Dlf Fassung
Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature Ortserkundung
Grenzland Pioniere, Zivilisationsflüchtlinge und Beduinen in der israelischen Negev-Wüste Autor: Daniel Cil Brecher Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf 2017 Erstsendung: Dienstag, 15.08.2017, 19.15 Uhr Regie: Thomas Wolfertz Autor: Frank Arnold Sprecher 1: Zaid: Volker Risch Sprecherin 1: Henriette: Claudia Mischke Sprecher 2: Dani: Ernst August Schepmann Sprecher 3: Yoram: Daniel Berger Sprecherin 2: Amal: Isis Krüger Sprecher 4: Ran: Thomas Lang Sprecher 5: Atiya: Hüseyin Michael Cirpici Sprecher 6: Suleiman: Hendrik Stickan
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© - unkorrigiertes Exemplar -
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Brecher: Grenzland 2
Atmo Autofahrt 1 Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“
Sprecherin 1
Lieber Daniel. Es geht uns sehr gut. Wir haben hier schnell unseren Dreh gefunden
und noch keinen einzigen Moment Heimweh nach den Niederlanden gehabt. Die
Mädchen gehen in die Schule und den Kindergarten. Yoram arbeitet, ich arbeite, es ist
fast wieder so wie früher, nur dass wir jetzt in einer herrlich warmen Wüstenumgebung
wohnen. Es ist sehr angenehm hier.
Autor
Liebe Henriette. Wie schön zu hören, dass alles gut geht bei Euch in Hatzeva. Ich
freue mich darauf, Euch wiederzusehen. Es gibt leider überhaupt keine Hotels in der
Arava. Man kann nur Zimmer mieten, zu verrückt hohen Preisen. Könntest Du mir
etwas auf eurem Moshav empfehlen? Herzliche Grüße, auch an Yoram und die
Kinder.
Sprecherin 1
Das Leben hier ist wirklich anders. Um zwei Uhr mittags kommt alles zum Stillstand.
Das ist einmalig in Israel. Wir genießen die Freiheit und den vielen Platz, den wir
haben. Wir bekommen auch viel Hilfe von verschiedenen Regierungsstellen. Du
kannst gerne bei uns übernachten. Es ist allerdings ziemlich primitiv.
Atmo Autofahrt 1 Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“
Sprecher 1
Es war uns ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen. Vielen Dank für die
freundliche Aufnahme in ihrem Haus und ihre Gastfreundschaft. Es wird mir und
meiner Frau Amal ein Vergnügen sein, Sie hier in Beer Sheva zu empfangen. Ich
werde Ihnen das Dorf zeigen, in dem ich geboren bin und in dem meine Mutter noch
lebt. Sie werden mein Gast sein. Mit freundlichen Grüßen, Dr. Zaid Afawi
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Brecher: Grenzland 3
Autor
Lieber Zaid. Ich nehme Ihr Angebot, für mich eine Verabredung mit dem
Bürgermeister der nicht anerkannten Dörfer zu machen, gerne an. Ich würde auch
gerne jemanden treffen, der mir einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung
der Beduinen in den letzten zwanzig Jahren geben kann. Vielleicht jemand an der
Universität? Herzliche Grüße und bis bald, Daniel Brecher.
Atmo Autofahrt Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“
Ansage
Grenzland.
Pioniere, Zivilisationsflüchtlinge und Beduinen in der israelischen Negev-Wüste.
Ein Feature von Daniel Cil Brecher.
Atmo Besucherzentrum Musik und Stimme aus dem Lautsprecher
O-Ton Henriette Ideale
Als je hier naartoe komt … wat ons hier o.a. heeft gebracht
Sprecherin 1
Nein, du darfst hier nicht mit dem Ideal herkommen, Geld zu verdienen. Wenn es dir
ums Geldverdienen geht, musst du entweder in eine Großstadt ziehen oder gleich in
Europa bleiben, am besten gleich in den Niederlanden. Wir sind mit anderen Idealen
gekommen. Es ist fantastisch, um hier Kinder groß zu ziehen. Sie haben hier viel
Platz, um sich zu bewegen. Und für uns ist es auch ein sehr schönes Leben. Das
Klima, das Lebenstempo ist sehr angenehm. Darum sind wir unter anderem
hierhergezogen.
Autor
Henriette Arnon. Ich kenne Henriette aus Amsterdam, wo sie mit ihrem Mann Yoram
und ihren zwei Töchtern bis vor kurzem gewohnt hat. Henriette war Leiterin der IT-
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Brecher: Grenzland 4
Abteilung einer niederländischen Großbank, Chefin von mehr als dreißig Mitarbeitern.
Jetzt arbeitet sie unter anderem an der Rezeption eines kleinen Besucherzentrums.
Es liegt an einer einsamen Landstraße, die durch die „Arava“ führt, eine Senke, die
sich vom Toten Meer bis nach Elat am Golf von Akaba zieht. Henriette arbeitet jetzt für
einen Stundenlohn von umgerechnet acht Euro, empfängt Touristen, die sich für die
Gegend interessieren oder einfach nur auf die Toilette wollen, und verkauft Kräuter,
Honig und Schokoriegel. Das sind Produkte, die von den kleinen landwirtschaftlichen
Familienbetrieben in dieser entlegensten Gegend Israels hergestellt werden.
O-Ton Henriette Niederländisch
Ik werk hier omdat ik de Arava heel … ik leer iedere dag heel veel.
Sprecherin 1
Ich arbeite hier, weil ich die Arava schön finde und die Besucher alles über die Arava
wissen wollen. Ich kann hier aber auch mein Hebräisch verbessern. Ich lerne hier
jeden Tag sehr viel Neues.
