischen Ärbeitsbegriff der Vorkriegssozialdemokratie auch die
schönen Bemerkungen von Walter Benjamin in der XI. geschichtsphilosophischen These.
In: Sch riften , a. a. O ., S. 500 f.
66 Das Kapital, Bd. I, S. 84.
M 7
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etwa so formulieren: weder sollen die Menschen in der Arbeit, wie bisher,
geschunden werden, noch kann sie überhaupt wegfallen und an ihre
Stelle das treten, was heute Freizeitbeschäftigung heißt, bei der die
Menschen sinnlos ihre Zeit verbringen und doch zugleich an die
Rhythmen der Arbeitswelt und an deren Ideologie gefesselt bleiben. Wie
freie Zeit insgesamt für Marx keine bloß quantitative Ausdehnung dessen
ist, was heute unter ihr verstanden wird, so ist auch Kultur für ihn keindinghaft vorgegebener Bestand, der in vermehrter und verbesserter Auf-
lage nun dem »ganzen Volk« zugute kommen soll67. Erst wenn die
»unmittelbare Arbeitszeit« aufhört, im »abstrakten Gegensatz zu der
freien Zeit«68 zu stehen, kann es zu einer universalen Entfaltung der
menschlichen Qualitäten kommen, die sich ihrerseits wieder fördernd auf
das Wachstum der Produktivkräfte auswirkt: »Die Ersparnis von
A rb eitszeit gle ic h Verm ehru ng der freien Z eit, d .h . Z eit für die volleEntwicklung des Individuums, die selbst wieder als größte Produktiv-
kraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit.«69
Dabei ist die Entfaltung der Produktivkräfte für Marx nie Selbstzweck.
In letzter Instanz soll die Ersparnis der Arbeitszeit eine Umstrukturie-
rung des Menschen bewirken: »Die freie Zeit — die sowohl Mußezeit als
Z eit fü r höh ere T ät igk eit ist — ha t ihren B esitzer nat ürlich in ein andres
Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den
unmittelbaren Produktionsprozeß.«70
Mit Recht sagt Thilo Ramm, daß diese Theorie vom Entstehen eines
neuen Menschen den innersten Kern der Marxschen Lehre ausmacht71.
Mit seiner sozialistischen Umgestaltung soll nach Marx der Produktions-
prozeß die »Form der Notdürftigkeit und Gegensätzl ichkeit«72 verl ie-
ren. Diese Umgestaltung ist ebenfalls kein Selbstzweck und läuft bei
entsprechend hohem Stand d e r ' Pro du ktivkräfte auch nicht au f ein
kollektivistisches Zwangssystem, sondern auf die wirkliche Emanzipa-tion der Individuen hinaus: »Die freie Entwicklung der Individualitäten,
und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um
Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendi-
gen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstleri
67 Vg l. dazu besonders Max H orkheim er, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: Zeitschrift
für Sozialforschung, a. a. O., S. 219.68 Ro hen tw urf, S. 599.69 A . a. O .
70 A. a. O.
71 Vg l. Th ilo Ramm , den A ufsa tz Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von
Marx und Engels, a. a. O., S. 102.
72 Ro hen twu rf, S. 593.
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sehe, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie
freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.«73
Mit außerordentlicher Schärfe wendet sich Marx gegen die gängige
Behauptung der Nationalökonomen, die Abschaffung der freien Konkur-
renz, die das Kapital übrigens selbst im Laufe seiner Entwicklung mit
Notwendigkeit vollzieht oder vorbereitet, sei die Abschaffung der Frei-
heit überhaupt: » D a h e r.. . die Abgeschm acktheit, die freie Ko nkurren zals die letzte Entwicklung der menschlichen Freiheit zu betrachten; und
Negation der freien Konkurrenz = Negation individueller Freiheit und
auf individueller Freiheit gegründeter gesellschaftlicher Produktion. Es
ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage — der
Grundlage der Herrschaft des Kapitals. Diese Art individueller Freiheit
ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit
und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftlicheBedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermäch-
tigen Sachen — von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen
Sachen — anneh m en.«74
Marx dreht den Spieß um. Das freie Individuum, das angeblich vor dem
Sozialismus geschützt werden soll, hat es in der seitherigen Geschichte
noch gar nicht im Sinne dessen, was die Ideologen verkünden, gegeben
und ist erst das Resultat des richtig verstandenen Sozialismus: »Die
gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbstän-
digte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Natur-
macht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat
dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das Freie (Großschr. b. M., A. S.)
gesellschaftliche In divid uu m ist.«75
Das freie gesellschaftliche Individuum kann nur entstehen, wenn die
Arbeitsteilu ng aufgehoben w ir d , die für M arx im G runde m it der K las-
senteilung identisch ist. In der »Deutschen Ideologie« glaubt er noch inromantisierender Weise an die Möglichkeit einer völligen Aufhebung der
Teilung der Arbeit: »Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden
anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit,
der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger,
Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er
nicht die Mittel zum Leben verlieren will — während in der kommunisti-
schen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätig-
keit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die
73 A. a. O.
74 A. a. O., S. 545.
75 A. a. O . , S. m .
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Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch
möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nach-
mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kriti-
sieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder kriti-
scher K ritike r zu werden.«76
Bei allen späteren, auch konkreteren Erwägungen der Frage geht Marx
vo n der in der B eschaffenheit des in dustr ie llen D asein s selber angelegtenTendenz zur mehr oder weniger umfassenden Aufhebung der Arbeitstei-
lung aus77. Die Fortentwicklung der Maschinerie hat für Marx nicht nur
einen unmittelbar ökonomischen Nutzeffekt, sondern zugleich eine
Humanisierung der Arbeitsprozesse zur Folge. So schreibt er im »Elend
der Philosophie«: »Was die Teilung der Arbeit in der mechanischen
Fabrik kennzeichnet, ist, daß sie jeden Spezialcharakter verloren hat.
A b er von dem A u gen blick an, w o jede beso ndere E n tw ick lu ng aufh ört,macht sich das Bedürfnis nach Universalität, das Bestreben nach einer
allseitigen Entwicklung des Individuums fühlbar. Die automatische
Fabrik beseitigt die Spezialisten und den Fachidiotismus.«78
Eingehend befaßt Marx sich im »Kapital« mit der technologisch
bedin gte n A u fh eb u ng der Arbeitsteilu ng. D ab ei w ird deutlich, d aß es fü r
ihn bestimmte, der Technik immanente Sachverhalte gibt, die gegenüber
ihrer gesellschaftlichen Organisation relativ gleichgültig sind. Maschi-
nelle Produktion ist für Marx unbeschadet ihrer bürgerlichen oder sozia-l istischen Anwendung al lemal ein Fortschritt über Handwerk und
Manufaktur hinaus: »So lange Handwerk und Manufaktur die a l lge-
meine Grundlage der gesellschaftlichen Produktion bilden, ist die Sub-
sumtion des Produzenten unter einen ausschließlichen Produktionszweig,
die Zerreißung der ursprünglichen Mannigfaltigkeit seiner Beschäfti-
gung, ein notwendiges Entwicklungsmoment.. . Es ist charakteristisch,
da ß bis ins 1 8. Jahrhu ndert hinein die besondren G ew erke mysteries hießen, in deren Dunkel nur der empirisch und professionell Eingeweihte
eindringen konnte. Die große Industrie zerriß den Schleier, der den
Menschen ihren eignen gesellschaftlichen Produktionsprozeß versteckte
und die verschiednen naturwüchsig besonderten Produktionszweige
gegeneinander und sogar dem in jedem Zweig Eingeweihten zu Rätseln
machte. Ihr Prinzip, jeden Produktionsprozeß, an und für sich und
76 D eutsc he Ideologie , S. 29 f.77 So künden ihm die unter kapitalistischen Verhältnissen gemachten Erfindu ngen die kün f-
tige Allseitigkeit der Menschen an: »>Ne sutor ultra crepidam!<, dies nec plus ultra hand-
w erksm äßig er W eis heit , wurde zur fu rchtb aren N a rrh eit von dem M om ent, w o der
Uh rmach er W att die Dam pfmaschine, der Barbier A rkw righ t den Kettenstuhl, der Juwe-
lierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hatte.« Das Kapital, Bd. I, S. 514.
78 Das Eiend der Philosoph ie, S. 159.
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zunächst ohne alle Rücksicht auf die menschliche Hand, in seine konsti-
tuierenden Elemente aufzulösen, schuf die ganz moderne Wissenschaft
der Technologie.«79
Ihr lösen sich die verschiedenen isolierten Gestalten der Produktionspro-
zesse auf in systematische Anwendungen der Naturwissenschaft. Daß die
rastlose Transformation von Natur in Industrie auch unter den Bedin-
gungen des Sozialismus weitergeht, spricht Marx mit Nachdruck im
»Rohentwurf« aus. Die Einheit von Erkenntnis und Veränderung der
Natur, wie sie in der Industrie in großem Stil sich verwirklicht, soll in
Zukunft noch bestimmender für die Produktionsprozesse werden. Marx
schwebt deren totale Verwissenschaftlichung vor, welche die Rolle des
Arbeiters m ehr und m ehr in die des technischen » Wächters un d R eg ula -
tors«80 verwandelt. Das jedoch impliziert, daß das tätige Subjekt in
qualitativ neuer Weise der Objektwelt gegenübertritt: »Es ist nicht mehrder Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwi-
schen das Objekt und sich einschiebt, sondern den Naturprozeß, den er
in einen industriellen verwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und
die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den
Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwand-
lung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrich-
tet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen
allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherr-
schung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper — in einem
W ort die E n tw ick lu ng des gesellschaft lichen Indiv id uum s, die als der
große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.«81
Andersw o schildert M arx den w issenschaft lichen C h arak ter des P ro d u k-
tionsprozesses folgendermaßen: »Es ist dieser zugleich Disziplin, mit
Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet, wie Ausübung, Experi-
mentalwissenschaft, materiell schöpferische und sich vergegenständli-chende Wissenschaft mit Bezug auf den gewordnen Menschen, in dessen
K o p f das akk um ulierte W issen der Gese llschaft existiert.«82
Marx ist sich darüber im klaren, daß die von ihm geforderte, allseitige
wissenschaft liche D u rch drin gun g der A rbeit svorgänge, die H öherent-
w icklu ng der M aschin erie und die aus ih r sich ergeben de V erkü rzung
der A rbe itszeit nur m öglich sind, wenn die Gesellschaft ihr Erziehu ngssy-
stem von Grund auf ändert, auch auf diesem Gebiet ihre Verhältnisse mit
dem Stand der erreichten geistigen und materiellen Produktivkräfte in
79 Das Kapital, Bd. I, S. 511 f.
80 R oh ent wu rf, S. 59 z.
81 A. a. O m S. 592 f.
82 A . a. O , S. 599. f.
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Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produ-
zieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller
und geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum, hängt die Allseitig-
keit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeiterspa-
rung ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie
auf.«89
W ie das A usm aß der Freih eit jenseits der notw endig en m aterie llen
Praxis, so bestimmt die Zeit umgekehrt auch den Grad der erreichbaren
Humanisierung innerhalb dieser Praxis. Uber die ökonomische Rolle der
Zeit als Arbeitszeit in einer vom Warenfetischismus freien Gesellschaft
äußert das »Kapital« sich so: »Die Arbeitszeit würde.. . eine doppelte
Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die rich-
tige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen
Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des indi- vid uellen A nteils der Produzenten an der G em einarbeit und daher auch
an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesell-
schaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren
A rbeitsprodukten ble ib en hier durchsic htig ein fach in der Prod uktio n
sow ohl als in der Distr ibu tion .«90
W enn M arx hie r sa gt, das Q u an tum der A rb e it des Ein zeln en diene als
Maß für die ihm zufließenden Genußmittel, so hat er die erste und
niedere Phase der kommunistischen Gesellschaft im Sinn, von der es in
der »Kritik des Gothaer Programms« heißt, sie sei »in jeder Beziehung,
ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet... mit den Muttermalen der
alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt«91. Die Gesellschaft ist
über den bürgerlichen Satz, daß, wer nicht arbeite, auch nicht essen solle,
noch nicht hinaus. Die vollzogene Vergesellschaftung der Produktions-
mittel schließt zunächst in keiner Weise aus, daß weiterhin erhebliche
Einkommensunterschiede bestehen. Marx erkennt die ungleiche physi-sche und geistige Begabung der Individuen und die aus ihr sich ergebende
ve rschiedene L eistungsfähigkeit als V oraussetzung ungle ic hen Rechts an.
»Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und
dadurch bedingte K ultur entw icklun g der Gesellschaft.«92
Anders je doch in der zw eiten und höheren Phase: »In einer hohem Phase
der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterord-
nung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegen-
89 Rohentwurf, S. 89.
90 D as Ka pital, Bd. I, S. 84. Zu r Frage nach dem Fortw irken des W ertgesetzes unter soziali-
stischen Pro duktion sverhältnissen vgl. auch Bd. III, S. 907. V gl. auch K ritik des Goth aerProgramms, S. 23.
91 Kritik des G oth aer Program ms, S. 23.92 A. a. O., S. 24.
*53
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satz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die
A rb e it nic ht nur M it tel zum Leben, so ndern selbst das erste Lebensbe-
dürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Indivi-
duen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen
des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen — erst dann kann der
enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die
Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfn issen!« 93
Mit dem Gedanken, daß in einer richtigen Gesellschaft in letzter Instanz
die Bedürfnisse des Einzelnen und nicht seine physisch oder geistig
bedin gte A rb eitsfäh igkeit und le is tu ng das M aß fü r seine Genüsse
abgeben sollten, nimmt Marx unmittelbar ein Motiv der »Deutschen
Ideologie« wieder auf. In dem von ihm redigierten und vermutlich von
Moses Heß verfaßten Artikel gegen Kuhlmann heißt es: »Nun aber
besteht eines der w esentl ichsten P rinzip ien des Kom m unism us, w odurch
er sich von jedem reaktionären Sozialismus unterscheidet, in der auf die
Natur des Menschen begründeten empirischen Ansicht, daß die Unter-
schiede des K o p fes und der. intellektuellen F ähigkeiten übe rhau pt keine
Unterschiede des M agens und der physischen Bedürfn is se bedingen; daß
mithin der falsche, auf unsre bestehenden Verhältnisse begründete Satz:
>Jedem nach seinen Fähigkeiten^ sofern er sich auf den Genuß im
engeren Sinne bezieht, umgewandelt werden muß in den Satz: federn nach Bedürfnis; daß, mit anderen Worten, die Verschiedenheit in der
Tätigkeit, in den Arbeiten, keine Ungleichheit, kein Vorrecht des
Besitzes und Genusses be grün det.«94
W ie in der »K ritik des G o th aer Program m s« w ird auch hie r der Satz,
daß Arbeit das Maß des Genusses bilde, als bürgerlich beschränkt durch
den anderen aufgehoben, daß einzig die Bedürfnisse dem Genuß eine
Grenze setzen.Der Marxsche Eudämonismus geht nicht von dem abstraktal lgemeinen
Prinzip der Arbeitszeit aus, dessen formale Gleichheit für alle gerade die
inhaltliche Ungleichheit einschließt, sondern von den unmittelbaren
physischen und geistigen Bedürfnissen der Menschen in ihrer Verschie-
denheit. Die M ißständ e der alten G esellschaft lassen sich, wie M ar x sagt,
überhaupt nur beseitigen, indem an die Stelle des gleichen gerade unglei-
ches Recht tritt95, was allerdings voraussetzt, daß insgesamt genügend
Güter vorhanden sind und folglich anderen Menschen daraus kein
93 A . a. O ., S. 24 f.
94 D eutsc he Ideolog ie, S. 584 f.
95 Vg l. K ritik des G oth aer Program m s, S. 24.
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Schaden erwächst. Gesellschaftliche Gleichheit heißt nicht, daß alle über
einen Kamm geschoren werden, sondern gerade, daß Reichtum und
Verschie denheit der in divid uellen W ünsche zu ihrem R echt kom m en. Im
übrigen weist Marx immer wieder auf die gesellschaftliche Veränderlich-
keit der menschlichen Bedürfnisse und Triebziele hin. So hat er an
Proudhon auszusetzen, daß dieser nicht begreift, »daß die ganze
Geschichte nur eine fortgesetzte Umwandlung der menschlichen Natur
ist«96.
Die Frage, welche Begierden in einer vom Warenfetisch und damit vom
Konsumzwang freien Gesellschaft verschwinden und welche sich entwik
keln werden, läßt sich abstrakt nicht entscheiden. Das erklärt wohl unter
anderem auch den Umstand, daß Marx an keiner Stelle seines Werkes,
w o er vom totalen Menschen der Zukunft spricht, sich näher zum sexu-
ellen Verhalten dieses Menschen äußert. Daß die große Industrie »mitder entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und
Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produk-
tionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue
ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des
Verhältnisses der G eschlechter«97 darstellt, ist M arx freilich bew ußt.
Hatte er früher der Feuerbachschen Philosophie mit Recht vorgehalten,
sie reduziere die menschliche Gemeinschaft auf den Gattungszusammen-
hang und, soweit sie . diesen B eg riff einm al p raktisch fasse, a u f den
Geschlechtsakt, es komme aber zunächst auf die Beziehung der
Menschen in der Produktion an, so betrachtet Marx jetzt im »Kapital«,
w o »die höhere Form der Fam ilie und des Verhältnisses der G eschle ch-
ter« über das ökonomische hinaus wirklich einmal konkret ins Blickfeld
gelangt, diese mögliche höhere Form ausschließlich unter dem Aspekt
einer Humanisierung der ökonomischen Beziehungen: »Es ist natürlich
ebenso albern, die christlichgermanische Form der Familie für absolut zuhalten als die altrömische Form, oder die altgriechische, oder die orienta-
lische, die übrigens untereinander eine geschichtliche Entwicklungsreihe
bilden. Ebenso leuchtet ein, d aß die Zusam m ensetzung des kom bin ierte n
Arbeits personals aus Indiv id uen beid erle i Geschle chts und der verschie-
densten Altersstufen, obgleich in ihrer naturwüchsig brutalen, kapitalisti-
schen Form, wo der Arbeiter für den Produktionsprozeß, nicht der
Produktionsprozeß für den Arbeiter da ist, Pestquelle des Verderbs und
96 Das Elend der Philosoph ie, S. \6i . Vg l. auch dazu den Sa tz aus dem Ro hen twur f, S. 134:
»Habsucht ist auch ohne Geld möglich; Bereicherungssucht ist selbst das Produkt einer
bestimm ten gesellsch aft lichen Entw ic klu n g, nic ht natürlich im Gegensatz zum
Geschichtlichen.«
97 Das Kapital, Bd. I, S. 515.
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der Sklaverei, unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle
hum aner Entw icklun g Umschlägen m uß.«98
Thilo Ramm spricht wohl mit Recht von einer sehr strengen Eheauffas-
sung bei Marx. Beizupflichten ist auch seiner Ansicht, daß in »Engels’
Freiheitsvorstellung ... der Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit ein viel stär-
keres Gewicht« zukommt »als bei Marx, der sie durch das Gebot sittli-
cher Selbstverwirklichung in Schranken hält«99. Engels erinnert in seinen
Schriften bis in die Darstellung hinein an die französische Aufklärung,
w ährend die M arxsche H altu n g m ehr zum deutschen Idea lism us, ja zur
Kantischen Ethik gehört, so zurückhaltend Marx auch in der Äußerung
mo ralischer U rteile ist.
