Vorlesung Entwicklungspsychologie IKognitive Entwicklung nach Jean Piaget
J. Gowert Masche31.05.2006
Organisatorisches
Klausur für EGL-M-Studierende:Modul 1: voraussichtlich 26.07.06, 14:00-16:00,
HG 114Anmeldung: 19.-22.06., 09:00-16:00 Uhr bei Herrn
Langer, FB Psychologie (Gutenbergstr. 18), Raum 65Modul 6: Klausur erst im Anschluss an die zweite
Vorlesung im WintersemesterEntwicklungspsychologie kann nur entweder im
Modul 1 oder im Modul 6 belegt werden.
Semesterüberblick26.04.: Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie10.05.: Vorgeburtliche Entwicklung, Entwicklung von
Wahrnehmung und Psychomotorik17.05.: Frühe Eltern-Kind-Interaktion, Bindungstheorie24.05.: Soziale Kognition31.05.: Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget07.06.: Begriffliches Wissen, Problemlösen14.06.: Lerntheorien21.06.: Motivation, Emotion, Handlungsregulation05.07.: Entwicklung unter ökologischer Perspektive12.07.: Familienentwicklung19.07.: „Zurück zur Natur“: Biologische
Entwicklungsgrundlagen
31.05.: Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget
• Einführung: Prinzipien der Entwicklung • Stufen kognitiver Entwicklung• Erklärung der Entwicklung• Einordnung, Anwendung und Kritik
Literatur zu heute: v. a. Oerter & Montada (2002), Kap. 11, sowie weitere Texte, die nicht Prüfungsliteratur sind.
Einführung: Prinzipien der Entwicklung
Einflüsse auf Piaget (1)• * 1896 Neuchâtel, † 1980 Genf
• Vater Literaturwissenschaftler und Historiker, neurotische Mutter
• schon als Schüler Veröffentlichungen über Weichtiere
• Onkel Schriftsteller: bringt Piaget darauf, die Entstehung von Erkenntnis untersuchen zu wollen.
• mit 22 Doktor (Zoologie) mit Dissertation über Weichtiere
• In Paris Mitarbeiter von Binet/Simon; dort gemerkt, dass Entstehung von Erkenntnis an Kindern studiert werden kann. Entwicklung der eigenen Methoden.
• Professuren für Geschichte naturwissenschaftlichen Denkens, Soziologie, experimentelle Psychologie
Einflüsse auf Piaget (2)• Zoologie: Anpassung des Organismus an die Umwelt und der
Umwelt an den Organismus
• Philosophie, „Geist der Zeit“: genetischer Ansatz zur Erklärung von Erkenntnis
• James Mark Baldwin (1861-1934): Konzepte wie genetische Epistemiologie, Schema, Adaptation, Assimilation, Akkommodation, Entwicklung über Stufen, motorischer Ursprung des Geistes, Kreisreaktionen
• Pierre Janet (1859-1947): Denken als verinnerlichte Diskussion, Verstehen als „Know-How“, Differenzierung
• Edouard Claparède (1873-1940): Bewusstwerdung, Motivation von Denkhandlungen, Gleichgewichtsprozesse
Struktur und Inhalt• Schema: Das Gemeinsame an Wiederholungen /
Anwendungen einer (Denk-) Handlung• Strukturen: Organisierte Verbindungen von Schemata• Kriterien von Strukturen:
– Negation– Addition– Umwegleistungen– Nicht-Veränderung
• Inhalt: jeweilige Gegenstände, auf die Schemata angewandt werden. Für Piaget weniger interessant.
Gruppe und Gruppierung• Mathematische Begriffe zur Beschreibung kognitiver Operationen• Gruppe: System aus Elementen und einer Operation, die folgenden
Regeln gehorcht:– Geschlossenheit (Komposition): Operation an zwei Elementen der
Menge gibt wieder ein Element der Menge– Identität: Es gibt genau ein Element, das bei Operation das andere
Element nicht ändert– Inversion (Reversibilität): Zu jedem Element gibt es genau ein Element,
das bei der Operation das Identitätselement ergibt– Assoziativität: z. B. (a + b) + c = a + (b + c)
• Gruppierung: wie Gruppe und– spezielle Identität (Tautologie): bei qualitativen Elementen: jedes
Element hat ein „Partnerelement“, das bei der Operation nichts ändert (z. B. bei Klassenaddition)
Die INCR-Vierergruppe• Beispiel: Balkenwaage, an die in
unterschiedlichem Abstand verschiedene Gewichte gehängt werden können. Wie kann Gleichgewicht entstehen?