Autor
Ein großer Teil der Senke liegt einige hundert Meter unter dem Meeresspiegel. Die
Temperaturen im Sommer können auf über 50 Grad steigen. Jetzt, im kalten Februar,
müssen wir uns mit 25 Grad begnügen. Es ist eine flache Steinwüste mit sehr wenig
natürlicher Vegetation.
O-Ton Henriette Motivation
Ik heb mijn man hier in Israël … ik heb er geen spijt van.
Sprecherin 1
Meinen Mann habe ich hier in Israel kennengelernt, während einer Urlaubsreise. Wir
haben dann zuerst zusammen in den Niederlanden gewohnt, aber waren oft hier, auf
Familienbesuch oder auf Urlaub. Die Arava hat mich immer fasziniert. Ich kann das
schwer in Worte fassen. Es war einfach ein Gefühl. Ich fühlte mich sehr wohl hier. Wir
haben es keinen Moment bereut.
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Brecher: Grenzland 5
Autor
Neben Hazeva, dem Dorf, in dem sich Yoram und Henriette niedergelassen haben,
gibt es noch ein halbes Dutzend anderer kooperativer Dörfer, Kibbutzim und
Moshavim, mit insgesamt knapp 3.000 Bewohnern - jüdischen Bewohnern. Die rund
3.000 thailändischen Gastarbeiter, die für ein bis fünf Jahre kommen, werden nicht
mitgezählt. Die Dörfer der Arava liegen an einer 100 km langen, zweispurigen
Landstraße: Sie führt entlang der jordanischen Grenze durch eine flache
Wüstenlandschaft, auf beiden Seiten flankiert von imposanten Bergketten, die je nach
Tageszeit braun, rosa oder rot erscheinen.
O-Ton Henriette Niederländer
Voor mij is de woestijn heel erg soul touching … naar de Arava zijn gekomen.
Sprecherin 1
Mich berührt die Wüste sehr stark und ich begreif‘ gut, dass Menschen deshalb
hierherziehen. Ich habe hier einmal in einem Café gesessen, und da kam eine Frau
mit einem kleinen Kind herein, barfuß und ziemlich hippieartig angezogen. Ich hörte,
wie die Mutter mit dem Kind niederländisch sprach. Es waren Niederländer, die lange
in Indien gelebt haben, ihre Kinder bewusst nicht in die Schule geschickt haben und
auf spirituellem Gebiet sehr weit entwickelt sind. Das ist ihr Lebensinhalt, und deshalb
haben sie sich hier in der Arava niedergelassen.
Autor
Das Besucherzentrum, in dem ich Henriette getroffen habe, ist ein flacher,
schmuckloser Zweckbau am Rande der Landstraße. Dahinter liegen die
Gewächshäuser von Hazeva, die sich bis zur zwei Kilometer entfernten Grenze zu
Jordanien erstrecken. Kurz vor der Grenze, rechts und links des eigentlichen Dorfes,
gibt es noch alte Minenfelder aus der Zeit, in der hier Feindesland begann. Ein
einfacher Zaun mit Schildern „Vorsicht Minen“ schirmt sie ab. Seit dem
Friedensvertrag mit Jordanien vor mehr als 20 Jahren sind sie eigentlich überflüssig.
Doch den Bewohnern gelten die Minen als billiger und effektiver Grenzschutz. Ein
wenig inhuman, könnte man sagen. Aber wer hier illegal über die Grenze geht, ist
selbst schuld.
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Brecher: Grenzland 6
O-Ton Arik Lavie Lied: HaSela Ha ADom
Autor:
Ein Film über die Arava, der im Filmsaal des Besucherzentrums in einer
Endlosschleife läuft. Bevor die Juden kamen, sagt der Kommentar, sei die Wüste ganz
leer gewesen und Israels erster Ministerpräsident David Ben Gurion habe deshalb die
Juden in den Städten dazu aufgerufen, die Wüste zu besiedeln, sie zum Blühen zu
bringen. Dieser Mythos vom Land ohne Volk für das Volk ohne Land ist hier in der
Wüste immer noch gegenwärtig.
Atmo Haus Arnon
O-Ton Henriette Haus
Toen wij hier kwamen … bij de bouw van het huis echt rekening gehouden.
Sprecherin 1
Wir hatten in den Niederlanden ein schönes Haus mit einem schönen Garten. Dann
kommst du hier an und denkst: jetzt muss ich erst einmal das Gerümpel wegräumen.
Es gibt hier viel Platz, die Autos werden wild geparkt und stehen nicht so ordentlich
vor dem Haus wie in den Niederlanden. Und überall liegt, wie soll ich es sagen,
landwirtschaftlicher Abfall herum. Unser Haus ist auch nicht ideal. Ich dachte zuerst,
was für eine Bruchbude. Es hat alles, fließend Warmwasser, Elektrizität, aber als wir
es zuerst sahen, dachten wir: es sieht aus wie ein kleines Gefängnis. Es gab kaum
Fenster. Wir haben den Vermieter dann gefragt, ob wir einen Durchbruch für eine
Terrassentür machen dürfen. Das wird euch noch leidtun, hat er gesagt, wegen des
Sandes und der Hitze. Aber ich wollte Licht.
Atmo Yoram und Tochter
O-Ton Yoram Arbeit
HaAvoda sheli be’etzem … shema’averim ota po.
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Brecher: Grenzland 7
Sprecher 3
Ich arbeite jetzt als Buschauffeur und fahre die Kinder des Moshavs zur regionalen
Grundschule. Und ich fahre die thailändischen Gastarbeiter. Sie kommen für ein
Schulungsjahr von zehn bis zwölf Monaten, arbeiten fünf Tage in der Woche bei
einem der Landwirte und haben dann einen Tag pro Woche Unterricht in der
Landwirtschaftsschule. Das Ausbildungsjahr zählt dann mit beim ihrem
Landwirtschaftsstudium in Thailand.