Zwischen Marx und Engels bestehen hinsichtlich der Frage nach dem
moralischen Verhalten der Menschen in der neuen Gesellschaft gewisse
Differenzen, so wenig sich das von Engels im »AntiDühring« entwor-fene Programm eines Lebens, das den Menschen »die vollständig freie
A usbildun g und Betätigung ih rer körperlichen und geis tigen A nla gen
garantiert«100, sich vom Marxschen Programm des totalen Menschen
unterscheidet, wie es im »Kapital« entwickelt wird.
In seiner Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des
Staats« aus dem Jahre 1884 behandelt Engels das Problem der sexuellen
Beziehungen in der künftigen Gesellschaft auf eine Weise, die schwerlich
den Beifall Marxens gefunden hätte. Mit der Aufhebung des Privateigen-
tums an den Produktionsmitteln büßt auch die Familie ihre seitherige
ökonomische Funktion ein. Die Versklavung der Frau hört auf. Was nach
Engels übrigbleibt, ist eine Monogamie, deren einzige Basis die wirkliche
Zu neig un g d er Partn er ist. N u r solange sie besteht, soll die Ehe bestehen:
»Ist nur die auf Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die
Liebe fortbesteht. Die Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechts-
liebe ist aber nach den Individuen sehr verschieden, namentlich bei denMännern, und ein positives Aufhören der Zuneigung, oder ihre Verdrän-
gung durch eine neue leidenschaftliche Liebe, macht die Scheidung für
beide Teile wie für die G esellschaft zu r W oh lta t. N u r w ird m an den
Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozes-
ses zu waten.«101
Uber solche Erwägungen geht freilich auch Engels nicht hinaus. Der
98 A . a. O ., S. 515 f. Es ist kein Zu fall, da ß M arx in diesem Zusam m enhan g (S. 516,Fußno te 3 12) den von den modernen Sozialtechn ikern läng st realisierten Gedan ken eines
Inspektionsberichts zitiert: »Fabrikarbeit könn te genau so rein und vor trefflich sein wieH ausarbeit, ja vielleicht noch mehr.«
99 Thilo Ramm, a. a. O., S. 109 f.
100 AntiDühring, S. 350.
10 1 D er Ursp run g der Familie, des Privateigentum s und des Staats, S. 38.
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gesellschaftlichen Praxis bleibt auch hier Vorbehalten, wie sich unter
Verhältnissen, die vom ökonom ischen Z w a n g befr eit sind, die B eziehu n -
gen zwischen den Menschen gestalten werden.
Marx leitet seine Forderung einer Emanzipation aller menschlichen
W esenskräfte aus der A n aly se des D op p elc h arakters der bürgerlichen
Gesellschaft ab, der für ihn darin besteht, daß diese Gesellschaft nicht nur
die Verstümmelung der Menschen, sondern auch die Mittel ihrer endgül-
tigen Befreiung hervorbringt: »Die universal entwickelten Individuen,
deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen
Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterwor-
fen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte. Der Grad
und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Ind ivi-
dualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der
Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit die Entfremdung desIndividuums von sich und von anderen, aber auch die Allgemeinheit und
A llseitig keit se in er Bezie hungen und Fäh igkeit en erst prod uziert.«102
Das »Kapital« hält ausdrücklich fest, wie sehr die Abschaffung der
bisherigen Produktionsw eise zugle ic h ih re »Aufh ebung« bedeu tet. Sie ist
nicht ihre einfache Negation, sondern Negation der Negation, indem sie
das in divid uelle Eige ntu m und die m it ihm unter kap italistischen
Verhältnissen m öglich gewordenen menschlichen Q u alitä ten au f höherer
Stufe reproduziert, »auf Grundlage der Errungenschaft der kapital isti-
schen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der
durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel«103. Der Gedan-
ke, daß das vernünftigere Verhältnis der Menschen zueinander und zur
Natur die gesamte seitherige Entwicklung in sich aufgehoben behält,
zeigt zugleich deutlich, daß Marx nicht daran glaubt, daß die Menschen
zu einer naiven Unmittelbarkeit des Naturerlebens zurückkehren könn-
ten, von der nicht einmal feststeht, ob sie jemals so existiert hat, wie dieschon von Hegel verspottete Romantik annimmt104. Kritisch äußert sich
dazu auch Lenin: »Daß dem Urmenschen das Notwendige als freie Gabe
der N atu r zu floß, ist ein einfältiges M är ch en . . . Es hat nie ein goldenes
Zeitalter gegeben, und der Urmensch ächzte förmlich unter dem Drucke
der Existenzschwierigkeiten, der Schwierigkeiten des Kampfes mit der
Natur.«los
102 Ro hen twu rf, S. 79 f.103 D as Kap ital, Bd. I, S. 803.
104 V gl. dazu System der Philosophie, III, Zu satz zu § 405, S. 162 f. a. a. O . D er Nach we is,
daß die mythischen Bewußtseinsformen an sich schon dasjenige sind, wodurch sie
geschichtlich abgelöst werden, nämlich Aufklärung, bildet ein wesentliches Motiv derDialektik der Aufklärung.
105 Len in, D ie Ag ra rfr ag e und die >MarxKritiker<, a. a. O ., S. 221.
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Natur ist eher das dem Naturzwang der bisherigen Geschichte Abzuge-
w in nende als ein Positivum , zu dem die M enschen ein fach zurü ckzu -
kehren vermöchten.
Freilich bleibt auch dann, wenn man allen Aberglauben hinsichtlich der
M öglichkeit eines unmittelbaren Zu gangs zur N atu r von sich abtut, auch
dann, wenn feststeht, daß Natur weiterhin als Mittel und Material des
Menschen in seiner geschichtlichen Selbstverwirklichung dienen wird, dieunabweisbare Frage offen, ob nicht künftig doch der Bann etwas gelöst
w erden könne, unter dem das N atu rsein und unser V erhält nis zu ih m in
einer Welt stehen, in der alles Warencharakter annimmt, nichts in seiner
Eigenbestimmtheit gilt, sondern nur, insofern es Tauschmittel für anderes
w ird. G erade w eil sie im G run de den M ensc hen fast nur noch als Ausbeu-
tungsobjekt begegnet, nimmt das Preisen der Natur, dann, wenn sie
einmal nicht unter dem Aspekt unmittelbar ökonomischer Nutznießung betr achtet w ir d, etw a vom Reiseb us aus, einen so ausgesp rochen verlo -
genen und ideologischen Charakter an. Hörte Natur auf, bloß als
Rohmaterial zu dienen, so bedürfte es auch ihrer Anhimmelung nicht
länger.
Das verkümmerte Verhältnis der Menschen zur Natur in der Warenge-
sellschaft hat wie kaum ein anderer Schriftsteller in der Gegenwart
Bertolt Brecht wahrgenommen. Wie Kants transzendentales Subjekt die
W elt der Erschein ungen, so kon stit u ie rt der gesellschaftliche Lebenspro-zeß in der Ära des späten Kapitalismus alles Naturbewußtsein wie die
Natur selber106. Die künstlichen Veranstaltungen der Menschen gegen-
über der Natur in der Arbeit werden ihnen zum natürlichen Verhalten
schlechthin, das natürliche nimmt Züge des Verkrampften, selbst Patho-
logischen an. Das meint Brechts Herr Keuner in den »Kalendergeschich-
ten«, wenn er sagt: »Es ist nötig für uns, von der Natur einen sparsamen
Gebrauch zu machen. Ohne Arbeit in der Natur weilend, gerät manleicht in einen krankhaften Zustand, etwas wie Fieber befällt
einen.«107
Eine Gesellschaft, die sich zwar immer noch durch ihren Stoffwechsel mit
der Natur ernährte, zugleich aber so strukturiert wäre, daß sie auf
Rau bbau an der N atu r verzichten könnte, l ieße die W ahrh eit des realisti-
schen Moments in der Marxschen Erkenntnistheorie noch stärker hervor-
treten. Daß die Natur auch etwas an sich Seiendes, unabhängig vom
106 Vg l. dazu M ax H orkheim er und Th. W . Ad orn o, besonders den Exkurs II der Dialektik
der Aufklärung, wo gezeigt wird, daß der Funktionszusammenhang der totalen spätka-
pitalistischen Produktion sich ironisch als die »Wahrheit« des Kantischen Idealismus
erwiesen hat.
107 Berto lt Brecht, Kalendergeschichten, H am burg 1957, S. 125.
i j 8
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manipulierenden Eingriff der Menschen Existierendes ist; die Wahrheit
des Materialismus, der die Dinge nicht als je schon apriorisch bearbeitet
ansieht, sondern gleichsam ausreden läßt, käme zu ihrem Recht. Ohne
daß Brecht dieser philosophischen Implikationen ganz sich bewußt wäre,
läßt er auch in diesem Falle seinen Herrn Keuner das Rechte sagen:
»Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.: >Ich würde gern
mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen. Besonders da siedurch ihr der Tages und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen
einen so besonderen Grad von Realität erreichen. Auch verwirrt es uns
in den Städten mit der Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen,
Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären.
Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung läßt uns ja auch die Men-
schen zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen, und da haben Bäume
wenigstens fü r m ich, der ic h kein Schrein er bin , etw as beruhig end Selb -
ständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie haben selbst für
die Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann<.«108
Die hier angeschnittene Frage, inwieweit eine humanere Gesellschaft
auch zur außermenschlichen Natur in ein neues Verhältnis eintreten
könne, ist in der Marxinterpretation außerordentlich stark diskutiert
w orden. D er reife M arx m acht auch in diesem P u n kt von den Thesen
seiner Frühschriften gewisse Abstriche. Von einer »Resurrektion« der
gesamten Natur ist bei ihm später nicht mehr die Rede. Zugute kommensoll die neue Gesellschaft allein den Menschen, und zwar eindeutig auf
Kosten der äußeren Natur. Sie soll mit gigantischen technologischen
Mitteln bei geringstem Arbeits und Zeitaufwand beherrscht werden und
als materielles Substrat aller nur erdenklichen Gebrauchsgüter allen
Menschen dienen.
W o die A u toren sich ein m al darüber bekla gen, d aß seither die N atu r
heillos ausgeplündert worden sei, geschieht dies nicht aus Sorge um die
Natur selber, sondern aus ökonomischen Zweckmäßigkeitserwägungen.
So sagt etwa Engels in der »Dialektik der Natur«: »Alle bisherigen
Produktionsweisen sind nur auf Erzielung des nächsten, unmittelbarsten
Nutzeffekts der Arbeit ausgegangen. Die weiteren erst in späterer Zeit
eintretenden, durch al lmähliche Wiederholungen und Anhäufung wirk-
sam werden Folgen blieben gänzlich vernachlässigt.«109
In Zukunft soll nicht die Ausbeutung der Natur aufhören, sondern die
menschlichen Eingriffe in sie sollen so rationalisiert werden, daß auchihre entfernteren A usw irkun gen kon trollierbar bleiben. D am it soll die
108 A. a. O.
109 D ialek tik der N atu r, S. 192.
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Natur Schritt für Schritt um die Möglichkeit gebracht werden, sich an
den Menschen doch noch für deren Siege über sie zu rächen110.
Karl Kautsky befaßt sich in seiner »Materialistischen Geschichtsauffas-
sung« eigens mit den Grenzen, die dem Fortschritt hinsichtlich eines Zu
sichselbstGelangens der außermenschlichen Natur im Sozialismus
gesetzt sind. Er spricht von der Zurückdrängung und Vernichtung vieler
Tier und Pflanzenarten, die auch durch den Sozialismus nur einge-schränkt, nicht aber völlig aufgehoben werden könne: »Wie weit die
Schonung seltener Tiere und Pflanzen im Sozialismus auch gehen mag,
der Fortschritt der Bodenkultur wird doch manche ihrer Arten auch
w eiterhin zum Ausste rben bringen.« 111
W ahrscheinlich beurteilt K au tsk y im ganzen die M ö glich keit ein er kü nf-
tigen selbständigen Entfaltung der außermenschlichen Natur noch zu
optimistisch. Eher ließe sich fragen, ob die künftige Gesellschaft nicht zueiner Mam m utmaschinerie wird, ob nicht das W ort der »D ialektik der
A u fk läru n g« vo n der »m enschlichen G esellsch aft als einem M ass enracket
in der Natur«112 eher sich bewahrheiten wird als der Traum des jungen
Marx von einer Humanisierung der Natur, die zugleich die Naturalisie-
rung des Menschen einschließen sollte. Es verbleibt bestenfalls die vage
Hoffnung, daß die mit sich versöhnten Menschen im Sinne der Schopen
hauerschen Philosophie in höherem Maße als bisher Solidarität zu üben
lernen mit der bedrängten Kreatur, daß der Tierschutz in der richtigen
Gese llschaft nicht länger als eine A rt priv ater Schrulle g ilt113.
A m in te nsiv ste n b efaßt sich in der M arxliteratu r die Blo chsche H o ff-
nungsphilosophie mit dem vom jungen Marx und dem Frühsozialismus
insgesamt aufgeworfenen Thema einer »Resurrektion« gerade auch der
außermenschlichen Natur unter den Bedingungen einer vernünftigen
Gesellschaft. Die Blochsche Fragestellung hat zwei miteinander verbun-
dene Seiten. Einmal geht es ihr um das erkenntnistheoretischsoziologi-sche Problem eines neuen ObjektBezuges der Menschen in ihrer
Produktion, zum anderen um das metaphysische Problem eines »Natur-
subjekts« und die damit verknüpfte Frage nach der Unvollendetheit und
utopischen Unabgeschlossenheit der objektiven Natur. Was den neuen
ObjektBezug angeht, so schildert Bloch in seinem Aufsatz »Uber Frei-
heit und objektive Gesetzlichkeit, politisch gefaßt« das Verhältnis der
vergesellschafteten M enschheit zu r N a tu r zunächst so : »Ihr gegenüber
i io A . a. O., vgl. S. 190.
11 1 Ka rl Kau tsky , D ie m aterialistische Gesch ichtsauffassu ng, II. Bd. a. a. O ., S. 836.
1 1 2 H orkheimer/Ad orno, Dialektik der Au fklärung, a. a. O . , S . 271.
1 13 Zum Verhältnis von M ensch und Tier in einer von H errscha ft freien Gesellschaft vgl.
M. H orkheim er, M aterialismus und M oral. In: Zeitschrift für Sozialforschung, JahrgangII, H ef t 2, Paris 1933 , S. 184.
160
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gibt es sozialistisch weder einen beziehungslosen Raubbau (mit dem
ProfitSubjekt über al les) noch naive Naturkindschaft oder Vergötzung
der gegebenen Natursphäre schlechthin.«114
A n der bürgerlichen T ech nik bem ängelt B lo ch, d aß die in ihr herg este llte
V erm ittlu ng vo n N a tu r und M enschen «als überw iegend m ath em atis ch-
quantitative ein relativ Äußerliches«115 an sich habe. Sie sei, wie er im
»Prinzip Hoffnung« näher ausführt, von einem »artifiziellabstrakten W esen«116. D a m it m ein t Blo ch insbesondere die listige V erschränkung
der menschlichen Zwecke mit den der Natur eigenen Gesetzen im
A rbeitsp rozeß, w ie sie vo n H egel dargestellt und von M arx gan z ebenso
in seiner ökonomischen Analyse verstanden worden ist117. Deutlich zeigt
eine Stelle im »Rohentwurf«, daß Marx sich im Hinblick auf das
V erhält nis vo n T ele olo gie der A rb eit und N atu rgesetz m it H egel ein ig
w eiß: »D ie N a tu r w ird . . . rein G egensta nd fü r den M en schen, re in Sacheder Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und
die theoretische Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint selbst
nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand
des Konsums, sei es, als Mittel der Produktion zu unterwerfen.«118
Ob an diesem Sachverhalt sich unter nachkapitalistischen Verhältnissen
W esentliches ändern kan n, steht sehr dahin . W ie so llten die Men schen
eine Überlistung und Ubertölpelung der Natur als welche Hegel und
Marx den zweckmäßigen Arbeitsprozeß beschreiben, künftig vermeidenkönnen? Daß das Reich der Notwendigkeit fortbesteht, solange es über-
haupt menschliche Geschichte gibt, bedeutet eben auch, daß die
Menschen genötigt sind, sich wesentlich aneignend, eingreifend, kämp-
1 14 Ernst Bloch, U ber Freiheit und objektive Ges etzlichkeit, politisch gefaßt. In: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie, II. Jahrgang, Heft 4, Berlin 1954,$. 818.115 A . a. O ., S. 829. Vg l. zur B lochschen Kritik an der seitherigen Technik auch die Schrift
Subjekt — Objekt, die im wesentlichen kapitalistisches Interesse für das Fortbesteheneines bloß quantitativen NaturBezugs der Menschen verantwortlich macht: »Ebenso ist
diese andere M ög lichk eit (eines qu alitative n N atur bildes , einer »breiteren Physik<, S. 194,
die sich >dem mathematischen Kalkül, wenigstens dem bisher ausgebildeten, verschließtsS. 195, A. S.) mit dem kapitalistischen Interesse an einer Art Betriebskalkulation der
Natur unverträglich: wie an der Ware nur der Preis wichtig ist, so an der Natur nur die
quantitative Berechenbarkeit, nicht der qualitative Inhalt«, S. 195.116 Ernst Bloch, D as Prin zip H offnu ng , Bd. II, a. a. O ., S. 228, vg l. auch S. 2 4 1 f. In dieser
K ritik am technisch vermittelten Verhältnis zur N atu r, die sich mit der Frage nach ihrem
noch verborgenen Wesen verbindet, stimmt Bloch interessanterweise mit dem sonst so
von ih m krit is ie rten H eid egger übe re in , in dessen H um anis m usbri ef es nac h ein er K riti kder Meinung, »in der Atomenergie sei das Wesen der Natur beschlossen«, heißt: »Es
kön nte d och sein, daß die Na tu r in der Seite, die sie der technischen Bem ächtigung durch
den Menschen zu kehrt, ihr Wesen gerade verbirgt.« In: Platons Lehre von der Wa hrheit,
a. a. O ., S. 68.