(p q) (p q)
(p q) (p q)
Reziprozität
Reziprozität
Korrelation KorrelationNegation
leichtes Gewicht pin großem Abstand q
= (p q) = Wegnehmen des Gewichts
Aufhängen eines schweren Ausgleichsgewichts in kleinem Abstand
= (p q) = Wegnehmen des schweren Gewichts in kurzem Abstand auf gleicher Seite
Entwicklungsrichtung• Integration und Differenzierung• Interiorisierung
– Erkenntnis durch handelnden Austausch mit Welt1. sensumotorische Schemata2. konkrete kognitive Schemata3. formale (abstrakte) Schemata– oft Überlagerung mehrerer Repräsentationsstufen (z. B.
konkret + abstrakt)
Dezentrierung:1. Egozentrismus: Befangenheit von vordergründigem Schema2. Dezentrierung: Anreicherung / Koordination mit neuen
Schemata3. Reversibilität
Stufenkonzept• Jede Stufe integriertes Ganzes, qualitativ verschieden
von anderen Stufen• Jede Stufe bildet Grundlage für nächste. Strukturen
verschwinden nicht, sondern werden reorganisiert• invariante Stufensequenz• Universalität• Auf jeder Stufe zunächst Aufbau neuer Strukturen,
dann Organisation und Konsolidierung• Verschiebungen (décalages)
– horizontal– vertikal
Stufen kognitiver Entwicklung
Überblick• Sensumotorische Stufe (0-2)
• Konkrete Stufe– voroperatorisches Denken
• symbolisches Denken (2-4)• anschauliches Denken (4-7)
– konkret-operatorisches Denken (7-11)
• Formale Stufe: formal-operatorisches Denken (ab 12)
1. Sensumotorische Stufe• Entwicklung vorwiegend auf Ebene von Wahrnehmung
und Motorik• Unterstufen:
1. Übung angeborener Mechanismen (0-4 Wochen)2. Primäre Kreisreaktionen (0;1-0;4)3. Sekundäre Kreisreaktionen (0;4-0;8)4. Koordinierung erworbener Handlungsschemata und Anwendung
auf neue Situationen (0;8-1;0)5. Tertiäre Kreisreaktionen (1;0-1;6)6. Übergang von sensumotorischem Intelligenzakt zur Vorstellung
(1;6-2;0)
Kreisreaktionen• Kreisreaktionen = Wiederholung von Handlungen• Primär: Organismus erhält aktives Schema aufrecht
Übung, Konsolidierung• Sekundär: Organismus aktiviert als lustvoll erlebtes
Schema bei passender Gelegenheit erneut Schema als Mittel zum Zweck
• Tertiär: Organismus variiert Ausführung des Schemas, um zu erkunden, wie der Effekt variiert Erfahren von Neuem
• Flammer (2002) vermutet, dass Kreisreaktionen lebenslang für Entwicklung wichtig sind.