Autor
Yoram Arnon, Henriettes Mann. Yoram hat sieben Jahre in den Niederlanden
gewohnt. Weil er vorhatte nach Israel zurückzukehren, schlug er sich dort mit
Gelegenheitsarbeiten durch, zuletzt als Briefsortierer bei der Post. Jetzt will er sich
endlich entfalten. Aber die Beschäftigungsmöglichkeiten sind begrenzt. Die
thailändischen Gastarbeiter besetzen hier 90 Prozent der Arbeitsplätze für
Landarbeiter.
O-Ton Yoram Bewerbung
Tov, be’ikaron mashe hichlatnu ... lehakim meshek.
Sprecher 3
Wir sind jetzt ein halbes Jahr hier und haben uns entschieden, in die Landwirtschaft zu
gehen. Das bedeutet, dass wir uns als Mitglieder im Moshav bewerben müssen. Der
erste Schritt ist eine externe Prüfung, die eine unabhängige Stelle abhält. Da geht es
um unsere soziale und berufliche Eignung. Der nächste Schritt ist die Prüfung der
finanziellen Voraussetzungen, unseres Einkommens, unserer Schulden, unseres
Besitzes. Dann muss die Mitgliedskommission des Moshavs entscheiden, ob wir
geeignet sind, einen Landwirtschaftsbetrieb zu gründen und zu führen.
Autor
Dieser langwierige Bewerbungsprozess ist noch nicht alles. Der Moshav ist zwar der
kapitalistische Bruder des Kibbuzes mit privatisiertem Gewinn und privatem Besitz des
Wohnhauses, aber der Absatz der Produkte und viele andere Einrichtungen auf dem
Moshav sind gemeinschaftlich organisiert.
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Brecher: Grenzland 8
O-Ton Yoram Mitgliedschaft
Jachasiet, im ken avarnu ... las’chum she’ata omed lehashgi’a sham.
Sprecher 3
Wenn wir diese Phasen absolviert haben, werden wir als Kandidaten für ein Probejahr
aufgenommen in dem Moshav, in dem wir wohnen wollen. In diesem Probejahr
müssen wir uns dann gesellschaftlich betätigen, werden zu gemeinsamen Abenden
oder Wochenenden eingeladen, damit die Mitglieder uns kennenlernen und am Ende
eine Entscheidung treffen können. Wenn wir angenommen werden, erhalten wir fünf
Hektar Land für den Anbau. Dann müssen wir dem Landwirtschaftsministerium einen
Plan vorlegen für das, was wir anbauen wollen, und unsere Finanzplanung. Wenn der
Antrag angenommen wird, haben wir Recht auf einen staatlichen Zuschuss von 25
Prozent unserer Investitionen.
Autor
Das klingt großzügig, aber die Risiken sind groß. Die Erträge der in der Aarva
angebauten Gemüsesorten – Paprika, Gurken, Zucchini – schwanken sehr stark. Das
Beste wäre Datteln anzubauen. Datteln aus der Arava sind ein Qualitätsprodukt, das
über Umwege sogar nach Saudi-Arabien exportiert wird.
O-Ton Yoram Sieben Jahre
Tov, hagidul hachakla’i … mishana hashvi’it ata matchil leharvi’ach
Sprecher 3
Wenn wir Dattelpalmen anpflanzen, müssen wir vier Jahre warten, bis die Bäume
Früchte tragen. Dann beginnen wir mit der Ernte und dem Verkauf und dann dauert es
noch einmal bis zu vier Jahren, bis du deine Kosten zurückverdient hast. Sieben Jahre
dauert es durchschnittlich, bis die Sache sich zu lohnen beginnt.
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Brecher: Grenzland 9
Autor
Und die Alternativen? Landwirtschaft war in Israel früher einer der wichtigsten
Exportsektoren, inzwischen aber liegen High-Tech-Rüstungsgüter und Software vorn.
Und die Regierung investiert in der Zwischenzeit lieber in die Westbank.
Atmo Autofahrt Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“
Autor
Ich mache mich auf den Weg in den Norden des Negev. Die Fahrt geht durch eine
rosarote Felsenlandschaft, durch Haarnadelkurven die Berge hinauf zu
atemberaubenden Panoramen und hinunter in Wadis, in denen jetzt, zu Beginn des
Frühjahrs, ein paar Sträucher blühen. Vorbei an Israels einzigem Kernreaktor und
einer nuklearen Versuchsstation, die von einer riesigen militärischen Schutzzone
umgeben ist. Vorbei an den zwei Enwicklungsstädten Dimona und Yerucham, die
Anfang der Fünfzigerjahre für jüdische Einwanderer aus Nordafrika gebaut wurden,
aber sich nie entwickelt haben. Jemand hat dieses Gebiet einmal das Sibirien Israels
genannt, in das orientalische Juden verbannt wurden, um den Negev jüdisch zu
besiedeln.
Wir sind auf dem Weg nach Beer Sheva, der größten jüdischen Stadt des Negev. Sie
wurde um 1900 von der osmanischen Distriktregierung erbaut und war die erste
Beduinen-Stadt des Landes. Hier am relativ fruchtbaren Nordrand des Negev entstand
ein wichtiger Markt für beduinische Landwirte und Viehzüchter. 1948 wurde die Stadt
von der israelischen Armee erobert. Die einheimische Bevölkerung floh oder wurde
vertrieben. Beer Sheva und ein zehn Kilometer tiefer Gürtel um die Stadt herum
wurden zum Sperrgebiet für Beduinen erklärt.
O-Ton Zaid Heimatdorf
Ani gadalti bejeschuv … hechalnu livnot zrifim.
