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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Die unbegrabenen Schuhe von Stutthof
Von Malgorzata Zerwe und David Zane Mairowitz
Produktion: Dlf 2018
Redaktion: Ulrike Bajohr
Erstsendung: Freitag, 20.07.2018, 20:10 - 21:00 Uhr
Regie: Die Autoren Sprecher : Erählerin : Monika Oschek Erzähler : Stefan Kaminski Lesung : Felix von Manteuffel
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt
und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein
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- unkorrigiertes Exemplar -
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Musik : Trupa Trupa: “Wasteland”
Ansage:
Die unbegrabenen Schuhe von Stutthof
Ein Feature von Malgorzata Zerwe und David Zane Mairowitz
Musik : Trupa Trupa “Wasteland”:
Wasteland, wasteland in my arms
Wasteland, wasteland in my heart
Wasteland, wasteland all I see
Wasteland, wasteland all I see
Erzählerin: Ein Morgen im März im Norden von Polen. Dunkel. Kalt. Wir gehen den
Zaun am Eingang des Museums entlang, vorbei an dem erstaunt aufblickenden
Wärter und gelangen in eine trostlose Waldung. Frische Traktorspuren führen zu zwei
offenbar gerade erst aufgeworfenen Hügeln.
Stutthof (Film)
Sprecher(Originalton): “Das KZ Lager Stutthof bestand vom 2. September 1939 bis
zum 9. Mai 1945. Im Lager waren 110 000 Menschen inhaftiert. Sie stammten aus 25
Ländern und 27 Nationalitäten. In Stutthof kamen 65 000 Menschen ums Leben.”
Erzähler: Das Konzentrationslager Stutthof war bekannt für die Herstellung von Seife
aus menschlichem Fett. Das 1968 gegründete Stutthof-Museum umfaßt nur etwa ein
Fünftel des einstigen KZ Geländes. Der Rest ist überwachsen von Kiefernwald.
Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland”:
Wasteland, wasteland in my mouth
Wasteland, wasteland in my eyes
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Wasteland, wasteland all I see
Wasteland, wasteland all I see
Grzegorz Kwiatkowski
My name is Grzegorz Kwiatkowski, and who am I? I’m a poet and musician. I live in
Gdansk. And we are in Sztutowo, near the Stutthof Museum of Stutthof Concentration
Camp. And I’m here for many years because my grandfather was a prisoner here in
Stutthof concentration camp and his sister.
Erzählerin : Grzegorz Kwiatkowski, 33. Dichter und Musiker in der polnischen Rock-
Band Trupa Trupa. Er ist es, der uns in diese seltsame Landschaft gelockt hat. Sein
Großvater und dessen Schwester waren Häftlinge in Stutthof. Der Großvater, weil er
in einer „illegalen polnischen Schule“ studierte, und die Schwester, weil sie vor der
Zwangsarbeit unter den Nazis geflohen war.
Grzegorz Kwiatkowski
I was very interested in history. My poetry is about history, my music is about history,
about genocide, about human nature.
Erzählerin: Kwiatkowskis Musik und seine Verse handeln von der finsteren Seite der
Geschichte, von Völkermord und Friedhöfen, von Tod und Verwesung.
Grzegorz Kwiatkowski liest das Gedicht “Freude” auf Polnisch. Erzähler liest es
auf Deutsch.
FREUDE
im frühjahr wanderten mein bruder und ich durch die wälder
wir sammelten und begruben verendete rehe
die den Winter nicht überlebt hatten
oder in Fallen getappt
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und verblutet waren
das waren unsere schönsten jahre:
eine blutverschmierte schubkarre voller kiefernzweige
und das gefühl der freude nach gut getaner arbeit
Aus dem Gedichtband „Radości” (Freuden).Übersetzung Bernhard Hartmann
Piotr Chruscielski
Mein Name ist Piotr Chruscielski.Ich arbeite in der wissenschaftlichen Abteilung in der
Gedenkstätte Stutthof. Also das Lager Stutthof hat bereits am 2. September 1939
seinen Betrieb aufgenommen, aber damals war Stutthof noch kein KZ. Seine
Entstehung ist auf die gespannte Situation in der Freien Stadt Danzig
zurückzuführen, ich meine vor allem die gespannten Beziehungen zwischen
Deutschen und Polen in der freien Stadt Danzig.
Wald.
Erzählerin: Die frischen, meterhohen Haufen bestehen aus grauer Erde, vermischt
mit verrottendem Holz und seltsamen Gegenständen.
Grzegorz Kwiatkowski kommt 2015 mit einem Freund hierher, um den Ort zu filmen,
und genau an dieser Stelle entdeckten sie...
Grzegorz Kwiatkowski
We went to the forest and suddenly, in this forest, we found out there are a lot of
shoes.”
Erzähler: Schuhe.
Grzegorz Kwiatkowski
Not lot like hundreds, but hundreds of thousands …
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Erzählerin: Keine ganzen Schuhe, eher Lederfetzen, die einst zu menschlichem
Schuhwerk gehörten.
Grzegorz Kwiatkowski
And then we started to dig in the ground and there were more and more shoes in the
ground …
Erzähler: Grzegorz und sein Freund graben und graben. Fördern riesige Mengen
von Schuhfragmenten zutage. Die rotten jetzt, im Frühjahr 2018, noch immer wie
halbverfaultes Unkraut vor sich hin.
