Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal
Allgemeinbildung: Arbeitszeit
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Teil 3/TK 8
Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda
Arbeit Der Streit um unsere Zeit
Autoren: Claudia Imfeld und Nicole Krättli
Bild: Sonderegger/Cortis und Kilian Kessler
Mediziner fordern, dass streng kontrolliert wird, wie viel wir arbeiten.
Das Gesetz verlangt, dass die Arbeitszeit der Angestellten aufgezeichnet wird. Arbeitge-
ber sträuben sich. Doch: Stempeluhren halten uns gesund, sagen Mediziner.
Ratgeber: Wie viel darf man arbeiten? Das sagt das Gesetz
Zürich, 7.52 Uhr: Riccardo Trombini braucht eine grosse Tasse Kaffee, um in die Gänge
zu kommen. Am Vorabend hatte er einen Geistesblitz und startete um 23 Uhr nochmals
den Laptop, um seine Idee festzuhalten. Nun sitzt der Informatiker im Büro des Zürcher
Jungunternehmens Starmind und klickt sich durch IT-Blogs. Seine E-Mails hat er bereits
im Tram gecheckt – die Fahrzeit will genutzt sein, findet er. Zeiterfassung? Kennt der 30-
Jährige nicht.
Zollikofen, 8.00 Uhr: Thomas Stauffer stellt sein Velo in der Garage ab, kramt aus dem
Rucksack das Portemonnaie und hält es ans schwarze Kästchen beim Eingang des Büro-
hauses. Das System registriert 8.00 Uhr im Zeitkonto des Projektleiters. Sein Arbeitstag
im Bundesamt für Informatik und Telekommunikation beginnt. Im Büro im vierten Stock
sucht er sich einen Arbeitsplatz und fährt den Laptop hoch. Er sieht die Mails durch und
macht sich an die Detailplanung eines aktuellen Projekts.
Es war nur eine Frage der Zeit, dass es eskalieren würde. Am 11. September 2013 mar-
schierten ein Arbeitsinspektor und ein Jurist bei Goldman Sachs in Zürich ein. Die In-
vestmentbank war angezeigt worden – vom Schweizerischen Bankpersonalverband. Insi-
dern zufolge hat die Bank weder systematisch Arbeitszeiten aufgezeichnet noch sich an
die gesetzlich vorgeschriebene Kompensation von Überzeit gehalten. Die Ermittlungen
sind mittlerweile abgeschlossen, das Verfahren läuft aber noch.
Ein Verstoss gegen das Arbeitsgesetz wäre kein Einzelfall, sagt Peter Meier, Präsident des
Interkantonalen Verbands für Arbeitnehmerschutz. «Heute kennt kaum noch jemand das
Arbeitsgesetz, und die Arbeitszeit wird generell immer weniger erfasst. Und das Gesetz
ist ein Flickwerk aus Vorschriften, Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen. Deshalb
ist es enorm schwer verständlich.» Inzwischen sind weitere Personalverbände dem Bei-
spiel des Bankpersonalverbands gefolgt. Auch die Verlagshäuser Ringier und Tamedia
haben Verfahren am Hals.
Das Gesetz sagt: Arbeitszeit notieren!
Tatsächlich erfasst jeder sechste Angestellte seine Arbeitszeit nicht. Das zeigt eine Studie
des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2012. Besonders prekär ist es
bei Banken, Versicherungen und Medienhäusern. Bei ihnen klaffen Praxis und Recht weit
auseinander. Gemäss Arbeitsgesetz dürfen in der Schweiz weder Firmen noch Angestellte
frei wählen, ob sie ihre Arbeitszeit rapportieren oder nicht. Die tägliche und wöchentliche
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Arbeitszeit muss festgehalten werden, zudem Arbeitsbeginn, Arbeitsende, Überzeit und
Pausen. Von der Aufzeichnungspflicht befreit waren bislang vor allem die obersten Füh-
rungskräfte, selbständig erwerbende Künstler und Wissenschaftler. In der Schweiz
verstossen somit Hunderttausende Jobs gegen das Arbeitsgesetz und seine Verordnun-
gen.