Sprecher 1
Ich bin in einer nicht anerkannten Siedlung aufgewachsen, neben dem Moshav
Nevatim, etwa sechs bis sieben Kilometer von Beer Sheva. Nevatim ist ein Moshav für
Juden aus Indien. Unsere Siedlung und der Moshav sind nur von einer Schnellstraße
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Brecher: Grenzland 10
getrennt. Wir haben bis in die Achtzigerjahre in Zelten gewohnt. Dann haben wir
begonnen, Hütten zu bauen.
Autor
Zaid Afawi ist Arzt und Hirnforscher.
O-Ton Zaid Heimatdorf
Weha’inu ad arshav … ze ad schnat haschmonim.
Sprecher 1
Bis heute haben wir keinen Strom und kein Wasser. Wir hatten nur eine kleine
Laterne. Ich erinnere mich, dass meiner Mutter morgens Wasser über dem Feuer
erwärmte, damit ich mich vor dem Weg in die Schule waschen konnte. Was mir noch
genau vor Augen steht, sind die Kuhlen, die wir im Winter um das Zelt herum
gegraben haben. Darin haben wir das Regenwasser eingefangen. Im Sommer haben
wir das Zelt dann umgebaut. Im Winter hielt es den Regen ab, im Sommer die Hitze.
So ging es bis in die Achtzigerjahre.
Autor
Die nicht anerkannten Dörfer sind Siedlungen, die größtenteils in der Zeit nach der
Gründung Israels entstanden sind. Als Wohnorte wurden sie von der Regierung nie
anerkannt. Sie sind nicht an die Verkehrs- und Versorgungsnetze angeschlossen und
haben keinerlei Infrastruktur. 46 Dörfer mit 80 000 Bewohnern werden von einer
Organisation der Beduinen repräsentiert.
Zaid musste in seiner Jugend jeden Tag zehn Kilometer laufen, um die Schule
besuchen zu können, erzählt er. Mit 18 bewarb er sich um einen Medizin-Studienplatz
an der Universität Beer Sheva, benannt nach David Ben Gurion. Nur zwei Beduinen
hatten vor ihm in Israel Medizin studiert. Die Ben-Gurion-Universität nahm ihn nicht an.
Zaid lernte italienisch und studierte in Neapel. Er erwarb sich als Hirnchirurg großes
Ansehen und machte schnell Karriere. Trotzdem wollte er wieder nachhause. Fühlte er
sich gegenüber seiner Familie verpflichtet, wollte ich wissen.
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Brecher: Grenzland 11
O-Ton Zaid Rückkehr
Nachon, sot echad ha sibot … lach’sor laIma scheli.
Sprecher 1
Das stimmt. Das war einer der Gründe, warum ich aus Italien zurückgekommen bin.
Ich fühle mich stark mit meiner Familie verbunden. Ich liebe meine Familie. Einer
unserer Traditionen ist die Eltern zu ehren. Ich hatte viele Angebote im Ausland. Es
ging mir sehr gut, auch was die Arbeit anlangt. Aber trotzdem wollte ich zu meinem
eigenen Leben zurück, zu meiner Mutter, ohne Wasser, ohne Strom. Ich war bereit, all
das in Kauf zu nehmen, um zu meiner Mutter zurück zu können.
Autor
Ich hatte Zaid Afawi und seine Frau Amal im Herbst 2016 kennengelernt, als Zaid auf
Einladung der Erasmus-Universität einige Tage in den Niederlanden war. Ich lud sie
zu mir nachhause ein. Wir kamen schnell ins Gespräch, in ein sehr persönliches und
aufwühlendes Gespräch über seine Erfahrungen als Arzt und Beduine, seine nicht
immer einfache Position in der traditionellen Gesellschaft seines Stammes und seine
Position als Außenseiter in der jüdischen Gesellschaft Israels, in der er Bürger zweiter
Klasse ist. Zaid und Amal luden mich in ihr Haus nach Tel Sheva ein, der ersten, 1967
von der israelischen Regierung für Beduinen gebauten Stadt. Hier, zehn Kilometer von
Beer Sheva entfernt, wohnen sie mit ihren Kindern in einem modernen
Einfamilienhaus. Andere Mitglieder seiner Familie, unter anderem seine über 90jährige
Mutter, sind in der illegalen Siedlung geblieben. Seine Mutter lebt weiterhin ohne
Wasser- und Stromanschluss, ohne Heizung im Winter und ohne moderne Toilette.
O-Ton Zaid Anpassung
HaAchim sheli weIma sheli … bikoret bazad scheni.
Sprecher 1
Meine Brüder, meine Mutter, wenn sie herkommen, fühlen sich wie im Gefängnis und
wollen schnell wieder nachhause. Mir selbst fiel es schwer, nachdem ich einmal zum
Studieren weggegangen war, morgens auf das Duschen zu verzichten. Ich konnte
auch nicht mehr ohne Klimaanlage im Sommer und ohne Heizung im Winter schlafen.
Ich hatte mich an das moderne Leben gewöhnt und konnte nicht mehr zum alten
Leben zurück. Ich kann morgens nicht mit dem Geruch von Rauch in der Kleidung zur
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Brecher: Grenzland 12
Arbeit im Krankenhaus erscheinen. Meine Kollegen würden sagen: Du bist jetzt Teil
unserer Gesellschaft, du musst dich anpassen. Deine Gewohnheiten und Bräuche in
allen Ehren, aber du musst vermeiden, dass andere Kritik an dir äußern.
Autor
Zaid ist eine internationale Kapazität auf dem Gebiet der genetischen Grundlagen der
Epilepsie und leitet die israelische Forschungsgruppe Epilepsie. Trotzdem ist es dem
50Jährigen bislang nicht gelungen, eine feste Anstellung zu bekommen. Er fühlt sich
als Außenseiter unter seinen jüdischen Kollegen. Israelis unterscheiden sehr deutlich
zwischen Arabern und Juden, die in fast völlig getrennten gesellschaftlichen Sphären
leben, aber Beduinen sind noch weniger integriert und akzeptiert. Auch seine Frau
Amal arbeitet am Universitätskrankenhaus in Beer Sheva und hat hier ähnliche
Erfahrungen gemacht.
