Determinanten und Rahmenbedingungen der Gesundheit .
Zur Bedeutung einer intersektoralen gesundheitsfördernden Gesamtpolitik
Prof. Lotte Kaba-Schönstein
Hochschule Esslingen
Tagung: Was es bedeutet, gesund zu sein Evangelische Akademie Bad Boll
5. bis 7. Nov. 2010
Inhalt
� Bedingungsfaktoren/Determinanten von Gesundheit und Krankheit
� Soziale Determinanten
� Gesundheitsförderung
� Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik und intersektorale Zusammenarbeit
Bedingungen für Gesundheit und Krankheit
� Mehrheit der Bevölkerung in hoch entwickelten Gesellschaften lebt in materiellem Wohlstand und hat günstige Lebensbedingungen
� massenhaftes materielles Elend, wie es noch vor 100
Jahren verbreitet war, ist erfolgreich bekämpft worden
� deutliche Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung
� Verlängerung der Lebensdauer: seit dem 18. Jahrhundert fast verdoppelt
� Aber: Problem der gesundheitlichen Ungleichheit („Lücke“/gap/sozialer Gradient)
� erweitert nach Hurrelmann, K. (2006): Gesundheitssoziologie, 19ff.
Bedingungen für Gesundheit und Krankheit
Die Ausprägung des Gesundheits- und Krankheitsstatus hat sich
seit 1900 stark verschoben:
� Verbreitung der „akuten“ Krankheiten ist zurückgegangen
� Lebenslang anhaltende gesundheitliche Beeinträchtigungen,
„chronische“ Krankheiten haben stark zugenommen
� Sie stellen große Herausforderungen für das Gesundheitsversorgungssystem dar und erfordern größere Anstrengungen in Gesundheitsförderung und Prävention
Determinanten/BedingungsfaktorenKanada: Vier Gesundheitsfelder (Health Fields) Das sozialökologische Modell von Hancock
Quelle: Labisch, A. (1989) In: Waller, H. (2006): Gesundheitswissenschaft, S. 30.
Determinanten (Bedingungsfaktoren) für Gesundheit und Krankheit (Hurrelmann 2006/2010)
3 Gruppen von Faktoren:
� Personale Faktoren: genetische Disposition, die körperlich-psychische Konstitution und die ethnische Zugehörigkeit
� Verhaltensfaktoren:
Essgewohnheiten, körperliche Aktivität und psychische Spannungsregulation
� Verhältnisfaktoren:
sozioökonomischer Status, Bildungsangebote und wirtschaftliche Verhältnisse sowie
Komponenten der Gesundheits- und Krankheitsversorgung
Bedingungsfaktoren des Gesundheitsstatus der Bevölkerung
Quelle: Hurrelmann, K. (2006):Gesundheitssoziologie, S. 22.
Hauptdeterminanten der Gesundheit
(Dahlgren/Whitehead, 1991)
Soziale Determinanten der Gesundheit
1. Das soziale Gefälle/der Gradient
2. Stress
3. Frühe Kindheit
4. Soziale Ausgrenzung
5. Arbeit
6. Arbeitslosigkeit
7. Soziale Unterstützung
8. Sucht
9. Lebensmittel
10. Verkehr
WHO Europa 2004:
Soziale Determinanten von Gesundheit: Die Fakten
Determinanten: Ressourcen und Risiken
� Die Bedingungsfaktoren bilden gesundheitliche Chancen ab
� Die Determinanten „programmieren“ positive oder negative Voraussetzungen für Gesundheit:
Ressourcen und Risiken
Gesundheitsförderung und Prävention: Strategien und Methoden
Quelle: Waller, H. (2006): Gesundheitswissenschaft, S. 161.
Erkenntnisse Determinanten-Perspektive
� Gesundheit kann nicht alleine durch den Gesundheitssektor hergestellt werden
� Intersektorale Gesamt-Politik ist notwendig
� Niedriger sozio-ökonomischer Status ist bedeutendes Risiko
� Bildung ist zentrale Ressource
� Vorsicht: Individualisierung und Schuldzuweisung
(victim blaming)
Verflechtungen der Bedingungsfaktorenerfordern Multidisziplinarität
� Faktorengruppen beeinflussen sich gegenseitig
� Konzentration auf personale Faktoren wird der Komplexität der Determinanten nicht gerecht
� Die meisten chronischen Erkrankungen entstehen multifaktoriell
� Genetische Dispositionen, neuronale Aktivitäten, individuelles Verhalten und Umwelt stehen in dynamisch-interaktionistischem Wechselspiel
Schlüsselrolle des Gesundheitsverhaltens
Quelle: Hurrelmann, K. (2006): Gesundheitssoziologie, S. 24.