Objektpermanenz• Objektpermanenz: Wissen, dass Objekte fortexistieren, unabhängig von
deren Sichtbarkeit• Entwicklung auf den einzelnen Unterstufen:
1. Verfolgen von Objekt mit Blick, kein Suchen: Objekt „Folge“ des Hinguckens2. Falls Objekt aus Blickfeld, Fortsetzung der Handlung, Suchen dort, wo es
verschwand oder wo es auftauchte: Kind versucht durch erneutes Hingucken Objekt hervorzurufen
3. Unmittelbares, aber nicht verzögertes Suchen an richtiger Stelle: Teilweise Vorhersage des „Entstehens“ des Objekts
4. Findet teilverdecktes Objekt. Ganz-verdecktes Objekt wird gesucht, aber (a) Suche fortgesetzt nach Ergreifen, (b) findet Objekt nur, wenn nur ein Ort existiert, (c) sucht am ersten Ort, selbst wenn es Ortswechsel beobachtet hat: Objekt unabhängig von Handlung, aber noch nicht vom Ort
5. Sucht an beiden Orten (später gleich am richtigen Ort): Objekt unabhängig von Handlung und Ort, aber Raumverlagerungen nur in einer Richtung erfasst
6. Hütchenspiel: Suchen in der gesehenen, später der umgekehrten Sequenz der Orte: Koordination der Positionsveränderungen von Objekt und Kind
Kritik an Piagets Befunden zur Objektpermanenz
• Gegenposition: Objektpermanenz praktisch ab Geburt• Fixationsdauer mit 0;3.5: Kind erwartet fortgesetzte
Bewegungsbahn eines verdeckten Objekts und schaut länger, wenn Objekt ausbleibt
• Unterschiedliche Performanz, je nachdem, wie Objekt verdeckt wird oder selbst in Versteck „wandert“
• Suchen an falscher Stelle evtl. ein Perseverationsproblem: Hand geht dorthin, wo es früher schon einmal geklappt hat, die Kinder schauen aber dahin, wo Objekt wirklich ist
Weitere Hinweise auf beginnende Vorstellung
• Nachahmungsverhalten• Symbolhandlungen, beobachtet ab 0;11
2. Voroperatorische Stufe
• Symbolisches Denken (2-4): Wörter für Objekte– Animismus– Artifizialismus– Finalismus– Egozentrismus– Irreversibilität (Unidirektionalität)
• Anschauliches Denken: Begriffsbildung– Begriffe an Anschauung gebunden– Denken in Bildern– Beispiel: Zuordnung einer gleichen Anzahl von Gegenständen
nur möglich, wenn deren Anordnung unverändert bleibt.
Typische Versuchsanordnungen
• Perspektiven- und Rollenübernahme: Drei-Berge-Versuch• Zentrierung auf einen Aspekt: Invarianzaufgaben
– Flüssigkeit: Umgießversuch („Umschüttversuch“): ab 6-7– Menge: Knetmassekugeln: ab 6-7– Anzahl: 2 Perlenreihen, deren eine auseinandergezogen wird: ab 6-7– Länge: 2 Stöcke, davon einer verschoben: ab 6-7– Fläche: Anordnung von Bauklötzen: ab 9-10– Volumen (Wasserverdrängung): ab 9-12
• Kategorisierungsleistungen: Klassifizierungen von Objekten• Unidirektionalität: Klasseninklusion
• Kritik: – Zu komplexe Aufgaben, z. T. Verständnisprobleme bei Fragestellung– Vermutlich keine Zentrierung, sondern nur additive Verknüpfung der Dimensionen
h: 3.5 cmd: 3.0 cmu: 13.0 cmf: 10.5 cm2
v: 24.7 cm3
h: 3.5 cmd: 3.0 cmu: 13.0 cmf: 10.5 cm2
v: 24.7 cm3
h: 3.5 cmd: 3.0 cmu: 13.0 cmf: 10.5 cm2
v: 24.7 cm3
h: 4.5 cmd: 2.0 cmu: 13.0 cmf: 9.0 cm2
v: 14.1 cm3
h: 3.5 cmd: 3.0 cmu: 13.0 cmf: 10.5 cm2
v: 24.7 cm3
h: 5.3 cmd: 2.0 cmu: 14.5 cmf: 10.5 cm2
v: 16.5 cm3
h: 3.5 cmd: 3.0 cmu: 13.0 cmf: 10.5 cm2
v: 24.7 cm3
h: 7.9 cmd: 2.0 cmu: 19.8 cmf: 15.8 cm2
v: 24.7 cm3
3. Konkret-operatorische Stufe
• Erschließen der Wirklichkeit• Dezentrierung• Berücksichtigung von Transformationen• Reversibilität
Bewältigen der vorgenannten Versuchsanordnungen Gruppierungen Invarianz Klasseninklusion Multiplikation von Klassen (Jungen, Mädchen, Kinder) Reihenbildung nach einer Dimension Multiplikation der Seriation (Reihenbildung nach 2 Dimensionen) Zahlbegriff
• Aber Denken auf Gegenstände und konkrete Handlungen begrenzt
4. Formal-operatorische Stufe
• Operieren mit Operationen• Abstraktheit• Beschäftigung mit dem Möglichen• hypothetisch-deduktives Schließen• Interpropositionalität (Aussagenlogik)• Kombination und Permutation von Möglichkeiten• Variablenkontrolle• Integration von Negations- und Reziprozitätsreversibilität
Typische Versuchsanordnungen
• Negations- und Reziprozitätsreversibilität: Balkenwaage• Variablenkontrolle:
– Pendelversuch– Versuch mit 4 Chemikalien, die zusammen mit weiterer
Substanz in bestimmter Kombination farbig werden. Kind muss richtige Kombination herausfinden.
