Die Baracke der DichterCarlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi
im Celle-Lager 1918Texte aus der Kriegsgefangenschaft
Die Baracke der DichterCarlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi
im Celle-Lager 1918
Texte aus der Kriegsgefangenschaft
Herausgegeben von Oskar Ansull
Mit Zeichnungen von Francesco Nonni
Übersetzt von Ragni Maria Gschwend und Ulrike Stopfel
Das Erscheinen dieses Buches verdankt sich der Förderung durch die RWLE Möller Stiftung in Celle.
Der Herausgeber dankt der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur,
die seine Forschungen zur Literatur des Celler Landes mit einem Stipendium unterstützt hat.
© 2014 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springewww.zuklampen.de
Umschlag, Layout, Satz: thielenverlagsbuero · HannoverDruck: CPI – Clausen & Bosse · Leck
ISBN 978-3-86674-401-1
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
Der Übersetzung liegen die folgenden italienischen Ausgaben zugrunde:
Giornale di guerra e di prigionia, con il Diario di Caporetto, Verlag Garzanti, Milano 2002
Baracca 15 c,Verlag Bompiani, Milano 1962
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Inhalt
In einem Dorf bei Celle 9
Carlo Emilio Gadda · Tagebuch der Gefangenschaft
Zum Tagebuch Diese Dinge schreibe ich und lasse sie drucken 13
Die Vorgeschichte Vom Isonzo in die Lüneburger Heide 15
Carlo Emilio Gadda · Giornale di prigionia 35
Die Nachgeschichte … erblickt’ ich von fern Italien 117
Don Gadda 127
Francesco Nonni · Zeichnungen 133
Fotos und Dokumente 141
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Inhalt
Bonaventura Tecchi · Baracke 15c
Zu Tecchis Buch Ohne Rhetorik den Schleier des Schmerzes zu lüften 157
Bonaventura Tecchi · Baracca 15c 159
Nachwort … allwo der ganze Sand 253
Anhang
Bibliographie 276
Foto- und Bildnachweise 283
Editorische Notiz 284
Viten 285
Danksagung 292
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In einem Dorf bei Celle
1918, am Ende des Ersten Weltkriegs dieses Lagerjahrhun-derts, werden fast siebzehn Millionen Soldaten »gefallen« sein, in Lagern umgekommen, früher oder später ihren Verletzungen erlegen, und mehr als einundzwanzig Millionen werden verwundet heim-kehren, von den Traumatisierten und dem Leiden der hungernden Zivilbevölkerung, auch den zehntausenden hingerichteten Zivilisten gar nicht zu reden. Ein Krieg, wie er in den Lehrbüchern bisher nicht vorkam. Die Anführer waren bald mit ihrem Kriegslatein am Ende; obwohl doch schon von Clausewitz wusste, dass es keinen Krieg gibt, »der Grenzen in sich hat. Jeder Krieg hat die Tendenz, sich zu ver-absolutieren«. Doch damit nicht genug. Im Frühjahr 1918 rafft eine Grippepandemie, die sich durch die Truppentransporte quer durch Europa verbreitet, zwanzig, wenn nicht gar fünfzig Millionen dahin; bis heute werden noch Jahr für Jahr Menschen durch Blindgänger getötet, die zwischen 1914 und 1918 nicht explodiert sind.