Das hat auch die Bundesbehörde erkannt. Bei Verhandlungen mit Arbeitgeber- und Ar-
beitnehmervertretern versuchte sie, das Gesetz an die heutige Realität anzugleichen.
Bisher ohne Erfolg. Letzten Sommer begrub das Seco seinen Vorschlag, dass Angestellte
mit einem Jahreslohn von über 175'000 Franken ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen
müssen. Bis eine definitive Lösung gefunden ist, gilt seit Januar eine Übergangsregelung:
Firmen müssen die Arbeitszeit für einzelne Angestellte nicht mehr lückenlos dokumentie-
ren. Das täglich geleistete Stundentotal reicht. Die Lockerung gilt – mit vielen Zusatzkri-
terien – für Kaderleute, vollamtliche Projektleiter und Mandatsträger.
Wem schreibt der Chef die Arbeitszeit vor?
Ein Grossteil der Schweizer Arbeitnehmenden arbeitet mit festen Arbeitszeiten oder flexi-
bel mit Zeiterfassung. Anteil der Beschäftigten in Prozent.
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Wer ist zufrieden mit der Arbeitszeitregelung?
«Ich bin mit meiner Arbeitszeitregelung sehr zufrieden oder zufrieden»: Anteil der Beschäftigten in Prozent
«Wenn ich meine Stunden aufschreiben würde, könnte ich sie ansammeln und im Sommer mal länger freimachen.» Riccardo Trombini, Informatiker
Zollikofen, 10.06 Uhr: Thomas Stauffer kauft sich in der Kantine einen Kaffee, liest den
«Bund». Ein Arbeitskollege setzt sich zu ihm. Sie diskutieren über den Fussballmatch
vom Vorabend. Ausgestempelt hat Stauffer nicht. Muss er auch nicht. Gemäss Bundes-
personalrecht steht ihm eine halbe Stunde Pause zu – 15 Minuten am Morgen, 15 Minu-
ten am Nachmittag. Die Pausenzeit funktioniert auf Vertrauensbasis. Es gibt Zeiten, da
verzichtet der 43-Jährige auf sie. Gut sei das nicht. Von Zeit zu Zeit ein kurzer Unter-
bruch wirke sich positiv auf die Gesundheit aus und sei deshalb sinnvoll, sagt der Projekt-
leiter.
Zürich, 10.20 Uhr: Riccardo Trombini geht zum gedeckten Tisch im Aufenthaltsraum.
«Breakfast for Champions» nennt das junge Team die zweiwöchentlich stattfindende
«Sitzung». Heute informieren die Chefs über die Expansion nach Deutschland.
Flexible Arbeitszeiten ohne jede Zeiterfassung: Viele Angestellte befürworten das mit
dem Argument, Familie oder Hobby und Beruf liessen sich so besser abstimmen. In einer
Metastudie fanden angelsächsische Forscher Hinweise, dass es sich positiv auf das Wohl-
befinden auswirkt, wenn man die Arbeitszeit selber bestimmen kann. Auch die im Auftrag
des Seco durchgeführte Studie zu flexiblen Arbeitszeiten belegt: Angestellte, die ihre Ar-
beitszeit nicht erfassen müssen, sind mit ihrer Arbeit am zufriedensten.
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Arbeitgeber wollen weniger Zeiterfassung:
Für Daniella Lützelschwab vom Schweizerischen Arbeitgeberverband bestätigt das, was
sie täglich von Angestellten hört: «Viele sehen ihre Pflicht nicht darin, fünfmal die Woche
acht Stunden lang im Büro zu sitzen, sondern ihre Aufgaben gut und effizient zu erledi-
gen.» Deshalb fordert der Arbeitgeberverband, dass leitende Angestellte oder solche mit
grosser Flexibilität in der Jobgestaltung ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen müssen.