• Verständnis von Proportionen– Fischfütter-Aufgabe– Orangensaft-Wasser-Aufgabe
Verständnis von Proportionen
“Wenn du die Gläser auf der linken Seite und die auf der rechten Seite mischst, wird dann das linke oder rechte Gemisch mehr nach Saft schmecken?”
Voroperatorisch 1Voroperatorisch 2
Konkret-operatorischKind zählt nur die Saftgläser.
Kind zählt beide Sorten von Gläsern.
Formal-operatorischVolles Verständnis für Proportionen.
Erklärung der Entwicklung
Funktionale Invarianten• Adaptation (Anpassung) zwischen Organismus und Welt
– Assimilation des Gegenstands an Schema– Akkommodation des Schemas an Gegenstand
• Arten der Assimilation:– reproduktive (funktionale): Wiederholung des Schemas bei
minimaler Akkommodation– generalisierende: Anwendung des Schemas auf ähnliche
Gegebenheiten (etwas mehr Akkommodation)– Wiedererkennensassimilation: Falls Gegenstand auf Schema
passt, wird er erkannt.– Reziproke Assimilation: Ein Schema ordnet sich ein anderes
unter oder wird untergeordnet (Akkommodation). Führt zu hierarchischer Struktur.
Äquilibration• Äquilibration: generelle Entwicklungsrichtung auf ein
Gleichgewicht hin (wird nie auf Dauer erreicht)• Ungleichgewicht tritt auf zwischen...
– Schema und Weltgegebenheit– verschiedenen Schemata– zwischen Schema und übergeordneter Struktur
• Diese Ungleichgewichte heißen auch kognitive Konflikte• Ungleichgewicht führt oft zu Akkommodation der
Schemata
Einordnung, Anwendung und Kritik
Einordnung• Menschenbild
– Organismisch-interaktionistisch: Mensch in Austauschprozess mit Umwelt (Assimilation, Akkommodation)
– konstruktivistisch– nicht endogenistisch– individualistisch (soziale Beziehungen spielen kaum Rolle)
• Konzentration auf kognitive Entwicklung• Betonung von Entwicklung in Kindheit• qualitative Entwicklung
Anwendung
• Lehrer kann nicht „eintrichtern“, sondern nur Hinführen und Gelegenheiten arrangieren
• Schülerfragen wichtiger als Lehrerfragen• Lehrer sollte Zeit für Äquilibration lassen• Anzustreben ist optimale Diskrepanz zwischen
Schemata und Inhalten• Gewährenlassen ermöglicht Kreisreaktionen
(hoffentlich auch nützliche...)• Vermeiden zu früher Formalisierung
Kritik• Unterschätzte Kompetenzen• Vernachlässigung sozialer Faktoren• Stadientypische Gesamtstrukturen
– horizontale Décalages– vertikale Décalages
• Keine Untersuchung von Wirkursachen• Vernachlässigung der Entwicklung nach der Adoleszenz
• Evtl. sind Teile der Theorie mehr eine Meta-Theorie, da nicht nachprüfbar.