Einführung ins Fach
Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Entwicklungspsychopathologie
Ulrike M.E. Schulze
26. Oktober 2017
Was ich Ihnen etwas näher bringen möchte ist…
• dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie ein eigenständiges Fach ist,
• dass der Entwicklungsaspekt eine wesentliche Rolle spielt,
• unsere Herangehensweise an Diagnostik und Therapie
… und Ihnen einen kurzen Überblick zu einigen so genannten Störungsbildern geben.
Besonderheiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein eigenständiges Fach, welches in Fachverbänden auf unterschiedlichen Ebenen organisiert ist.
Sie hat eine eigenständige Sichtweise, ist in einer ständigen Entwicklung begriffen,verfügt über eigene Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung,
arbeitet häufig interdisziplinär (Schnittstellen),bezieht Position zu aktuellen Fragestellungen, setzt sich aktiv mit ihrer eigenen Geschichte auseinander
und trifft immer wieder auf aktuelle Herausforderungen, z.B.:
• minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
• Misshandlung und Missbrauch
• Kindeswohlgefährdung / Kinderschutz …
Namen und Entwicklungen (nach G. Nissen 2005)
Hermann Emminghaus (1845-1904): „Die psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter“ (1887)
Ludwig Scholz (1868-1918): Einführung des Begriffs „Jugendpsychiater“
August Homburger (1873-1930): unterschied psychopathische Kinder und Jugendliche (Nervöse, Ängstliche, Hysterische…)
Hermine von Hug-Hellmuth (1871-1924): Schülerin Sigmund Freuds, Lehrerin, die erste Kinderpsychotherapeutin, Begründerin der Spieltherapie
Anna Freud (1895-1982): Lehrerin und Sozialpädagogin, Entwicklung einer eigenständigen Kinderpsychoanalyse
Annemarie Dührssen (1916-1998): Kinderanalytikerin, individualisierte Behandlungstechnik (das Kind, Lebensalter, Intelligenz, emotionale Begabung � indiziertes Verfahren); wichtige Voraussetzung: Kenntnis der Familiensituation; „Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen“
Meinhard von Pfaundler (1872-1947): Pädiater, Verhaltensforscher, entwickelte die „Klingelmatte“
Albert Ellis (1913-2007): Bedeutung dysfunktionaler kognitiver Prozesse für die Entwicklung psychischer Störungen
Frederick H. Kanfer (1925-2002): Selbstkontrolle und Selbstmanagement, Entwicklung eigener Stärken und Fähigkeiten („skills“)
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie (nach G. Nissen 2005)
Moritz Tramer (1882-1963): Schweizer Psychiater und Mathematiker, führte den Begriff „Kinderpsychiatrie“ als internationale Bezeichnung ein (1934; „Zeitschrift der Kinderpsychiatrie“), gründete 1937 eine „Beobachtungsstation für Kinder und Jugendliche“, „Lehrbuch der allgemeinen Kinderpsychiatrie“ (1942)
Franz-Günther von Stockert (1899 -1967): Sprachentwicklung als wichtiger Entwicklungsparameter, „Die Sexualität des Kindes“ (1950)
Hans Asperger (1906 -1980): „Autistische Psychopathie“ (1943), Heilpädagogik als biologisch fundierte Wissenschaft, die mehr als eine „angewandte Kinderpsychiatrie“ darstellen soll
Franz Kramer (1878 -1967) und Hans Pollnow: beschrieben 1932 ein hyperkinetisches Syndrom im Kindesalter, „Kramer-Pollwow-Preis“
Paul Schröder (1873 -1941): Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie in Leipzig, erster „Internationalen Kongress für Kinderpsychiatrie“ in Paris (1937), Gründer der „Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Kinderpsychiatrie“ (1938); sein OA Hans Heinze wurde Mitarbeiter einer „Kinderfachabteilung“ während der Zeit des Nationalsozialismus
Leo Kanner (1894 -1981): Gründungsvater der amerikanischen KJP
Was brauchen Kinder für eine gesunde Entwicklung?
• die richtige Ernährung? ausreichend Schlaf?
• Bewegung?
• gesunde Väter?
• Liebe und Geborgenheit?
• Ruhe-Inseln?
• andere Kinder?
• liebevolle beständige Beziehungen
• körperliche Unversehrtheit und Sicherheit
• Grenzen und Strukturen
• eine sichere Zukunft
• . . .