Pauschale Aussagen, wer genau zu dieser Gruppe zählen soll, seien aber kaum möglich,
gesteht Lützelschwab. «Die Kriterien ändern sich von Branche zu Branche, von Region zu
Region, von Firma zu Firma.» Der Arbeitgeberverband will daher Modelle für die einzel-
nen Branchen finden.
Neue Technologien haben den Alltag verändert. Strikte Trennung von Arbeit und Privatle-
ben sei kaum mehr realistisch, findet Lützelschwab. «Die meisten beantworten während
der Arbeitszeit private Mails; im Gegenzug schauen sie in der Freizeit auch mal geschäft-
liche Nachrichten an.» Da Minuten aufzuschreiben sei wenig sinnvoll.
Wer arbeitet mehr als vertraglich vereinbart?
Anteil der Beschäftigten in Prozent, die mehr arbeiten als vertraglich vereinbart
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Wird die Mehrarbeit erfasst?
Anteil der Beschäftigten in Prozent, deren Mehrarbeit im Betrieb erfasst wird.
«Wenn ich freihabe, bin ich für die Firma nur in Notfällen telefonisch erreichbar.» Thomas Stauffer, Informatiker
Zürich, 12.03 Uhr: Riccardo Trombini hat an Richtlinien zum Umgang mit Kundendaten
gearbeitet. Fürs Mittagessen geht er hinüber in den Aufenthaltsraum. Eine Hotdog- und
eine Sandwichmaschine stehen bereit, zwei Mitarbeiterinnen bereiten sich Salate zu.
Nach dem Essen spielt Trombini mit einem Kollegen eine Partie Fussball auf der Playsta-
tion – um den Kopf zu lüften.
Zollikofen, 12.20 Uhr: Thomas Stauffer hat eine lange Sitzung hinter sich. Jetzt macht er
sich auf in die Kantine und hält am Eingang sein Badge ans Erfassungsgerät. Er kann
Mittagspause machen, wann er will. Allerdings zieht ihm das System nach sieben Stun-
den Arbeitszeit automatisch eine halbe Stunde ab, falls er nicht ausstempelt. Stauffer
findet das eine gute Sache. So komme man weniger in Versuchung durchzuarbeiten –
und die Gespräche mit den Kollegen in der Kantine täten gut.
Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund sieht zwar die Vorteile flexibler
Arbeitszeiten. Aber gerade deshalb müsse die Arbeitszeiterfassung verstärkt statt abge-
schafft werden. Mit Apps und Computertools lasse sich die gearbeitete Zeit heute schnell,
einfach und überall erfassen. Für ihn ist klar: Es braucht die Arbeitszeiterfassung zum
Schutz der Arbeitnehmenden. Vor der Firma – aber auch vor sich selbst. «Das Risiko der
Selbstausbeutung ist in unserer Gesellschaft sehr hoch», so Cirigliano. Ein Blick in die
Statistik zeigt: Die Zahl psychischer Erkrankungen aufgrund von Berufsarbeit steigt seit
Jahren. Die Kosten für Arztbesuche und Produktionsausfälle aufgrund von Stressleiden
belaufen sich auf mehr als vier Milliarden Franken pro Jahr. Faktoren wie das Arbeiten in
der Freizeit oder eine tägliche Arbeitszeit von mehr als zehn Stunden (mindestens ein-
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bis zweimal pro Woche) sind laut der Seco-Studie zu Stress bei Erwerbstätigen besonders
riskant.