O-Ton Zaid Mehr Hass
HaHachas haya pi mea … ba’aliya shel mea’chus.
Sprecher 1
Die Beziehungen waren früher hundert Mal besser. Als kleines Kind bin ich in den
Moshav arbeiten gegangen. Sie haben mich respektiert, sie haben meine Eltern
respektiert, und wir haben ihnen Respekt gezeigt. Wir vertrauten einander. Es gab
keine Unterschiede, außer im Lebensstandard. Wir wohnten in Zelten, und sie
wohnten in Häusern. Bis zum Tod von Rabin empfanden wir keinen Hass. Die
Menschen gingen zu Arbeit, konnten sich frei bewegen. In den letzten Jahren ist Hass
entstanden. Wir empfinden das sehr stark. Er hat um hundert Prozent zugenommen.
Atmo Muezzin Lakia
Autor
Ein sternenklarer Abend im Dorf Lakia. Wir stehen vor dem Haus von Amals Eltern
und lauschen gebannt dem Gesang der beiden Muezzine von Lakia. Von zwei
Minaretten rufen sie von verschieden Seiten des Dorfes her zum Gebet. Lakia ist der
Heimatort von Amal, etwa 20 Kilometer von Tel Sheva entfernt. Das Haus der Eltern
ist das älteste hier, aus Lehm gebaut, mit einem großen Vorplatz, auf dem eine riesige
Palme steht. Zaid und seine Frau Amal haben mich zum Abendessen eingeladen.
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Brecher: Grenzland 13
O-Ton Amal Haus
BaBayit haze haya li sichronot … hem garu misawiev.
Sprecherin 2
Mit diesem Haus verbinden mich viele Erinnerungen an die Kindheit. Meine Familie
hat bis in die Neunzigerjahre hier gewohnt, mit mehr als 60 Personen. Darüber hinaus
hatten wir auch immer Gäste. Ganze Familien kamen zu Besuch. Das Haus war
immer voller Menschen. 1990 hat das Haus während des Golfkriegs sogar als Bunker
gedient. Danach wurde es als Schuppen genutzt. Die Familie blieb in der Nähe
wohnen.
Autor
Wir haben uns zum Essen auf den Boden gesetzt. Es gibt Nagluba, ein Gericht aus
Gemüse, Reis und Geflügel, das auf einer großen Schale zwischen uns steht. Die
Mutter hat gemeinsam mit Amal dieses Essen vorbereitet, tritt aber selbst nicht in
Erscheinung. Amals Vater vertritt die Familie. Kadr Abu Karen ist ein einfacher Mann.
Auf dem Abhang hinter dem Haus repariert er Autos, mit den allereinfachsten Mitteln.
Trotzdem hat er es geschafft, alle seine Kinder studieren zu lassen, auch seine
Töchter. Das ist eine Besonderheit in dieser traditionellen Gesellschaft, die zudem
noch bettelarm ist. Die Familie Amals repräsentiert den schwierigen Übergang, in dem
sich die Beduinen hier befinden, von traditionellen Lebens -und Arbeitsweisen zu
einem freieren Lebensstil. Dieser Übergang wird durch die Chancen, die das moderne
Israel bietet, möglich gemacht, aber durch die diskriminierende Haltung der Umwelt
auch wieder sehr erschwert. Ich frage Amal, ob der Weg, den sie gewählt hat –
Fachhochschulstudium in einer anderen, einer jüdischen, Stadt und eine Arbeitsstelle
in einer nicht-beduinischen Umgebung, als OP-Schwester an den Uni-Kliniken in Beer
Sheva – auch von anderen Frauen eingeschlagen wird.
O-Ton Amal Krankenpflege
Ada’in lo … me’ascher bedui.
Sprecherin 2
Noch nicht. Es gibt einzelne Mädchen, die unabhängig sind und vorausstrebend. Aber
im Prinzip lassen die traditionellen Normen der Beduinen-Gesellschaft diese
Unabhängigkeit nicht zu. Krankenpflege ist übrigens kein gutes Beispiel. Die
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Brecher: Grenzland 14
Regierung fördert diesen Beruf sehr stark wegen des Arbeitskräftemangels in diesem
Sektor in ganz Israel. Andere Berufsfelder bleiben Beduininnen praktisch versperrt.
Aber selbst in der Krankenpflege kommst du nicht voran. Eine leitende Position als
Krankenschwester – da werden Juden vorgezogen oder Mitglieder anderer Gruppen,
aber keine Beduininnen.
Autor
Entscheidend sei die Unterstützung der Familie, wenn eine Frau außerhalb der
Familie und des Stammes arbeiten oder einer Ausbildung machen will. Heute leben
etwa 250.000 Beduinen in Israel, größtenteils im Negev. Bei den Männern liegt die
Arbeitslosigkeit bei 60 Prozent Arbeit gibt es vorwiegend im Bau oder im
Transportsektor. Über 80 Prozent der Frauen haben außerhalb der Familie keine
Arbeit und kaum eine Chance, Arbeit zu finden. Amal hat studiert. Haben Frauen ohne
Ausbildung überhaupt Arbeitsmöglichkeiten?
O-Ton Amal Heimarbeit
E’in, e’in … mevi habayta.
Sprecherin 2
Nein, überhaupt nicht. Wenn eine Frau keine Ausbildung hat, findet sie außerhalb des
Hauses keine Arbeit. Körperliche Arbeit oder Arbeit im Freien kommen nicht in Frage.
