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A r b e i t s z e u g n i s
«Häufig sind Arbeitszeugnisse unklar formuliert»Fridolin Heer befasst sich seit beinahe 15 Jahren mit Arbeitszeugnissen, vor allem in der Beratung. Der Soziologe, Sozialarbeiter und Pflegefachmann gibt wertvolle Tipps für Arbeitnehmende, wie sie mit Zeugnissen Ärger vermeiden können.
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Zwei ter Arbe i tsmarkt
Fridolin Heer, woran merkt ein Arbeitnehmer, dass sein
Zeugnis nicht gut ist?
Viele merken das an den Reaktionen anderer Leute, denen sie ihr Arbeitszeugnis vorlegen. Die Stellensuchenden vielleicht durch eine Häufung von Absagen auf Bewerbungen. Oder wenn sich eine HR-Fachperson während des Bewerbungs-verfahrens auf eine für sie unklare Formulierung im Arbeits-zeugnis konzentriert. Das kann ein Satz oder eine auffällige Standardformulierung sein, die für den Laien nichts Be-sonderes ist. Einige Arbeitnehmer erkennen selber proble-matische Textpassagen. Manchmal haben sie aber nur den Verdacht, dass etwas mit ihrem Zeugnis nicht in Ordnung ist.
Was ist überhaupt ein anständiges Arbeitszeugnis?
Das Arbeitszeugnis ist ein Nachweis über die Art und Dauer der Anstellung, meine Funktionen und meine Aufgaben so-wie die Leistung und das Verhalten. Im Erwerbsleben ist das Arbeitszeugnis das bevorzugte Instrument, um auszudrü-cken, was und wie ich gearbeitet habe. Ein auf objektiven Kriterien beruhendes Arbeitszeugnis basiert auf den sechs Grundsätzen der Zeugniserstellung und -interpretation – Klarheit, Wahrheit, Wohlwollen, Vollständigkeit, Einheit-lichkeit und Individualität.
Haben Sie schon mal ein Zeugnis gesehen, über das Sie
erschrocken sind?
Ja, schon einige. Ich war rund elf Jahre lang in der Beratungs-stelle impuls-treffpunkt des Schweizerischen Arbeiterhilfs-werks (SAH) Zürich als Sozialarbeiter, Co-Leiter und gegen Ende als Leiter tätig. Da erhielten wir oft jene Klienten zugewiesen, für die eine genaue Beurteilung und gegebenen-falls eine Um- beziehungsweise Neuformulierung nötig war. Ich sah öfter Arbeitszeugnisse, die sehr unklar formuliert, unvollständig oder subjektiv gefärbt waren.
Was heisst das?
Diese Zeugnisse enthielten Textpassagen, in denen stand, der Mitarbeiter sei als Mensch schlecht, nicht seine Arbeits-leistung oder Aspekte seines Verhaltens. In sehr deutlichen Formulierungen beschrieben da die Arbeitgeber ihre Mit-arbeitenden. Ausserdem sah ich Zeugnisse, die sehr detail-liert berichteten, welche Krankheit der Arbeitnehmer hatte oder wie es zur Auflösung eines Arbeitsverhältnisses kam.
Zum Beispiel?
Ein Angestellter hatte in den Arbeitspausen Alkohol ge-trunken. Dies wurde ausführlich im Arbeitszeugnis erklärt, obwohl im Verhältnis zur gesamten Anstellungszeit nur ein kleiner zeitlicher Rahmen betroffen war und kein schwer-wiegender Einfluss auf die Sicherheit, die Ausübung der Aufgaben und die Abläufe in der Firma bestand. Derartige Formulierungen sind aus Daten- und Persönlichkeitsschutz-gründen nicht erlaubt. Das Arbeitszeugnis ist kein Datenträger für beliebige Informationen.
Wie hätte der Arbeitgeber denn auf ein Problem hinwei-
sen können?