117 V gl. hierzu auch den Ab schn itt A des III. Kap itels.
118 Ro hen twu rf, S. 313.
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fend zur Natur zu verhalten. Nicht umsonst stel lt Marx, worauf die
vorliegende S ch rift in den verschiedensten Zusam m enhängen hin weist,
den Produktionsprozeß fast immer in seinen einfachen und abstrakten
Momenten, nicht in seiner jeweiligen geschichtlichen Bestimmtheit dar:
»So wenig man dem Weizen anschmeckt, wer ihn gebaut hat, so wenig
sieht man diesem Prozeß an, unter welchen Bedingungen er vorgeht, ob
unter der brutalen Peitsche des Sklavenaufsehers oder unter dem ängstli-chen Auge des Kapitalisten, ob Cincinnatus ihn verrichtet in der Bestel-
lung seiner paar jugera oder der Wilde, der mit einem Stein eine Bestie
erlegt.«119
W eis t so für M a rx die A rbeitssituation in sgesam t bei allem geschic htli-
chen Wandel immer die nämlichen Momente auf, so gilt das vor allem
auch für die moderne, technisch vermittelte Beziehung der Menschen zur
Natur. Sosehr sie das Ansich der Dinge in ein Füruns zu verwandeln
bestrebt ist, so sehr ble ib en le tztlich die v o n den M enschen dem N a tu r-
stoff aufgeprägten Formen — im Gegensatz zu den ihm ursprünglich
eigenen — ein Äußerliches und Gleichgültiges120. Auch bei wachsender
V erm ittlu n g w ird N a tu r n ic ht zu einem vö llig vo n uns »G em achte n«, wie
Marx im Anschluß an Vico sagt121. Darin drückt sich das wesentlichste
Unterscheidungsmerkmal von idealistischer und material istischer Dia-
lektik aus: es kommt bei Marx auch in einer wahrhaft menschlich gewor-
denen Welt nicht zur völ l igen Versöhnung von Subjekt und Objekt. Dasm acht die identitätsphilosophische H offn u ng B lochs zuschanden. D ie mit
dem Bürgertum entstandene große Technik bleibt in ihren Hauptmo-
menten relativ gleichgültig auch gegenüber einer nicht mehr bürgerli-
chen Form ihrer sozialen Organisation. Es ist also keineswegs nur kapita-
listisches Interesse, wodurch die von Bloch gesehene Möglichkeit einer
»breiteren Physik«122 vereitelt wird. Nicht nur werden die Menschen
w eit erhin überlistend zu r N a tu r sich verh alt en, w ie B loch krit is ie rt,
sondern m it ihren ins Gigantische wachsenden Pr od uk tivkräften w ird ein
nichtmathematischer und qualitativer ObjektBezug, wie er Bloch vor-
schwebt, sich kaum realisieren lassen.
W as am G edan ken eines solc herart naiv en, nic ht quantifizieren d kalku la
torischen NaturBezuges zu retten wäre, ist die Hoffnung, daß die
Menschen, wenn sie einmal durch ihre Gesellschaftsform nicht länger
dazu verhalten sind, einander primär unter dem Aspekt ökonomischer
Nutznießung zu betrachten, auch den äußeren Dingen etwas von ihrer
119 Das Kapital, Bd. I , S. 192.
1 20 Vg l. dazu besonders den Absch nitt A des II. Kapitels und den Rohen twurf, S. 26 5.121 Vg l. Das Kap ital, Bd. I, S. 389, Fu ßno te 89.
122 Bloch , Subjekt—O bje kt, a. a. O ., S. 194.
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Eigenständigkeit, von ihrer »Realität« zu lassen vermögen, von der
Brecht spricht. In einer solchen Gesellschaft wäre der Blick auf die
Naturdinge entkrampft, er hätte etwas von der Ruhe und Gelassenheit,
die das Wort »Natur« in Spinozas System umgibt.
Die andere Seite der Blochschen Fragestellung hängt insofern mit der
bereits erörterten zusa m m en, als B loch meint, das m it mensc hlicher
A rb e it sich verbin dende N atu rm ateria l müsse, wen n die abstrakte bür-
gerliche Technik abgelöst worden sei von dem, was er »konkrete Allianz-
technik«123 nennt, sich als »Natursubjekt« erweisen: »Wie der Marxis-
mus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der
Geschichte entdeckt hat, wie er es sozialistisch erst vollends entdecken,
sich verwirklichen läßt, so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der
Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten
Subjekt der Naturvorgänge vordringt: die Menschen mit ihm, es mit denM enschen, sich m it sich verm ittelnd.« 124
Näher bestimmt Bloch den ausgesprochen metaphysischen Charakter
seines »Natursub jekts« so: » .. . d er B eg riff eines dyn am ischen Subjekts in
der Natur ist in letzter Instanz ein Synonym für den noch nicht manife-
stierten DaßAntrieb (das immanenteste materielle Agens) im Realen
überhaupt.. . In dieser Schicht also, in der materiell immanentesten, die
es überhaupt gibt, l iegt die Wahrheit des als Subjekt der Natur Bezeich
neten.«125
Einerlei, wieviel an diesen Erwägungen Blochs auf Renaissancephilo-
sophie, Jakob Böhme oder Schellings romantische Naturspekulation
zurückgehen mag, sie sind insgesamt unverträglich mit einer materialisti-
schen Position, sei sie nun beschränkt naturwissenschaftlich begründet
oder sei sie dialektisch, wie die Marxsche.
Ohne Zweifel führt der »neue Materialismus«126, von dem Marx in den
»Thesen« spricht, insofern über die gesamte seitherige Geschichte desM aterialismu s hinaus, als er die n aturhafte W irklichke it nicht länger bloß
»unter der Form des O b j e k t s*127, das heißt als tote mechanischphysika-
lische Körperwelt zu betrachten lehrt, sondern ebensosehr unter der
Form des Subjekts, unter dem G esichtspun kt verändern der Praxis. Sosehr
hier die Wirklichkeit aufhört, ein bloß kontemplativ »Gegebenes« zu
sein, sosehr bleibt sie doch, gerade auch als menschlich vermittelte, eine
an sich bestehende objektive Welt. Die unaufhebbare Grenze zwischen
123 Bloch , D as Prin zip Ho ffnu ng , Bd. II, a. a. O ., S. 259.
124 A. a. O., S. 246.
125 A . a. O ., S. 245 f.126 Zehn te These über Feuerbach. In: M arxEn gels, Uber Religion, S. 56.127 Erste Thes e über Feuerbach. In: M arxEn gels, U ber Religion, S. 54.
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Subjekt und O bjek t der A rbe it ist für M arx zugleich die zwischen Subjekt
und Objekt der Erkenntnis128.
Genau das identitätsphilosophische Verschwinden dieser Grenze ist es,
das uns beiBloch wiederum begegnet, wenn er — zumindest hypothetisch
— da zu neigt, die gesamte W irklich ke it wie He ge l als ein sich m it sich
verm itte lndes abso lutes Subje kt zu betrachten. D a ß dieses Subjekt ein
»Natursubjekt« sein soll, verschlägt dabei wenig und hat gegenüber demprinzipiell Idealistischen der Auffassung nur terminologische Bedeutung.
V ollends bezeugt die Rede vo m »noch nic ht m anifest ie rten D a ß A n tr ieb
im Realen«, auch wenn er als »materiellimmanentester« bezeichnet
w ird, d aß Blo ch dem id ealistischen G la u ben hu ld igt, der W elt lä ge ein
sich ausgebärendes letztes Seinsprinzip »zu Grunde«. Ein solches Prinzip
aber ist der Marxschen Denkweise insgesamt fremd. Die bessere mensch-
liche Ordnung ist für sie keine »Sinnverwirklichung des Weltprozesses«,
ein Gedanke, der bei Bloch, wie schon an anderer Stelle zu zeigen war129,
immer wieder durchbricht. Das einzige naturentsprungene und in der
Natur teleologisch wirkende Su bjekt ist für Marx der Mensch, der sich
arbeitend an einem gerade nicht Subjektiven, der dinglichen Natur drau-
ßen, zu bewähren hat.
W ährend, wie M arx zu zeig en versucht, die m enschliche G eschic hte eine
A u fein an d erfo lg e vo n q u alitativ verschiedenen, je w eils system gebunde-
nen Gesetzmäßigkeiten darstellt, gibt es im Gesetzeszusammenhang derphysischen Natur im Grunde keine Veränderung, was bei Engels, den
Bloch in dieser Frage versteckt kritisiert, ganz richtig in der »Dialektik
der Natur« so formuliert wird: »Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die
M aterie sich be w eg t, . . . und worin nichts ewig ist als die ewig sich verän -
dernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze, nach denen sie
sich be weg t und verä nd ert.«130
Gegenüber dieser auch Marx eigenen Ansicht, daß die Natur in ihren
Gesetzen ein gewissermaßen fertig Vorliegendes sei, zumal die durch ihre
eigenen Kräfte bewirkten Veränderungen, verglichen mit den gesell-
schaftlich bedingten und denen der Gesellschaft selber, geringfügig sind
und sich über lange Zeiträume erstrecken, kokettiert Bloch bei allen
Einwänden, die er gelegentlich gegen sich selbst erhebt, mit dem
Gedanken einer objektiven Unabgeschlossenheit der Naturgesetze, ja,
einer kosmogonischen Entsprechung zum Marxschen Übergang von der
128 V gl. dazu die Dissertation vo n Alfred M eusel, Un tersuchung en über das Erken ntnisob- je k t bei M arx, Je na 1925, S. 2.
129 V gl. etwa die Erörterunge n über den B eg riff des 'Weltendzweckes bei Ma rx im Abschnitt A des I. Kapitels.
1 30 D ialektik der N atu r, S. 27 f .
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Vorgeschic hte der M enschheit zu ih rer w irklich en Geschic hte : »Die
endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig mani-
festie rte G eschichte im H o rizo n t der Z u k u n ft, und nur auf diesen Hori-
zont laufen auch die künftig wohlerwartbaren Vermittlungskategorien
konkreter Technik z u . . . N atu r ist kein Vorbei , sondern der noch gar
nicht geräumte Bauplatz, das noch gar nicht adäquat vorhandene
Bauzeug fü r das noch gar n ich t adäquat vorhandene m enschliche H a u s.«'131
W o rau f B lo ch m it dieser utopischen L aten z und Unabgeschlo ss enheit der
nichtmenschlichen N at u r hinaus w ill, ist nicht gan z auszum achen. Insbe-
sondere ist nicht einzusehen, inwiefern die von Marx angestrebte höhere
Form des Stoffwechsels von Mensch und Natur die »Bildkräfte einer
gefrorenen Natur erneut freisetzt«132. Von einem »erneuten« Freisetzen
von N atu rkräften durch die höhere G esellschaft kann nic ht gut die Rede
sein. Zu den qualitates occultas, hinter denen sich unerkannte quantita-
tive Relationen verbargen, führt kein Weg zurück. Eine Versöhnung des
durch moderne materielle Produktion und Naturwissenschaft bedingten
Begriffs der Natur mit einem vorwissenschaftlichqualitativen, im
Grunde magischanimistischen Naturbild133, wie Bloch es uneingestan-
denermaßen vorschwebt, wenn er die Abstraktheit dessen, was der
neuzeitlichen Gesellschaft Natur heißt, kritisiert, ist nicht möglich. Von
A nbegin n schließt die H errschaft über N a tu r dere n E n tqu alifizieru ngund O bjektivierung ein.
W enngle ic h die Blo chsche N atu rsp ekulation , die sich ja ebensosehr als
Interpretation des dialektischen Materialismus versteht, mit ihrer meta-
physischen und kosmologischen Ausweitung des Marxschen Problems der
Natur nicht nur über Marx hinausgeht, sondern auch gänzlich von ihm
w egfü hrt134, so p oin tiert sie doch zugle ich ein M om ent am M arxschen
Naturbegriff, das seither jedenfalls so gut wie unbeachtet geblieben ist.
Marx versteht in der Tat die in die gesellschaftlichen Beziehungen der
Menschen hineinwirkende Natur nicht ausschließlich quantifizierend-
naturwissenschaftlich, sosehr seine Sprache von naturwissenschaftlichen
13 1 Bloch, Das Prinz ip H offn un g, Bd. II, a. a. O ., S. 264.132 A. a. O.
13 3 N icht umsonst führt Bloch imm er wieder Autoren wie Paracelsus, Jakob Böhme, Ba aderund Schelling an, wenn er auf das Problem eines reicheren Naturbegriffs zu sprechen
kommt.
134 So spricht Bloch von einer » komm unistischen Kosm ologie«. Sie sei »das Problemgebiet
einer dialektischen Vermittlung des Menschen und seiner Arbeit mit dem möglichen
Subje kt der N atu r*. Das Prinzip Hoffnung, Bd. III, a. a. O., S. 272 . Die D if feren z zum
reifen Marx ist offensichtlich.
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Termini, durchsetzt ist135. Daß sie unter den Kategorien menschlicher
Pra xis erscheint, bleibt ihrem B egr iff nicht äußerlich. In der Ar be it für
M arx namentlich in der richtig organisierten kehrt die N atu r den
Menschen eine differenziertere, gleichsam »natürlichere« Seite zu als im
Laboratorium. Hier wird sie durch die Frage bestimmt, die an sie gestellt
ist. Sie ist Produkt der je herrschenden, durch die wissenschaftliche
Entwicklung bestimmten Problematik. In Gestalt des Arbeitsmaterialstritt ihnen Natur auch als ein qualitativ Bestimmtes entgegen, als der
anzueignende Leib ihrer selbst. Das Reich der Naturkräfte hat für Marx
etwas vo n dem renaissancehaften »poetischsinnlichen G lan z« 136, den er
in der »H eiligen Familie« am M ateriebegriff des auch schon technikbe zo-
genen Baconischen Materialismus wahrnimmt. Es ist nicht nur ein riesi-
ges, unter allen gesellschaftlichen Daseinsbedingungen der Menschen in
allen seinen Erscheinungsweisen vorgegebenes M ateria l, sondernzugleich ein Potential, dessen extensive und intensive Aktualisierung
nach Maßgabe des jeweils erreichten Standes der Produktivkräfte
erfolgt. Es gibt in der Natur eine gewisse Disposition für menschliche
Formung, die den natürlichen Schöpfungsprozeß weiterzutreiben, zu
überbieten bestrebt ist. Die menschliche Tätigkeit entbindet, nach einem
W o rt von Benjam in , die N atu r »von den Schöpfungen, die als m ögliche
in ihrem Schöße schlummern«137, verhilft dem, was sie an sich ist, zum
A usdruck.
Bei Erwägungen dieser Art ist alles eine Frage der Nuancierung. Falsch,
w eil übertr ie ben teleolo gisch, w ir d der G ed an ke ein er in neren A ngele gt
heit des Stoffs auf menschliche Formung hin, wodurch Natur zu einem
»Mitproduzierenden« wird, dann, wenn man mit Bloch meint, Technik
gründe schlechthin in einer »objektiven Produktionstendenz der
W elt « 138. Sosehr die Beschaffenheit der N atu rsto ffe mensch lich er
A neignung zusta tte n kom m en m ag — alle m enschlichen Z w ecke bedienen
135 Das zeigt insbesondere auch der die Blochsche Ansich t stützende, aber m erkw ürdiger-
weise von ih m nic ht ausg ewert ete R ohentw urf, in dem M a rx versucht, m it H ilf e vo n
Begriffspaaren wie »FormMaterie«, »WirklichkeitMöglichkeit«, die der Metaphysik
des von ihm hochgeschätzten Aristoteles entstammen, die Beziehung von Subjekt und
Objekt in der Arbeit zu erfassen. Unmittelbar lehnt Marx sich freilich an die entspre-
chenden Kategorien der Hegelschen Logik an, die als materialistisch verstandene, mehr
noch als bei Hegel selbst, ihre Herkunft aus der Philosophie des Aristoteles durchschim-
mern lassen. Vg l. zu dieser Seite der The orie auch die Bem erkung en zu r geheimen N atu r-spekulation in Marx im Abschnitt B des II. Kapitels. Zum Verhältnis von Marx und
A ri sto te le s vgl. auch die in str uktive A n tr it tsvorle su ng vo n M arcel R edin g, Thom as A quin und K arl M arx, G ra z 19 53.
136 Heilige Familie, S. 258.
137 W alter Benjamin, Schriften, Bd. I, a. a. O ., S. 501.
138 Bloch, Das P rinzip H offn un g, Bd. II, a. a. O ., S. 262.
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sich ihrer Gesetze —, sosehr halten M arx und d er in dieser Frage m erk-
w ürdig m ateria listische H egel an der These fest, d aß die M itp rod u k tio n
der Natur in der Arbeit immer auch einschließt, daß das, was die
Menschen mit der Natur im Sinn haben, ihr zutiefst fremd und äußerlich
bleibt. A u ch im Sozia lism us.
W enn M a rx von den »schlu m mernden Potenzen«139 der N a tu r spric ht,
dann handelt es sich um solche der Menschen oder um die objektive
Möglichkeit der Dinge, in bestimmte menschliche Gebrauchswerte über-
führt zu werden. Blochs apokalyptische Phantasie dagegen läßt es offen,
ob die unter den Bedingungen der neuen Gesellschaft sich freisetzenden
»Bildekräfte der Natur«, sich mit menschlichem Tun vermittelnd, in
Gebrauchswerte eingehen werden, oder ob die Natur, durch die rechte
Ordnung der menschlichen Dinge dazu veranlaßt, sich »endgültig zu
manifestieren«, etwa unabhängig von menschlichem Eingriff neue For-men aus sich hervorbringen soll. Außerordentlich fragwürdig ist dabei,
ob nach den Menschen naturgeschichtlich höhere Lebewesen überhaupt
möglich sind140.
Der eigenartige G edan ke, d aß mit der richtigen Gestaltung der menschli-
chen Verhältnisse eine grundlegende Veränderung des gesamten Kosmos
einhergehe, findet sich bereits bei den frühsozialistischen Autoren des
V orm ärz. R ührend nehm en sich die V orstellu ngen Fourie rs aus, an die
Benjamin erinnert, daß die vernünftig eingerichtete Arbeit zur Folge
haben sollte, »daß vier Monde die irdische Nacht erleuchteten, daß das
Eis sich von den Polen zurückziehe, daß das Meerwasser nicht mehr
salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst der Menschen
träten«141. Benjamin hat recht, wenn er sagt, daß angesichts dessen,
was die M enschen, anstatt die ric htig e Praxis zu verw ir k lichen, sich und
der äußeren Natur tagtäglich antun, noch die exzentrischsten Phantasien
und verstiegensten Utopien ihren guten Sinn behalten. Heute, wo dietechnischen Möglichkeiten der Menschen um ein Vielfaches die Träume
der alten Utopisten überbieten, will es eher scheinen, daß diese Möglich-
keiten, negativ realisiert, in Destruktivkräfte Umschlägen und so, statt
des wie immer menschlich begrenzten Heils, das totale Unheil herbeifüh-
ren: gleichsam die grimmige Parodie auf die von Marx gemeinte Verän-
derung, bei der Subjekt und Objekt nicht versöhnt, sondern vernichtet
werden .