Einige Frauen gehen putzen, aber das wird unter Beduinen nicht gern gesehen. Ich
arbeite mit einer Gruppe von Frauen, die in Heimarbeit Produkte herstellen, zum
Beispiel Stickereien, oder mit anderen Handarbeiten Geld verdienen wollen. Ich helfe
ihnen beim Verkauf. Auf diese Weise können auch sie ein Einkommen haben. Zu
Hause zu sitzen, ohne Einkommen, macht sie völlig abhängig von den Männern und
von dem Geld, das Männer nach Hause bringen.
Autor
In der Vergangenheit spielte Lohnarbeit bei Beduinen kaum eine Rolle. Seit Mitte des
19. Jahrhunderts, seitdem die Beduinen im Negev allmählich sesshaft wurden, bildete
neben der Viehzucht die Landwirtschaft die wichtigste Einkommensquelle. Frauen
hatten dabei eine ebenso große Rolle gespielt wie Männer, erzählt Amal. Seitdem
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Brecher: Grenzland 15
Beduinen aber in Townships wohnen und sich nach neuen Beschäftigungen umsehen
müssen, sitzen die Frauen zuhause.
In Trockenzonen wie dem Negev funktionieren traditionelle Landwirtschaft und
Viehzucht nur in Zusammenhang mit extensiver Bodennutzung und Bodenbesitz.
Damit war der Konflikt mit den jeweiligen Machthabern programmiert. Die
osmanischen, britischen und israelischen Verwaltungen versuchten alle auf ihre
Weise, die traditionellen Muster der Bodennutzung und der Ansiedlung von Beduinen
im Negev zu verändern und zu bekämpfen.
O-Ton Amal Bodenbesitz
HaMischpacha kanta … bekol ha’adamot shela.
Sprecherin 2
Meine Familie hat in der osmanischen Zeit viel Grund gekauft und im Grundbuch
eintragen lassen. Das war sehr wichtig. Heute gibt es viel Streit um Böden hier in der
Gegend. Die meisten Beduinen haben in der osmanischen Zeit Grund gekauft, aber
nicht eintragen lassen, um die Zahlung von Grundsteuern zu vermeiden.
Eingetragener Bodenbesitz war auch mit dem Militärdienst des ältesten Sohnes
verbunden, den die Beduinen umgehen wollten. Der Kauf von Böden wurde dann nur
mit einem Kaufvertrag besiegelt. Meine Familie allerdings ließ den Erwerb von Böden
auch im osmanischen Grundbuch eintragen. Als die israelische Regierung unser Land
konfiszieren wollte, sind wir vor Gericht gezogen. Wir haben bis in die letzte Instanz
kämpfen müssen, aber der Oberste Gerichtshof hat uns in den Neunzigerjahren
schließlich Recht gegeben. Wir waren die erste Beduinenfamilie, deren Grundbesitz
durch den Obersten Gerichtshof bestätigt wurde.
Atmo Autofahrt
O-Ton Atiya Industriezone
Anachnu ro’im po kfar Al Ser … la tzad hasheni.
Sprecher 5
Wir sehen hier das Dorf Al Ser, ein Beduinen-Dorf mit 2000 Bewohnern. Dort sehen
wir das Industriegebiet der Stadt Beer Sheva. Das Gebiet wird ständig erweitert. Jedes
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Brecher: Grenzland 16
Mal, wenn es erweitert wird, müssen Menschen umziehen. Die Regierung will, dass
alle umziehen, hierhin, auf die andere Seite der Schnellstraße.
Autor
Atiya Al-Assam, der Vorsitzende des Verbandes der nicht anerkannten 46 Dörfer.
Atiya, der auch „Bürgermeister“ der illegalen Dörfer genannt wird, vertritt die 80.000
Bewohner der Dörfer, ein Drittel der Beduinen im Negev.
O-Ton Atiya Industriezone
Wekol ele habatim … harbei s’man we ole harbei kessev.
Sprecher 5
Alle diese Häuser hier unter den Hochspannungsleitungen müssen abgerissen und
auf die andere Seite gebracht werden. Die Stromleitungen sind gebaut worden,
während die Leute hier wohnten. Das alles symbolisiert das Verhältnis des Staates zu
den Beduinen. Fast alle nicht anerkannten Dörfer sollen aufgelöst werden. Der Staat
gönnt den Menschen nicht die Sicherheit und den Frieden, in ihren Häusern bleiben
zu können. Schau dich um. Es gibt hier keine Straßen, keine medizinische
Versorgung, keine Schulen. Es gibt hier nichts. Die Bewohner müssen für alles in
einen Ort fahren, der weit weg ist. Sie könnten den Autobus nehmen, aber es gibt hier
keine Autobusse. Sie sind auf private Autos angewiesen, und das kostet viel Zeit und
Geld.
Autor
Ich habe Atyia im Büro der Vereinigung in der Altstadt von Beer Sheva abgeholt, und
dann sind wir zusammen zur Schnellstraße 40 gefahren. Diese Umgehungsstraße von
Beer Sheva bildet die Grenze zwischen dem Gebiet der Juden, in dem der Staat
investiert und baut, und dem Gebiet der Beduinen, in dem es oft nicht einmal Strom
und fließendes Wasser gibt. Bei unserer zweiten Station klettern wir auf einen Hügel,
der uns eine weite Aussicht bietet.
Atmo Hügel
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Brecher: Grenzland 17
O-Ton Atiya Pläne
Anachnu po ro’im et haKwarim … schloschimve’arba kwarim.