Grzegorz Kwiatkowski
Childrens’ shoes, womens’ shoes, some of them had a collar …
Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland”:
Wasteland, wasteland in my mind
Wasteland, wasteland in my mouth
Wasteland, wasteland all I see
Wasteland, wasteland all I see
Piotr Chruscielski
Also ganz am Anfang waren das vor allem Polen, diejenigen, die sich ja für die
polnischen Interessen in der Stadt Danzig eingesetzt hatten. Intellektuelle, Lehrer,
Hochschullehrer, Ärzte, Beamte, also all die Menschen, die im Verdacht standen,
gegen die Besatzungspolitik in Pommern einschreiten zu wollen.
Wald
Grzegorz Kwiatkowski
We’re standing in the forest near the Museum, near the fence of the Museum of the
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concentration camp, in the Jewish part of the Museum and these are kind of hills of
shoes, little mountains of shoes. These are shoes from the war period, and they are
just here.
Erzählerin: Das Grundstück hinter dem Museum gehört der Gemeinde.
Hier entdecken wir auf einem der Erdhaufen einen kleinen gelb-braunen Gegenstand
inmitten der Holz- und Lederabfälle, nicht so leblos wie der Rest. Ein Absatz, ein
vollständiger Absatz. Er gehörte zweifellos zum Schuh eines Kindes von 4, vielleicht 5
Jahren.
Piotr Chruscielski
Und dann, im Jahre 1941, wurde das Lager Stutthof zu einem sogenannten Arbeits-
Erziehungslager umstrukturiert und umbenannt, und von diesem Zeitpunkt an kamen
sogenannte Arbeitsscheue, arbeitsscheue Häftlinge, oder Erziehungshäftlinge,
darunter gab es Deutsche, darunter gab es Polen, ausländische Zwangsarbeiter...
Wald. Wärter kommt vorbei
Erzähler: Der Museumswärter kommt auf seinem Segeway. Er hält etwa 30 Meter
von uns entfernt an und starrt uns an. Sind wir unbefugt? Der Anblick unseres
Mikrophons scheint ihn davon abzuhalten, näher zu kommen und uns zu verjagen.
Schweigend dreht er sich um und rollt zurück zum Museum.
Piotr Chruscielski
1942 wurde Stutthof zu einem KZ ernannt, man lieferte KZ-Insassen aus anderen
KZs nach Stutthof. Auf der anderen Seite kamen auch vorbestrafte Häftlinge,
sogenannte Berufsverbrecher, asoziale Häftlinge, und diese sollten die Aufsicht über
die anderen Mithäftlinge übernehmen. Politische Oppositionelle aus Danzig,
Sozialdemokraten, Kommunisten, sie gehörten auch zu dieser deutschen
Häftlingsgemeinschaft, Sippenhäftlinge, also Familien der Attentäter vom 20. Juli.
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Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland”.
Piotr Chruscielski
Homosexuelle Häftlinge kamen auch nach Stutthof aus verschiedenen Richtungen,
aus Ostpreußen, aus anderen Konzentrationslagern, aus Danzig, aus allen möglichen
Richtungen, asoziale Häftlinge, also Trinker, Alkoholiker, deutsche Prostituierte,
Landstreicher.
Stutthof (Film) https://www.youtube.com/watch?v=lv1ToiyOlAM
Sprecher(Originalton): Am 9. Mai sind sowjetische Soldaten in Stutthof eingerückt.
Sie haben einige hunderte Häftlinge befreit, die noch im Lager waren. Die Russen
gründeten eine Kommission, die die Berichte der Häftlinge sammelte, sowie
Dokumente und Beweismaterial über die NS-Verbrechen sicherstellte. Der dabei
aufgezeichnete Film zeigt Stutthof unmittelbar nach der Befreiung…
Erzähler: In dem Film über Stutthof, den die Rote Armee 1945 gedreht hat, türmt sich
ein Gebirge von Schuhen auf. Vollständige Schuhe, eine halbe Million, nicht nur
Lederfetzen, Sohlen und Absätze. Nahaufnahme: ein russischer Soldat hält ein Paar
Kinderschuhe vor die Kamera.
Marcin Tyminski. Polnisch
Über Tyminski Erzählerin: Das ist der Pressesprecher der Wojewodschafts-
Konservatorin.
Erzähler: Im Jahr 1949 begann das Innenministerium, das Gelände aufzuräumen
und die Baracken abzureißen, nur Gaskammer und Krematorium sollten erhalten
bleiben. In den Baracken gefundene Gegenstände wurden nicht als historisch
bedeutsam angesehen. Leute durften Metallenes zur Wiederverwendung mitnehmen,
alles andere wurde weggeworfen. Der polnische Staat hatte andere Sorgen.
Staatseigene Firmen warfen die Reste in den Waldsumpf.
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Grzegorz Kwiatkowski
So it’s not a kind of science fiction situation. It’s the same shoes, and I think it’s a kind
of a memory.
Erzähler: Das ist keine „Science Fiction“, sagt Kwiatkowski.
Mehr als 70 Jahre nach der Befreiung des KZs Stutthof liegen noch immer viele
Schuhreste und andere historische Artefakte - Gürtel, Fetzen von
Gefangenenmontur, Erkennungsmarken von Soldaten – dort, wo sie nach dem Krieg
in die Natur gekippt wurden.
Grzegorz Kwiatkowski
The new situation is that we are in the forest, and there are (were) a lot of trees here
and a lot of bushes, and they are now gone....
Erzähler: Grzegorz ist seit 2015 oft hier und beobachtet, ob sich vor Ort etwas tut.
Drei Jahre lang geschieht nichts. Und ausgerechnet heute, in unserer Begleitung,
bemerkt er etwas Neues: Bäume sind gefällt worden, um Zufahrt für Traktoren zu
schaffen. Dass das gerade jetzt passiert ist, hält Grzegorz nicht für Zufall.