139 Das Kapital, Bd. I, S. 185.
140 Vg l. dazu H orkh eime r/Ad orno , Dialektik der Au fklärun g, a. a. O ., S. 235.
141 Ben jam in, Sch riften, Bd. I, a. a. O ., S. 501.
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Vorbem erkung zum Anhang
Der folgende Aufsatz wurde 1965 als Beitrag zur deutschen Publikation
einer denk wü rdigen Ko ntroverse geschrieben, die am 7. Dezem ber 1961 an
der Pariser M utuali té stattfand zwischen Jean-Paul Sartre und Jean
Hyppolite auf der einen Seite und Roger Garaudy, Jean-Pierre Vigierund Jean Orcel auf der anderen. Das Thema der Diskussion war die für
A u fb au und D arstellu ng des dia le ktischen M ate ria lism us erhebliche F ra
ge, ob die Dialektik nur als Bewegungsform der menschlich-geschichtli
chen Pra xis an zusehen sei oder ob sie der N at u r »an sich« zukom m e. D er
A u to r pfli ch tet grun dsätzlich den krit ischen Ein w änden Sartres und
Hyppolites gegen die parteikommunistische Auffassung einer rein objek
tiven D ialek tik der N atu r bei und entw ickelt seine Position in zwei R ich
tungen: Er zeigt einmal, daß — erkenntnistheoretisch gesehen — das
Haupthindernis einer »ontologischen« Dialektik darin besteht, daß die
se, um wirklich materialistisch zu sein, einzelwissenschaftlich demon
strierbar sein muß, wenn sie nicht eine bloß »weltanschauliche« These
bleiben soll; er ze igt zum anderen, über Sartre und H y p p o lite hin aus,
daß selbst der menschlichen Geschichte eine einheitlich-dialektische Struk
tur nicht en bloc zugesprochen werden darf.
A . S.
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Zum Verhältnis von Geschichte und Natur im
dialektischen Materialismus*
D ie d ia lekt is c he M et ho d e, u n d ger ad e d ie vo m K o p f a u f d ie F ü ße ge
stel lte, kann nicht darin bestehen, die einzelnen Phänomene als Il lustra
t ionen oder Exempel eines bereits Feststehenden und von der Bewegung
des Begri f fs se lber Dispensierten abzuh ande ln; so entartete d ie D ialekt ik
zur Staatsrelig ion.
T h e o d o r W . A d o r n o , P h il o so p h ie der n euen M u sik
W er m it dem gegenw ärtigen Stand der philosophis chen D iskussio n um
Marx und den Marxismus weniger vertraut ist, mag durch die vorange
hende Debatte über die Frage, ob die Dialektik nur ein Gesetz der
Geschichte oder auch aus der Natur abzuleiten sei, zum ersten Mal
darauf aufmerksam gemacht worden sein, daß hier ein wirkliches, keines
wegs ausgedachte s Proble m vo rlieg t — ein Proble m , das durch den au f
weltanschauliche Geschlossenheit bedachten Sow je tm arxism us in seiner
Tragweite ebenso verdeckt wird wie durch dessen hierzulande weitge
hend thomistisch orientierte Kritik, die — den ontologischen Anspruch des
Diamat ernstnehmend — nicht selten befriedigt zu verstehen gibt, wie
w enig dieser m it der Posit io n von M arx gem ein h a t1. D ie heu tige
Diamat-Ontologie läßt sich ohne jeden Rekurs auf das Marxsche Werk
diskutieren und hat mit einer Analyse der kapitalistischen Produktions-
* Z u e r s t e rs c h ie n e n in : E x i s t en t ia l is m u s u n d M a r x i s m u s . E i n e K o n t r o v e r s e z w is c he n
S a r t re , G a r a u d y , H y p p o l i te , V i g i e r u n d O r c e l . e d it io n s u h r k a m p , F r a n k f u r t 1 9 65 .
i S o s t e ll te W e t t e r i n se in e r g ru n d l e g e n d e n A r b e i t b e r e it s 1 9 5 2 e r s t a u n l ic h e P a r a ll e le n
z w i s c h e n d e m d i a l e k ti s c h e n M a t e r ia l is m u s i n s e in e r s o w j e ti s ch e n V e r s i o n u n d d e r t h o m i -
s t is c h e n S c h o l a s t i k f e s t : » W i r g l a u b e n n i c h t z u ü b e r tr e i b e n , w e n n w i r b e h a u p t e n , d a ß d e r
d i a l e k t is c h e M a t e r i a li s m u s i n s e i n e r h e u t ig e n o f f i z ie l l e n s o w j e t i s c h e n F a s s u n g v i e l m e h r
Ä h n lic h k e it h a t m it d er s ch o la stis ch en »fo rm a men tis « als m it d e r h e g e lia n isc h -d ia le k ti
s c h e n , t r o t z g e w i s s e r h e g e l i a n i s c h e r A u s d r ü c k e u n d B e g r i f f e , d i e m a n z w a r b e i b e h ä l t ,
•aber du rch »mater ial i st i sche Umkehru ng« ihres ideal i st i schen S innes berau bt u nd mit
e i n e m e i n f a c h d e m g e s u n d e n M e n s c h e n v e r s t a n d g e m ä ß e n S i n n e r f ü l l t . G e r a d e d i e
E n g e ls s ch e Ü b e r t r a g u n g d e r D i a l e k t i k a u f d ie N a t u r s o w i e d ie b e s o n d e re B e d e u t u n g , die
d e n S t a l i n s c h e n K a t e g o r i e n » M ö g l ic h k e i t u n d W i rk l ic h k e i t« z u g e m e s s e n w i r d , b r in g e n es
m i t s i c h , d a ß w i r e s i m h e u t i g e n s o w j e t i s c h e n d i a l e k t i s c h e n M a t e r i a l i s m u s m i t e i n e r
D e n k f o r m z u t u n h a b e n , d i e d e r s c h o l a s t i s c h - a r i s t o t e l i s c h e n A k t - P o t e n z - L e h r e i n n e r l i c h
v ie l v e rw a n d te r is t a ls ec h te r h eg e lia n is c h e r D ia le k t ik .« G u s ta v A . W e tte r , D e r d ia le k t i-
sche Material ismu s, 2 . A u f l . F r e i b u r g 1 9 5 6 , S . 5 7 6 .
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weise im G runde nichts m ehr zu tun. M it der dynam is chen Stru ktur der
W elt überhaupt beschäftigt, verlieren die sowjetischen Ph ilosophen die
des Menschen, au f die es M ar x einmal an kam , imm er mehr aus dem
Blick. Das Konkretum der gesellschaftlichen Verhältnisse verflüchtigt
sich ihnen zur »höchsten Bewegungsform der Materie«. Angesichts dieser
Rückübersetzung ursprünglich kritischer in dogmatisch-weltanschauliche
Begriffe scheint nichts so geboten wie eine Reflexion auf den Geltungsbe
reich von Dialektik, wie die Pariser Kontroverse sie angestellt hat, ohne
freilich in ihrem Verlauf den entscheidenden Gesichtspunkt, von dem sie
bestim mt w ar, genügend zu artik ulieren. Es ging ihr n icht um die » G ü l
tigkeit« der Dialektik schlechthin jenseits des (nicht nur innerphilosophi
schen) Gegensatzes von Idealismus und Materialismus, sondern um die
Frage: ist — wenn die Termini ihren strengen Sinn behalten sollen — eine
Dialektik der an sich seienden Natur als materialistische möglich?Müssen nicht, wie immer wieder notiert worden ist2, Materialismus und
Dialektik miteinander unverträglich werden, wenn unter Natur verstan
den wird, was die exakten Wissenschaften über sie ausmachen? Im
folgenden soll zu zeigen versucht werden, daß die erste Frage zu vernei
nen, die zweite zu bejahen ist. Der Beitrag stimmt der von Sartre und
Hyppolite gegen Garaudy und Vigier entwickelten Position grundsätz
lich zu, w obei er sich im A nsc hlu ß an Sartres Critique de la raison dialec
tique3 davon leiten läßt, daß der Existentialismus dem authentischen
Marxschen Denken als eines seiner Momente, das sich verselbständigt
hat, theoretisch nichts zu bieten vermag, daß er bestenfalls gegenüber der
heutigen Sowjetorthodoxie die Rolle eines Korrektivs spielen kann,
indem er die von ihr in einer objektivistisch verkürzten Konzeption von
Dialektik unterdrückte Subjektivität wieder zur Geltung bringt4. Im
übrigen fußt auch Sartres Argumentationsweise nicht ausschließlich auf
seiner existentialistischen Lehre, sondern ebensosehr auf den im Rahmendes Marxismus selbst seit langem erreichten Positionen, die sich lediglich
aus politischen Gründen nicht durchsetzen konnten. Das Verdienst,
gegenüber dem so folgenreichen Engelsschen Versuch, die Dialektik auch
auf die vor- und außermenschliche Natur auszudehnen, als erster darauf
hingewiesen zu haben, wie wichtig es gerade im Materialismus ist, die
2 C f . e t w a M . M e r l e a u - P o n t y , S en s e t n o n sen s, Paris 1948, S. 228.
3 Paris i960.
4 Z u S a r t r e s g e g e n w ä r t i g e r I n t e r p r e t a t i o n d e s V e r h ä l t n i s s e s v o n M a r x i s m u s u n d E x i s t e n
t i a l i s m u s c f . d a s u n t e r d e m T i t e l M a r x is m u s u n d E x iste n tia li sm u s deu tsch erschienene
V o r w o r t d e r C r i t i q u e , H a m b u r g 1 9 6 4 , S. 1 4 2 f . — D i e R o l l e e in e s s o l ch e n K o r r e k t i v s h a t
S a r t r e s P h i l o s o p h i e d e n n a u c h i n d e n l e t z t e n J a h r e n i n P o l e n , b e s o n d e r s a b e r i n d e r
T s c h e c h o s l o w a k e i g e s p i e l t
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Methode auf die historisch-soziale Wirklichkeit zu beschränken, kommt
fraglos Lukäcs zu, der es bereits 1923 in Geschichte un d Klassenbewußt
seins wagte, gegen Engels zu polemisieren. Worin auch die Schwächen
dieser Schrift bestehen mögen und was immer Lukäcs selbst inzwischen
an ihr ausgesetzt haben mag — sie stellt mit allem Nachdruck den wesent
lich historischen Charakter der Marxschen Theorie heraus, der jede
Tendenz untergräbt, die außermenschliche Realität ontologisch zu fixieren: »Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie, d.h. was auf einer
bestim m te n Stufe der gesellschaft lichen E n tw ick lu n g als N a tu r gil t, wie
die Beziehung dieser Natur zum Menschen beschaffen ist und in welcher
Form seine Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, also was die Natur
der Form und dem Inhalt, dem U m fang und der Gegen ständlichkeit nach
zu bedeuten hat, ist stets gesellschaftlich bedingt.«6 Freilich läßt sich dem
hinzufügen, daß umgekehrt die Gesellschaft immer auch eine Naturkategorie ist, sofern nämlich ihre jeweilige Gestalt sowie das von ihr angeeig
nete Natursegment innerhalb der noch weitgehend undurchdrungenen
Gesamtrealität Natur verbleiben. Aber auch deren Begriff fäl lt nicht aus
der menschlichen Geschichte heraus; auch von ihr läßt sich nur relativ zu
dem je erreichten Stand der Naturbeherrschung sprechen. Einzig ein
Denken, das diese grundlegende Erwägung des Verhältnisses von Natur
und Geschichte in sich aufgenommen hat und bei jeder besonderen
A n alyse vorau ssetzt, hat sich des dogm atis ch-w eltanschaulichen
A nspruchs w irk lich entschla gen und genügt den gegenw ärtigen E rforder
nissen eines kritischen Marxverständnisses. Dialektik ist kein ewiges
W eltgesetz; sie geht m it den M enschen unter.
D if ferenzie rungen im B eg riff einer his torischen D ia lek tik
Für den Marxschen Material ismus ist Dialektik nur als historische
M ethode7 möglich. So heißt es bereits in der D eutschen Ideologie : »Wir
kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.
Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte
der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide
Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren,
bedin gen sich G eschic hte der N a tu r und G eschic hte der M enschen gegen-
5 B er l in-H alense e 192 3, c f . S . 17 , Fu ßn ote 1 .
6 Ibid . , S . 240.
7 E i n S a c h v e r h a l t , d e r a ls A n t i t h e s e z u H e g e l s » o n t o l o g is c h e r « P o s i t io n e i n g e h e n d e r ö r t e r t
w ir d v o n H e r b e rt M a rc u s e in V e r n u n f t u n d R e v o l u t i o n , N e u w i e d u n d B e r l i n 1 9 6 2 ,
S. 274—282.
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seitig.«8 D em zu folge äuß ert sich M arx im G egen satz zum späten Engels
zur Natur »an sich« immer nur mit großer Vorsicht. Alle Aussagen über
Natur sind bezogen auf die jeweils erreichte Stufe ihrer gesellschaftlichen
Aneig nung. D abei brin gen die wechse ln den K onstellationen, in w elche
die Menschen zueinander und zur Natur treten, es mit sich, daß der
menschlichen Geschichte schlechthin eine gleichförmig-dialektische
Struktur nicht zugesprochen werden kann. Die Dialektik von Produktiv
kräften und Produktionsverhältnissen ist keineswegs das Bewegungsge
setz der Geschichte, obwohl nicht wenige Formulierungen von Marx
diese Interpretation zu stützen scheinen. »Alle Kollisionen der Geschich
te«, schreibt er in der D eutschen Ideolo gie , »haben. . . nach unsrer
A uffassun g ih ren U rspru n g in dem W id erspruch zwis chen den P ro d u k
tivkräften und der Verkehrsform . . . Diese verschiedenen Bedingungen,
die zuerst als Bedingungen der Selbstbetätigung, später als Fesselnderselben erschienen, bilden in der ganzen geschichtlichen Entwicklung
eine zusammenhängende Reihe von Verkehrsformen, deren Zusammen
hang darin besteht, daß an die Stelle der früheren, zur Fessel gewordenen
V erkehrsform eine neue, den entw ic kelteren P rodu ktivkräften und dam it
der fortgeschrittenen Art der Selbstbetätigung der Individuen entspre
chende gesetzt wird, die ä son tour wieder zur Fessel und dann durch eine
andre ersetzt wird.«9 Aus der »zusammenhängenden Reihe von Ver
kehrsformen« wird dann im berühmten Vorwort der Schrift Z u r K ritik
der polit ischen Ö kon om ie die notwendige Abfolge progressiver Epochen
der ökonomischen Gesellschaftsformation von der asiatischen über die
antike zur feudalen und von dieser zur bürgerlichen Produktionsweise.
Unschwer läßt sich zeigen, daß Marx hier allzu umstandslos dem
Entwicklungsschema der Hegelschen Geschichtsphilosophie folgt und
daß der Gang der wirklichen Geschichte weit komplizierter ist. Dem
aber trägt Marx, ohne deshalb sein allgemeines Konzept einfach umzustoßen, in seinen materialen Analysen selber Rechnung, deren theo
retischer Gehalt weit über das hinausgeht, was er in programmatischen
V o r- und N a ch w o rten ausspric ht und von der se itherigen M arxinterp re
tation einschließlich der Sartreschen überbewertet worden ist, die den
historischen Materialismus noch immer abgelöst von den Inhalten der
politischen Ökonomie glaubt verstehen zu können.
Konfrontiert mit einem ungeheuren sozialgeschichtlichen Material, sieht
Marx sich in hohem Maße genötigt, sein geschichtsphilosophisches Kon
struktionsprinzip beiseite zu lassen und im R o h en tw u rf zum K a p ita l
8 M E W , B a n d 3 , B e r l i n 1 9 5 8 , S . 18 .
9 Ibid . , S . 73 und 72.
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sowie in seinem Hauptwerk selbst in den Begriff einer historischen
Dialektik wichtige Differenzierungen einzuführen. Wenn die Kritik der
politischen Ökonomie den Arbeitsprozeß zunächst nur in seinen einfa
chen und abstrakten Elementen »zweckmäßige Tätigkeit«, »Arbeitsge
genstand« und »Arbeitsmittel« darstellt10, und zwar als »ewige Naturbe
dingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form
dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam«11, so handelt es sich nicht nur um eine methodisch nützliche
A b strak tio n , die den A rbe itsp ro zeß als solchen seinen konkret-histori
schen Gestalten gegenüberstellt, sondern zugleich um die Unterschei
dung der vorbürgerlichen Stufen von der bürgerlichen Produktionsweise.
Gemessen nämlich an der konkreten Bestimmtheit, die der Arbeitspro
zeß als spezifisch kapitalistischer annimmt, haftet den ihm vorhergehen
den Formen etwas eigentümlich Ungeschichtliches und Naturhaftes an;ihre Unterschiede verschwimmen, und ihre Übergänge ineinander zeigen
sich nicht mehr eindeutig bestimmt durch den Widerspruch von wach
senden Produktivkräften und stagnierenden Produktionsverhältnissen.
Die Dialektik hat einen sozusagen »elementarischen« Charakter. Nicht
umsonst bedient sich M ar x imm er w ieder des Au sdru cks »Stoffwechsel«,
wenn er den nur zw is chen M ensch und N a tu r sich abspie lenden A rbeits
prozeß im Auge hat, wie er al le Entwicklungsformen gleichermaßen
charakterisiert. Zwar entwickelt jede bestimmte Form dieses Prozessesseine materiellen Grundlagen weiter. Aber das damit einhergehende
»Zurückweichen der Naturschranke«12 bleibt ein bloß quantitatives und
die menschliche Tä tigk eit als bloß n atürliche Fu nktion in N atu r verfloch
ten; erst mit dem Übergang zum Kapitalismus gewinnt die Naturbeherr
schung eine neue Qualität: erst jetzt wird der Arbeitsprozeß, von dem
M arx zunäc hst erk lärt hatte, er sei seinen allgem einen Bestimm ungen
nach für alle gesellschaftlichen Stufen derselbe, zu einem im strengenSinne gesellschaftlichen Produktionsprozeß, für dessen Analyse jene all
gemeinen Bestimm ungen, w ie M arx selbst sag t13, nicht genügen und die
sich damit gerade in ihrer Abstraktheit als für die besonderen Stufen
vorbürgerlicher Prod uktion kennzeic hnend erweisen. So erschein t auch
die kapital istische Kooperation im Arbeitsprozeß gegenüber der von ihr
geschichtlich abgelösten Ba uernw irtschaft und dem unabh ängigen H and
w erksbetrie b nicht »als eine besondre historische Form der Kooperation,
sondern die Kooperation selbst als eine dem kapitalistischen Produk-
10 D a s K a p ita l, Band I , Ber l in 1955, S . 186 f .
11 Ibid . , S . 192.
12 Ibid . , cf . S . 540.
13 Ibid. , S . 189 ; cf . auc h S. 533.
180
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tionsprozeß eigentümliche und ihn spezifisch unterscheidende Form«14.