«Ein überdurchschnittliches Engagement mag zu Beginn der Karriere für einige Jahre
gutgehen», sagt Gewerkschafter Cirigliano. «Doch sobald das Privatleben mehr von ei-
nem fordert, etwa weil man eine Familie gründet oder im Alter mit gewissen Beschwer-
den zu kämpfen hat, machen sich die Menschen damit krank.» Der Zürcher Arbeitsin-
spektor Peter Meier beobachtet das bei seinen Kontrollen in Betrieben regelmässig: «Wo
es keine Arbeitszeiterfassung gibt, wird mehr gearbeitet.» Und wo viel gearbeitet werde,
nehme die Gefahr von Burn-outs und anderen Erkrankungen zu.
«Arbeitszeiterfassung: Kein Allheilmittel»:
Arbeitszeiterfassung als Rezept gegen Burn-outs? Daniella Lützelschwab vom Arbeit-
geberverband warnt vor simplen Schlussfolgerungen: «Die Zahl der Burn-out-Fälle ist
alarmierend hoch. Doch es wäre verkürzt, zu glauben, Arbeitszeiterfassung sei das All-
heilmittel dagegen.» Die Burn-out-Zahlen seien ja trotz gesetzlich verankerter Arbeits-
zeiterfassung gestiegen – auch bei Menschen, die ihre Arbeitszeit erfassen.
Wer geht krank zur Arbeit?
«Gehen Sie auch zur Arbeit, wenn Sie krank sind?»; Selbstaussagen von Schweizer Angestellten in
Prozent.
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Wer fehlt häufiger?
«Wie oft haben Sie wegen Krankheit im letzten Jahr gefehlt?»; Fälle von mehr als 25 Krankheitsta-gen wurden nicht berücksichtigt.
Zürich, 15.01 Uhr: Riccardo Trombini ist im «Tunnel». So nennen Informatiker den Zu-
stand, wenn sie völlig in ihrer Arbeit versinken. Kein Blick links, kein Blick rechts. An
Pause ist nicht zu denken. Trombini kennt aber auch andere Phasen – in denen er unpro-
duktiv ist, sich nicht richtig konzentrieren kann. Dann organisiert er auch mal vom Büro
aus ein Geschenk für seine Freundin – oder setzt sich zwei Stunden in die Sonne. Seine
Devise: produktive Phasen nutzen, ohne auf die Uhr zu schauen, und in unproduktiven
nichts erzwingen. Dem 30-Jährigen ist bewusst, dass sich bei ihm Privates stark mit der
Arbeit vermischt. Er findet es völlig in Ordnung: «Jedenfalls besser, als jeden Tag Zeit
mit Aufschreiben zu vertrödeln, wann man genau anfängt zu arbeiten und wann man
Pause macht.»
Zollikofen, 16.05 Uhr: Thomas Stauffer kommt von der Pause zurück. Auf dem Weg in
den vierten Stock ruft er noch schnell daheim an. Er arbeitet seit 15 Jahren für den Bund.
Früher gab es fixe Blockzeiten. Er schätze es sehr, dass er heute freier entscheiden kön-
ne, wann er kommt und wann er geht. Ihm ist wichtig, Arbeit und Privates zu trennen.
Wenn er freihat, ist er bei Notfällen telefonisch erreichbar. Die Geschäftsmails auf seinem
Handy prüft er aber nur, wenn es wegen eines aktuellen Projekts wirklich nötig ist. Will
Stauffer nach 20 Uhr oder am Wochenende arbeiten, muss er das im Voraus vom Chef
bewilligen lassen. Das sei gut so: «Mir ist es wichtig, fit zu sein und Energie für die Arbeit
zu haben. Das gelingt nur, wenn ich zwischendurch abstellen kann.» Das ist ganz im Sin-
ne seines Arbeitgebers, der verhindern will, dass die Angestellten Berge von Überstunden
anhäufen.