Grzegorz Kwiatkowski
So I guess, a few days ago, these shoes were dug from the ground. Some big
machinery came here and started to do something, so I guess it’s obvious that when
you announced that you would be here, they started to do something with that.
Erzähler: Es sei unseretwegen, behauptet er. Weil wir das Museum wegen eines
Termins angerufen haben. Sie wussten, dass wir kommen würden, also mussten sie
eine Art ...Fortschritt vorführen.
Direktor. Polnisch.
Darüber: Erzählerin: Stutthof-Museumsdirektor Piotr Tarnowski. Wir können nur
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kurze Zeit mit ihm verbringen, er muss dringend zum Zug nach Warschau, wo er
wohnt. Egal, es ist nicht das Museum selbst, das uns interessiert, sondern das
Waldgelände darum herum. Was kann man seiner Meinung nach dort finden?
Direktor. Polnisch.
Erzähler: Alles.
Direktor. Polnisch.
Erzählerin: Alles was vom KZ noch übrig war. Von den Deutschen versteckte Waffen
zum Beispiel. Dann hat die Natur das Ihre getan, sagt er.
Erzähler: OK. Aber heute Morgen sahen wir Spuren von schwerem Gerät auf dem
Gelände.
Direktor. Polnisch.
DarüberErzählerin: Der Direktor erklärt, dass diese Spuren vom vergangenen
Herbst stammen. Sie sind 6 Monate alt und nicht nur ein paar Tage, wie Grzegorz
behauptet. Die Traktorspuren sind noch immer sichtbar, weil die Erde weich ist, sagt
er. Doch in ein paar Monaten wird sie niemand mehr sehen, weil, wieder einmal, die
Natur das Ihre tun wird. Die Grabungen haben bereits zwei Garagen voller Artefakte
zu Tage gefördert, die schon jetzt zum Teil im Gdynia Museum ausgestellt sind.
Büro.
Ewa Malinowska
„Die Erde spricht“ heißt die Ausstellung in Gdynia.
Ich heiße Ewa Malinowska. Ich bin Leiterin für die Ausstellungsabteilung und
Kundendienst-Abteilung. Diese Ausstellung zeigt das, was bleibt, wenn die Leute
nicht mehr am Leben sind.
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Ewa Malinowska
Wir haben Kinderspielzeuge, diese Nummer, die zu Häftlinge gehörten, wir haben
auch Schmucke, die zu den Frauen gehörten, wir haben auch die Teller und die
Porzellan-Becher, die zu den SS-Männer gehörten. Es gibt so viele Schuhe, wir
haben auch Kinderschuhe, die sehen so traurig aus, sie machen sehr große…
Erzählerin: „Eindruck“?. Ja, einen großen Eindruck machen die Schuhe auf die
Kuratorin - seit Grzegorz Kwiatkowski auf ihre Existenz hingewiesen hat.
*
Lesung: Aus dem Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und
die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft.
„Das Lager selbst jedoch, Stutthof, war eine Art Feld, von fast unendlich scheinender
Weite, verlassen und doch gepflegt, das Gras war geschnitten, eine Art Rasen
erstreckte sich – nicht grenzenlos, aber bis zum Rand eines großen schwarzen
Waldes, hinter dem, wie man uns sagte, das Meer lag. Hier, in diesem Wald, wie uns
erklärt wurde, hatte sich das Lager der jüdischen Frauen von Auschwitz befunden.
Dort hatte sich auch die große Grube befunden, in der die Leichen verbrannt
wurden.“
Grzegorz Kwiatkowski
We read a book by a Jewish historian, Otto Kulka. And his mother was killed near that
place, she was a Jewish prisoner in the Stutthof concentration camp…
Erzählerin: Bei seinen Stutthof-Recherchen findet Grzegorz das Buch eines
Auschwitz-Überlebenden, des tschechisch-israelischen Historikers Otto Dov Kulka:
Es heißt: „Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der
Erinnerung und der Vorstellungskraft“. Darin beschreibt Kulka seinen Besuch in
Stutthof 1992. Seine Mutter war hier gefangen gewesen, er war auf der Suche nach
ihrem Grab.
Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland” instrumental.
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Lesung: Aus dem Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und
die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft.
„Ich ging – ohne zu wissen, wohin ich ging, oder was ich wollte – ich ging über die
große Rasenfläche, ohne Zäune, ohne elektrischen Stacheldraht, ohne hohes Gras,
ohne Bäume.... Ich ging von einem Erinnerungsmal zum nächsten, von einem Lager
zum nächsten, näherte mich dem Wald, in dem keine Tafel stand und auch kein Stein
lag. Er war ein Ort urfrühester Trostlosigkeit: Morast, umgefallene Bäume, weiße
Birken, dunkle Bäume und Bäume, die mir nicht die Mühe machten, sie zu
bestimmen. Ich kam näher und nach einem Moment des Zögerns betrat ich den
Wald.“
Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland”:
Wasteland, wasteland in my arms
Wasteland, wasteland in my heart
Wasteland, wasteland all I see
Wasteland, wasteland all I see
Lesung: Aus dem Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und
die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft.
„Während ich dort ging, sah ich vor mir nur den Wald. Als ich zurückging, waren
meine Augen auf den Boden geheftet. Als ich ziellos durch das Gras streifte, sah ich
alle paar Schritte Lederstreifen – dunkel, einige vermodert, vertrocknet.“
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzählerin: Museums-Direktor Tarnowski hat nie von Professor Kulka
gehört.
Lesung: Aus dem Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und
die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft.