Verhältnisse und Verhalten und die Bedeutung für das Gesundheitsverhalten
� Gesellschaftliche Rahmenbedingungen wirken als einschränkende oder ermöglichende Bedingungen für das Gesundheits-Handeln.
� Soziale und physikalische Umwelt entscheidet über Spielräume für das Gesundheitshandeln, für Muster des Umgangs mit dem Körper, für Regulierung von Befindlichkeit, Leistungs- und Genussfähigkeit, Ernährung, Bewegung, Spannungsbewältigung
� Lebensbedingungen prägen Gesundheitsverhalten und (lebens-) lang anhaltende Handlungsmuster, die als (gesundheitsbezogener) Lebensstil bezeichnet werden.
� Soziale Determinanten sind „unentrinnbare“ Verhältnisse und vom Individuum nur teilweise zu beeinflussen.
Kritik an der "traditionellen" Gesundheitserziehung und Prävention
Konzeptionelle Schwächen und mangelhafte Wirksamkeit wegen:
� Orientierung ausschließlich an Risiken und Krankheit
� Einseitig medizinische Sichtweisen und Handlungsorientierungen
� Expertenorientierung, autoritäres und direktives Vorgehen
� Individualisierung, Schuldzuweisungen (Blaming the victim)
� Konzentration auf individuelle Verhaltensweisen, Vernachlässigen
von Verhältnissen und Bedingungen des Gesundheitshandelns
� Verstärken gesundheitlicher Ungleichheiten durch "unreflektierte Mittelschichtsorientierung
„Gesundheitsförderung“ (Health Promotion)
� entstanden als Bezeichnung für ein gesundheitspolitisches Aktionsprogramm zum Erreichen der Ziele „Gesundheit für Alle 2000“
� Ziele und Prinzipien sind Anfang der 1980er Jahre im
Regionalbüro Europa der Weltorganisation entwickelt
und 1986 in der Ottawa-Charta zusammengefasst
worden
Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung,1986
1. Internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung
� Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen
Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über
ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur
Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.
� Um ein umfassendes körperliches, seelisches und
soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass
sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse
befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen
und verwirklichen, sowie ihre Umwelt meistern bzw. sie
verändern können.
Ottawa-Charta 5 prioritäre Handlungsbereiche/- Ebenen:
� Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik
� Schaffen gesundheitsfördernder Lebenswelten
� Unterstützung gesundheitsfördernder Gemeinschafts-aktionen
� Entwicklung persönlicher Kompetenzen
� Neuorientierung der Gesundheitsdienste
Handlungsebenen und Aktionsstrategien der Ottawa-Charta
Quelle: CNE 4/2007, S. 5 (nach WHO 1986 / Univ. Bielefeld)
Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung:3 Handlungsstrategien
� Interessen vertreten – Anwaltschaft
� Befähigen und ermöglichen
� Vermitteln und Vernetzen
Gesundheitsförderung nach dem Verständnis der WHO:
� Konzept, das bei der Analyse und Stärkung der Gesundheits-
ressourcen und -potentiale und auf allen gesellschaftlichen Ebenen
ansetzt
� Kennzeichnende Fragestellung: wie und wo wird Gesundheit
hergestellt?