W as die vorkapitalistisch e K oop eration angeht, so lä ß t sich von ih r nur
aus der Perspektive der kapitalistischen reden; »sie beruht einerseits auf
dem Gemeineigentum an den Produktionsbedingungen, andrerseits dar
auf, daß das einzelne Individuum sich von der Nabelschnur des Stammes
oder des Gemeinwesens noch ebensowenig losgerissen hat, wie das Bienen
individuum vom Bienenstock«15. Entsprechend beruht auch, was Marxdie naturwüchsige Teilung der Arbeit innerhalb eines Stammes oder
einer Familie nennt, auf Geschlechts- und Altersunterschieden, das heißt
auf »rein physiologischer Grundlage«16. Eine wirklich gesellschaftliche
Basis erhält die Arbeitsteilung in dem Maße, wie sich die Individuen,
besondere O rg an e eines abstrakten, w eil »unm ittelb ar zusam m engehöri
gen Ganzen«17, voneinander ablösen, das heißt recht eigentlich zu Indi
vid uen w erden. D en A n la ß zu diese r Zersetzu ng des N atu rzusam m en hangs zwischen den Menschen, für den die Thesen der organizistischen
Soziologie weit eher gelten als für den Kapitalismus, bildet das
A ufkom m en des Produktenaustauschs m it frem den Gem ein wesen, der
verm ittelt ist durch die Tatsache, daß versc hiedene Gem ein wesen in ih rer
»Naturumgebung« verschiedene Produktions- und Lebensmittel vorfin
den: »Es ist diese naturwüchsige Verschiedenheit, die bei dem Kontakt
der Gemeinwesen den Austausch der wechselseitigen Produkte und daher
die allmähliche Verwandlung dieser Produkte in Waren hervorruft«18, w odurch sich der Zu sam m enhang zw is chen den Individuen, jetzt als
historisch-gesellschaftlicher, wiederherstellt. Solange jedoch, wie in den
archaischen kleinen Gemeinwesen, zum Beispiel Indiens, der größte Teil
der Produkte für den Eigenbedarf der Gemeinde erzeugt wird und es
kaum zur Warenproduktion kommt, wirkt die einmal gesetzl ich fixierte
A rbeitsteilu ng über große Zeiträum e hinw eg m it der »U nverbrüchlich
keit eines Naturgesetzes«, und das Gemeinwesen führt eine gleichsamungeschichtliche Existenz: »Der einfache produktive Organismus dieser
selbstgenügenden Gemeinwesen, die sich beständig in derselben Form
reproduzieren und, wenn zufällig zerstört, an demselben Ort, mit
denselben Namen, wieder aufbauen, liefert den Schlüssel zum Geheimnis
der Unveränderlichkeit asiatischer Gesellschaften, so auffal lend kontra
stiert durch die beständige Auflösung und Umbildung asiatischer Sta aten
und rastlosen Dynastenwechsel . Die Struktur der ökonomischen Grund
14 Ib id ., S. 3 50.
15 Ibid.
16 Ibid ., S. 368.
17 Ibid. , S . 369.
18 Ibid.
1 8 1
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elemente der Gesellschaft bleibt von den Stürmen der politischen
W olk enregion unberührt.« 19
Besonders deutlich wird dieser naturhaft-ungeschichtliche Charakter der
vorbürgerlichen G eschic hte in dem theoretisch w ichtig en A b sch n it t des
Rohentw urfs 20 zum K apit al, der sich mit den Formen beschäftigt, die
der kapital istischen Produktion vorhergehen. Der Abschnitt zeigt, daß
Dialektik (wie der Intention nach bereits bei Hegel) in Geschichtsschrei bung übergehen m uß, soll sie n icht zum leeren Schem a enta rte n.
A usgegangen w ird hier von den his to rischen B edin gungen des K a p ita l
verhältnisses. Dieses setzt ein m al freie A rb e it und deren A u stausch gegen
Geld voraus, um es zu reproduzieren und zu verwerten, zum anderen die
schon oben kurz beschriebene Loslösung des Individuums von der natür
lichen Un m ittelbark eit des Gem einwesens, die M arx begründ et sieht au f
der ebenso »natürlichen Einheit der Arbeit mit ihren sachlichen Voraussetzungen«21, ob diese Einheit nun verwirklicht ist unter der Form
kleinen freien oder aber gemeinschaftlichen Grundeigentums: »In beiden
Formen verhält sich der Arbeiter zu den objektiven Bedingungen seiner
A rb e it als zu seinem E ig e n tu m . . . D as Individuum verh ä lt sich zu sich
selbst. . . als Herr der Bedingungen seiner Wirklichkeit. Es verhält sich
ebenso zu den andren. . . a ls Miteigentümern. . . oder a ls se lbständigen
Eigentüm ern neben ih m . . ,«22 D ie Individu en sind noch keine »A rbei
ter«, da sie als Mitglieder eines Gemeinwesens tätig sind, das sich bloß zuerhalten trachtet und nicht auf Wertschöpfung aus ist. Da Marx sich
davon leiten läßt, daß das Hirtenwesen die »erste Form der Existenz
weise« ist, so erschein t die Stam m gem ein schaft w eniger als R esult at denn
als Voraussetzung der (freilich zunächst temporären) Aneignung des
Bodens. Werden die Menschen seßhaft, so hängt das Maß, in dem diese
ursprüngliche Gemeinschaft modifiziert wird, von den verschiedensten
äußeren Naturfaktoren sowie der natürlich-anthropologischen Beschaffenheit des Stammes selber ab. O b sie als H irten, Jäger oder Ackerbau ern
tätig sind, stets ist das »Herdenwesen,... die Gemeinschaftlichkeit in
Blut, Sprache, Sitten«23, die wichtigste Voraussetzung dafür, daß sie sich
die »objektiven Bedingungen ihres Lebens« aneignen. Entscheidend
dabei ist, wie gesagt, daß sich die Menschen zu diesen Bedingungen unre
flektiert als zu ihrem eigenen verlängerten Leib verhalten: »Die Erde ist
19 Ibid. , S . 376.
2 0 E r s c h i e n e n u n t e r d e m T i t e l G r u n d r is s e d er K r i t ik d e r p o li ti s c h e n Ö k o n o m i e , Berlin
■953. S. 375-413-2 1 Ibid. , S . 375.
22 Ibid.
23 Ibid ., S. 376.
182
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das große Laboratorium, das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel, wie
das Arbeitsmaterial liefert, wie den Sitz, die Basis des Gemeinwesens. Sie
verhalten sich naiv zu derselben als dem Eig entum des Gemeinwesens
und des in der lebendigen Arbeit sich produzierenden und reproduzie
renden Gemeinwesens. Jeder Einzelne verhält sich nur als G lie d . . .
dieses Gemeinwesens als E ig entüm er oder Besitzer.*24 Dieses Grundver
hältnis bleibt selbst da unangetastet, wo — wie im orientalischen Despo
tismus — die kleinen, mehr oder minder autarken Gemeinwesen einer
»zusammenfassenden Einheit« unterstehen, die als der höhere oder gar
einzige Eigentümer auftritt, so daß die Gemeinden zu erblichen Besit
zern herabgesetzt werden. Zwar wird damit, juristisch gesehen, das Indi
vid uum eig entum slo s, das heiß t, das Eig entum stellt sich ih m als verm it
telt da r »durch das Ablassen der G esam teinheit — die im D espo ten rea li
siert ist als dem Vater der vielen Gemeinwesen — an den Einzelnen durchdie Vermittlung der besonderen Gemeinwesen«25. Aber unbeschadet des
sen bleibt das Stamm- oder Gemeindeeigentum die Basis des sich aus sich
erhaltenden Gemeinwesens, das freilich einen Teil seiner Mehrproduk
tion in den Dienst der zuletzt als Person existierenden »höheren Gemein
schaft« stellen muß, was sich darin ausdrückt, daß Tribut geleistet wird,
oder, wie M arx in einer an Dürkh eims Th eorie gemahnenden W eise sagt,
»in gemeinsamen A rbeiten zu r Verhe rrlichung der Einheit, teils des w irk
lichen Despoten, teils des gedachten Stammwesens, des Gottes«.
W o von kle in em , freien G rundeigentum , dam it von einem bewegteren,
historischen Leben der ursprünglichen Stämme ausgegangen werden
muß, ist ebenfalls das Gemeinwesen erste Voraussetzung. In diesem Falle
aber nicht »als Substanz, von der die Individuen bloß Akzidenzen sind,
oder von der sie rein naturwüchsig Bestandteile bilden«26. Es ist hier viel
mehr so, daß nicht länger das Land, sondern die Stadt als Sitz und
Zentrum der Grundeigentümer auftritt. Während bei ursprünglichemGemeineigentum das Dorf ein bloßes Zubehör zum Land ist, gehört hier
der Acker zum Territorium der Stadt. Da die Erde an sich bei aller Mühe
der Menschen, sie zu bearbeiten, kein Hindernis darstellt, können die
Schwierigkeiten, denen sich das Gemeinwesen gegenübersieht, nur von
anderen Gemeinwesen herrühren, die den Grund und Boden bereits
bese tzt haben oder ih n der G em ein de streitig m achen. D er K rieg ist
daher »die große ... gemeinschaftliche Arbeit, die erheischt ist, sei es um
die objektiven Bedingungen des lebendigen Daseins zu okkupieren, sei es
24 Ibid.
25 Ibid ., S. 37 7.
26 Ib id. , S . 378.
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um die Okkupation derselben zu beschützen und zu verewigen. Die aus
Familien bestehende G emeinde daher zu nächst kriegerisch organ isiert -
als Kriegs- und Heerwesen, und dies eine der Bedingungen ihres Daseins
als E igentü m erin« 27.
Je mehr das individuelle Eigentum aufhört, nur durch gemeinsame Arbeit
verw ertbar zu sein, je m ehr der Stam m durch geschic htliche Bew egung
seine naturwüchsigen Qualitäten eingebüßt hat, je mehr »sein gemeinsamer Charakter mehr als negative Einheit erscheint und erscheinen muß«,
desto mehr ist die Voraussetzung gegeben, daß Einzelne Privateigentü
mer von Grund und Boden werden, wobei die als Staat organisierte
Gemeinde dieses Privateigentum nach außen schützt und im Inneren
garantiert. Bezieht sich unter schlechthin naturwüchsigen Stammesver
hältnissen der Einzelne in seiner Lebensproduktion auf jene in eben der
W eise, in der er sich a u f die E rd m aterie bezieh t als a u f sein Anderes — beid e M ale handelt es sich um N atu rbed in g u n gen der P rod u ktion —, so
gewinnt jetzt seine Relation sowohl zur Natur wie zum sozialen
V erband , dessen »N atur« schon in höherem M aße etw as G ew ordenes ist,
eine größere dialektische Lebendigkeit: indem er sich auf sein Privatei
gentum an Grund und Boden bezieht, bezieht er sich zugleich auf sein
»Sein als Gemeindemitglied«28, und indem er sich erhält, erhält er die
Gemeinde und umgekehrt. Da diese »hier schon historisches Produkt,
nicht nur dem fact nach, sondern als solches gewußt, daher entstanden«•,
ist die Voraussetzung des Eigentums, die Beziehung nämlich des arbei
tenden Subjekts zu den naturgegebenen Voraussetzungen seiner Arbeit,
nunmehr vermittelt »durch das Sein des Staats«, wie umgekehrt dieses
verm itte lt is t durch die bestim m te Form des Eig entum s an den obje ktiv en
A rbeitsbedingungen.
W o rau f es M arx hier ankom m t, is t die fü r die Frage nach der dia le kti
schen Struktur vorbürgerlicher Stufen wesentliche Einsicht, daß1. in allen Formen, bei denen Grundeigentum und Landwirtschaft die
ökonomische Basis abgeben, das Individuum sich zur Erde als der »unor
ganischen Natur seiner Subjektivität«29 verhält — eine Bedingung, die
nicht selbst als Produkt von Arbeit erscheint, sondern vorgegeben ist und
— daß
2. dieses praktische Verhalten des Individuums, welches im Gegensatz
zum späteren Proletarier nie bloß in der Abstraktion als arbeitendes
auftritt, sondern eine »objektive Existenzweise«30 hat, sofern es über
2 7 I b i d .
28 Ibid . , S . 379 .
29 Ib id., S. 384.
30 Ibid . , S . 385.
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Erde verfügt, von vornherein vermittelt ist durch sein Dasein als Mitglied
eines der Geschichte bereits mehr oder weniger unterworfenen Ganzen,
das jedoch letztlich aus seiner Verstricktheit in Natur nicht herauszu
treten vermag und insofern »ungeschichtlich« ist.
Nicht die Einheit der produzierenden Menschen mit den Bedingungen
ihres Stoffwechsels mit der Natur bedarf daher für Marx der Erklärung;
sie ist, sosehr sie sich in der vorbürgerlichen Entwicklung modifizierthaben mag, kein Resultat der Geschichte: ihre verschiedenen Phasen
bleiben ih rem naturhaften Wesen äußerlich. W as die K ritik der p o li ti
schen Ökonomie interessiert und erklären will, ist die für die bürgerliche
Gesellschaft typische »Trennung zwischen diesen unorganischen Bedin
gungen des menschlichen Daseins und diesem Dasein, eine Trennung,
w ie sie vo lls tän d ig erst gesetzt ist im Verhält nis von Loh narbeit und
K ap ital« 31. Sklaverei und Leibeigenschaft kennen aufgrun d der Tatsache,da ß dem tätigen Subjekt a u f diesen Stufen, wie M arx sagt, eine »objek
tive Existenzweise« zukommt, die Trennung der Arbeit von ihren unor
ganischen Bedingungen nicht. Beide Momente verschmelzen vielmehr zu
einer unterschiedslos-einheitlichen Natu rbasis des Sklavenhalters oder
Feudalherrn, der den Sklaven oder Leibeigenen als »organisches Zubehör
des Grund und Bodens«32 zusammen mit diesem erobert und zum unor
ganischen Produktionsfaktor herabsetzt: »Der Sklave steht in gar keinem
V erhältnis zu den objektiven Bedin gungen sein er A rbeit; so ndern die A rb eit selbst, sowohl in der Form des Sklaven, wie der des Leibeigenen,
w ird als unorganische Bedingung der Produktion in die Reihe der
anderen Naturwesen gestellt, neben das Vieh oder als Anhängsel der
Erde.. .33« Demgegenüber wird der Arbeiter in der kapitalistischen Pro
duktion buchstäblich denaturiert, zum »objektivlosen, rein subjektiven
A rbeitsverm ögen«34, das in den ih m entfrem deten dinglichen V o r
aussetzungen der Arbeit »als für sich seiendem Wert«35 seine Negationerblickt. Er ist für das Kapital nicht einmal mehr Produktionsbedingung
- nur Träger von A rbeit , die über den Tausch angeeignet w ird. Und
doch bed eutet das vermittels des Tau schs sich wied er herstellende G an ze,
das gerade auf der völligen Isoliertheit der Individuen voneinander be
ruht - der »sachliche Zu samm enhang«36 ihrer Zusam m enhan glosigkeit - ,
3 1 Ibid . , S . 388.
32 Ibid . , S . 39 1.
33 Ibid . , S . 389.
34 Ibid . , S . 39 6.
35 Ibid . , S . 397.
36 Ib id., S. 79.
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gegenüber den lokal begrenzten, auf N atu r und persönl ichen A bh än gig
keitsverhältnissen beruhenden T ota litäten einen F ortschritt.
Es kommt deshalb Marx weder in den Sinn, den naturhaften Lebens
prozeß vorindustrieller Stufen irrationalistisch zu verklären wie die neu
romantischen Ideologien, noch denkt er daran, das »elementarische«
W echselspie l der M om ente, die »Selb stv erm ittlung der N a tu r« , als w el
che die Arbeit auf diesen Stufen notwendig sich darstellt, zu einem welt
anschaulich gefaßten Naturmonismus zu hypostasieren. Das in seiner
Beschreibung des völlig naturgebundenen Arbeitsprozesses fraglos ent
haltene naturspekulative Moment37, das bisweilen an Hegels und selbst
an •Schellings N atu rph ilosop hie erinnert, b leibt fas t du rchw eg in der
Schwebe. Soweit der Begriff »Naturdialektik« überhaupt sinnvoll ver
w an d t werden kan n, g ilt er für die m it der G eschic hte des G rund eig en
tums verbundenen vorkapitalistischen Prozesse, die strukturell jenennicht unähnlich sind, die schon der pflanzliche oder tierische Organis
mus, menschliche Subjektivität als höhere Wahrheit der Natur ankündi
gend, im Widerstreit mit seiner Umwelt zu durchlaufen hat. Vorkapitali
stisch bleibt die in arbeitendes Subjekt und zu bearbeitendes Objekt
entzweite Natur in dieser Entzweiung »bei sich«. Nicht nur tritt der
Mensch als eine Weise des organischen Daseins der Natur auf, sondern
auch diese von vornherein als »-unorganisches Dasein seiner selbst«38.
Diese abstrakte Identität von Mensch und Natur, wie sie im »bloßen
Naturdasein«39 der Arbeit existiert, ist allem Gesellschaftlichen derart
enthob en, da ß sie als »L ebensä ußeru ng "und. Lebe nsbew ährun g« auch
vo m überhaupt noch nicht gesellschaftl ic hen M enschen gele is te t werden
muß. Auch ein »abnorm isolierter Mensch«40 wäre auf sie angewiesen.
Z w ar hätte er kein Eigentum am G run d und Boden. A ber er könnte — wie
die Tiere — »an ihm als der Sub stanz z eh re n .. .«41.
W o rau f M arx hie r hin aus w ill , is t dies: je de über die tierischen K eim formen hinausgehende Auseinandersetzung von Mensch und Natur
geschieht im Rahmen einer bestimmten Gesellschaftsform, aber nicht
jede dieser Form en is t »Gesellsc haft« im Sin ne der bürgerlichen, der
Gesellschaft par excellence. Marx vermeidet daher diesen Begriff im
Hinblick auf vorbürgerliche Verhältnisse (die er, wie wir gesehen haben,
lieber als »naturwüchsiges Gemeinwesen«, »Stamm«, »Tribus« usf.
3 7 Z u d e n s p e k u l a t iv e n A s p e k t e n d e s se n , w a s M a r x u n t e r d e m S t o f fw e c h s e l v o n M e n s c h un d
N a t u r v e rs t e h t , c f. D e r B e g r if f d er N a t u r in d er L e h r e v o n M a r x , S. 74 ff.