„Die Direktorin der Gedenkstätte bat mich, den `angesehenen Historiker`, das
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Forschungsteam bei Tee und Keksen zu treffen. Aber der eigentliche Grund, warum
ich diese Begegnung beschreibe, ist ein Vorfall, der sich später ereignete, als wir die
kleine Ausstellung, die sich im selben Gebäude befand, besichtigen…. Eines der
Ausstellungsobjekte war eine lange Vitrine mit Tausenden von Schuhen, alle
durcheinandergeworfen. Wir fragten sie, Was, auch hier... gingen die jüdische Frauen
barfuß in den Tod, die Schuhe wurden ihnen vorher weggenommen?` Denn in
Auschwitz gehörten diese Schuhe Hunderttausenden von Menschen, die sie nicht
länger brauchten, nachdem sie sie in den Fluren der Gaskammern ausgezogen
hatten. Die Direktorin der Gedenkstätte sagte: `Nein, diese Schuhe sind aus
Auschwitz.` ”
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzählerin: Der Museumsdirektor glaubt nicht, was seine Vorgängerin 1992
Professor Kulka gesagt hat, dass die meisten Schuhe aus Auschwitz angeliefert
wurden. Einige davon könnten aus Auschwitz gekommen sein. Doch seiner Ansicht
nach wurden die meisten direkt aus dem Reich nach Stutthof transportiert. Das meint
auch sein Stellvertreter.
Piotr Chruscielski
Ja, sie wurden bearbeitet, also man hat ja von solchen Gegenständen, solchen
Schuhen, Gebrauch genommen, und ein Teil davon wurde dann verarbeitet hier vor
Ort, in einem Arbeitskommando. Man hat zum Beispiel Rucksäcke von deutschen
Soldaten mit diesem Material repariert, auf der anderen Seite wurden diese Schuhe
deutschen Familien vergeben, aus der Umgebung, ja, im Rahmen des
Winterhilfswerks zum Beispiel, und noch die anderen wurden dann weitergeschickt
ins Reich.
Lesung: Aus dem Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und
die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft.
„Tatsächlich, ebenso wie aus Auschwitz Sklavenarmeen – die Frauen – und
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Zugladungen von Sklaven mit rasierten Schädeln geschickt wurden – sandte man
auch Güterwaggons mit Schuhen, und die Häftlinge von Stutthof waren mit der
Prüfung und Reparatur der Schuhe beschäftigt, für den Fall, dass in ihnen die letzten
Habseligkeiten verborgen waren, die die Vernichteten mit sich nehmen wollten.“
Wald.
Grzegorz Kwiatkowski
This is the area where we found the shoes.
Erzähler: Der Konflikt zwischen Kwiatkowski und dem Museumsdirektor schwelt seit
2015, seit Grzegorz die Schuhreste im Wald entdeckte.
Grzegorz Kwiatkowski
As you can see, years later, nothing has happened….
Erzählerin: Wie hat der Direktor von den Schuhen im Wald erfahren?
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Von „zwei Männern“. Sie entdeckten sie zufällig bei einem
Waldspaziergang, behauptet er. Er sagte ihnen, sie sollten ihren Fund der Gemeinde
melden. Weil sie das nicht taten, übernahm das Museum das Gelände, obwohl es
„eigentlich dafür nicht zuständig“ ist. Kein Wort über Grzegorz Kwiatkowski.
Grzegorz Kwiatkowski
Of course he’s lying. We weren’t just tourists by accident. My grandfather was a
prisoner of this concentration camp, so it’s a big history. And we had an appointment
in the Museum that day …
Erzähler: Grzegorz ist nicht „zufällig“ nach Stutthof gekommen! Er war öfter hier, sein
Großvater war Häftling in diesem KZ. Und darum hatte er an diesem Tag eine
Verabredung in dem Museum!
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Grzegorz Kwiatkowski
It’s one big ridiculous thing, very in a communistic style… You try to do something, but
nothing is happening really.
Erzähler: Es ist wie in der kommunistischen Bürokratie. Du willst was tun - aber
nichts geht voran.
Grzegorz Kwiatkowski
(MZ fragt “Did he send you to Gemeinde?”) No, no, he said he will do it…. It would be
really ridiculous if he would say to tourists, please do something with that.
Erzählerin: Hat er euch zur Gemeinde geschickt?
Erzähler: Nein, er sagte, er würde sich darum kümmern. Es wäre nicht angebracht,
„Touristen“ darum zu bitten.
Grzegorz Kwiatkowski
Six months after meeting with boss of the Museum, they didn’t do anything. Because I
checked it. So I called journalists, and they came to this forest with cameras. It was a
very big case in the media. World media, Daily Telegraph, USA Today, etc.
Erzähler: Sechs Monate, nachdem er den Direktor alarmiert hat, ist noch nichts
geschehen. Also informiert Grzegorz die Medien, unter anderem den englischen Daily
Telegraph, und USA Today. Polnische Fernsehkameras fangen an, die Schuhe zu
filmen, wandern über den Waldboden – Lederfetzen, überall Lederfetzen, als wäre
eine gigantische Schusterwerkstatt explodiert…. Der Film läuft dann im
Regionalfernsehen:
https://gdansk.tvp.pl/22911936/znalezione-buty-nie-nalezaly-do-wiezniow-stutthofu
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Erzählerin: (Übersetzt Filmtext) Eine vorläufige Analyse hat erwiesen, dass die Schuhe, deren Überreste im Oktober in der Nähe des ehemaligen KZs Stutthof gefunden wurden, wahrscheinlich nicht den Gefangenen gehörten. Direktor Tarnowski führte Journalisten in den Raum, wo die aufgefundenen Gegenstände zwischengelagert wurden. Es waren vor allem Überreste von Schuhen, aber auch Geschirr oder Flaschen, einschließlich Bierflaschen. Da es kaum vorstellbar ist, dass die Gefangenen Bier tranken, schloss Tarnowski, dass diese Schuhe nicht Stutthof-Häftlingen gehörten.