Von den hunderttausenden italienischen Soldaten, die im Oktober 1917 in Kriegsgefangenschaft gerieten, fanden drei Offiziere in der Lüneburger Heide zueinander, in einer Baracke im Dorf Scheuen bei Celle und sie werden Freunde und Dichter. Einer erinnert sich mehr als vierzig Jahre später:… über den Wäldern und über der Heide, in der Luft und in den Dingen, dieses Gefühl von bitterer Einsamkeit, von grenzenloser Angst … die erste Nacht im Cellelager senkte sich auf die Neuankömmlinge herab und wurde zu einer Nacht des Grauens und des Hungers. (Tecchi)
Die drei überleben den »Kreislauf des Hungers« und die »Attacken der Bajonette«, zwei legen Zeugnis davon ab, das nun übersetzt, nach fast einhundert Jahren, in einem Buch vereinigt, auch dorthin zurück-kehrt, wo es bitter erworben wurde … allwo der ganze Sand ist jener … Provinz Hannover. (Gadda)
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Über die Unmöglichkeit eines Kriegstagebuches
Ich habe den Krieg gewollt, mit dem Geringen, das an mir lag, ihn zu wollen. Ich habe teilgenommen mit ehrlichem Gemüt … Ich habe den Krieg vorausgefühlt als eine schmerzliche nationale Notwendigkeit, wenngleich ich gestehe, dass ich ihn nicht für so hart hielt. Und im Krieg habe ich einige der besten Stunden meines Lebens erfahren, diejenigen, die mir das Vergessen und die völlige Verschmel-zung meines Wesens mit meiner Idee schenkten: dies, auch wenn die Erde bebt, nennt man Glückseligkeit.Und mein Urteil über die Notwendigkeit des Krieges ist in der Substanz sich selbst treu geblieben: jedoch mit dem, was tragisch und absurd ist, im Vergleich mit den delikaten Gefühlen jener, die über mich richten: dass ich nämlich in meiner rhetorischen Seele urteile und glaube, dass man viele Leiden hätte vermeiden können durch schärfere Intelligenz, durch entschiedeneren Willen, mit weniger Eigeninteressen, mit mehr Allgemeingeist und weniger Elfenbeintürmen. Etwa mit weniger Napoleons-Achselklappen und weniger Gaunern und Verrätern im Rücken.
Carlo E. Gadda»Über die Unmöglichkeit eines Kriegstagebuches«
Carlo Emilio Gadda
TAGEBUCH DER GEFANGENSCHAFT
Ich bin kein Remarque gewesen …
Carlo E. Gadda, um 1955»Über die Unmöglichkeit eines Kriegstagebuches«
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Cover der aktuellen Taschenbuchausgabe 2009
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Zum Tagebuch
Diese Dinge schreibe ich und lasse sie drucken
Diese Dinge schreibe ich und lasse sie drucken, damit sie, eines Tages! eindringen möchten in die Seele von irgendjemandem, dem das Licht der Erkenntnis und der Erinnerung aufgeht, erhofft sich Gadda in der Reflexion über sein Kriegstagebuch und spricht am Ende des Textes von den vergeblichen Wegen des Erinnerns … alles schweigt ringsum.
Im Tagebuch f indet man Beweise dafür, notiert Franz Kafka am 23. Dezember 1911, dass man selbst in Zuständen, die heute unerträglich scheinen, gelebt, herumgeschaut und Beobachtungen aufgeschrieben hat.
In beiden Notizen zeichnet sich ein Spannungsfeld der Tagebuch-literatur des 20. Jahrhunderts ab, zwischen Gaddas bewusst einge-leiteter Veröffentlichung zu Lebzeiten und der zurückgehaltenen Selbstbeobachtung Kafkas, seiner Werkstattaufzeichnung, im Wis-sen, dass eine indiskrete Nachwelt sie schon veröffentlichen werde. Aber während Kafkas Tagebücher längst zum festen Bestand der Aufzeichnungsliteratur gezählt werden, sind Gaddas nur Spezia-listen bekannt. Gadda hat in seinen Aufzeichnungen Beweise für die Schreib- und Erinnerungswerkstatt gefunden, erkannt und ge-nutzt. Er spielt im Roman »Die Erkenntnis des Schmerzes« darauf an, sieht sich als Dichter:
… ein Schwarmgeist und barocker Schreiber, wie Jean Paul oder Carlo Gozzi, oder Carlo Dossi, oder ein gewisser anderer Carlo, der schlimmer ist als jene beiden, die schon arg genug sind; der vielleicht dazu taugt, den Krieg zu benutzen, und die Leiden des Krieges, um
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Zum »Tagebuch der Gefangenschaft«
daraus seine sterilen Mätzchen herauszukitzeln und herauszutreiben, auf spitzer Feder.
Ein für Gadda typischer, nicht ohne Humor umkleideter Befund, alles andere als selbstverliebt, der von psychologischen Literatur-ausdeutern längst mehrfach seziert wurde. Das bisher nicht ins Deutsche übersetzte »Giornale di guerra e di prigionia«, dessen zweiter Teil hier erstmals in deutscher Sprache erscheint, ist weit entfernt davon, sich sterilen Mätzchen hinzugeben, es ist im Ge-genteil das erste Zeugnis des Autors, der von seinem Tagebuch sagt: … ich schreibe nicht für mich, ich schreibe, damit etwas herausspringt, was uns stärker und besonnener macht für jeden künftigen Umstand in den Fängen des Bösen.