Das Arbeitszeugnis ist ein Beschäftigungs- und Fähigkeits-
nachweis in Form einer privatrechtlichen Urkunde und
hat grundsätzlich das Fortkommen des Arbeitnehmers zu
fördern. Es sollte darum:
1. klar formuliert sein
2. der Wahrheit entsprechen
3. für den Arbeitnehmer wohlwollend formuliert sein
4. einheitlich sein
5. vollständig sein
6. individuell auf die persönliche berufliche Entwicklung
des Arbeitnehmers eingehen und seine berufs-
spezifischen, arbeitsplatzbedingten sowie persönlichen
Besonderheiten berücksichtigen
D A s A r b e i t s z e u g n i s
Sechs Eigenschaften
Eine fristlose Entlassung führt in den meisten Fällen zu einem «krummen Datum», das heisst eine Anstellung endet nicht auf Monatsende. Dies ist ein erster Hinweis auf eine mögliche Unstimmigkeit. Meist finden sich dann explizite Austrittsformulierungen wie beispielsweise «Wir sahen uns gezwungen, das Arbeitsverhältnis per [Datum] aufzulösen». Ebenso häufig finden sich unklare Formulierungen wie beispielsweise «Der Arbeitnehmer bemühte sich, die ihm gestellten Aufgaben … », was dem Experten verrät, dass er zwar eine Motivation zeigte, die ihm gestellten Aufgaben aus zuführen, diese aber nicht zur Zufriedenheit des Arbeit-gebers ausgeführt hat. Ein weiteres Beispiel war ein Arbeits-zeugnis mit einer sehr kurzen Leistungs- und Verhaltens-beurteilung – zwei bis drei Sätze – über einen Mitarbeiter, der sehr lange bei derselben Firma angestellt war. Diese extreme Kompaktheit ist für eine stellensuchende Person ebenso hin-derlich wie ein ausführlicheres, aber schlecht geschriebenes Arbeitszeugnis.
Sollen die Mitarbeitenden regelmässig Zwischenzeug-
nisse anfordern?
Ja. Das empfehle ich, besonders bei Wechsel von direkten Vorgesetzten. Achten Sie bei Antritt einer Stelle darauf, dass Ihre Aufgaben konkret und genau in einem Stellenprofil definiert sind. Darin hält der Arbeitgeber fest, welche Auf-gaben oder Funktionen der Arbeitnehmer zu erfüllen hat und welche nicht. Besonders hilfreich sind klare Abgren-zungen. Daneben sollten jährliche Qualifikationsgespräche durchgeführt werden, die dann unbedingt schriftlich doku-mentiert werden müssen.
Warum sind diese Qualifikationsgespräche so wichtig?
Besonders am Ende von langen Anstellungsverhältnissen wird es in den meisten Fällen sehr problematisch, genau
Interview Marc Siegel Fotos Simone Gloor
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Zwei ter Arbe i tsmarkt
nachzuvollziehen, wie der Mitarbeiter gearbeitet hat und wie er sich über die gesamte Anstellungsdauer hinweg verhalten hat. Insbesondere wenn direkte Vorgesetzte die Firma verlas-sen, fehlt am Schluss deren Beurteilung. Vielfach erstellen Personalfachleute Arbeitszeugnisse aufgrund von wenigen Unterlagen wie Arbeitsvertrag, Schlussbeurteilung und even-tuell Stellenprofil. Je mehr Mitarbeiterbeurteilungen und Zwischenzeugnisse vorliegen, desto besser.
Was ist der oberste Grundsatz, den ein Arbeitszeugnis
erfüllen soll?
Zeugnisse müssen das wirtschaftliche, sprich: berufliche Fortkommen des Arbeitnehmers fördern. Das ist die herr-schende Rechtsauffassung. Das Arbeitszeugnis soll sich auf die Punkte konzentrieren, die der Mitarbeiter gut gemacht hat. Ich gebe zu, dass das in manchen Fällen eine grosse Herausforderung sein kann. Vor allem dann, wenn mit zu-sammenfassenden, allgemeinen Leistungs- und Verhaltens-beurteilungen gearbeitet wird.
Sie meinen, der Arbeitgeber hat Mühe damit, wohl wollend
zu sein?
Ich denke schon, dass er ab und zu Mühe hat, auf objektiven Kriterien beruhend die positiven Punkte herauszufiltern. Erfüllt ein Mitarbeiter zum Beispiel von zehn aufgelisteten Aufgabenpunkten drei oder vier sehr gut, die anderen aber ausgeprägt schlecht, dann kann dies zwar zur Entlassung führen. Befolgt der Arbeitgeber aber beim Ausstellen des Arbeitszeugnisses korrekt die Grundsätze der Klarheit und des Wohlwollens gegenüber dem Arbeitnehmer, so wird er sich auf die Punkte konzentrieren, die dieser sehr gut aus-geführt hat. In kritischen Fällen nimmt er Abstand von einer zusammenfassenden Leistungsbeurteilung und konzentriert sich auf die gut oder gar sehr gut ausgeführten Punkte.
In welchen Fällen sollen die Arbeitnehmer unbedingt Rat
beiziehen?