Sprecher 5
Wir können von hier aus fast alle nicht anerkannten Dörfer sehen. Wir sehen auch den
einzigen jüdischen Moshav in der Gegend, 1956 entstanden. Wir sehen, dass es dem
Moshav an nichts fehlt – große landwirtschaftliche Flächen, viel Platz zwischen den
Häusern. Der Staat gibt uns nicht das Recht, einen solchen Moshav für uns zu bauen,
Landwirtschaft zu betreiben und weniger dicht aufeinander zu wohnen. Schau, wie
dicht aufeinander die Häuser auf der anderen Seite stehen. Diese 34 Dörfer will der
Staat abreißen und die Menschen in die Townships oder an andere Stellen umsiedeln.
Autor
Hintergrund und Motive für diese Politik sind sehr umstritten. Die israelische
Regierung argumentiert, dass diese Dörfer auf staatlichem Grund und Boden illegal
gebaut worden seien; dass sie diese Dörfer nicht an die Versorgungs- und
Verkehrsnetze anschließen und ihnen keine öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen
bieten könne; und dass die Bewohner in die anerkannten Siedlungen umziehen
müssten, um die jedem Bürger zustehenden Dienstleistungen zu erhalten. Viele der
Dörfer sind erst nach 1948 entstanden, als die Regierung den in Israel verbliebenen
Beduinen ein kleines Siedlungsgebiet nördlich und östlich von Beer Sheva zuwies.
Hier wurden auch die Townships gebaut. Diese Umsiedlung stellte sich aber bald als
unzureichend heraus. Gerade das Gebiet um Beer Sheva wurde und wird für eine
Ausbreitung von Industrie und jüdischen Wohngebieten beansprucht. Die Regierung
verlegte sich auf eine Politik der Anreize und des Zwangs, um die Beduinen erneut
umzusiedeln: Anerkennung größerer Dörfer und Vergabe von angrenzendem Land zu
günstigen Preisen bei gleichzeitig gewaltsamer Zerstörung von anderen. Besondere
Spannungen haben Bauvorhaben für jüdische Siedlungen hervorgerufen, wenn dafür
Beduinendörfer weichen sollten. Bei Protesten gegen ein solches Projekt in Um Al
Hiran kamen kurz vor meinem Besuch zwei Menschen ums Leben, ein Polizist und ein
Lehrer.
O-Ton Atiya Omrit Bet = 0:42
Hayom haMemschala … haJehudim baOmrit bet.
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Brecher: Grenzland 18
Sprecher 5
Heute verlässt sich die Regierung auf Zwang, um das Problem zu lösen. Wie bei
diesem Dorf dort drüben. Dort wohnen etwa 6.000 Menschen. Die Regierung plant, sie
zwangsweises in die Township Rahat umzusiedeln, um an dieser Stelle eine jüdische
Siedlung zu bauen, Omrit 2. Wir sagen: O.k., baue Omrit 2, aber baue es an einer
leeren Stelle. Leere Stellen gibt es hier genug. Baue Omrit 2 und erkenne gleichzeitig
das Beduinendorf an. Sorge für eine ordentliche Planung, baue für uns eine richtige
Siedlung. Die Regierung sagt Nein. Die 6.000 müssen nach Rahat umziehen, und wir
werden Juden in Omrit 2 ansiedeln.
Atmo Autofahrt arabische Musik im Autoradio
Atmo Beer Sheva Markt
Autor
Der Beduinen-Markt in Beer Sheva. Hier werden so unterschiedliche Produkte wie
beduinisches Kunsthandwerk, Kleidung, Haushaltswaren Made in China und Gewürze
verkauft. Während meines Aufenthalts veröffentlichte die Stadtverwaltung Pläne, den
über 100 Jahre alten Markt zu schließen, um den „regulären“ Markt der Stadt zu
stärken. Der Markt habe seinen ursprünglichen Charakter verloren, hieß es. Unter
Beduinen ist dieser Schritt umstritten. Einige finden auch, dass der nur noch an zwei
Wochentagen stattfindende Markt nicht mehr lebensfähig sei. Andere sehen darin
einen weiteren Schritt im allumfassenden Projekt der „Umsiedlung“, die Anfang der
1970er Jahre begann.
O-Ton Suleiman Geplante Ortschaften
Asking about the Seventies … and what are their special needs.
Sprecher 6
Nach den 70er Jahren zu fragen, ist ein guter Ausgangspunkt. Seitdem gibt es die
Pläne der Regierung, die Beduinen in geplante Ortschaften umzusiedeln. Die
Bevölkerung sollte dort eine bessere Infrastruktur erhalten - Wasser, Strom, Telefon et
cetera. Der Plan ist teilweise gelungen. Die Regierung hat einen Teil der Bevölkerung
umsiedeln können, obwohl die Infrastruktur von jüdischen Israelis geplant wurde, ohne
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Brecher: Grenzland 19
Rücksicht darauf, was zum Lebensstil der Beduinen passte und was ihren besonderen
Bedürfnissen entsprach.
Autor
Suleiman Abu-Bader ist Wirtschaftswissenschaftler an der Ben-Gurion-Universität.
O-Ton Suleiman Geplante Ortschaften
Since then there are now … in these fifteen years.
Sprecher 6
Inzwischen sind 17 geplante oder anerkannte Ortschaften entstanden. Bis 2004 gab
es sieben. Seitdem wurde weitere zehn geplant beziehungsweise anerkannt, aber das
lässt sich nicht leicht erkennen. Nichts ist nämlich geschehen, seitdem diese Orte
anerkannt wurden. Es sind noch nicht einmal gepflasterte Zugangsstraßen angelegt
worden in diesen 15 Jahren.
Autor
Ich traf Suleiman in seinem Büro auf dem modernen Campus einige Kilometer nördlich
des Beduinen-Marktes und der Altstadt von Beer Sheva.
O-Ton Suleiman Ärmste Gemeinden
If we look at the ranking … but this is not the case.