Der Zusammenhang zwischen Arbeit, Stress und Krankheit ist kompliziert. Klar ist aber:
Wenn man sich ausgebrannt fühle, hänge das nicht zwingend damit zusammen, ob man
die Arbeitszeit erfasse und Überstunden leiste, sagt der Badener Arbeitsmediziner Dieter
Kissling. Das zeige sich etwa darin, dass die Generation unserer Grosseltern häufig zwölf
Stunden am Tag an sechs Tagen die Woche arbeitete – und psychische Folgeerkrankun-
gen nie das heutige Ausmass erreichten. Ein weiteres Beispiel sei die hohe Burn-out-Rate
bei Lehrpersonen – trotz geregelter Arbeitszeit.
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Kissling ist Inhaber des Instituts für Arbeitsmedizin, das im Auftrag von Firmen die Ge-
sundheit von Angestellten untersucht: «Stress hat viele Ursachen. Die Chefs, ihr Füh-
rungsstil und die Unternehmenskultur spielen eine wichtige Rolle.» Auch Schlaf und Pau-
sen seien elementar.
«Nicht alle Angestellten schaffen es, sich selbst Grenzen zu setzen», sagt Kissling. Des-
halb müssten das die Firmen tun. Ein gutes Beispiel sei der Autokonzern VW. Dieser be-
schloss vor drei Jahren, die E-Mail-Funktion der Geschäftshandys 30 Minuten nach Feier-
abend zu stoppen und erst eine halbe Stunde vor Beginn des folgenden Arbeitstags wie-
der zu aktivieren. Auch in den Ferien sollte es laut Kissling absolut tabu sein, die Mit-
arbeitenden zu stören.
«Der Markt wird Firmen in diese Richtung treiben, denn psychische Erkrankungen führen
für sie zu hohen Folgekosten», meint Kissling. Generell werde die Gesundheitsvorsorge in
Zukunft ein noch wichtigerer Vorteil im Wettbewerb um die besten Mitarbeiter sein. «Bis
diese Mechanismen jedoch voll spielen, werden noch viele Menschen krank werden.»
«Oft stecken sie in einem Burn-out»:
Sinnvoll wäre es, wenn Firmen ihre Angestellten regelmässig medizinisch untersuchen
lassen müssten. Aber das sei zu aufwendig und zu teuer, sagt der Arbeitsmediziner. Also
bleibe – bis alle Chefs gelernt hätten, auf ihre Mitarbeitenden zu achten – doch nur der
Ausweg, die Arbeitszeit zu erfassen. «Das allein macht den Angestellten zwar nicht ge-
sünder. Aber zu lange Arbeitszeiten schaden seiner Gesundheit.» Es sei unsinnig, gewisse
Berufszweige, Kaderstufen oder Einkommensklassen von der Arbeitszeiterfassung auszu-
nehmen: «Alle können durch Arbeit krank werden – auch leitende Angestellte.»
Den Workaholics allerdings wird auch die gesetzliche Pflicht, die Arbeitszeit zu notieren,
nicht helfen. Kissling trifft immer wieder Angestellte, die im Gesundheitsfragebogen an-
geben, sich gesund und fit zu fühlen. «Wenn wir dann den Stress mittels eines 24-
Stunden-EKGs messen, zeigt sich oft, dass sie in einem tiefen Burn-out stecken.» Diese
Leute würden auch mit Zeiterfassung gleich weiterarbeiten.
Das Gefühl für die geleistete Arbeitszeit ist bei allen trügerisch: Arbeitnehmende arbeiten
oft weniger, als sie glauben – und zwar fünf bis zehn Prozent. Behauptet ein Manager
also, er habe zwölf Stunden gearbeitet, waren es vielleicht auch nur knapp elf. Das hänge
vor allem damit zusammen, dass jeder «Arbeit» anders interpretiere, sagen Forscher der
Universität Maryland: Für den einen mag es als Freizeit gelten, auch nach Feierabend
seine E-Mails zu checken, andere stufen das als Arbeit ein. Je höher die Position und je
prestigeträchtiger der Beruf des Befragten, desto stärker wurde im Übrigen die eigene
Arbeitsbelastung überschätzt, zeigt die Studie. Diejenigen, die ihre Arbeitszeit also am
meisten überschätzen, sind die Chefs. Insbesondere in leistungsorientierten Branchen
seien Arbeitsstunden ein Statussymbol.