• Ressourcen
• Resilienz
• Fähigkeiten
Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel."- Goethe -
Entwicklungsaufgaben - Erwartungen
motorisch
sprachlich
Sauberkeit
sozial: Beziehungsfähigkeit, Familie, Peers
emotional: Regulation, Ausgeglichenheit, Stabilität
Leistungen: Schule, Ausbildung, Studium, Beruf
gesellschaftliche Integration
Resilienzforschung (Rutter 2000)
eine Schlüsselerklärung für interindividuelle Unterschiede in Reaktionen auf psychosoziales Risiko betrifft die Anzahl der Risikofaktoren und die Dauer, der ein Mensch diesen Risiken ausgesetzt ist
genetische Einflüsse funktionieren über ihren Einfluss auf individuelle Unterschiede in der Empfindsamkeit gegenüber Umweltbelastungen
einer der Gründe, warum psychiatrische Störungsbilder persistieren, liegt darin, dass auch die schädigenden Umweltbedingungen fortbestehen
einige Risiko- und Schutzfaktoren funktionieren über einen breiten Bereich, andere sind sehr spezifisch in ihrer Wirkung
Vorschulalter Schulalter Jugendalter
geringe Frustrationstoleranz
kann nicht bei einer Sache bleiben
Impulsivität
„Schreikind“ Leistungsprobleme
„immer auf Achse“ „Hausaufgabendrama“ leichte Beeinflussbarkeit
hohes Mittelpunktsstreben
Störenfried, Klassenkasper
risikoreiches Verhalten
ausgeprägte Stimmungslabilität
Feinmotorik: schlechte Schrift, mangelnde, Feindosierung des KrafteinsatzesMimik: stehendes Lächeln, Grimassieren, assoziierte MundbewegungenGestik: überschießende Bewegungen; Stimmungslabilität: Wutanfälle, Euphorie
Entwicklungsaspekt – ADHS – Symptome entwicklungsübergreifend
Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Deutschland*
* Psychische Erkrankungen: Hohes Aufkommen, niedrige BehandlungsrateDtsch Arztebl 2013; 110(7): A-269 / B-250 / C-250
unbehandelt: Alkoholmissbrauch:
25,8 %, Zwangsstörungen
42,5 %, Phobien 45,6 - 53 %
Borderline-Persönlichkeitsstörung – wie ein Kind sie wahrnehmen könnte
Mama …
ist manchmal ganz durcheinander
– sie redet von komischen Dingen und hört mir nicht richtig zu
manchmal will sie mir ganz nah sein, schmust mit mir, dann wieder kann sie niemanden um sich ertragen
– manchmal weiß ich nicht ob sie mich eigentlich mag,
dann wieder geht sie mir mit ihrer Fürsorglichkeit auf die Nerven
Papa hat sich von ihr getrennt, er hat jetzt eine Freundin
manchmal sitzt sie nur da und starrt vor sich hin
ich weiß, dass Mama sich manchmal schneidet, aber ich weiß nicht, warum
– ich mache mir große Sorgen,
aber weiß nicht wie ich helfen kann
manchmal kauft sie ganz viel zu essen ein: Nutella und Brot und Pommes und so… und am nächsten Tag ist schon wieder nix mehr zu essen da
Kinder psychisch kranker Eltern
Quelle: RKI
Angststörungen – Entstehungsmodell (nach Nutts & Ballenger, 2003)
Temperament („behaviorale Inhibition“)
+
Persönlichkeit
Angst-assoziierte Persönlichkeitszüge
- negative Emotionen
- extreme Sorge
- Stress-Reaktivität
genetische Faktoren: Panikstörung, Generalisierte Angststörung
genetische Veranlagung
Stress: perinatale Komplikationen, Pubertät
Panikstörung
Emotionale
StörungenGeneralisierte Angststörung
Zwangsstörung
Multikausalität, protektive Faktoren, Risiken, Feinfühligkeit, Selbstwirksamkeit
elterliche Kontrolle(„Angstfamilie“)
Bindungserfahrungen
Die häufigsten Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter
ADHS (ca. 5%)
Störung des Sozialverhaltens (5-8%)
Angststörungen
Depressive Störungen
Essstörungen
Posttraumatische Belastungsstörung
Multiaxiale Klassifikation in der Diagnostik
Versuch einer möglichst ganzheitlichen Erfassung der individuellen Situation des Kindes bzw. Jugendlichen
– Achse I:Klinisch-psychiatrisches Syndrom („Diagnose“)– Achse II: Entwicklungsverzögerungen– Achse III: Intelligenz– Achse IV: Körperlich-neurologische Erkrankung– Achse V: Psychosoziale Belastungsfaktoren– Achse VI: Psychosoziale Adaptation
– „Ungleichgewicht“ bereits auf der Achse V präsent, bevor eine psychiatrische Diagnose gestellt wird
- „Mütter-Angst-Studie“: Kinder waren häufig (noch) nicht krank, litten aber unter eingeschränkten Erziehungsbedingungen, familiärer Situation…
– Achse VI: beschreibt letztlich die Teilhabefähigkeit oder Beeinträchtigung derselben in sozialen und Leistungs-Bezügen (Schule, Familie, Peers)
Von der Anamnese zur Diagnosestellung
1. Symptomatik (Exploration)
2. Entwicklungsgeschichte (biographische Anamnese, Temperament, Beginn und Verlauf der Symptomatik)
3. Psychiatrische Komorbidität
4. Störungsspezifische Rahmenbedingungen (Fremdanamnese, körperlich-neurologische Untersuchung, Erziehung)
5. Testpsychologische Diagnostik (Intelligenz, Teilleistungen, Entwicklungsstand)
6. Apparative Labordiagnostik
7. Differentialdiagnostik
Der psychopathologische Befund
Psychopathologie = Erkennen, Beschreiben und Dokumentieren abweichenden Erlebens und Verhaltens
Befund geht von subjektivem Erleben und beobachtbarem Verhalten aus � Verhaltensbeobachtung sehr wichtig!