Grzegorz Kwiatkowski
… and a debate about these shoes started in Poland and mainly in Gdansk. Some of
the authorities said: it’s just trash. Just trash, so we shouldn’t do anything.
Erzähler: Der Presseauflauf veranlasst das Museum, sich zu rühren. In Polen beginnt
eine Debatte über die Schuhe. Dennoch halten es die örtlichen Gemeindeoberen der
Mühe nicht wert, die Funde im Wald zu sichern. Wozu Geld ausgeben für etwas, was
in ihren Augen ja doch bloß Müll ist?
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Die Schuhe wurden auseinandergeschnitten und fürs Militär
benutzt, erklärt der Direktor, zum Beispiel, um Pistolenhalfter herzustellen. Was
erklären würde, warum man heute vor allem Sohlen im Wald findet. Das Oberleder
wurde eben wiederverwendet. Und die übrig gebliebenen kompletten Schuhe wurden
gestohlen.
Erzählerin
Was ja wohl die Schlussfolgerung zulässt, dass alles, was zurückgeblieben ist,
„Abfall“ ist.
Weggeworfen. Wertlos. „Müll“.
Musik 2: Trupa Trupa „Unbelievable“ instrumental
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Grzegorz Kwiatkowski
Local prisoners came here, and they were collecting these shoes as a way of
voluntary work. I’m sure it was nice, but the archaeologists should do it. It’s not kind of
trash. A day of ecology and clean forests.
Erzähler: Nachdem sich die Medien eingemischt haben, gibt es eine Aktion mit
Häftlingen aus der Umgebung. Sie werden auf das Gelände gebracht, um einige der
Schuh-Fragmente zu sammeln – eine Art „freiwilliger ökologischer Tag“. Das, meint
Grzegorz, wäre aber der Job von Archäologen gewesen.
Musik 2: Trupa Trupa „Unbelievable“
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzählerin: Der Museums-Direktor ist dankbar, sagt er uns: Durch die
Entdeckung der Schuh-Fragmente hat man jetzt die Möglichkeit, das ganze 100
Hektar große Gelände zu erforschen.
Grzegorz Kwiatkowski
So a few months later, I went once again, the shoes were (still) here. I wrote to the
Museum: “Allright, the shoes are here. What are you doing?“ They didn’t answer.
They said, if you want an answer please use public ordinance. It was kind of a rude
answer … you know, we don’t talk with you anymore. The case is over.“
Erzähler: Aber als Grzegorz sich nach Monaten beim Museum beschwert, weil sonst
nichts weiter passiert ist, wird ihm gesagt, er solle sich an die Gemeindechefs
wenden. Punkt.
Musik 2: Trupa Trupa „Unbelievable“
Direktor. Polnisch.
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Darüber Erzähler: Tarnowski zeigt sich uns gegenüber stolz: Die „Artefakte des
Leidens“, wie er die Funde im Wald nennt, würden nicht in falsche Hände geraten.
Wenn er eher davon erfahren hätte, hätte er sie niemals ignoriert.
Musik 2: Trupa Trupa „Unbelievable“.
Danuta Drywa Polnisch
Darüber Erzählerin: Danuta Drywa. Sie wacht seit Jahrzehnten über die Dokumente
im Archiv des Museums und erinnert sich sehr gut an den Besuch von Professor
Kulka. Sie zeigt uns ihre fragilen historischen Papiere und erlaubt uns sogar, sie
anzufassen und zu fotografieren.
Erzähler: Hier, z. B.: Versand-Nummer 109, eingetroffen 14.09.1944 - von der
Verwaltung „K.L. Auschwitz“ nach Stutthof, Betreff: Häftlingskleidung. 3800 Stück
Sommermäntel, 3000 Stück Schürzen, 5000 Stück Unterhosen, usw. Aber … keine
Schuhe.
Danuta Drywa. Polnisch.
Darüber Erzählerin: Ein Wehrmachts-Frachtbrief (Waffen-SS) von Auschwitz nach
Stutthof (Bahnhof Tiegenhof), der nur eine Lieferung von „gebrauchten Effekten“
erwähnt.
Danuta Drywa. Polnisch.
Daüber Erzähler: 5.10.44. Vom Reichsbahn-Ausbesserungswerk Eberswalde nach
Stutthof. „Betrifft: Fußbekleidung für KZ-Häftlinge.“ 100 Paar Holzgaloschen. Sie
„wurden zum Teil bereits an die Häftlinge ausgegeben, insbesondere an diejenigen,
die mit Erdarbeiten beschäftigt sind...“, schreibt die Lagerverwaltung.
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Erzählerin: Die Nazis verpassten Häftlingen Holzpantinen und schickten deren
Lederschuhe den Deutschen ins Reich oder in Danzig und Umgebung.
Danuta Drywa. Polnisch.
Erzähler: Versandliste der berühmten tschechischen Schuhfirma Bata. 25 000 Paar
Holzschuhe. Abgeschickt am 10.11. 44. Auftraggeber: Beschaffungsstelle der Waffen-
SS Dachau.
Erzählerin: Die Archivarin findet keine Dokumente über eine Schuhlieferung aus
Auschwitz.
Waldemar Szymanski. Polnisch.
Darüber: Gehen im Korridor.