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Ragni Maria GschwendDie Vorgeschichte
Vom Isonzo in die Lüneburger Heide
Die 12. Isonzoschlacht
Als Italien am 23. Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg erklärte, bildete sich im Südosten eine neue Front1, die von den Dolomiten bis zum Isonzo (slowenisch Soča), dem Grenzfluss zwischen dem damals österreichischen Slowenien und Italien, reichte und zum Teil im Hochgebirge verlief. In diesem Gebiet fanden zwischen Juni 1915 und September 1917 elf für beide Seiten äußerst verlustrei-che Schlachten statt, in denen die italienische Armee vergeblich versuchte, nach Triest vorzudringen.
Bis dahin hatte sich die österreichisch-ungarische Armee auf die Verteidigung beschränkt. Für eine nun notwendige Offensive ihrerseits erbat und erhielt sie die Unterstützung des deutschen Bündnispartners. Der Großangriff begann am 24. Oktober 1917 und führte am 25. Oktober bei Caporetto (slowenisch Kobarid, deutsch Karfreit) zu einer verheerenden Niederlage der italieni-schen Armee, der am 27. Oktober am Piave der Zusammenbruch der italienischen Front folgte. Rund 300.000 Italiener gerieten in Gefangenschaft.
Unter ihnen befand sich auch der dreiundzwanzigjährige Oberleutnant Carlo Emilio Gadda aus Mailand, der als Freiwil-liger in den Krieg gezogen war. Er, der später zu einem der be-deutendsten modernen italienischen Autoren werden sollte (ei-gentlich studierte er Ingenieurswissenschaft), führte den ganzen Krieg über Tagebuch. Aus diesem geht hervor, wie wenig vor-bereitet die italienische Armee auf diese deutsch-österreichische
1 Offiziell spricht man von der Südwestfront, um sie vom Schauplatz Balkan (= Südostfront) abzugrenzen.
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Ragni Maria Gschwend
Offensive reagiert hatte, obwohl die Heeresleitung durch Spiona-ge über den Zeitpunkt des Angriffs informiert gewesen war. Zum allgemeinen Durcheinander im Kampfgeschehen kamen Kälte, Dauerregen, Erschöpfung der Soldaten sowie der Hochwasser führende Isonzo, dessen Brücken vorzeitig zerstört worden wa-ren. Unter dem Datum 25. Oktober 1917 lautet Gaddas Tagebuch-eintrag lapidar:
Nachdem wir die Kampflinie überwacht und gehalten hatten, verließen wir sie am 25. Oktober nach drei Uhr, da Befehl zum Rückzug ergangen war. Wir brachten alle vier Maschinengewehre unter äußerster Anstrengung zum Isonzo […]. Und am Isonzo, beim vergeblichen Versuch, ihn zu überqueren, gerieten wir in Gefangenschaft.
Später, im Gefangenenlager Rastatt, versucht Gadda anhand sei-nes Kriegstagebuchs die Einzelheiten dieser 12. Isonzo-Schlacht und seiner Gefangennahme in 30 mit Bleistift geschriebenen (ich habe keine Tinte) Kapiteln noch einmal absolut wahrheitsgetreu zu rekonstruieren, für den Fall, dass er sich nach seiner Heimkehr rechtfertigen müsse – was dann auch eintraf. Die Gefangenen waren vom eigenen Generalstab bei der italienischen Regierung als Feiglinge, Verräter und Deserteure denunziert worden, die sich schmählich dem Kampf entzogen und daher die Gefangenschaft als gerechte Strafe verdient hätten. Das Heer habe nicht unter dem Druck des äußeren, sondern dem des inneren Feindes kapituliert.
Auch auf deutscher Seite galten die Italiener als Verräter, da Italien 1915 mit seiner Kriegserklärung an Österreich-Ungarn und Deutschland das 1882 mit diesen Staaten geschlossene Verteidi-gungsbündnis (den »Dreibund«) gekündigt hatte und nun auf der Seite der Entente (Großbritannien, Frankreich und Russland; später kamen noch die USA und weitere Länder dazu) kämpfte. Vielleicht resultiert daraus auch die teilweise verächtliche und de-mütigende Behandlung, über die sich die Italiener in der Gefan-genschaft immer wieder beklagen.
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Die Vorgeschichte
Der Weg in die Gefangenschaft
Am Abend des 25. Oktober 1917 beginnt für die am Isonzo gefan-genen Soldaten ein endloser Marsch ins Ungewisse – bei Kälte und strömendem Regen, weitgehend ohne Nahrung und meist ohne ein geschütztes Nachtquartier. Die Soldaten sind völlig de-moralisiert, physisch und psychisch am Ende.