38 G r u n d r i s s e , 1. C. , S. 763.
39 D a s K a p ita l, Band III , Ber l in 1953, S . 869.
40 Ibid . , S . 940.
4 1 G r u n d r i s s e , 1. c., S. 388.
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bezeic hnet), oder er bedient sich seiner im uneigentlichen Verstände.
Sosehr der Unterschied von Naturgegebenem und historisch Geworde
nem auch für die einzelnen Phasen der vorbürgerlichen Geschichte gelten
mag — Marx weist wiederholt darauf hin, daß al le naturwüchsigen
Formen immer auch »Resultate historischen Prozesses«42 sind — sosehr
verflü ch tigt sich der U nterschie d von asia tischer D espotie , antik er S k la
ven w irtschaft und m it tela lterlichem Feudalw esen als durch das G ru n d ei
gentum bestimmter Verhältnisse gegenüber der bürgerlichen Gesell
schaft, deren Auftreten eine weltgeschichtliche Zäsur setzt. Daher kann
Marx in der K r itik der Politis chen Ö kon om ie lapidar aussprechen: »In
allen Formen, worin das Grundeigentum herrscht, ist die Naturbezie
hung noch vorherrschend. In denen, wo das Kapital herrscht, das gesell
schaftlich, historisch geschaffne Element.«43 Vorbürgerlich fällt das Ver
hältnis von Natürlichem und Geschichtl ichem in den großen Naturzusammenhang, bürgerlich fällt es, auch was die noch unangeeignete Natur
angeht, selbst in die Geschichte. Dementsprechend verfährt auch Marx
bei der U n tersuchung des G rundeig entum s so, d aß er eine Reih e von
geographisch auseinanderliegenden Typen, etwa den orientalischen, süd
amerikanischen, slawischen, germanischen und antiken miteinander ver
gleicht, wobei die Frage nach der zeitlichen Sukzession völlig in den
Hintergrund rückt. Die verschiedenen Formen vorkapitalistischer
Gemeinwesen stehen — wie die der Natur bei Hegel — als gleichgültige,unverbundene Existenzen nebeneinander. Erst dem theoretischen Blick
erweist sich die Modifikation einer Form, ohne daß sie aus dieser hervor
gegangen wäre, als deren Höherentwicklung. Der Geschichtsverlauf ist
also für Marx weit weniger linear als gemeinhin angenommen wird; er
folgt keiner einheitlich-sinngebenden Idee, sondern setzt sich aus stets
neu einsetzenden Einzelprozessen zusammen.
Der bürgerlichen Gesellschaftsformation kommt im dialektischen Materialismus insofern methodisch eine entscheidende Rolle zu, als sich von
ihr aus sowohl die Vergangenheit als auch die Möglichkeiten der Zukunft
erschließen lassen. M ar x ist alles andere als ein simpler Evo lution ist.
Zwar gründet das jeweils geschichtlich Höhere an sich im Niedereren;
die qualitative Andersheit des Niederen gegenüber dem aus ihm hervor
42 Ibid ., S. 39 6. — D i e d e r k a p i t a li s ti s ch e n P r o d u k t io n v o r a u s g e h e n d e n F o r m e n d e r V e r g e s e ll s c h a f t u n g p r o d u z i e r e n u n d r e p r o d u z i e r e n s ic h z w a r in d e r Z e i t u n d h a b e n insofern
G e s c h i c h t e ( g a n z w i e a u c h d i e v o r m e n s c h l i c h e N a t u r ei n e i h re m W e s e n ä u ß e r l i c h b le i
b end e G e sc h ic h te h a t) , a b er sin d n i c h t G e s c h i c h t e , w e i l i h r e s u b j e k t iv e n u n d o b j e k t i v e n
E x i s t e n z b e d i n g u n g e n n i c h t a u s d e m n a t u r a l e n G a n z e n h e r a u s t r e t e n u n d z u m e n s c h l i c h
geschicht l i chen P r o d u k te n w e r d e n .
43 Z u r K r it ik d e r p o litisc h e n Ö k o n o m ie , Ber l in 1951, S . 264 f .
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Das Kapital reproduziert sich erweitert auf der von ihm selbst hervorge
brachte n Basis : ein m al his to risch entw ic kelt , verh ä lt es sich zu seinen
V oraussetzungen als vergangenen »histo rischen V orstu fen seines W er
dens«54 — Stufen, »die in seinem Dasein aufgehoben sind«55. Was
ursprünglich als die Grundlagen seines Werdens erschien, erscheint jetzt
»als gesetzt von ihm - nich t als Bed ingu ng en seines Entstehens, sondern
als Resultat seiner eignen Wirklichkeit«56. Indem derart im kapitalistischen System die ihm geschichtlich vorausgehenden Systeme verschwun
den sind und jenes sich auf seiner eigenen Basis entwickelt, fällt es den
bürgerlichen Ö ko n om en der klassischen Z eit um so le ic hter, das K ap ital
als ewige Naturform der menschlichen Produktion zu betrachten. Soweit
seine geschichtliche Bedingtheit ihnen präsent ist, tendieren sie dazu, die
Bedingungen seines Entstehens als die seiner augenblicklichen Verwirkli
chung auszugeben, das heißt, sie unterstellen Bedingungen, unter denen
der Kapitalist noch nicht als solcher agieren kann, als die für den gewor
denen bürgerlichen Zustand maßgebenden. Darin drückt sich die Schwie
rigkeit aus, die in ihm herrschende Praxis mit deren theoretischem Selbst
verständnis zu versöhnen. W as je doch M arx in diesem Zusam m enhang
besonders in tere ssiert , ist der bereits erw ähnte und m eth odisch w ic htig e
Sachverhalt, daß sich, ausgehend vom etablierten bürgerlichen System,
dessen Auftreten einen qualitativen Sprung bedeutet, in einer oszillieren
den Denkbewegung die vergangene wie die künftige Geschichte erhellenlassen. Sartre spricht denn auch nicht zu Unrecht von einer »progressiv
regressiven« Methode57 bei Marx, die freilich schon in Hegel enthalten
ist. Dieselbe Ana lyse, die den gegebenen Zu stan d als rela tiv au f eine
hinter ihm liegende Vergangenheit bestimmt, zeigt, daß er zugleich
relativ auf eine »werdende Bewegung«58 ist, die ihn transzendiert:
»Erscheinen einerseits die vorbürgerlichen Phasen als nur historische, i. e.
aufgehobne Voraussetzungen, so die jetzigen Bedingungen der Produk
tion als sich selbst aufhebende und daher als historische Voraussetzungen
für einen neuen Gesellschaftszustand setzende.«
A u s alledem geht hervor, daß es fü r die M arxsche Theorie, die es sich
ja n icht zu r prim ären A u fgab e m acht, die gesam te G eschic hte der
Menschheit zu konstruieren, sondern dem ökonomischen Bewegungsge
setz der modernen Gesellschaft auf die Spur kommen will, streng
genommen nur zwei wahrhaft historische Dialektiken gibt: die des je
54 Ib id., S. 364.
55 Ib id., S. 363 .
56 Ibid ., S. 364.
57 M a r x ism u s u n d E x iste n tia li sm u s , I. c., cf. S. 70— 13 1.
58 G r u n d r i s s e , 1. c., S. 365.
I^O
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nach den nationalen Gegebenheiten mehr oder weniger revolutionären
Übergangs von der antik-feudalen zur bürgerlichen Ära und die des
katastrophisch-befreienden Übergangs von dieser zur sozialistischen.
Selbstredend liegt auf dem letzteren der schwerere Akzent.
In den an sich bereits bürgerlich bestimmten Jahrhunderten der
»ursprünglichen Akkumulation« bildet sich im Schöße der feudalen
Gesellschaft, später des absolutistisch umfunktionierten Feudalsystemsmit der Verwandlung von Geld und Ware in Kapital das für die bürger
liche Gesellschaft als geschichtliche Lebensform charakteristische Kapi
talverhältnis heraus, das auf der abstrakten Scheidung des Arbeiters (als
Klasse) von den Produktionsmitteln, den dinglichen Voraussetzungen der
A rbeit , beru ht. E in e Scheid ung, die , ein m al ein getreten, den Boden
abgibt für »das Werden und noch mehr das Dasein des Kapitals als
solchen«59, indem sie, w ie M ar x z u ze igen such t, au f »stets wach send er
Stufenleiter«60 sich reproduziert. Geschichtsphilosophisch gesprochen:
die höchst abstrakte, »elementarische« Dialektik der vorindustriellen
Entwicklung konkretisiert sich zu der für den Marxismus letztlich
entscheidenden von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen61.
Historische Dialektik, wie sie näher den Kapitalismus strukturiert, ent
springt, mit anderen Worten, selbst einer langwierigen Geschichte —
einem »Werden«, von dem erst dann wirklich zu sagen ist, es sei ins
»Dasein« übergegangen, wenn die objektiven Antagonismen, die seinenInhalt ausmachen, so angewachsen sind, daß sich die reale Möglichkeit
ihrer Aufhebung abzeichnet, wenn es die im Sinne der Hegelschen Logik
höchste, nämlich diejenige »Reife und Stufe« erreicht hat, »in welcher
sein Untergang beginnt«62. Erst in diesem Augenblick wird auch eine
59 Ibid., 1. c., S. 945.
6 0 D a s K a p i t a l , B a n d 1, 1. c., S. 753.6 1 F r e i li c h h ie ß e es d ie s e D i a l e k t i k i n p u r e M e c h a n i k z u ü b e r fü h r e n , w o l l t e m a n m i t R o b e r t
H e i ß ( D ie g r o ß e n D ia le k t ik e r des 19 . J a h r h u n d e r ts , Köln-Ber l in , 1963, S . 402)
b e h a u p te n , d a ß es fü r M a r x »ein en k o n s ta n t p o s it iv e n F a k to r g ib t, d ie P ro d u k tio n s
k r ä f t e , u n d e i n e n k o n s t a n t n e g a t i v e n , d i e P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e « . K e i n M o m e n t d e s
G a n z e n h ä l t s ic h a b s t r a k t - i d e n t i s c h d u r c h . M a r x d e u t e t a n ( c f. Z u r K r it ik d e r p o li tisc h e n
Ö k o n o m i e , 1. c ., S . 2 6 7 ) , d a ß d i e D i a l e k t ik d e r B e g r i f fe P r o d u k t i v k r a f t u n d P r o d u k
t i o n s v e r h ä l t n i s b e s t i m m b a r e n G r e n z e n u n t e r l i e g t , o h n e d a ß d a d u r c h i h r » r e a l e r U n t e r
s c h i e d « b e s e i t i g t w i r d . G e r a d e i n d e m d a s s i c h e n t w i c k e l n d e K a p i t a l v e r h ä l t n i s a l s
P r o d u k t io n s v e r h ä l t n is d ie M a r k t - u n d T a u s c h b e z i e h u n g e n a u ß e r o r d e n t li c h e r w e i te r t
u n d d i e V e r w i s s e n s c h a f t l i c h u n g d e r P r o d u k t i o n s a b l ä u f e d a d u r c h b e f ö r d e r t , d a ß e s e i n e
q u a l i t a t i v n e u e K o o p e r a t i o n h e r v o r b r i n g t , w i r k t e s n i c h t n u r a l s » E n t w i c k l u n g s f o r m « ,
i n n e r h a l b d e r e n d i e P r o d u k t i v k r ä f t e s i c h e n t f a l t e n k ö n n e n — e s i s t z u g l e i c h P r o d u k t i v
k r a f t , u n d z w a r e in e w e s e n t li ch e . U m g e k e h r t k o m m t ih m , e in m a l e ta b l ie r t, i n d e r T a t
je n e v o n M a r x h e rv o rg e h o b e n e , d em W a c h s tu m d e r P r o d u k tiv k r ä f te h in d e rlic h e R o lle
zu.
6 2 G . W . F . H e g e l , W i s s e n s c h a f t d e r L o g i k , I I , L a s s o n , L e i p z i g 1 9 5 1 , S . 2 5 2 .
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K ritik der politis chen Ö ko n om ie als Kritik der Entfremdung, des Waren
fetischismus und der Ideologie möglich: das (selber schon kapitalistische)
W erden des K apitalv erhält nisses is t in einem Syste m verschw unden, das
jetzt in seiner re inen Im m an enz betr achtet w erden kan n 63. H ie ran
knüpft Marx an einer freilich etwas dunklen Stelle des Rohentw urfs den
Ged anken , da ß »die dialektische D arstellun g nu r richtig ist, wenn sie ihre
G renzen kennt«64. N im m t man den B eg riff der » Darstellung« in derganzen Strenge, der ihm bei Marx zukommt, das heißt nicht nur lite
rarisch, so ist wohl gemeint, daß der Begriff einer historisch-materiali-
stisch gefaßten Dialektik nur für die vollentfaltete bürgerliche Gesell
schaft gilt und für die vorbürgerliche, soweit sie Tauschverhältnisse
vorw egnim m t.
N atur, Erkenntnis und his torische Praxis
Die große Schwierigkeit, das Engelssche Denken, auf das bis zum zeitge
nössischen Sowjetmarxismus alle Versuche zurückgehen, die für sich
genommene Natur als an sich dialektisch strukturiert zu erweisen, sach
gerecht zu beurteilen, beruht darauf, daß bei Engels ein konkret gesell
schaftlich vermittelter und ein metaphysisch-materialistischer Naturbe
griff teils unverbunden nebeneinander stehen, teils trübe ineinanderübergehen. Es sei deshalb von vornherein betont, daß es sich bei aller
Kritik an Engels nicht einfach darum handeln kann, seine Konzeption
von der M arxschen abzusetzen. D as ist sc hon in sofern nur in
beschränktem M aße m öglich , als jede K ritik an Engels im m er auch
zurückgreifen muß auf Argumente, die sich der gemeinsam erarbeiteten
Position der Autoren verdanken.
Freilich gehen deren Wege schon früher auseinander, als gemeinhinangenom men wird. Beide bekunden w ährend der frühen vierzig er Jahre
ein lebhaftes Interesse am französischen Materialismus des achtzehnten
Jahrhunderts. Während jedoch Marx in der H eil ig en Fam ilie am Mate
rialismus etwa des Helvetius zu rühmen weiß, daß dieser ihn »sogleich in
6 3 D a ß e s , a b g e s e h e n v o n e i n i g e n u n z u r e i c h e n d e n A n s ä t z e n , i n d e r G e g e n w a r t a n e i n e r
w ir k lic h ö k o n o m is c h e n K r i t ik des K a p it a lis m u s feh lt , is t n ic h t z u le t z t d a r a u f z u r ü c k z u
f ü h r en , d a ß d es se n b ei M a r x u n t e rs u c h te S y s t e m i m m a n e n z d u r c h d a s V o r h a n d e n s e i n d e rk o m m u n i s t is c h e n W e l t in i h r e r R e i n h e i t b e e i n t r ä c h t i g t w i r d . E s g e h t h e u t e n i c h t m e hr
a n , d a s ö s t l i c h e S y s t e m a l s e i n e n b l o ß m o d i f i z i e r e n d e n , m e c h a n i s c h w i r k e n d e n A u ß e n
f a k t o r a n z u s e h e n . W i e H e r b e r t M a r c u s e i n s e i n e r S t u d i e ü b e r d e n S o w j e t m a r x i s m u s
d a r g e t a n h a t , g e h t i n d i e » D e f i n i t i o n « d e r w e s t l i c h e n G e s e l l s c h a f t d i e d e r ö s t l i c h e n e i n
u n d u m g e k e h r t.
6 4 Gru ndrisse , 1. c., S. 945.
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bezug a u f das gesellschaftl ic he Leben« faß t6S, liegt das Schw ergew icht
bei Engels vo n A n fa n g an m ehr au f der m eta physischen Seite. In einem
1844 erschienenen Artikel bezeichnet er den Materialismus als »die
Sp itze der W issensch aft des 18. Jah rhu nde rts«, als »das erste System der
Naturphilosophie«, als das Ergebnis einer »Vollendung der Naturwissen
schaften«66. Engels hat denn auch in seinen naturdialektischen Schrif
ten, in der über Feuerbach, im A n tiD ü h rin g und in der D ia lek tik der
N atur an der von Holbachs Syste m der N atur detailliert entwickelten
Idee eines lückenlosen Zusammenhangs der Naturphänomene festgehal
ten, allerdings in der Absicht, diesen Zusammenhang nicht mehr
beschränkt-m echanisch zu bestim men. W ich tig fü r das Verständnis der
Engelsschen Konzeption ist ferner die romantische Naturphilosophie,
vo r allem die des jungen Schell ing, w ährend die H egelsche aus noch zu
erörternden Gründen an Bedeutung neben der Seinslogik zurücktritt. W ic h tig w urden für Engels schließlich die (teilweise in der rom antischen
Naturspekulation angelegten) evolutionistischen Theorien, insbesondere
der Lamarck-Darwinsche Begriff einer »Geschichte der Natur«, der sich
bei B uffon und andere n französis chen G ele hrten des achtzehnten Jahr
hunderts bereits ankündigt.
A ls sich M arx und Engels Ende der fü n fziger Jahre zum zw eiten M al der
Hegelschen Philosophie zuwenden, geschieht dies bei Marx in einer von
Engels’ Hegelrezeption sehr verschiedenen Weise. Marx, dessen Thema
die politische Ökonomie ist, versucht diese »durch Kritik .. . erst auf den
Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu können.67« Dabei ist
er sich, wie wir sahen, der objektiv-historischen Grenzen einer solchen
Darstellung wohl bewußt. Engels dagegen interpretiert anhand dialekti
scher Kategorien fertig vorliegende Resultate der modernen Naturwis
senschaft, in deren Sachproblematik selbst er sich nicht hineinbegibt. Er
kann nicht — wie M arx der politischen Ö ko no m ie — den N aturw issenschaften eine neue Gestalt geben, sondern muß sich damit begnügen, die von
diesen gelieferten Materialien zu systematisieren, was er programmatisch
so formuliert: »Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure
Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit,
ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach sei
nem inneren Z usam m enhang zu ordnen, schlechthin u nabweisbar gew or
den ist.«68
6 5 M a r x / E n g e l s , D ie h e il ig e F a m il ie , Ber l in 1953, S . 261 .
6 6 I n : M a r x / E n g e l s , W e r k e , B an d I, B erlin 19 5 7, S . 551 .