47% arbeiten in ihren Ferien mindestens einmal.
41% telefonieren während des Urlaubs mit dem Chef oder einem Arbeitskollegen.
75% beantworten in den Ferien Geschäftsmails.
51% stören sich daran, in den Ferien vom Geschäft gestört zu werden.
Zollikofen, 17.25 Uhr: Thomas Stauffer beendet eine anderthalbstündige Telefonkonfe-
renz mit einem Projektmitarbeiter. Sie haben online an einem Dokument gearbeitet und
sind gut vorwärtsgekommen. Nun fährt er den Laptop runter und packt den Rucksack.
Unten in der Garage stempelt er aus. Kurz darauf sitzt er mit den Kindern im Keller und
zerlegt ein altes Radio.
Manchmal, sagt Stauffer, sei es schon etwas mühsam mit dem Stempeln. Etwa wenn er
morgens extern arbeite und die Arbeitszeiten nachträglich im System erfassen müsse.
Probleme gebe es auch, wenn er unvorhergesehen zu Hause arbeiten müsse. «Buche ich
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die halbe Stunde am Telefon am Abend am nächsten Tag ein oder nicht?» Er halte zwar
viel vom Stempelsystem, trotzdem sei er überzeugt, dass die traditionelle Arbeitszeiter-
fassung nicht überleben werde. «Wir müssen neue Wege finden, um eine gute Work-Life-
Balance sicherzustellen.»
Zürich, 18.23 Uhr: Riccardo Trombini sitzt im Tram und beantwortet noch schnell die
Mail eines Arbeitskollegen. «Wir rufen einander abends selten geschäftlich an, und nie-
mand muss eine Frage sofort beantworten.» Trombini ist überzeugt, dass die Leute moti-
vierter sind, wenn sie ihre Arbeitszeit frei einteilen können. Aber sie arbeiten so auch
mehr. «Wenn ich meine Stunden aufschreiben würde, könnte ich sie ansammeln und im
Sommer mal länger freimachen.» Dass er freiwillig länger als acht Stunden arbeite, hän-
ge auch damit zusammen, dass er bei einer kleinen Firma sei: «Bei uns kommt es auf
jeden Einzelnen an.» Für eine grosse Firma würde er nicht unendlich Überstunden leis-
ten. Und: «Wenn ich Familie hätte, müsste ich wohl umdenken.»
26% arbeiten in den Ferien, weil der Chef das wünscht.
20% arbeiten in den Ferien, weil sie danach nicht auf Berge von Arbeit treffen wollen.
56% arbeiten im Urlaub, weil bei der Arbeit Notfälle auftreten.
33% glauben, aufgrund ihrer Position im Job stets erreichbar sein zu müssen.
Ratgeber: Wie viel darf man arbeiten? Das sagt das Gesetz:
Was zählt zur Arbeitszeit?
Die Zeit, in der sich die Angestellten zur Verfügung des Arbeitgebers halten müssen.
Das Aufräumen nach Ladenschluss oder die Sitzung am freien Nachmittag gelten also
auch als Arbeitszeit. Der Arbeitsweg gehört nicht dazu. Bei auswärtiger Arbeit und ver-
längertem Arbeitsweg gilt: effektiver Weg minus üblicher Weg gleich Arbeitszeit. Auch -
eine angeordnete Weiterbildung gilt als Arbeitszeit. Pausen nur, wenn man den Arbeits-
platz nicht verlassen darf und sich für einen allfälligen Einsatz bereithalten oder das Tele-
fon hüten muss.
Wie lange darf wöchentlich maximal gearbeitet werden?