Ich empfehle den Arbeitnehmern, sich Rat zu holen, bevor sie den Rechtsweg beschreiten. Das heisst, sie sollen Freunde oder Bekannte ihres Vertrauens kontaktieren und mit ihnen das Zeugnis oder die unklaren Formulierungen besprechen. Schliesslich sind wir fast alle Erwerbstätige und können auf Grund unserer Erfahrungen mit eigenen Arbeitszeugnissen ein erstes Feedback geben. Eine weitere gute Möglichkeit ist die Kontaktaufnahme mit Fachstellen für Arbeitszeugnisse. Ist ein Stellensuchender beim RAV angemeldet, kann er sich sowieso auf dessen Unterstützung verlassen, wenn es nötig sein sollte, seine Arbeitszeugnisse genauer unter die Lupe zu nehmen. Es besteht dann die Möglichkeit einer Überweisung an eine auf Arbeitszeugnisse spezialisierte Fachstelle.
Können sich Berufsleute branchenspezifisch beraten
lassen?
Mitglieder von Berufsverbänden oder Gewerkschaften haben oft die Möglichkeit, dort ihre Arbeitszeugnisse zu bespre-chen. Zum Beispiel beim Kaufmännischen Verband Zürich. Alle diese vorgerichtlichen Abklärungen sind hilfreich, weil sie dem Arbeitnehmer Klarheit über seine Chancen und Mög-lichkeiten geben, falls er den Rechtsweg beschreiten möchte.
Fridolin Heer, 45, ist Sozio-
loge und dissertiert derzeit an der
Universität Freiburg zum Thema
Arbeitszeugnis. Vor seinem
Studium an der Philosophischen
Fakultät der Universität Zürich
in Soziologie, Wirtschafts- und
Sozial geschichte sowie Sozial- und
Präventivmedizin hatte er einen
Abschluss als Pflegefachmann HF
erworben und das FH-Diplom in
Sozialer Arbeit gemacht. Von 2001
bis 2012 war er Berater, Co-Leiter
und Leiter an der Beratungs stelle
impuls-treffpunkt des Schweizeri-
schen Arbeiterhilfswerks (SAH) Zürich.
Er hat verschiedene Lehraufträge
und führt Beratungen durch.
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Zwei ter Arbe i tsmarkt
Ein simpler, aber oft ausschlaggebender Punkt ist beispiels-weise, ob bei einem rechtlichen Verfahren die vorgegebenen Fristen überhaupt noch eingehalten werden können.
Suchen bei Ihnen auch Arbeitgeber Rat?
Trotz der klaren Ausrichtung bei impuls-treffpunkt SAH Zürich auf die Arbeitnehmenden und Stellensuchenden riefen immer wieder mal Arbeitgeber bei uns an. Die Berater suchen stets von sich aus das Gespräch mit den Arbeitgebern, wenn dies sinnvoll ist. Die Arbeitgeber waren teilweise un sicher, wie sie heikle Passagen in Zeugnissen formulieren sollten oder wie sie in schwierigen Situationen den Grund-sätzen für Zeugnisse am besten gerecht werden konnten. Das Beratungsgespräch wurde jeweils sehr geschätzt.
Die Arbeitgeber wollen den Mitarbeitenden nicht mut willig
schaden.
Nein, nicht immer. Oft ist die Ursache Unwissenheit und Zeitmangel – vor allem in den KMU. Dort regeln ja häufig die Geschäftsleiter oder das Sekretariat die Personalangelegen-heiten, weil kein eigener oder extern beauftragter Personal-dienst vorhanden ist.
Sind kodierte Floskeln noch immer in Gebrauch?
Tatsächlich, diese Floskeln werden vor allem bei allgemeinen, zusammenfassenden Leistungs- und Verhaltensbeurtei-lungen gerne noch gebraucht, wie bei der Zufriedenheits-erklärung. Ein Glas, das voll ist, kann aber nicht «voller» sein, so wie die bekannte Formulierung «zu unserer vollsten
Zufriedenheit» suggeriert. Ein sogenannter Pleonasmus. Das sind aber keine Codes im eigentlichen Sinne. Fachleute sprechen hier von Standardformulierungen. Arbeitgeber können sie verwenden, das ist rechtlich problemlos, solange nicht der Grundsatz der Klarheit tangiert wird. Früher verwendeten die Zeugnisautoren dagegen branchentypische Geheimformulierungen mit einer entsprechenden Bedeu-tung, also wirkliche Codes. Sie waren branchenintern nur für die beteiligten Firmen entschlüsselbar.