6 7 M a r x a n E n g e l s, B r i e f v o m 1. 2 . 1 8 5 8 , i n : M a r x / E n g e l s , W e r k e , Band 29, Ber l in 1963,
S. 275.
68 D ia le k t ik d er N a tu r , B e r l i n 1 9 5 2 , S . 3 1 .
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Die geistesgeschichtliche Lage, von der aus Engels seinem Programm
nachzukommen sucht, ist gekennzeichnet durch die endgültige Emanzi
pation der Naturwissenschaft von der Philosophie, die sich in den flach-
mechanischen, sei’s positivistischen, sei’s vulgär-materialistischen Schrif
ten ausdrückt, wie sie im Verlauf des sogenannten »Materialismusstreits«
um die Mitte der fünfziger Jahre mächtig ins Kraut schießen. Sosehr nun
Engels grundsätzlich den materialistischen Standpunkt bejaht, sosehr istes ihm doch darum zu tun, sich kritisch von Vulgarisatoren wie Büchner,
V o g t und M ole sch ott abzusetzen, und zw a r dadurch, daß er die
Dialektik in die material istische Auffassung der Natur einführt. Hier
erhebt sich indes die von der Pariser Kontroverse mit Recht als entschei
dend angesehene Frage, ob der auf abstrakte Materie reduzierten Natur
dialektische Bestimmungen wie »Totalität«, »Widerspruch«, »Produkti
v itä t« , »im manente N egation « überh aupt zugesprochen w erden können,ob nicht mit jeder dialektischen Theorie subjektive Reflexion (und sei es
auch nur als Moment) unabdingbar gesetzt ist.
W enn in H egels V orrede zu r P h änom enolo gie des Geistes von der
Knospe die Rede ist, die in dem Hervorbrechen der Blüte verschwindet
und wiederum der Frucht als ihrer höheren Wahrheit weicht69, so könnte
man versucht sein, den hier geschilderten Prozeß als unmittelbare
Dialektik der Pflanze zu verstehen. In Wahrheit geht es dabei nicht um
deren ungedachtes Leben, sondern um das ihres Begriffs . Wie so oft,
veranschau licht H egel seine D ia lek tik an natürlich-organis chen Prozes
sen, denen er andererseits als einem Minderen eine für die Bewegung des
Begriffs konstitutive Rolle nicht zubilligt. Die Pflanze, wie sie unmit
telbar ist, bringt es nicht zum Fürsichsein; sie »berührt nur die Grenze
der Individualität«70. Als dialektisch strukturiert erscheint sie einzig
einem »vernünftigen« Denken, das sie als ein durch den abstrakten
V erstand in K nospe, B lü te und Frucht bereits Zergliedertes vo rfin d et unddiese bloß verständigen Begriffe zu »Momenten der organischen Ein
heit«71 macht, das heißt in den Begriff übersetzt. Die Natur vernünftig
begreifen aber heißt sie als (in die Materialität versenkte) Vernunft zu
begreifen; denn »indem das In nere der N a tu r nichts A nderes, als das
A llgem eine ist, so sin d w ir, wen n w ir G ed an ken haben, in diesem Inneren
der Natur bei uns selbst«72. Hegels Naturphilosophie zehrt von dem
V ertrauen, d aß »in der N a tu r der B e g riff zum B egriffe spric ht und die
6 9 G . W . F . H e g e l , P h ä n o m e n o lo g ie des G e is te s , H o f f m e i s te r , H a m b u r g 19 52 » S . 1 0.
70 Ibid. , S . 187.
71 Ibid . , S . 10.
7 2 G . W . F . H e g e l , S ä m tli c h e W e rk e , B a n d 9 , G l ö c k n e r ( S y s t e m d e r P h i l o s o p h i e 2 ) , S t u t t
gart 1958, S . 48.
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ausnehmen. Konnte Hegel die offenkundigen Mängel seines Unterneh
mens noch der Natur selber aufbürden, deren »Ohnmacht« darin besteht,
»Äußerlichkeit«78, der »unaufgelöste Widerspruch«79 zu sein, der sich
der Strenge des Begriffs e ntzie ht, ob gleich dieser ihr »innerer Bildn er«80
ist, so hat Engels diese Rückzugsmöglichkeit nicht mehr. Im Gegensatz
zu Hegel, der bei seinem Bestreben, die empirische in die spekulative
Physik aufzuheben, immer auch an deren Verschiedenheit festhält, istEngels, der al ler Naturphilosophie den Laufpaß geben und in der Natur,
wie sie unabhän gig vo m th eoretischen D enken ist, D ia lek tik din gfest
machen wil l , genötigt, das vorphilosophische Verfahren der Naturwis
senschaften selber als dialektisch auszugeben. Die in ihnen entdeckten
V orgän ge und G esetze neh m en fü r Engels den R an g »bew eisen der
Exempel« seiner zur dogmatischen Weltanschauung tendierenden Theo
rie an. So ist ihm »die Einheit al ler Bewegun g in der N a tu r . . . eine natur w issenschaftliche T atsache«81. Sieht m an näher zu, wie Engels diese
Bewegung der Natur im einzelnen bestimmt, von der er behauptet, sie sei
»nicht bloß Ortsveränderung«, sondern »auf den übermechanischen
Gebieten auch Qualitätsänderung«82, so zeigt sich, daß er eben jener
Mechanik weitgehende Zugeständnisse machen muß, um deren dialekti
sche Relativierung es ihm zu tun ist. Unter der Hand bildet sich ihm
Dialektik in eine bestenfalls geschmeidiger interpretierte Entwicklungs
mechanik zurück; denn sie erschöpft sich im »ursächlichen Zusammen
hang des, durch alle Zickzackbewegungen und momentanen Rückschritte
hindurch, sich durchsetzenden Fortschreitens vom Niederen zum Höhe
ren .. .«83. N u n geht nam entlich die D ia le k tik der N atur über den
blo ßen K ausalz usam m enhan g hin aus und zur K o n zep tio n ein er »univer
sellen Wechselwirkung«84 über, in der Engels eine Erkenntnis sieht, die
nicht überschritten werden kann, »weil eben dahinter nichts zu Erken
nendes liegt«85. D am it aber k on zediert er selbst, daß seine N atu rbe trach tung letzten Endes vordialektisch ist. Zwar ist Wechselwirkung gemessen
an der mechanischen Kausalität die höhere, weil reichere Kategorie, aber
auch sie noch steht, wie Hegel bemerkt, »so zu sagen an der Schwelle des
7 8 H e g e l , S ä m tlic h e W e r k e , Band 9, I . e . , § 247, S . 49.
79 Ibid. , § 248, Z u s atz , S . 54 .
80 W i ss e n s ch a f t d er L o g i k , II, 1. c., S. 231.
81 D ia le k t ik d er N a t u r , 1. c ., S . 3 1 . D a r i n f o l g t i h m d i e S o w j e t o r t h o d o x i e b i s a u f d enh e u t ig e n T a g .
82 A n ti D ü h r in g , 1. c., S. 467.
83 L u d w ig F eu er b a ch u n d d er A u s g a n g d e r k la ssisch en d e u tsc h e n P h ilo s o p h ie , W i e n - B e r l i n
1927, S . 51 .
84 D ia le k t ik d er N a t u r , 1. c., S. 246 f.
85 Ib id., S. 246.
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B e g r if fs ... B leibt man dabei stehen einen gegebenen Inh alt bloß unter
dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zu betrachten, so ist dies in der
Tat ein durchaus begriffloses Verhalten; man hat es dann bloß mit einer
trockenen Tatsache zu tun und die Forderung der V er m ittlu n g .. .
b le ib t . . . unbefriedig t« 86. In dem Engels von der »R ü ckw irku ng der M en
schen auf die Natur«87 bewußt absieht, das heißt vom Auftreten derje
nigen Wechselwirkung im Naturzusammenhang, die gesellschaftliche A rb eit heiß t und aus deren histo risch w andelb aren Bedürfnissen sich
auch der Umstand erklärt, daß die Erkenntnis, um sich der einzelnen
Naturphänomene zu versichern, deren umfassenden Zusammenhang
zerreißen und stets wieder zum isolierten Kausalverhältnis zurückkehren
muß. Nur so lassen sich die notwendigen Abläufe der Natur mit mensch
lichen Zwecken vermitteln. Gerade eine materialistische Theorie wird
daran festhalten, d aß erst m it der gesellschaftlichen Prod uk tionstätigkeit,
die den gedanklichen wie realen Übergang von der Kausalität zur Wech
selwirkung und umgekehrt ebenso setzt wie den von dieser zur Teleolo
gie, konkrete Dialektik ins Spiel kommt.
Sowenig ein die Grenzen mechanischer Interpretationsweise einsehendes
Denken per se dialektisch ist, sowenig lassen sich, wie Engels will, »histo
rische Na tura uffas sun g« 88 und D ialek tik iden tifizieren. Schon deshalb
nicht, weil die evolutionistischen Theorien des achtzehnten und neun
zehnten Jahrhunderts alles andere als dialektisch, sondern ein Versuch w aren, den in der Ph ysik lä ngst bew ährten quantitativ -m echanis chen
Gesichtspunkt auch für die organische Welt und ihre Entwicklung in der
Zeit geltend zu machen. Der naturhistorische Materialismus, wie er bei
Lamarck vorliegt, sieht die Evolution der biologischen Arten bedingt
durch die mechanische Einwirkung und Änderung von Umweltfaktoren.
Die Reihe der Lebewesen kennt nur rein quantitative Abstufungen,
minutiöse Übergänge, keine jähen Sprünge. Der Eindruck qualitativerDifferenzen entsteht dadurch, daß der Wissenschaft bestimmte Zwi
schenglieder fehlen. Dem folgt im Grunde auch noch Darwins Lehre.
Mehr noch aber als die empirische Forschung selbst zeigt die romantische
Spekulation die Unmöglichkeit einer Naturdialektik, wie sie Engels vor
schwebt. Schellings Erster E n tw u rf eines Systems der N aturph ilosophie
von 1799 le hrt ausdrücklich eine N aturgeschic hte , die sie als »dynam i
sche Stu fenfo lge«89 aus der N a tu r als »absoluter T ätig ke it« 90 zu ded u
86 S ä m tli ch e W erk e , B a n d 8 , G l ö c k n e r ( S y s te m d e r P h i l o s o p h i e 1 ), S t u t t g a r t 1 9 6 4 , S. 3 4 6 f .
8 7 L u d w ig F eu er b a ch , 1. c.} S. 5 5.
88 Ib id ., S. 35.
89 F. W . J. Sc he ll ing, W e r k e , 1 . Abt lg . III , S tgt u . Au gsb. 1858, S . 6.
90 Ibid ., S. 1 3.
l 9 7
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zieren sucht. Unter »dynamisch« wird dabei eine Philosophie verstanden,
w elche die N a tu r aus dem tote n M echanism us zu erlösen und in freie
Entwicklung zu versetzen vermag. Absolut produktiv, ist die Natur
zugleich unendlich gehemmt dadurch, daß ursprünglich entgegenge
setzte Tendenzen in ihr wirksam sind. Keines ihrer Produkte ist dasje
nige, worin jene Tendenzen zusammenfielen. Daher ist jedes von ihnen
imm er auch Trieb über sich hinaus, unendliche P ro du ktiv ität — »das absolute Produkt, das immer wird und nie ist«91. Natur ist so weder Produkti
v itä t noch P rod ukt, sondern das bestä ndig e U bergehen jener in dieses.
Da Schelling, darin den oben genannten Naturforschern verwandt, sich
trotz seines Idealismus an die zu seiner Zeit vorliegenden einzelwissen
schaftlichen Befunde hält, wird auch bei ihm die Spannung von Produkti
v itä t und Prod u kt, von Flü ssigkeit und Starrheit , m ehr refle xionsphilo
sophisch von außen beschrieben als imm anen t-dialektisch au sgetragen. Sokann von einem sprunghaften Übergang von einer Qualität zur anderen
nicht die Rede sein: »Man muß sich nicht durch den Schein von Mangel
an Kontinuität irre machen lassen. Diese Unterbrechungen der Natur
stufe existieren nur in Ansehung der Produkte für die Reflexion, nicht in
Ansehung der P ro d u k tiv itä t für die A nschauu ng. D ie P ro d u k tiv itä t der
Natur ist absolute Kontinuität. Deswegen werden wir auch jene Stufen
folge der Organisation nicht mechanisch, sondern dynamisch, d. h. nicht
als eine Stufenfolge der Prod uk te, sondern als eine . . . der Pro du ktivitätaufstellen. Es ist nur ein Produkt, das in allen Produkten lebt. Der Sprung
vom P oly p en zum M enschen schein t freilich ungeheuer, und der Ü ber
gang von jenem zu diesem wäre unerklärlich, wenn nicht zwischen
beide Zw ischenglieder träten.« 92
Ein kurzer Vergleich dieses Aspekts der Schellingschen Naturkonzeption
mit dem entsprechenden der Hegelschen ist insofern lohnend, als er den
schlechten Widerspruch verdeutlicht, dem diese bei Engels wiedererstehende Naturphilosophie sich aussetzt: entweder sie hält sich an das zeit
liche Hervorgehen der Naturformen auseinander, dann büßt sie ihren
dialektischen C h ar ak ter ein, oder sie ist dialektisch und m uß w ie He gel die
Existenz einer Naturgeschichte bestreiten. Bei Hegel heißt es: »Die
Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der
anderen notwendig hervorgeht. . . ; aber nicht so, daß die eine aus der
ändern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern, den Grund der
Natur ausmachenden Idee.. . Es ist eine ungeschickte Vorstel lung älte
rer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, . . . den Übergang e iner
9 1 Ib id. , S . 1 6.
92 Ibid . , S . 53 f . , Fu ßn ote .
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und nicht primär entwicklungsgeschichtl iche Zusammenhänge im Auge
hat, wird teilweise dadurch verdeckt, daß er in den Anmerkungen mit
zahlreichen, sonst bei ihm verpönten »Beispielen« für den Umschlag von
Qualität in Quantität und vice versa operiert, wobei er besonders die
Chemie seiner Zeit berücksichtigt. Ihnen vor allem schließt Engels sich
an, dessen Interesse von vornherein ein evolutionistisches und kein logi
sches ist. Wird aber die »Knotenlinie von Maßen auf einer Skale desMehr oder Weniger«97 unmittelbar naturgeschichtlich verstanden, der
Übergang quantitativer in qualitative Veränderungen als »allgemeines
Entwicklungsgesetz«, so muß das, was Habermas mit Recht anmerkt, auf
eine »mechanische Pseudodialektik der quantitativen Steigerung« hin
auslaufen, die »eher etwas mit der quantitativen Differenz aus Schellings
N atur ph ilosoph ie zu tun hat«98 als mit wirk licher D ialek tik, die sich über
die bei Schelling im Zentrum stehenden Dualismen und Polaritätenerhebt. Indem Engels die materielle Einheit der Welt nicht praktisch,
sondern metaphysisch faßt, gerät seine Spätlehre in eine gewisse
A n alo gie zu dem , w as H ege l — freilich se lbst in die se r H in sicht belastet
— Schelling als »naturphilosophischen Formalismus« ankreidet."
Für Engels’ Rezeption der Seinslogik gilt, was über sein Verhältnis zu
Hegel insgesamt zu sagen war: sie sperrt sich gegen den idealistischen
Sinn, der Hegels Kategorien an Ort und Stel le zukommt. Wenn Hegel
von »objektiver Logik« spric ht, so neigt Engels sofort d azu , diese O b jek tivität naturwissenschaftlich zu deuten, während sie für Hegel als die des
Seins nur Bestand hat, sofern dieses, in das Wesen als in seinen Grund
zurückgegangen, sich schließlich als »Begriff«, das heißt absolute Subjek
tivität erweist. Anstatt die Hegelschen Kategorien konkret-material i
stisch, also gesellschaftlich neuzubestimmen, appliziert er sie äußerlich
auf einzelwissenschaftliche Tatbestände, die sich gerade der Abstraktion
von dem verdanken, w as sie in D ia lek tik ein bezöge: von der historischenPraxis. Sie sollen von der Welt überhaupt gelten, wobei Engels naiv
unterstellt, was die Forschung über die Welt ausmacht, betreffe ihr reines
A n-sich.
In der Tat führt, wie Hyppolite die wesentliche Schwierigkeit umreißt,
die Historisierung der Natur bei Engels, vollends aber im Sowjetmarxis
mus, zu einer Naturalisierung der menschlichen Geschichte. Freilich
nicht nach Art des Sozialdarwinismus, dessen gesellschaftliche Funktion
9 7 H e g e l , W i s s e n s c h a f t d e r L o g i k , 1, 1. c., S. 380.
98 J ü r g e n H a b e r m a s , T h e o r i e u n d P r a x is , N e u w i e d a m R h e i n u n d B e r l i n 1 9 6 3 , S . 2 7 2 , c f .
au ch S . 270—272.
9 9 C f . P h ä n o m e n o lo g ie d es G e is te s , 1. c ., S. 4 1 f . , beson ders au ch W e r k e , B a nd 9 ,1. c., § 3 5 9,
S. 629 f.
200
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und Herkunft von Marx und Engels gleichermaßen durchschaut wurde.
Naturalisierung der Geschichte heißt hier, daß Engels sie zum speziellen
A nw endungsbereich allgem ein er Bewegungs- und Entw ic klu ngsgesetze
der Natur herabsetzt, womit er der für die stalinistische Ideologie
charakteristischen und unter Marxschen Gesichtspunkten sinnlosen insti
tutionellen Aufgliederung der Theorie in dialektischen und historischen
Materialismus den Weg ebnet. Daß die menschliche Geschichte vonbewußtseinsbegabten Wesen gemacht wird, bedeutet nichts als einen die
Sache etwas komplizierenden Faktor, was Engels lakonisch so ausdrückt:
»Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte
nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der
Geschichte der Natur verschieden.«100 Wenn Marx von den »Naturge
setzen« der Gesellschaft spricht, davon, daß die Kritik der politischen
Ökonomie die Entwicklung der Gesellschaftsformation als einen »naturgeschichtlichen Prozeß« auffaßt, in dem die Personen zur »Personifika
tion ökonomischer Kategorien« geworden sind101, so hat das den kriti
schen Sinn, daß die Menschen unter ein System sachlicher Bedingungen
subsumiert sind, das sich unkontrolliert, als »zweite« Natur, ihnen
gegenüber durchsetzt. Nicht, daß dieser kritische Impuls bei Engels
verlo ren gin ge. Beso nders deutlich ist er im A ntiD ü hring . Aber der
Umstand, daß Engels ausgehend von »wertindifferenten« Entwicklungs
gesetzen der Natur zu denen der Gesellschaft übergeht (obwohl er mitMarx in den vierziger Jahren den gerade umgekehrten Weg beschritten
hatte), bringt es doch mit sich, daß manche seiner Formulierungen sich
affirmativ deuten ließen. Herrscht bei Engels auf der einen Seite noch ein
klares Bewußtsein davon, daß die Objektivität der geschichtlichen
Gesetze ein Schein ist, daß sie immer nur die des »eignen gesellschaftli
chen Tuns«102 der Menschen sein können, so wird diese kritische Einsicht
auf der anderen Seite dadurch abgeschwächt, daß er meint, im Sozialismus würden diese Gesetze »mit voller Sachkenntnis angewandt und
dam it beherrscht«, wäh rend es M arx da rau f ankam, d aß sie, in vernün f
tige Aktionen der befreiten Individuen sich auflösend, verschwinden.