Dank Gaddas Aufzeichnungen können wir den zehn Tage dauernden Weg vom Isonzo – über Slowenien, Österreich, Bay-ern, Württemberg – bis ins badische Rastatt, dem ersten ange-peilten Gefangenenlager auf deutschem Boden, ziemlich genau nachvollziehen:
25. Oktober Nach der Gefangennahme am Abend des 25. Oktober geht es in einem Nacht- und Tagmarsch über Tolmein [Tolmin] nach Kirchheim [Cerkno] und von dort in weiteren Märschen nach Bischoflack [Skofia Loka] und Krainburg [Kranj]. Anschei-nend gibt es keinerlei Organisation für die dort versammelten etwa fünfzigtausend Gefangenen, und es herrschen chaotische Zustän-de. Kaum Verpflegung: die Soldaten holen sich Rüben und Kohl von den Feldern. Zunächst schlafen auch die Offiziere im Freien, später in einer kleinen Kirche.
31. Oktober Abmarsch zum Güterbahnhof bei Saifnitz [abnice]. In jeden Güterwaggon werden entweder 30 Offiziere oder 50 Sol-daten gepfercht. Die Waggons sind kalt und feucht und bar je-der Sitzgelegenheit. Man schläft auf dem nackten, schmutzigen Boden. Und Toiletten gibt es auch keine. Wir sind keine Kriegsgefangenen, sondern Strafgefangene.
1. November Der Zug fährt mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 20 Stundenkilometern und hat an jeder Station einen längeren Aufenthalt, er kommt durch die Orte [soweit Gadda ihre Namen erkennen kann]: Cilli [Celje], St. Georgen, Pragerhof [Pragersko] und Marburg an der Drau [Maribor]. Dort Umstieg in Waggons
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Ragni Maria Gschwend
3. Klasse: Bruck an der Mur, Leoben (endlos langer Aufenthalt), erreicht St. Michael.
3. November Auch im Personenwagen 3. Klasse ist es wegen der Kälte und der Unbequemlichkeit fast unmöglich zu schlafen: Hüt-tau, Bischofshofen, Salzburg. Dort wieder ein sehr langer Aufent-halt. Fahrt über die Grenze nach Deutschland.
4. November Um 2 Uhr nachts Ankunft in Rosenheim. Desin-fektion und Duschen in Baracken bis vormittags 11 Uhr. Fahrt bis München. Nach 1 Stunde Aufenthalt weiter nach Augsburg etc. in Richtung Ulm, Stuttgart.
5. November Gross-Sachsenheim, Mühlacker, Pforzheim, Bietig-heim, Illingen. Um 15 Uhr Ankunft in Karlsruhe. 15:45 Uhr weiter nach Rastatt. Ausstieg. Marsch in Viererreihen durch eine Gegend mit Einfamilienhäusern und der Leopoldkaserne …, dann ein Ge-hölz: Man erreicht das Lager für die ukrainischen Kriegsgefange-nen.
Kriegsgefangenenlager Rastatt
In Rastatt gab es zwei Gefangenenlager: eine Art Auffanglager im Stadtteil Münchsfeld zur Sichtung und Verteilung der Ankömm-linge – das sogenannte »Russenlager« (errichtet von den ukraini-schen Kriegsgefangenen aus der ostpreußischen Schlacht bei Tan-nenberg 1914) – und ein weiteres Lager in der Friedrichsfeste von Rastatt. Die Wälle der Festung bestanden größtenteils aus dunklen und feuchten Kasematten, die Caponière2 genannt wurden. Aus beiden Lagern wurden die Gefangenen, nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt, in ein endgültiges Lager verlegt. Im Übrigen waren Offiziere und einfache Soldaten grundsätzlich in
2 Begriff des Militär- und Festungswesen [franz. Ableitung vom ital. capone = großer Kopf ], Teil einer Befestigungsanlage, massiv gemauerter, überdachter Gang oder Raum oberhalb einer Bastion.
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Die Vorgeschichte
verschiedenen Lagern untergebracht: Die Offiziere hatten etwas bequemere Baracken mit Öfen, konnten Pakete aus Italien erhal-ten und mussten vor allem keine nichtmilitärische, körperliche Arbeit leisten.