• Erscheinung, Bewusstseinslage, Orientierung
• Aufmerksamkeit, Konzentration und Auffassung
• Antrieb, Psychomotorik
• Denkstörungen: formal, inhaltlich
• Wahrnehmungsstörungen (z.B. Halluzinationen), Ich-Störungen
• Affektivität (Stimmung, Schwingungsfähigkeit)
• Zwänge, Ängste
• weitere spezifische Symptome (somatoform, vegetativ)
• Suizidgedanken, (akute) Suizidalität
• Fremdgefährdung
• Entwicklungsaspekt, z.B. Angststörungen • auch Diagnose-abhängig, z.B. Bindungsstörung
• Verlauf: Unterstützung, Prozessoffenheit (individuelles Eingehen auf Bedürfnisse und Vorstellungen der Patienten und ihrer Familie)
Wie entwickeln sich Diagnosen im Laufe des Lebens?
Entwicklungsverlauf von Störungen des Sozialverhaltens (nach Loeber et al. 2000)
Substanz-mißbrauch
Störung desSozialverhaltens
Opposition.Trotz-
verhalten
HyperkinetischeStörung
AntisozialePersönlichkeits-
störung
Frühe Kindheit Adoleszenz Erwachsenenalter
DepressionAngst
erhöhtes Suizidrisiko, v.a. in der Adoleszenz, vermutlich bedingt durch Comorbidität (Depression, Störung des Sozialverhaltens) (Daviss 2008, McCarthy et al. 2009, Sourander et al. 2009, Manor et al. 2010)
Multimodale Therapie
• Aufklärung und Beratung (Psychoedukation) der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und des Erziehers bzw. des Klassenlehrers
• Elterntraining und Interventionen in der Familie (einschl. Familientherapie) zur Verminderung der Symptomatik in der Familie
• Interventionen im Kindergarten / in der Schule (z.B. im Falle eines ADHS)
• Kognitive Therapie des Kindes / Jugendlichen (ab dem Schulalter) z.B. zur Verminderung von impulsiven und unorganisierten Aufgabenlösungen (Selbstinstruktionstraining) oder zur Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Modifikation des Problemverhaltens (Selbstmanagement)
• Pharmakotherapie (wenn Psychotherapie/flankierende Maßnahmen nicht ausreichend)
Aufklärung – Einverständnis – Compliance, Güterabwägung, Überprüfung
Selbstinstruktion
Unsere Klinik – wichtige Schnittstellen
Aufbau: 3 Sozialarbeiterinnen für unsereAmbulanz (PIA, Hochschul- u. Privatambulanz),2 Tageskliniken,eine Kinder- (12 Betten)zwei Jugendstationen (8 + 11 Betten )(+ Forschung)
Patienten kommen überwiegend ausUlm (2015: 122.636 Einwohner)Alb-Donau-Kreis (2016: 193.109 Einwohner)Neu-Ulm (2017: 61.047 Einwohner)
Jugendämter: Ulm, Alb-Donau-Kreis, Neu-Ulm, …
Jugendhilfeeinrichtungen bzw. -träger vor Ort: Guter HirteOberlin e.V. Jugendhilfe Seitz
Arkade e.V. (JuMeGa)
Netzwerke: verschiedene interdisziplinäre Arbeitskreise (z.B. frühe Hilfen, Kindeswohl, Kinder psychisch kranker Eltern, Autismus…)
Jugendhilfeeinrichtungen vor Ort
ULM
NEU-ULM
Reibungsverluste in der interdisziplinären Zusammenarbeit
Unterschiedliche theoretische Grundlagen und Denkmodelle:
Jugendhilfe Gesundheitswesen
pädagogisch orientiert medizinisch orientiert
familienzentriert individuumszentriert
ressourcenorientiert orientiert sich am identifizierten Patienten (störungs- und krankheitsrelevante Diagnose)
Wichtiges Instrument der interdisziplinären Kommunikation: „runder Tisch“ bzw. Helferrunde
PP
T
E
S J
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
http://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/Kliniken/Kinder_Jugendpsychiatrie/Dokumente/WebversionWIDSN.pdf
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie /
Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm
Steinhövelstraße 589075 Ulm
www.uniklinik-ulm.de/kjpp
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert
PD Dr. Ulrike M.E. Schulze