� Salutogenetische Frage führt zu Identifikation von Ressourcen und
Potentialen und ermöglicht deren gezielte Stärkung
� Komplexer Ansatz, der sowohl die Verbesserung von
gesundheitsrelevanten individuellen Lebensweisen als auch von
ökonomischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Faktoren
und Lebensbedingungen und die politische Intervention zur
Beeinflussung dieser Faktoren umfasst
"Schutzfaktoren und Ressourcen" der Gesundheit
1. Soziale und wirtschaftliche Faktoren
2. Umweltfaktoren
3. Faktoren des Lebensstils
4. Psychologische Faktoren
5. Zugang zu gesundheitsrelevanten Leistungen
(Hurrelmann, Klotz, Haisch (2004) nach Naidoo/Wills 2003, Trojan 2002, Kolip 2003,
Jerusalem und Weber 2003)
Gesundheitsförderung als "Schirmkonzept" und "strategische Richtlinie"
Definiert durch Zusammenführen von zwei strategischen
Ansätzen:
� Stärkung von persönlicher und sozialer Gesundheitskompetenz, verbunden
� mit einer systematischen Politik, die auf die Verbesserung der Gesundheitsdeterminanten und den Abbau von
gesundheitlicher Ungleichheit abzielt
Strategische Schlüsselpunkte:
� Empowerment (Stärkung von Kompetenz und Selbstbestimmung über eigene Gesundheit)
� Intersektoralität (Einbindung von Gesundheit als Handlungsziel in einer Vielzahl von Politikbereichen)
(„Health In All“-Perspektive)
Der Setting-Ansatz (Lebenswelt-Ansatz): Kernstrategie der Gesundheitsförderung
Setting (wörtlich: Rahmen, Schauplatz): Soziales System,
Lebensbereich, Lebenswelt
Ansatz, der Gesundheitsförderung auf die Lebensbereiche,
Lebenswelten, Systeme und Organisationen ausrichtet,
� in denen Menschen einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen und
� die mit ihrem sozialen Gefüge und mit ihrer Organisationsstruktur und
Kultur die Gesundheit der Einzelnen beeinflussen
� für dauerhafte gesundheitsgerechte Gestaltung der Settings ist aktive
Mitwirkung aller Beteiligten von zentraler Bedeutung (Partizipation)
� eng verknüpft: Organisationsentwicklung (Systemintervention)
� Nicht-stigmatisierender Zugang zu benachteiligten Gruppen
Setting - Ansatz und Setting - Netzwerke (international, national, regional)
� Gesunde Städte
� Gesundheitsfördernde Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen
� Gesundheitsfördernde Schulen
� Gesundheitsfördernde Betriebe
� Gesunde Regionen
� Gesundheitsfördernde Hochschulen
� ....
Grundlage und Basisdokument: Ottawa-Charta zur
Gesundheitsförderung
Jakarta – Konferenz und Erklärung zur Gesundheitsförderung im 21. Jhr. (1997):
Würdigung und Evaluation der ersten Dekade nach Ottawa und
Entwicklung von Perspektiven für das 21. Jahrhundert
„Gesundheitsförderung ist ein Prozess, der Menschen befähigen soll, mehr
Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen und sie zu verbessern. Durch
Investitionen und Maßnahmen kann Gesundheitsförderung einen
entscheidenden Einfluss auf die Determinanten von Gesundheit ausüben.
Ziel ist es, den größtmöglichen Gesundheitsgewinn für die Bevölkerung zu
erreichen, maßgeblich zur Verringerung der bestehenden gesundheitlichen
Ungleichheiten beizutragen, die Menschenrechte zu stärken und soziale
Ressourcen aufzubauen. Letztendlich gilt es, die Gesundheitserwartung zu
vergrößern und die diesbezügliche Kluft zwischen Ländern und
Bevölkerungsgruppen zu verringern.“
Jakarta-Konferenz und –Erklärung (1997) II
Voraussetzungen und Determinanten der Gesundheit:
� Armut als größte Bedrohung der Gesundheit
� Neue Herausforderungen durch demografische Trends wie Verstädterung, steigende Zahl älterer Menschen , hohe Prävalenz chronischer und psychischer Erkrankungen, wieder auftretende Infektionskrankheiten und transnationale Faktoren wie die Globalisierung der Wirtschaft und die Informationstechnologie
Jakarta – Konferenz und –Erklärung (1997) III
Der wissenschaftliche Erkenntnisstand zeigt, dass
� umfassende Ansätze der Gesundheitsentwicklung am wirksamsten sind
� insbesondere Settings gute Möglichkeiten zur praktischen Umsetzung bieten
� die Einbeziehung der Bevölkerung für eine dauerhafte Umsetzung unerlässlich ist
� Gesundheitslernen (Health Literacy) diese Partizipation unterstützt
Gesundheitsförderung und Prävention: Entwicklung in Deutschland
� Ottawa-Charta und gesundheitspolitische Programme der WHO auch in Deutschland gültige Grundlagen
� Föderale Gliederung und Zuständigkeiten für Gesundheitsförderung.