Naturalistisch identifiziert Engels die von den Menschen hervorgebrach
ten Gesetze mit denen der physischen Natur, die sie allerdings nur
anwenden und beherrschen können.
Bei Stalin wie im Stalinismus insgesamt entsteht daraus der Aberglaube
an die unverbrüchliche Objektivität der historischen Gesetze, die unab-
100 D ia le k t ik d e r N a t u r >1. c., S. 252.
101 D a s K a p ita l , B a n d 1 , 1. c., S. 8.
102 A n ti D ü h r in g , 1. c., S. 351.
201
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hängig vom Willen der Menschen wirken und sich von denen der Natur
in nichts unterscheiden103. Daß die offizielle Ideologie jahrelang diesen
begrif flo sen O bje ktivis m u s m it krassestem Subje ktiv is m us zu vereinba
ren wußte, wie er sich im sogenannten Personenkult um Stalin
ausdrückte, ist kein Zufall: beide Seiten sind komplementär. Was bei
Marx zur Kritik steht, wird im Stalinismus in den Rang einer wissen
schaftlichen Norm erhoben. Die Subjekte sollen höchstens in der Lagesein, diese Gesetze zu erforschen und in ihrem Handeln zu berücksichti
gen. Daß es sie ohne das Tun der Menschen überhaupt nicht gäbe,
bekom m t eine D o k trin , die im In teresse vo n H errschaft nur d arau f aus
ist, die faktisch vollzogene Verdinglichung der Verhältnisse »abzubil
den«, schon g ar nicht m ehr in den Blick.
Einen weiteren Schritt vorwärts in der Ontologisierung einer ursprüng
lich kritischen und radikal historischen Theorie bedeutet die Tatsache,
daß die bei Engels immerhin noch im Medium naturwissenschaftlicher
Begriffsbildung belassenen dialektischen Entwicklungsgesetze und Kate
gorien, die gleichermaßen für Natur, Gesellschaft und Denken gelten
sollen, in der Folge, vor allem bei Stalin und Mao Tse Tung, auch von der
naturwissenschaftlichen Problematik abgelöst und zu unmittelbaren
Seinsaussagen erklärt wurden. So gilt vor jeder spezifischen Untersu
chung eines Gegenstandes mit axiomatischer Gewißheit, daß ihm, wie
allen Dingen in der Welt, Widersprüche innewohnen. Eine Tendenz, diesich in der nachstalinistischen Ära noch verstärkte. Bei Autoren wie V. B.
Tugarinow wird der Begriff »Ontologie« positiv rezipiert und ein an
N . H artman ns Philosophie erinnerndes System v on Kategorien ange
strebt. Z u r allgemeinen W eltanschau un g h yp ostasiert104, schrum pft D ia
lektik zu einem je nach den tagespolitischen Zeitläuften sich ändernden
Katalog von Prinzipien zusammen, die als leere Hülsen und Schemata
den Inha lten übergestülpt werden.
W enden w ir uns nunm ehr der W eise zu, in der M arx das Problem der
Dialektik angeht. Zunächst einmal fäl lt auf, daß es ihm im Gegensatz zu
Engels nie beigekommen ist, sie zu kodifizieren und ihre Bewegungs
formen Natur und Geschichte als getrennt gedachten Gegenstandsberei
chen zuzu ordnen. Er hat von An beginn ein w irklich kritisches Verhältnis
zur Dialektik. Obwohl er in ihr zeit seines Lebens »unbedingt das letzte
W o rt aller Philosophie « erblickt, hebt er stets die N o tw en d igk e it hervor,
103 C f . J . W . S tal in , ö k o n o m i s c h e P r o b l e m e d e s So z ia lis m u s i n d e r U d S S R , Ber l in 1953,
S. 4 f.
1 0 4 E i n V o r g a n g , d e r n ä h e r g e k e n n z e i c h n e t w i r d b ei H e r b e r t M a r c u s e , D ie G e se ll sch a fts-
l e h r e d e s so w j e ti s ch e n M a r x i s m u s , N eu w ied am R hein u nd Be r l in 1964 , S. 136— 1 j 5.
202
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»sie von dem mystischen Schein, den sie bei Hegel hat, zu befreien«105.
Dabei ist ihm klar, daß diese Aufgabe nicht so zu bewerkstelligen ist, daß
man Dialektik in ein Sammelsurium weltanschaulischer Versicherungen
überführt, sondern nur so, daß im einzelnen gezeigt wird, wie sie den
historischen Prozessen der Menschenwelt innewohnt. Daher seine Ableh
nung des »abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den
geschichtlichen Prozeß ausschließt«106, aus dessen Perspektive die jeweiligen Fragestellungen und Resultate der Forschung erst ganz zu begreifen
sind. Natur erscheint immer nur im Horizont der Geschichte, die,
emphatisch gesprochen, nur den Menschen zukommen kann. Geschichte
aber ist zunächst und unmittelbar Praxis. Der Begriff der Praxis, wie die
Feuerbachthesen von 1845 ihn erreichen, ist der gerade theoretisch wich
tigste M arxsche B egriff . A u f ihn ist immer wieder zurückzukom m en, w ill
man sich Klarheit darüber verschaffen, was bei Marx Materialismus heißtund mit welchem Recht dieser dialektisch genannt zu werden verdient.
Im Gegensatz zu allen sowjetmarxistischen Darlegungen ist der authenti
sche Marxismus kein naturalisierter Hegelianismus, der sich darin
erschöpft, ein ontologisches Substrat, den Geist, durch ein anderes, die
Materie, einfach zu ersetzen. Ebensowenig ist er, wie es Plechanow sich
geistesgeschichtlich zurechtzulegen suchte, eine »Synthese von Hegel
scher Dialektik und Feuerbachschem Naturalismus«. Daß er mit einer
mystischen Kosmologie, wie sie bei Bloch als Identitätsphilosophie entwik-kelt wird, nichts gemein hat, versteht sich am Rande. Das Wesen des
Marxschen Materialismus wird so lange verfehlt, als man ihn bloß als
innerphilosophische, gar weltanschauliche Alternative zu einem wie
immer gearteten Idealismus interpretiert. Er ist aber ebensosehr die —
freilich selbst noch philosophisch motivierte — Kritik und Aufhebung der
Philosophie als Philosophie. Gesamtgesellschaftlich-historisch orientiert,
verm ag er sich in sofern über die Philosophie zu erh eben, als er die in nerphilosophischen Fragen, ohne deshalb ihren Sachgehalt zu leugnen, als
ein Abgeleitetes und Vermitteltes durchschaut. So büßt auch, was Engels
in seiner Feuerbachschrift als die »höchste Frage der gesamten Philo
sophie«107 bezeichnet, die nämlich »nach dem Verhältnis des Denkens
zum Sein, des Geistes zur Natur«, sehr an Gewicht ein, hat man sich
einmal verdeutlicht, daß Begriffe wie »Denken« und »Sein«, »Geist« und
»Natur« ebenso wie die naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen der
1 05 M a r x a n L a s s a l le , B r i e f v o m 3 1 . 5 . 1 8 5 8 , i n: M a r x / E n g e l s , W e r k e , B an d 2 9 ,1. c., S. 561.
106 D a s K a p ita l, B a nd 1 , 1. c., S. 389.
107 L u d w ig F eu er b a ch , 1. c., S. 28.
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Praxis entsprungene Produkte sind, mit deren Hilfe die Menschen
geschichtlich begrenzte, keine ewigen Probleme zu lösen suchen108.
Zwar geht das materielle Sein jeder Gestalt der historischen Praxis als
extensive und intensive Unendlichkeit voraus. Aber soweit es für die
Menschen bedeutsam wird, ist es gar nicht jenes abstrakt-materielle Sein,
das in seinem genetischen Primat von der Theorie als materialistischer
unterstellt werden muß, sondern ein Zweites, ein durch geschichtliche A rbe it Angeeignete s. A m gesellschaft lich verm ittelten C h arak ter dessen,
was jeweils N a tu r heißt, h ä lt M arx w ährend seiner ganzen E n tw icklu ng
fest, wobei es ihm weniger um die wechselnden Inhalte des Naturbilds zu
tun ist als um die geschichtlichen Bedingungen seines Wandels. Noch in
einer seiner letzten Arbeiten, den Randglossen zu Adolph Wagners L ehr-
buch der politischen Ökonomie stellt er spöttisch fest, daß nur bei einem
»Professoralschulmeister« die »Verhältnisse der Menschen zur Natur von
vornherein n icht praktis che, also durch die T a t begründete Verhältnisse
sind, sondern theoretische.. .«109. Die Menschen stehen jedoch zunächst
den äußeren Mitteln zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht als
»Dingen der Außenwelt« schlechthin, das heißt in erkenntnistheoreti
scher Einstellung gegenüber. »Sie fangen, wie jedes Tier, damit an, zu
essen, zu trinken etc., also nicht in einem Verhältnis zu >stehen<, sondern
sich aktiv zu verhalten, sich gewisser Dinge der Außenwelt zu bemäch
tigen durch die Tat, und so ihr Bedürfnis zu befriedigen. Sie beginnenalso mit der Produktion.. .«110 Diese Formulierungen von Marx sind
jedoch nic ht im Sin ne ein er praktizistis chen T heoriefe in d sch aft zu ver
stehen. Die historische Praxis ist, wie schon bei Hegel, bei dem sie freilich
in letzter Instanz als eine Weise des Wissens bestimmt wird, in sich »theo
retischer« als die Theorie. Sie hat die Vermittlung von Subjekt und
O b jek t imm er schon geleistet — noch ehe sie zum Th em a der R eflexion
w ird. A n dieser Ste lle zeigt sich ein w eiteres M al, daß Engels das Problemder Dialektik zu spät ansetzt. Wenn »materialistische Naturanschauung«
w eiter nichts sein so ll »als ein fache A uffassu n g der N a tu r so, w ie sie sich
gibt, ohne fremde Zutat«111, so bedeutet das einen naiv-realistischen
R üc kfall hinter die von ihm selbst und M arx in der Polemik der D e u t-
schen Ideologie gegen Feuerbach bereits erreichte Position. So »wie die
Natur sich gibt«, ist sie zunächst keineswegs jenes aller Anthropomor-
1 08 E n g e l s s e lb s t le g t ü b r i g e n s e in e d e r a r t ig e B e t r a c h t u n g s w e i s e n a h e , w e n n e r , j e n e F r a g e
a u f w e r f e n d , z u g l e i c h h i n z u f ü g t , s ie h a b e » n i c h t m i n d e r a ls a l le R e l ig i o n , i h r e W u r z e l in
d e n b o r n i e r t e n u n d u n w i s s e n d e n V o r s t e l l u n g e n d e s W i l d h e i t s z u s t a n d s « .
1 0 9 M a r x / E n g e l s , W e r k e , Band 19 , Ber l in 1962, S . 362 f .
110 Ibid.1 1 1 L u d w ig F e u er b a ch , 1. c., S. 80.
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seiten des Arbeiters, »in der Form der Unruhe«, das heißt zweckgerich
teter Tätigkeit, erschien. Stets also geht das Bewußtsein als tätiger Geist
in die von ihm reproduzierte Wirklichkeit ein. Vor ihr, die wie eine stei
nerne Wand um die Menschen herumsteht, nicht zu kapitulieren, ist die
A u fgab e der Erkenntn is . Indem sie die in den ausgem achten Fakte n
erloschenen menschlich-geschichtlichen Prozesse wieder verlebendigt,
erweist sie die Wirklichkeit als von Menschen hervorgebracht und folg
lich veränderbar: Praxis als wichtigster Erkenntnisbegriff schlägt um in
den politischer Aktion.
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beachtete T exte in die D is kussio n ein zuführen. D ah er seine philolo gis che
A krib ie . K enner au f dem G ebiet der M arx-F orschu ng - so L ukäcs in
einem Brief an den Verfasser — haben denn auch den Fortschritt der
Dissertation in dem stärkeren Akzent erblickt, den sie auf die späten
Sch riften legte.
Heute sieht der Autor das gebrochene, seit Lukäcs, Korsch, Merleau-
Ponty und Sartre immer wieder erörterte Verhältnis von Marxismus undPhilosophie anders. War es ihm damals darum zu tun, im Abschnitt A des
I. Kapitels den sachlichen, von manchen Interpreten geleugneten Zusam
menhang des Marxschen mit dem philosophischen Materialismus über
haupt herauszupräparieren, so ist er heute der (im Buch bloß implizit
ausgesprochenen) Ansicht, daß der Marxsche Materialismus nur in zwei
ter Linie aus dem »innerphilosophischen« Gegensatz zum Idealismus zu
verstehen ist; daß er zunächst eine (freilich selbst noch philosophisch
belaste te , näm lich »bestim mte«) N e g a tio n vo n Ph ilosophie (ein schließ
lich der materialistischen) bildet. Insofern würde die zumal im I. Kapitel
enthaltene Charakteristik der Rolle Feuerbachs für die Marxsche Ent
w icklu n g heute p ositiver ausfa llen. D e r V erfasser hat in der Stu die Für
eine neue Lektüre Feuerbachs im I. Band seiner Feuerbach-Ausgabe
(.Anthropologischer Materialismus, Frankfurt am Main/Wien 1967)
nachzuweisen versucht, daß gerade der Begriff »vermittelnder Praxis«,
den M ar x und E ngels polemisch gegen die U nm ittelbarkeiten Feuerbachskehrten, diesem selbst außerordentlich viel verdankt. Die anthropozen-
trisch-genetische Methode Feuerbachs, sein an der erkenntnistheoreti
schen Problematik der Alltagswelt orientierter Sensualismus und Realis
mus nehmen nicht nur die materialistisch-dialektische Lehre von der
Praxis als dem allgemeinen, jeweils historisch begrenzten Horizont vor
w eg, w orin alle menschliche w ie außerm enschliche W irklichkeit
erscheint — sie sind zugleich geeignet, diese Lehre um wichtige Momente
zu bereichern (die von Marx und Engels wegen ihrer zu geringen zeitli
chen Distanz zu Feuerbach übersehen, von Plechanow und Lenin jedoch
dem An satz nach erfaßt w urden).
Der kritisch, nicht weltanschaulich-dogmatisch verstandene Materialis
mus betont die Unmöglichkeit, etwas über die gegenständliche Welt
auszumachen unter Abstraktion von den Formen ihrer praktisch-geisti
gen »Aneignung« durch die Gesellschaft, ohne deshalb die Objektivität
unseres Wissens historistisch, skeptizistisch od er ag no stizistisch zu bestreiten.
Nach wie vor vermögen Einwände von orthodoxer Seite den Verfasser
nicht zu überzeugen, die sich gegen seine Kritik der (vom späten Engels
fragmentarisch entworfenen) »Naturdialektik« im Abschnitt B des I.
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Absage an E rkenntn is theorie : die Identit ät von Subje kt und O b jekt nicht
akzeptieren kann. D adu rch stel lt sich - objektiv — für M arx Kants Frage
nach den »Konstituentien« der Gegenstände von Erkenntnis wieder her
— nicht im Sinn einfachen Rekurses auf Transzendentalphilosophie, son
dern auf der Basis des von Hegels Kant-Kritik unwiderrufl ich Erreich
ten.
Das die »normale« Erfahrungswelt des Alltags, auf der letztlich auch die
W issenschaften fu ßen, »Konstituie rende«, In tersubjektivit ät Sti fte nde ist
bei M arx kein In b egriff aprio ris cher O rd nu n gsfu n ktionen eines ü berindivi
duellen »Bewußtseins überhaupt«, sondern »gegenständliche Tätigkeit«
— kollektive Praxis. Diese.bildet jeweils ein Ganzes von Produktionsver
hältnissen, das sowohl von einzelnen naturwissenschaftlichen, technolo
gischen und politischen Praktiken innerhalb des bereits Konstituierten
unterschieden werden m uß w ie von dem, was M arx »umw älzendePraxis« nennt und a uf einen qu alitativ neuen En tw ur f von W elt
abzielt.
Differenzierungen im Praxis-Begriff , die im vorliegenden Buch nicht im
mer so beachtet werden, wie es wünschenswert w äre. D as ha t einen jug osla
wischen Reze nsente n hin sic htlich der U top ie-K o n zep tio n des IV . K apit els
zu dem technokratischen wie scientistischen Mißverständnis verleitet, als
glaube der Verfasser, M ar x sei es lediglich da rum zu tun gewesen, daß
sich die bestehenden Formen von Naturbeherrschung quantitativ stei
gern, während er, konträr, auf ein qualitativ Neues: die gesamtgesell
schaftliche Beherrschung der Naturbeherrschung hinauswollte. Wohl
w äre es schlechte R om antik zu vergessen , d aß auch der von M arx ange
strebte Zustand noch der Funktionen instrumenteller Vernunft bedürfte.
A b er in dem diese »finalisiert« , w ah rh aft m enschlichen Zw ecken unter
w orfen w ird, verliert sie — das m achte die M arxsche H o ffn u n g aus — ihren
beschränkten C h arak ter; H errschaft über N a tu r w ird befr eit von demFluch, zugleich eine über Menschen zu sein, blinde Naturgeschichte zu
perpetuieren.
Ein — allerdings wesentlicher — Punkt ist bei der Frage nach der Marx-
schen Utopie noch zu berühren. Angesichts der gegenwärtigen Situation,
in der die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Gesellschaft
immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, lesen sich auch die Marxschen
Frühschriften anders. Nicht daß es anginge, den Marxschen Übergang zur
politischen Ökonomie und ihrer Kritik zu widerrufen. Aber heute wird
deutlich, daß er teuer erkauft wurde. So wichtig es war, den Gedanken
der Vermitteltheit alles Unmittelbaren gegen seine idealistische Form zu
kehren und da m it festzuhalten, so sehr muß te in M arx ein Stück ideali
stischer Hybris fortwirken: daß das Seiende nichts an sich, sondern bloßes
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Material für Praxis sei. Auch dort, wo Marx das Negative daran aus
sprach. — Das Buch hebt zwar gelegentlich diesen Aspekt hervor, aber es
übersieht im ganzen, daß der reife Marx (auf den, wie gesagt, damals
energisch zu verweisen war) sich streckenweise ungewollt zum Komplicen
eben der Tendenz macht, gegen die sein Werk steht.
»Resurrektion der Natur«, »Humanisierung der Natur, Naturalisierung
des Menschen« — das sind heute keine Ausgeburten eschatologischer
Phantasie mehr. Von ihrem Gelingen hängt ab, ob die Menschheit in
einen vernünftigeren Zustand eintritt, ja ob sie überlebt. — Wer sich heute
mit dem Marxschen Naturbegriff beschäftigt, muß die emanzipatorische
Rolle der menschlichen Natur, die befreiende Kraft der »Sinnlichkeit« im
Den ken des jungen M ar x beachten. Au ch unter diesem A spe kt dürfte sich