Endlich haben wir unter einem Dach geschlafen, mit Laken und Decken, auf aneinandergereihten Stockbetten in einer Baracke, schreibt Gadda am 6. November in sein Tagebuch.
Jede Baracke hat Platz für 100 Offiziere. Außer den Stockbetten gibt es Tische und Hocker. Die Latrinen befinden sich in einer eignen Baracke, ziemlich außerhalb, was vor allem nachts schreck-lich ist. Zum Hunger und der Kälte kommt noch die Unannehmlichkeit, nachts drei, viermal aufstehen zu müssen, um auf der Latrine zu urinieren, die sich weit draußen auf der Wiese befindet, wird Gad-da am 29. November notieren. Auch die sonstigen hygienischen Verhältnisse sind sehr dürftig: Es besteht keine Möglichkeit, zu duschen oder ein Bad zu nehmen, und frische Unterwäsche gibt es seit der Gefangennahme nicht mehr.
Nach seiner Ankunft erhält jeder Gefangene eine vorgedruck-te Postkarte für die Angehörigen, die lediglich unterschrieben
Friedrichsfeste um 1910
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Ragni Maria Gschwend
werden darf. Diese Karten kommen jedoch nur bei wenigen Fa-milien in Italien an oder nur mit großer Verspätung. Anscheinend werden sie vom italienischen Kriegsministerium zur statistischen Auswertung zurückgehalten. Danach gibt es für längere Zeit keine Möglichkeit, Post zu schreiben oder zu erhalten. Die Baracke darf man verlassen und sich innerhalb des doppelten Stacheldrahtzauns frei bewegen. Das Schlimmste ist jedoch der Hunger.
Um 8 Uhr (nach dem Wecken um 7 Uhr) gibt es einen Schöpf-löffel schwärzlichen Gesöffs, das ein Kaffee sein soll (gebrannte Eicheln und Saubohnen), sowie ein Kommissbrot für fünf Personen (pro Kopf ca. 200 Gramm). Um 9:30 Uhr Antreten zum Appell. Um 12 Uhr eine dünne Brühe, in der Kohlrüben, Kartoffelscha-len, Graupen oder Ähnliches schwimmen, und dasselbe dann um 18 Uhr. Diese Wassersuppen bekommen von den Italienern sofort die verächtliche Bezeichnung »sbobba«, womit im Alltagsjargon eben eine scheußliche »Brühe« bezeichnet wird.
Vielleicht sollte man an dieser Stelle kurz einfügen, dass der Winter 1917/18 – der sogenannte Steckrübenwinter – auch für die Zivilbevölkerung Hunger bedeutet hat; die »sbobbe« waren also keine Schikane der Lagerleitung.
Niedergeschlagenheit und Unterernährung der Gefangenen nehmen von Tag zu Tag zu. Dazu kommen die Streitereien unter den Kameraden, die kleinen Zwistigkeiten, die kleinen Gemeinheiten, die Empfindlichkeiten usw. Ein unglaublich hartes, elendes Leben, ohne Ausweg und ohne Hoffnung, schreibt Gadda am 29. November aus der Baracke 64, Block 7.
Im Russenlager gibt es eine Kantine, in der man Verschiedenes billig kaufen kann, und er erwirbt zwei Stück Seife (endlich!), ei-nen Rasierapparat und Klingen, Hefte, Feder, Bleistift und – eine deutsche Grammatik. Essbares ist allerdings unverschämt teuer (ein Kanten Kommissbrot kostet 5 Mark!). Die gefangenen Offi-ziere erhalten ihre Monatslöhnung (Leutnant und Unterleutnant 60 Mark), von der pro Tag 1,60 Mark für Verpflegung abgezogen werden.
Während immer wieder Gefangenentrupps in andere La-ger abtransportiert werden, wird Gadda am 19. Dezember in die
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Die Vorgeschichte
Friedrichsfestung verlegt, in die Caponière Nr. 17, rechter Flügel. Dort ist aber alles noch schlimmer. Es handelt sich um einen run-den Verteidigungsturm der Festung: Über eine Wendeltreppe ge-langt man in einen düsteren, schmutzigen Saal mit Kreuzgewölbe, Schießscharten und vergitterten Fenstern, deren Scheiben zum großen Teil kaputt sind; das Ganze erinnert an ein mittelalter-liches Gefängnis. Die Einrichtung besteht aus 9 Stockbetten, in der Mitte ein alter Tisch und ein paar Hocker. Draußen hat es unter null Grad.