Vorrangige Verantwortung der Länder
� Eingeschränkte Kompetenzen des Bundes,
v.a. Sozialgesetzgebung, SGB V §20
� Vielzahl von Strukturen und „unabhängigen“ Akteuren, Finanzierungen, Interessen
� Diskussionen: Präventionsgesetz
Gesundheitsförderung: Erfolge
� große Verbreitung als Grundsatz- und Leitdokument
� hat Gesundheits“erziehung“, Prävention und Gesundheitsförderung in Bewegung gebracht und „modernisiert“
� sozial-ökologische und salutogenetische Perspektive, Ressourcenorientierung verbreiteter
� Probleme gesundheitlicher Chancengleichheit bewusster
� Viele Settings-Projekte und -Netzwerke
Gesundheitsförderung: Probleme und Herausforderung
� Große Diskrepanz zwischen rhetorischer und programmatischer Verbreitung und Akzeptanz von Gesundheitsförderung und tatsächlichen Investitionen und Infrastrukturen
� Vielfalt von Aktivitäten und Akteuren, Mängel der politischen Strukturbildung und Fehlen einer klaren Aufgabenteilung
� schwache Position von Gesundheitsförderungs- Akteuren und –Ressorts
� Evaluation komplexer Interventionen
Gesundheitsförderung und Prävention:
Ausblick und Perspektiven: Strategische Programmoptionen
für Gesundheitsförderung in Deutschland (Trojan/Leggewie
2001)
� Gesamtkonzept und Rahmenplan für Gesundheitsförderung und Prävention entwickeln
� Organisationsstrukturen für intersektorale Kooperation schaffen
� Rechtliche und finanzielle Basis für Gesundheitsförderung absichern
� Akteursspezifische Programme entwickeln und einrichten
� Programm- und Akteurskoalitionen aufbauen
� Innovationsimpulse stärken: Informationspools und Kompetenznetzwerke
Gesundheitspotentiale ausschöpfen (Trojan/Leggewie 2001 nach Noack 1990)
Ist-Zustand Versorgungssegmente
Vereinfachte Darstellung des Ist-Zustandes der Gewichte der einzelnen Versorgungssegmente des Gesundheitssystems (Hurrelmann u.a.2007)
Sollzustand Versorgungssegmente
Vereinfachte Darstellung des Soll-Zustands der Versorgungssegmente des Gesundheitssystems (Hurrelmann u.a. 2004)
1. Partizipation und Einflussnahme in der Gesellschaft
2. Ökonomische und soziale Voraussetzungen
3. Förderliche Bedingungen in Kindheit und Adoleszenz
4. Gesundheit und förderliche Bedingungen am Arbeitsplatz
5. Gesunde und sichere Umwelteinflüsse und Lebensbedingungen
6. Gesundheitsförderung und Prävention in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung
7. Schutz vor Infektionskrankheiten
8. Sexualität und Fortpflanzungsmedizin
9. Förderung körperlicher Aktivität
10. Gesunde Essgewohnheiten und Lebensmittel
11. Verminderung Spielsucht, Doping und Konsum von Tabak, Alkohol und illegalen Drogen
Ziele schwedischer Gesundheitspolitik
Abb. 1; Quelle: Schwedish Nation Institute of Public Health – www.fhi.se
Beispiele einer an Determinanten orientierten Gesundheitsförderung und intersektoralen Kooperation:
� Global Commission Social Determinants of Health (CSDH)
� EU-Projekte „Closing the gap“ und „Determine“
� Schweden, Norwegen
� Health in All
Deutschland-
Akteurskoalitionen und intersektorale Zusammenarbeit :
� Kooperationsverbund Gesundheitsförderung und Soziale Benachteiligung
� www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
� Jugendhilfe, Gesundheit, (frühe) Bildung und Hilfen
� Stadtentwicklung und Gesundheitsförderung
� Arbeit/Arbeitslosigkeit und Gesundheitsförderung