Erzählerin: Im Untergeschoss des Museums stehen wir mit Waldemar Szymanski,
dem Pressesprecher, vor dem riesigen Glaskasten, der Tausende vor Jahrzehnten
geborgener Schuh-Überreste enthält. Es ist derselbe Kasten, vor dem Professor
Kulka im Jahr 1992 stand. Szymanski bestätigt, dass diese Schuhe überwiegend von
„außerhalb“ hergebracht worden sind.
Erzähler: Von „außerhalb“ heißt eben nicht nur vom „zivilen deutschen Markt“,
sondern auch aus anderen KZs. Holzsohlen und Oberleder kamen aus Italien und
der Tschechoslowakei.Manche der Schuhe in der Vitrine sind die, die die Russen
1945 gefunden haben.
Autorin.Polnisch. Darüber Erzählerin: Aber sie unterscheiden sich nicht von den Lederresten, die wir
heute Morgen auf dem Gelände gesehen haben.
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Waldemar Szymanski. Polnisch.
Darüber Erzählerin: Der einzige Unterschied besteht darin, dass einige Schuhe
gereinigt und unter Glas geschützt wurden, während andere seit über 70 Jahren der
Verwesung ausgesetzt waren. Ursprünglich war dieser Schaukasten offen.
Schließlich wurde er verglast, weil Leute über die Absperrung kletterten und Schuhe
als Souvenirs mitnahmen.
Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland”:
Wasteland, wasteland in my mouth
Wasteland, wasteland in my eyes
Wasteland, wasteland all I see
Wasteland, wasteland all I see
Wald.
Grzegorz Kwiatkowski.
And anyway, this territory is not secured, you can see that these shoes are
everywhere. It really looks like a trash to be truthful. So I think it’s not the best way of
remembering people killed in the Second World War in the Holocaust.
Erzähler: Grzegorz geht heute, an diesem kalten Frühlingstag 2018, zwischen den
Erdhügeln hin und her, macht Fotos, steckt seine Hand in einen Erdhaufen und
schüttelt frustriert den Kopf. Er bittet seit drei Jahren das Museum, das Gelände
wenigstens einzuzäunen, um die historischen Gegenstände, die dort liegen, zu
schützen.
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzählerin: Direktor Tarnowski argumentiert, dass ein Zaun die Leute erst
recht anlocken würde.
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Direktor. Polnisch.
Darüber Erzählerin: Solange die Leute nicht wissen, dass die Schuhe im Wald sind,
nehmen sie nichts mit. Wenn das Museum das Gelände einzäunt, denken die Leute,
dass da was Wertvolles ist, springen über den Zaun und fangen an zu graben. Der
Direktor will nun mal nicht, dass Amateur-Archäologen herkommen und buddeln.
Denn...
Direktor. Polnisch.
Erzählerin: ...viele Sachen werden geklaut und im Internet als „originale Artefakte
aus Stutthof“ angeboten. SS-Dienstmarken zum Beispiel. Darum mag Tarnowski nicht
mit Journalisten über das alles reden. Sie schreiben was, und am nächsten Tag wird
das Waldstück von Schatzjägern überrannt.
Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland”.
Erzähler: Angerannt ist bisher vor allem Grzegorz - gegen die Bequemlichkeits-
Schweige-Mauer der örtlichen Bürokraten.
Erzählerin: Warum hat es bis zum Beginn der Grabungen drei Jahre gedauert?
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Das ist alles nicht so schwarz-weiß...
Erzähler: ...das Waldstück gehört nun mal der staatlichen Forstbehörde und wird von
der Gemeinde Sztutowo verwaltet.
Erzählerin: Und wer entscheidet, was mit dem Gelände geschieht?
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Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Die Konservatorin der Wojewodschaft. Agnieszka Kowalska.
Agnieszka Kowalska. Polnisch.
Darüber Erzähler: Aber deren Aufgabe besteht eigentlich nur darin, die Erlaubnis für
Ausgrabungen zu erteilen.
Erzählerin: Und wer sollte sich ihrer Meinung nach um das Gelände kümmern?
Agnieszka Kowalska. Polnisch.
Darüber Erzähler: Die Konservatorin kann die Gemeinde nicht zwingen,
Ausgrabungen zu veranlassen.
Erzählerin: Auch nicht bei eindeutig historischen Spuren? Und die Gemeinde?
Agnieszka Kowalska. Polnisch.
Darüber Erzähler: … Ist an dieser Geschichte sowieso nicht sehr interessiert. Man
wollte sogar einen katholischen Friedhof auf dem Gelände anlegen.
Erzählerin: Und wer ist nun tatsächlich für die Ausgrabungen auf dem Gelände
verantwortlich?
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Die archäologische Gesellschaft Signum.
Signum-Direktor. Polnisch.
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Darüber Erzählerin: Alexander Kwapinski von Signum bearbeitete das Gelände bis
Dezember 2017.
Signum-Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Wir kamen mit Metalldetektoren.
Erzählerin: Metalldetektoren für Schuhe?
Signum-Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Wir haben das Gelände abgesperrt, weil wir Minen aus dem
2.Weltkrieg gefunden haben, und wir mussten das Bombenräumkommando rufen.
Erzählerin: Ich war neulich an einer Stelle, wo noch immer Schuhreste im Wald
herumliegen.
Signum-Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Wir haben eingesammelt was wir konnten. Zunächst muss man
das Gras drumherum entfernen.
Erzählerin: Die Stelle, die ich gesehen habe, ist noch immer ungeschützt.
Signum-Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Wenn es stimmt, was Sie sagen, werde ich hingehen und
nachschauen. Um sicher zu stellen, dass niemand darüber stolpert. Sie müssen
bedenken, dass sie nach dem Krieg einfach in den Wald gebracht und an der
Oberfläche verstreut wurden, nicht einmal eingegraben. Und dann wurden Bäume
darüber gepflanzt.