Sprecher 6
Wenn wir uns die Rangordnung aller israelischen Gemeinden anschauen, sehen wir,
dass die geplanten und anerkannten Ortschaften am unteren Ende der Skala von
insgesamt 255 Gemeinden stehen. An dieser Position hat sich im Laufe der Jahre
nichts geändert. Das bedeutet, dass mit den Plänen der Regierung etwas nicht stimmt.
Zum ersten werden diese Entwicklungspläne von der Regierung gemacht, ohne die
Araber im Süden, die Beduinen, zu konsultieren. Was brauchen sie? Wo liegt der
Bedarf? Natürlich kennt die Regierung die Probleme, aber es gibt keine
Zusammenarbeit, keine gemeinsamen Initiativen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen
und den Lebensstandard zu verbessern. Das geschieht einfach nicht.
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Brecher: Grenzland 20
Autor
Atiya Al-Assam, der Bürgemeister, hatte das Ziel der israelischen Politik so
zusammengefasst: so viele Beduinen wie möglich auf so kleinem Raum wie möglich
unterzubringen. In der Tat steht im so genannten Begin-Plan von 2013 die Landfrage
im Mittelpunkt. Der Plan geht von einer übermäßigen Flächennutzung durch Beduinen
im Negev aus und bietet als Kompensation wesentlich kleinere, aber dafür im
Grundbuch registrierte und voll erschlossene Grundstücke in anerkannten Siedlungen
an. Was hält Suleiman vom Argument der unverhältnismäßig hohen Flächennutzung?
O-Ton Suleiman Flächengröße
More and more there are … 19.6 square kilometer.
Sprecher 6
Wir sehen mehr und mehr Wohnungsmangel bei den Beduinen im Süden. Die
Gemeindeflächen sind zu klein im Vergleich zu jüdischen Gemeinden in der Region
mit derselben Bevölkerung. Dimona, auch eine arme Gemeinde im Süden, und Arad
verfügen zusammen über eine Fläche von 130 Quadratkilometern und haben
zusammen eine Bevölkerung von 57.000. Rahat hat 58.000 Einwohner aber verfügt
nur über eine Fläche von 19 Quadratkilometern.
Autor
Alle Pläne der Regierung in den vergangenen 50 Jahren boten strukturelle Hilfen für
die Beduinen immer nur in Verbindung mit Umsiedlung und Konzentration der
Bevölkerung in einer urbanen Umgebung an. Kritiker dieser Politik zitieren gerne den
israelischen Politiker Moshe Dayan, der 1963 die Beduinen durch Urbanisierung
assimilieren und innerhalb von zwei Generationen als „Proletariat“ für den Industrie-
und Dienstleistungssektor gewinnen wollte. Doch das ökonomische Wachstum im
Negev blieb aus und billigere, unqualifizierte Arbeitskräfte wurden im Ausland
angeheuert. Beduinen, und besonders Beduininnen suchen seitdem
Entwicklungsmöglichkeiten in Berufen mit höheren Qualifikationen.
O-Ton Suleiman Studenten
In the past 30 years … educating society in the future.
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Sprecher 6
In den vergangenen 30 Jahren hat sich der Bildungsgrad der Beduinen stark
verbessert, unter Männer wie Frauen, aber unter Frauen ist der Anstieg am stärksten.
Es gibt insgesamt viel mehr Studenten. An der Ben-Gurion-Universität studieren heute
doppelt so viele Frauen wie Männer. Das gilt auch für die Fachhochschulen in der
Region. Und viel mehr weibliche Studenten gehen zum Studium nach Europa. Bildung
wird immer wichtiger. Gebildete Frauen haben zudem mehr Einfluss auf das
Bildungsniveau der Gesellschaft in der Zukunft.
Autor
Wie steht es mit der Vision Ben Gurions, die Wüste zum Blühen zu bringen? Diese
Metapher für die Kolonialisierung eines Gebietes, das bis vor 70 Jahren ausschließlich
von Arabern bewohnt war, wurde auch in Deutschland zu Spendenaktionen genutzt.
So wurde mit Geldern der Bundesländer in der Wüste östlich von Beer Sheva ein
„Wald der deutschen Länder“ gepflanzt, auf dem Boden von Beduinen, die nur einen
Kaufvertrag vorweisen konnten, aber keinen Grundbucheintrag.
O-Ton Suleiman Blühende Wüste
When they talk about… It is very easy.
Sprecher 6
Wenn sie darüber sprechen, die Wüste zum Blühen zu bringen, denken sie nicht an
die Araber. Die Beduinen kommen in diesem Bild nicht vor. Das ist schwer zu
akzeptieren. Der Negev ist riesig, 70 Prozent der Fläche Israels. Es gibt hier genug
Platz für alle, für Juden und Araber, für aschkenasische Juden, für orientalische
Juden. Die Beduinen fordern weniger als vier Prozent des Negev. Gleichzeitig machen
sie 25 Prozent der Bevölkerung des Negev aus. Sie wollen nicht mehr als andere.
Wenn du willst, dass die Wüste blühen soll, dann gib den Beduinen
Entwicklungschancen im Negev. Gib ihnen Arbeit, gib ihnen Bildung, und du wirst
sehen, wie die Wüste erblühen wird. Du brauchst keine Gastarbeiter, um sie zum
Blühen zu bringen. Es ist eigentlich ganz einfach.
Atmo Autofahrt Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“
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Absage
Grenzland.
Pioniere, Zivilisationsflüchtlinge und Beduinen in der israelischen Negev-Wüste
Ein Feature von Daniel Cil Brecher.
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017
Es sprachen
Frank Arnold, Volker Risch, Claudia Mischke, Daniel Berger, Ernst August
Schepmann, Daniel Berger, Iris Krüger, Thomas Lang, Hendrik Stickan und Hüseyin
Michael Cirpici.
Ton und Technik: Michael Morawietz und Jens Müller
Regie: Thomas Wolfertz
Redaktion: Karin Beindorff