Das hängt vom Beruf und von der Branche ab. Die gesetzliche Höchstarbeitszeit beträgt
45 Stunden für Angestellte in industriellen Betrieben, Büropersonal, technische und ande-
re Angestellte sowie für das Verkaufspersonal in Grossbetrieben des Detailhandels. Für
alle anderen (also etwa im Gesundheitswesen oder im Gastgewerbe) beträgt die Höchst-
arbeitszeit 50 Stunden. Sie darf nur ausnahmsweise überschritten werden.
Wie wird Mehrarbeit entschädigt?
Grundsätzlich durch Freizeit von gleicher Dauer, sofern der Arbeitnehmer zustimmt. An-
dernfalls Abgeltung mit einem Lohnzuschlag von 25 Prozent. Man muss allerdings unter-
scheiden: Von Überstunden spricht man, wenn die geleistete Mehrarbeit die vertraglich
vereinbarte Arbeitszeit übersteigt. In solchen Fällen kann etwas anderes vertraglich ver-
einbart werden, zum Beispiel dass Überstunden gratis zu leisten sind. Wird hingegen die
gesetzliche Höchstarbeitszeit überschritten, gilt das als Überzeit, die zwingend zu ent-
schädigen ist. Beim Büropersonal, bei technischen und anderen Angestellten sowie beim
Verkaufspersonal in Grossbetrieben des Detailhandels allerdings nur die Überzeitarbeit,
die 60 Stunden im Kalenderjahr übersteigt.
Was tun, wenn laut Arbeitsvertrag Überstunden zwar grundsätzlich kompensiert werden
dürfen, die Zeit aber nirgendwo erfasst wird?
Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitszeit in irgendeiner Form zu erfassen. Falls sie es
nicht tun, sollte der Arbeitnehmer die Mehrarbeit selber aufschreiben und jeden Monat
melden. Wenn der Arbeitgeber weiss, dass Überstunden geleistet werden, und nicht da-
gegen einschreitet, kann er laut Bundesgericht später nicht einwenden, die Überstunden
seien nicht angeordnet oder betriebsnotwendig gewesen.
Irmtraud Bräunlich
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Timeline: Die Geschichte der Arbeitszeit:
Von der Sanduhr zur Stechuhr: ...
14. Jahrhundert: Auf grossen Baustellen, etwa bei Kirchen, werden Arbeitsbeginn und -
ende sowie die Mittagszeit meist durch Glockenschläge angekündigt. Mit Sanduhren kon-
trollieren die Bauherren oft die Länge der Pause. (Bild: Michael Himbeault)
1797/98: Der bayrische Kriegsminister führt eine Uhr ein, weil seine Beamten offenbar
lieber in den Wirtshäusern sitzen, als die Kanzleistunden einzuhalten. Die Beamten müs-
sen eine persönliche Kennmarke in einen Behälter einwerfen. Im Innern der «Uhr» dre-
hen sich stetig Fächer. Zu spät eingeworfene Marken landen im falschen Fach – der Be-
amte ist entlarvt. (Gemälde von Egbert van Heemskerk II)
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1837: In Glarus haben die Arbeiter der Tuchdruckerei Trümpy die Nase voll. Sie streiken.
Der Grund: eine Fabrikglocke, die zu Arbeitsbeginn und -ende läutet. Wer am Morgen
beim Schlag der Glocke nicht vor der Fabrik steht, soll eine Busse zahlen. Die Arbeiter
streiken erfolglos. Zu dieser Zeit orientiert sich das Gros der Bevölkerung noch an der
Kirchturmuhr. (Bild: Ikiwaner; die Stadtkirche Glarus wurde in den Jahren 1863 bis 1866
als Ersatz für die beim Stadtbrand im Mai 1861 zerstörte Vorgängerkirche erbaut.)
1855: An der Weltausstellung in Paris wird die tragbare Wächter-Kontrolluhr des Deut-
schen Johannes Bürk gezeigt. Nachtwächter müssen Schlüssel, die sie bei ihrem Kon-
trollgang vorfinden, in der Uhr drehen. Die Erfindung verkauft sich gut: bei Fabriken,
Stadtbehörden, Eisenbahn und Bergwerken.