Erzählerin: Wie kann es sein, dass sie sieben Jahrzehnte lang niemand gesehen
hat?
Signum-Direktor. Polnisch.
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Darüber Erzähler: Ich weiß es nicht. Vielleicht muss man tiefer in den Wald gehen.
Erzählerin: Und was sollte Ihrer Ansicht getan werden?
Signum-Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Sowas wie eine Bestattung. Die Überreste der Schuhe haben
emotionalen Wert, nicht nur historischen. Sie sollten definitiv nicht im Wald gelassen
werden.
Musik 1: Trupa Trupa “Wasteland”.
Erzählerin: „Sowas wie eine Bestattung“ ist es am Ende auch, was das Stutthof-
Museum plant.
O-Ton 42: 180329_003 Piotr Chruscielski. Deutsch.
Also, die Arbeiten, die Arbeiten, die archäologischen Arbeiten, sind noch nicht
abgeschlossen, und alle Schuhe, die gefunden werden, werden Schritt für Schritt
saniert, und sie werden bald in das Mahnmal verlegt.
Direktor. Polnisch.
Darüber Erzähler: Sie müssen in der Sonne getrocknet und vollständig von
organischen Resten gereinigt werden, sagt Direktor Tarnowski. Am Ende werden sie
in einem bestehenden Monument auf dem Museumsgelände „bestattet“. In einem
gewaltigen Bauwerk von 1968, dem „Denkmal des Kampfes und Martyriums “, unter
dessen Obelisk die Asche von Stutthof-Häftlingen begraben ist. Dieses Monument
der Sowjet-Ära wird jetzt, wie Tarnowski es nennt, etwas „Seele“ bekommen.
Erzählerin: Und zu diesem Zweck hat der Museumsdirektor „verschiedene
Glaubensrichtungen“ konsultiert, die ihm versichern „es wäre nicht falsch, die Schuhe
dort zu begraben“.
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Grzegorz Kwiatkowski
The idea of making something with that is great, but I think it should be visible not
invisible. … It’s almost the same that they will be in the forest in the ground.
Erzähler: Grzegorz ist froh, dass endlich beschlossen wurde, etwas zu tun, aber
diese Lösung hält er für völlig falsch. Die Fragmente müssen sichtbar bleiben. Die
Schuhfragmente unter dem Monument verschwinden zu lassen, wäre dasselbe, wie
sie dort zu vergraben, wo sie für jeden sichtbar über 70 Jahre lang gelegen haben.
Grzegorz Kwiatkowski
So its total lack of respect to the prisoners of Stutthof, to my grandfather as a prisoner
of Stutthof, to me as a person who tried to do something.
Erzähler: Das, sagt Grzegorz, lässt jeglichen Respekt vor den Gefangenen von
Stutthof vermissen, vor Menschen wie seinem Großvater, vor ihm, der sich bemüht,
etwas zu tun.
Musik
Erzählerin: „Sichtbar“ ist wirklich das Schlüsselwort der ganzen Geschichte. So oder
so haben seltsamerweise sowohl der Direktor, dessen Museum 100 m entfernt von
der Stelle steht...
Direktor. Polnisch.
Erzählerin: ... als auch der Leiter des archäologischen Teams...
Signum-Direktor.
Erzählerin: ... die übriggebliebenen Schuhfragmente weder gesehen noch je davon
gehört, bis die Medien sich dafür interessierten. Und was Piotr Chruscielski aus der
wissenschaftlichen Abteilung des Museums betrifft – der in Sztutowo aufgewachsen
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ist, hat er die Schuhe nicht gesehen, als er in den Wäldern spielte?
Piotr Chruscielski
Nein, also die Schuhe oder die anderen Artefakte wie sie zum Beispiel im Wald zu
sehen waren, das habe ich nicht gesehen. Ich hab zwar die Schuhe gesehen, die
bereits hier in der Baracke zur Schau gestellt sind, aber andere Sachen habe ich im
Wald nicht gesehen, aber das war auch eigentlich kein Thema im Dorf, ja.
Erzählerin: Sogar Danuta Drywa, die Archivarin, erklärte dem Londoner Daily
Telegraph: „Ich arbeite seit 30 Jahren hier, und keiner der Angestellten hat je von den
Gegenständen gehört, die dort in dem Wald in der Nähe des Museums liegen.“
Musik 3: Trupa Trupa „Never Forget“.
Grzegorz Kwiatkowski
They are lying because they knew about the shoes and everyone knew about the
shoes from Stutthof city and everyone knew that in this forest there are many many
shoes because they were lying not only there but in many many places because
animals were digging in the ground. So it was one big trash in this forest.
Erzähler: Jeder in Stutthof wusste von den Schuhen, erwidert Grzegorz scharf. Tiere
hatten sie zu Tage gefördert, Schatzjäger gruben sie auf der Suche nach KZ-
Devotionalien aus. Der ganze Wald sah aus wie „ein riesiger Müllhaufen“, den jeder
sehen konnte.
Grzegorz Kwiatkowski
And when we went to the Museum, they had a lot of this stuff from this trash because
they had German voluntaries from Germany, young people …with a bucket and they
were going back to the Museum with shoes, with some old stuff from the forest. So
they all knew there are a lot of these kind of things.
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Erzähler: Sogar eine Gruppe von Freiwilligen aus Deutschland kommt von Zeit zu
Zeit, um die Gegenstände des Waldes in Eimern zu sammeln und sie ins zu Museum
bringen. Jedermann weiß es.
Musik 3: Trupa Trupa „Never Forget“.
Erzähler: Aber wie lässt sich diese seltsame „Blindheit“ erklären?