Inzwischen ist der Hunger das beherrschende Thema in Gaddas Aufzeichnungen, der durch seine beachtliche Körpergröße sicher ganz besonders darunter leidet. Er gibt all sein Geld aus, um et-was zwischen die Zähne zu bekommen, und ist sich auch nicht zu schade, mit anderen in den Küchenabfällen nach irgendwelchen noch essbaren Resten zu wühlen. Immer wieder wird ihm seine Verlegung in ein Lager bei Hannover angekündigt, aber die Abrei-se dorthin ständig verschoben.
Doch das neue Jahr bringt eine kleine Verbesserung: Gadda wird zum »Küchen-Offizier« ernannt. Ich gestehe – schreibt er am 14. Ja-nuar 1918 –, dass ich diesen Posten heiß begehrt hatte, wie wahrscheinlich die meisten anderen auch, denn es ist logisch, dass ein Küchenoffizier keinen Hunger leidet.
Außerdem bekommt er etwas mehr Privatsphäre in einem Raum, den er nur mit vier anderen (anstatt mit 17) teilen muss. Arbeit gibt es allerdings von früh bis spät: Er muss die Herstel-lung der »sbobbe« überwachen und 750 Portionen in bereitgestell-te Eimer peinlich genau verteilen – und dabei die Streitigkeiten, Beschimpfungen und Verwünschungen der hungrigen und nei-dischen Kameraden ertragen. Diesen Zustand beschreibt Gadda am 21. Februar in seinem frisch erlernten Deutsch folgenderma-ßen: Nichts neues. Wir bleiben immer in der Küche wie Küchenoffiziere, ich und Garbellotto und wir haben täglich viele Mühe weil der Hunger stosst die Offiziere an die Wut und an die Ungerechtigkeit über unsere Thätigkeit. Gestern Morgen ich habe mit einem offizier zu thun gehabt, weil er sagte dass die suppe war nicht genug. Ich habe vor ihm die Suppe, die ihm ich gegeben hatte, mit Löffel gemessen: und
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Ragni Maria Gschwend
ich habe ihm die zunehmende abgenommen. Er wurde damit zornig und wollte zu den händen kommen.3 Die Sache ist, als immer, andata a finire in niente 4.
Dieser halbwegs erträgliche Zustand dauert bis zum 27. März, als das Lager von einem Tag auf den anderen weitgehend von den Italienern geräumt werden muss, um englischen Kriegsgefangenen Platz zu machen. Und damit beginnt für Gadda und seine Kame-raden der Aufbruch ins Celle-Lager.
Von Rastatt nach Celle
Mit verschiedenen Zügen (Personenwagen 3. Klasse oder Güter-waggons) beginnt am 27. März um 17 Uhr die Fahrt von 226 Offi-zieren in das neue Lager; sie dauert insgesamt zwei Tage und zwei Nächte und führt, nach Gaddas Aufzeichnungen, über Karlsru-he, Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Offenbach, Hanau, Fulda, Hersfeld, Bebra, Elze, Göttingen und Hannover. Dort Ausstieg und anderthalb Stunden Aufenthalt. Gadda bewundert den schö-nen Bahnhof, auf dem wenig Leben herrscht. Außerdem bemerkt er, dass, kriegsbedingt, überall weibliches Personal dominiert, was den aus der rein männlichen Lagerwelt Kommenden Eindruck macht: Die, ehrlich gesagt, ziemlich hässlichen Frauen am Bahnhof, betrachten uns neugierig. Auch für uns stellt der Anblick von Weiblichkeit eine gewisse Neuheit dar.
Mit einem Sonderzug geht es weiter nach Celle, durch ödes Flachland mit Feldern, später Sümpfen, dann Wald und Heide, ein bedrückender Anblick.
In Celle hält der Zug nur ein paar Minuten, dann fährt er we-nige Kilometer weiter zu einer Station oder besser einer einsam gelegenen Haltestelle. Von dort aus geht es eine gute Wegstunde zu Fuß bis zum Lager. Aschgrauer Himmel, eintönige, schreckliche, trostlose Einsamkeit von Wald und Heide. Außerhalb der Baracken des
3 Wörtliche Übersetzung von: venire alle mani – handgemein oder handgreif-lich werden.
4 hat zu nichts geführt.
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Die Vorgeschichte
Gefangenenlagers kein Haus, kein Lebewesen. Wir sagten im Scherz, wir seien nach Sibirien deportiert worden, doch das sind wir tatsächlich, schreibt Gadda am 29. März 1918, um 17:30 Uhr nach der Ankunft in seiner Baracke.