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18./19. Jahrhundert: Die Industrialisierung bringt neue Instrumente zur Kontrolle der
Arbeiter. Vielerorts sind es einfache Systeme: Der Portier schliesst nach Arbeitsbeginn
die Fabrikpforten. Wer zu spät kommt, erhält keinen Lohn. Oder man kontrolliert mit
Marken: Die Arbeiter nehmen ihre Blechmarke vom einen Brett und hängen sie an ein
anderes Brett, in einen Kasten. Der wird bei Arbeitsbeginn verschlossen. Einen Schub
erhält die Kontrollapparate-Herstellung in den 1880er Jahren. Die einen Modelle drucken
die Nummer des Angestellten und die Zeit auf einen Papierstreifen, sobald der Arbeiter
seinen persönlichen Schlüssel in die Uhr steckt. Andere funktionieren wie heute manche
Mehrfahrtenkarten, die man am Apparat entwertet. Datum und Zeit werden darauf einge-
tragen. (Bild: Die Montagehalle der Maschinenfabrik Escher Wyss in Zürich in der Neu-
mühle im Jahr 1875; aus Hans-Peter Bärtschi: "Industrialisierung, Eisenbahnschlachten
und Städtebau")
1877: Die Stimmbürger nehmen das erste eidgenössische Fabrikgesetz knapp an – mit
181'000 zu 170'000 Stimmen. Elf Stunden werden als Normalarbeitstag definiert. Der
Sonntag gilt in den Fabriken neu als arbeitsfrei. In den folgenden Jahrzehnten werden
Fragen diskutiert wie: Zählt es als Arbeitspause, wenn Eisenbahnarbeiter einen Schritt
zurücktreten müssen, weil ein Zug vorbeifährt? (Bild: Erste Produktionsstätte Ammann's
in Madiswil; Quelle: www.ammann-group.ch)
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1919: Die 48-Stunden-Woche setzt sich langsam durch. Im Fabrikgesetz ist sie veran-
kert, aber bei weitem nicht in allen Branchen üblich. Das Feilschen um Minuten beginnt:
Wenn schon die Wochenzeit derart beschränkt wird, wollen die Arbeitgeber das Maximum
aus den Angestellten herausholen. Nun wird mancherorts verhandelt, ob Händewaschen
in den Pausen zur Arbeitszeit zählt. (Bild: Elias Antonius Berkers; Niederlande ca. 1930)
1936: Charlie Chaplins Satire «Modern Times» zeigt die Automatisierung der Arbeit mit
ihren Folgen für den Menschen. Die Stechuhr bestimmt den Alltag der Arbeiter: Ob Pin-
kel- oder Mittagspause, ja selbst dann, als die Hauptfigur vor ihren aufgebrachten Kolle-
gen flüchtet, vergisst sie nicht, aus- und wieder einzustempeln. (Bild: Film "Modern
Times")
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1988: Das Schweizer Stimmvolk will keine gesetzlich verankerte 40-Stunden-Woche. Es
lehnt die Volksinitiative «zur Herabsetzung der Arbeitszeit» des Schweizerischen Gewerk-
schaftsbunds mit 65,7 Prozent ab. Inzwischen schaffen immer mehr Firmen Stempeluh-
ren ab und setzen mit Jahresarbeitszeit auf Flexibilität für sich und die Mitarbeiter.
Neunziger Jahre: Teilzeitarbeit und das sogenannte Homeoffice werden bedeutender, die
Kontrolle der Mitarbeitenden, die von zu Hause aus arbeiten, wird schwieriger. (Bild:
Thinkstock)
02. Mai 2014, Beobachter 9/2014
Quelle: http://www.beobachter.ch/arbeit-bildung/arbeitsrecht/artikel/arbeit_der-streit-
um-unsere-zeit/, 19.06.2015