Fällt Ihnen ein Beispiel ein?
Manchmal waren das bestimmte Wörter, Sätze oder gar Symbole in einer bestimmten Anordnung von Punkten und Kommas. Also wenn die Elemente Punkt – Punkt – Komma vor kamen, bedeutete dies: Der Mitarbeiter ist Mitglied einer Gewerkschaft und wird daher nicht zur Anstellung empfoh-len. Dies ist aber glücklicherweise nur noch Geschichte.
Standardformulierungen lassen sich bestimmt einfach in
die Zeugnisse einkopieren.
Ja, eine praktische Zeitersparnis. Indem der Zeugnisautor Standardformulierungen wie Bausteine in den Text einfügt, entsteht vielleicht ein komplettes Arbeitszeugnis, aber häu-fig nicht ein sehr gut auf den Arbeitnehmer zugeschnittenes.
Mit kleinen, individuellen Variationen lassen sich dann aber schon wesentlich präzisere Arbeitszeugnisse gestalten. Zum Beispiel wenn nicht nur «zu unserer vollen Zufriedenheit» geschrieben wird, sondern der Leistungsbereich um weitere individuelle, auf die ausgeführten Aufgaben und die Funk-tion bezogene Leistungs- und Verhaltensbewertungen er- gänzt wird. Da kommen mir übrigens die kleinen, aber bedeutungsvollen Wörtchen «stets», «immer» oder «jeder-zeit» noch in den Sinn. Diese dokumentieren die Tatsache, dass ein Mitarbeiter während der gesamten Anstellungszeit die geforderte Leistung beziehungsweise das gewünschte Verhalten erfüllt hat. Diese Zeitfaktoren sind ebenso wichtig.
Was bedeutet das, wenn der Arbeitnehmer ein Zeugnis
erhält mit der Bemerkung «Dieses Zeugnis ist nicht
codiert»?
Der Satz könnte auch lauten «… ist transparent verfasst». Codes sind von Gesetzes wegen verboten. Deshalb sind solche Vermerke nicht zwingend notwendig und sind eher ein Bekenntnis der Firma, gewisse Arbeitszeugnisregeln einzu-halten. Das Ausstellen von Arbeitszeugnissen ist Teil der nach-wirkenden Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Dieser ist dazu verpflichtet, den Mitarbeiter anhand objektiver Kriterien zu beurteilen, welche er definiert und mit dem Arbeitnehmer bespricht sowie im Arbeitsvertrag und im Stellenprofil fixiert. Massgebend ist hier deshalb nicht die persönliche Meinung eines Vorgesetzten. Auch ein als uncodiert deklariertes Arbeitszeugnis wird immer von Zeugnisexperten anhand der sechs Grundsätze sorgfältig und umfassend geprüft. n
«Manchmal enthalten Zeugnisse Text passagen, in denen steht, der Mitarbeitende sei als Mensch schlecht.»
r e c h t l i c h e M ö g l i c h k e i t e n
Wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer uneinig sindPrivatrechtlich Angestellte können das Ausstellen eines
Arbeitszeugnisses oder einer Arbeitsbestätigung sowie die
Abänderung eines bestehenden Zeugnisses beziehungs-
weise einer bestehenden Bestätigung beim Gericht am Ort
des Betriebes oder Sitz des Arbeitgebers mit einer Klage
anfordern. Die Klage ist zuerst bei der lokalen Schlichtungs-
behörde einzureichen. Die nächste Instanz ist das kanto-
nale Arbeitsgericht, respektive Bezirksgericht. Häufig ist das
Arbeitsgericht eine spezialisierte Abteilung des Bezirks ge -
richts. Das Verfahren ist grundsätzlich kostenlos bis zu
einem Streitwert von 30 000 Franken, wobei ein Arbeits-
zeugnis praxisgemäss einen Streitwert von etwa einem
Monatslohn hat; bei Unterliegen ist der anwaltlich vertrete-
nen Gegenpartei eine Parteientschädigung zu bezahlen.
Die Verjährungsfrist beträgt mindestens fünf Jahre. Auch
Zwischenzeugnisse können Arbeitnehmende während eines
laufenden Arbeitsverhältnisses anfechten. Öffentlich-recht-
liche Arbeitsverhältnisse wie Anstellungen in der Verwaltung
oder in staatlichen Unternehmen unterstehen eigenen
Regeln. Der Rechtsweg richtet sich nach den jeweiligen
Personalerlassen von Bund, Kantonen und Gemeinden.