Ankunft im Celle-Lager Scheuen
Zunächst soll jedoch ein anderer junger italienischer Kriegsgefan-gener zu Wort kommen: der zwanzigjährige Bonaventura Tecchi, der, wie Gadda, später Schriftsteller wurde und zudem ein bekann-ter italienischer Germanist (Professor an der Universität Rom) und großer Kenner der deutschen Literatur. Tecchi wurde am Isonzo schwer verwundet, geriet in Gefangenschaft und kam nach Rastatt in ein internationales Lazarett. Nach seiner Genesung geriet er wie Gadda in die Friedrichsfeste, wo sich die beiden anfreundeten. Ihre eigentliche, ein Leben lang anhaltende Freundschaft begann aber wohl erst im Cellelager, in der Baracke Nr. 15 C 5. Unter diesem Titel hat Bonaventura Tecchi rund vierzig Jahre später eine Reihe seiner ehemaligen Mitgefangenen porträtiert und damit seine Erinne-rungen an das Cellelager festgehalten. Sie bilden eine glückliche Ergänzung zu den spontanen Tagebucheintragungen Gaddas.
Seine Ankunft im Lager – wahrscheinlich zusammen mit Gad-da, obwohl sich dafür kein Beleg finden ließ – beschreibt er je-doch schon 1919, anlässlich einer Ausstellung der Zeichnungen von Francesco Nonni aus Faenza, ebenfalls einem Mitgefangenen im Cellelager6.
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Hier also Tecchis bereits leicht literarisierte Erinnerung an seine Ankunft im Lager:
5 Eigentlich lautete die genaue Bezeichnung: Baracke Nr.15b im Block C.6 Francesco Nonni, »Disegni dalla prigionia«, Faenza 2004.
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Die Vorgeschichte
Wenn ich jetzt, im Abstand von einem Jahr daran denke, erscheint es mir wie eine Ringmauer aus einem rötlich und schwarz gemischten Nebel.
Einen Moment später reißt dieses rötlichschwarze Gemisch auf, wird zur Linie, verhärtet sich zum Rechteck, die Rechtecke erstrecken sich zu geraden Reihen.
Ihr, die ihr dort gewesen seid, werdet mir sagen, dass diese rechteckigen Reihen die Baracken aus rot getünchtem Holz sein sollen, und dass dieser Nebel der Nebel vom dortigen Himmel ist, der da oben so häufig und unangenehm war.
Na gut.Aber ich sage euch, auch wenn es mir kraft meines Erinnerungs
vermögens gelang, das ganze Lager, so wie es war, vor mir zu sehen – mit dieser Einteilung in vier Blöcke und den durch Maschendraht getrennten »Mittelstraßen« sowie den großen seitlich gelegenen Plätzen mit dem Ausblick auf das Dunkelgrün der umgebenden Wälder, das Gelb und Rot der sich weit hinstreckenden Heide; auch wenn ich zwischen diesen vier Blöcken umherging, wie auf den Straßen einer kleinen Stadt, vor den Baracken stehen blieb und die mir vertrautesten beim Namen nannte: »Das hier ist meine Baracke, die 15 im Block C, das ist die 33, in die ich ging, um mir die »sbobba« einzuverleiben, das ist die 34 im Block D, in die ich zum Lesen ging …«, auch dann bin ich nicht zufrieden. Hartnäckig macht sich in meinem Gehirn eine Art Nebel breit, der mich quält. Und es ist nicht der Nebel jenes Himmels, und es ist auch nicht die Entfernung der Erinnerung …
Deswegen muss man sich nicht ängstigen. Vorsichtig gehen ja, weil der Weg unsicher ist, und versuchen, diese Nebel zu durchdringen.
So soll es geschehen:
Als ich zum ersten Mal im Cellelager ankam.
Es war vormittags in der Osterwoche 1918. Wir kamen in Scharen mit den paar Habseligkeiten, die jeder von uns bei sich trug, von einer kleinen Bahnstation, die nicht Scheuencelle war und deren Namen ich nie erfahren habe.
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Tecchi · Ankunft im Lager
Als sich der Weg von den Wäldern hinauf zur Heide hin öffnete, lag das Cellelager vor uns.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich diesen Moment wieder. Den niederen und grauen, tief über der Heide lastenden Himmel, um mich herum die schwarze, rissige Erde, die sich da und dort mit ein paar Bäumen schmückte und etwas weiter in ein kahles, trostloses Gelb verwandelte; das Stück einer weißen Baracke, die ich als erstes rechts zwischen den Bäumen ausmachte, davor ein Gewirr aus Pfählen, Drähten und schwarzen Dächern. Und dann, über den Wäldern und über der Heide, in der Luft und in den Dingen, dieses Gefühl von bitterer Einsamkeit, von grenzenloser Angst, das ich jetzt nicht mehr wiedergeben kann.
Wir gingen am Zaun des Lagers entlang und spähten ins Innere. Uns schien es, als sei dort kein Mensch. Ins Lager gingen wir nicht hinein, sondern man brachte uns außerhalb zu einem umzäunten Platz mit Baracken, wie an einen Quarantäneort.
Die zwei Tage im Zug von Baden nach Hannover, ohne Heizung und ohne Verpflegung, hatten uns erschöpft und entkräftet. Gegen Abend drängten sich, vom Hunger getrieben, einige von uns an die Maschendrahtzäune, um das Brot zu fordern, das sie während der Reisetage nicht bekommen hatten. Die Wachposten verstanden nicht oder wollten nicht verstehen. Man schlug Alarm, brüllte etwas von Aufruhr. Ein Haufen deutscher Wachen kam mit aufgepflanztem Bajonett, verfolgte die Unseren bis in die Baracken hinein und schrie: »Verräter, Verräter, Kanaillen«.
Etliche von den Unseren wurden übel zugerichtet, irgendeiner regelrecht verwundet.
Die erste Nacht im Cellelager senkte sich auf die Neuankömmlinge herab und wurde zu einer Nacht des Grauens und des Hungers.
Tags darauf brachten sie uns ins eigentliche Lager. Man hatte den Eindruck, in einen Friedhof einzutreten, wo die Toten zufällig aus den Gräbern heraus gestürzt waren und taumelnd auf den Wegen herumliefen. Und diejenigen, die da waren, fragten die, die hinzukamen »Habt ihr was gegessen? Wie geht es euch?« Und diejenigen, die hinzukamen, stellten den anderen die gleiche Frage und erhielten die gleiche Antwort.
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Die Vorgeschichte
Das Bad, die Desinfektion. Diese Anhäufung von skelettartigen Leibern, von durch die Krätze geröteter Haut; dieser Modergeruch nach ungewaschenen Körpern, nach verlausten Lumpen.
Wir wurden nach Baracken eingeteilt. Die 15 B war vollkommen leer und wurde gänzlich von den Neuankömmlingen besetzt. Wir stürzten uns hinein, im Wettstreit um die besten Plätze. Die Betten bestanden aus Holztruhen mit einem Strohsack aus dürrem Kiefernreis und zwei schwarzen Decken.
Es kam die zweite Nacht, und wir begruben unsere Traurigkeit in diesen Truhen, die einem wie Särge erschienen.
Das war meine erste Bekanntschaft mit dem Cellelager.
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Und so beschreibt Carlo Emilio Gadda vor Ort das Lager und die ersten Tage dort, ehe er sein eigentliches Gefangenen-Tagebuch aus dieser Zeit beginnt:
Celle-Lager; Offiziersgefangenenlager. (Hannover).Block C. Baracke 15 B.
Der Tag des 29. [März] verging ziemlich schlecht, mit einem Platzregen, der die ganze Atmosphäre feucht werden ließ. Man brachte uns in schauderhaften, schmutzigen Baracken voller Flöhe unter, mit den üblichen zweistöckigen Betten. Ich war zusammen mit Cola, Bruno, Raspaldo und den beiden Bergamasken Pianetto und Taschini. Mittags und abends die übliche sbobba, äußerst flüs-sig; von dem Brot, das uns für den Tag des 29. zustand, keine Spur. Daraufhin wurde beschlossen, es zu fordern, und nachdem wir es mehrmals vergeblich verlangt hatten, beschlossen wir, unserer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Eigentlich beschlossen es die anderen, weil ich im Zug Brot vom Roten Kreuz und abends eine Büchse Fleisch gegessen hatte. Doch aus Solidarität mit den hungrigen Kameraden ging auch ich hinaus, obwohl ich, aus al-ter Erfahrung, meine Zweifel hatte über den Ausgang der Aktion. Doch da ich ein bisschen Deutsch kann, machte ich mich sogar