Erzählerin: Vielleicht wurde das Lager vergrößert oder verkleinert – je nach Bedarf.
Der Wald war vielleicht Teil des KZ-Betriebes. Oder: Die Schuhe könnten einst auf
der Müllkippe des KZs gelegen haben. Das vermutete jedenfalls die Archivarin
Danuta Drywa in einem Interview mit der britischen Presse.
Erzähler: Aber: könnte die Frage der „Sichtbarkeit“ des Holocaust auch etwas mit der
gegenwärtigen Situation in Polen zu tun haben? Also mit dem Geschichtsverständnis
der neuen Regierung? Dass die Polen auf keinen Fall Mittäter waren? Dass sie sich
auch nicht mehr als Opfer der Geschichte begreifen sollen? Sondern vor allem als
HELDEN? Kurz: Dass sie sich um die Reste eines deutschen KZs nicht kümmern
müssen?
Erzählerin: Also: die Polen haben weder das KZ Stutthof gebaut, noch sind sie für
das Schicksal der Schuhe und deren Besitzer verantwortlich.
Erzähler: Trotzdem: Ist die Tatsache, dass die Schuhe so lange – unbeachtet – im
Wald herumlagen, nicht doch ein Zeugnis für die Leugnung historischer Fakten?
Erzählerin: Wahrscheinlicher ist, dass die Bürokraten ihre Augen nicht offen halten
und nur sehen, was sie unbedingt sehen müssen. Sie haben offenbar kein Gefühl für
Geschichte. Keine Empathie.
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Erzähler: Deshalb brauchte es einen Künstler, um die Schuhe als das zu sehen, was
sie sind: historische Artefakte. So sahen sie Historiker und Experten und
Museumsleute eben nicht.
Wald.
Erzählerin: Und Grzegorz? Ist er von seinen Schuhen besessen? Warum reibt er
sich so auf?
Grzegorz Polnisch
Darüber Erzähler: Besessen? Nein. Doch dann sagt er : Der Zweite Weltkrieg und
der Holocaust sind obsessive Themen für ihn. Als Kind hat ihn sein Großvater nach
Stutthof mitgenommen und ihm Geschichten vom Leben im KZ erzählt. Da wurde er
zum ersten Mal mit ethischen Fragen konfrontiert, auf die er bis heute keine
Antworten finden kann. Warum tun Menschen einander das an? Ist Geschichte
wiederholbar? Ist das wirkich die menschliche Natur? Fragen, denen er als Dichter,
als Musiker, nachgeht.
Musik TRUPA, TRUPA/ Wald.
Erzähler: Es ist nicht die Art von Obsession, die einem den Schlaf raubt. Er denkt
nicht nur an die Schuhe. Aber Genozid – früher wie heute – beschäftigt ihn sehr. Er
ist froh, dass wir jetzt darüber sprechen, und er hofft, dass diese Schuhe, Dank seiner
Bemühungen, die Behandlung erfahren, die ihnen gebührt. Menschenrechte waren
immer schon wichtig für ihn. Er gehört zu der Nachkriegsgeneration, die das alles
nicht vergessen, aber ohne Sentimentalität betrachten will.
Grzegorz Kwiatkowski liest das Gedicht “Dekret” auf Polnisch. Erzähler liest es
auf Deutsch.
DEKRET
auf zurede tausender bürger
erliess der präsident des staates S.
ein dekret
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das den tod für nichtig erklärte
von einem tag auf den anderen wurden friedhöfe
zu grünenden parks
und hospize und krankenhäuser
zu kindergärten
auf dem marktplatz
einer stadt des staates S.
betrachten wir
die gesichter der einwohner:
man erkennt weder angst
noch die spuren schlafloser nächte
auf eine mauer in der nähe
hat jemand geschrieben:
sonnenuntergänge sind keine gefahr
Lesung Brief: O.D. Kulka.
„Sehr geehrter Herr Mairowitz,
ich danke Ihnen für die Einladung, an einem Gespräch für das
Dokumentarprogramm des Deutschlandfunks teilzunehmen. Zu meinem Bedauern
muss ich aus Gesundheitsgründen ablehnen.“
Erzähler: Wir hatten gehofft, mit Professor Kulka aus Tel Aviv über die Stutthof-
Schuhe sprechen zu können, darüber, was er 1992 sah. In seinem Brief schreibt er
uns, was wir seiner Meinung nach nicht genug gewürdigt haben:
Lesung Brief: O.D. Kulka.
„Nämlich, dass die Schuhe, die von Auschwitz nach Stutthof geschickt wurden, den
Tausenden von Juden gehörten, die in der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“
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der Nazis in den Gaskammern ermordet wurden.“
Erzähler: Die ganze Stutthof-Geschichte ist voller Grauzonen. Es ist schwer
irgendwen zu finden, der mit irgendjemandem übereinstimmt.
Doch etwas anderes ist historisch verbürgt …
Lesung Brief: O.D. Kulka.
„Das Lager der jüdischen Frauen befand sich dort, wo sich heute nur noch ein
verwilderter Wald mit Sümpfen und umgestürzten Bäumen befindet, und keinerlei
Gedenkstätte. Die Haufen toter Jüdinnen wurden an Ort und Stelle in großen Gruben
verbrannt, die heute ebenfalls vom verwilderten Wald überwuchert sind.“
Musik 3: Trupa Trupa „Never Forget“.
Lesung Brief: O.D. Kulka.
„Dies muss meiner Ansicht nach in dem deutschen Radio deutlich gesagt werden.“
Hochachtungsvoll, Otto Dov Kulka“
Musik 3: Trupa Trupa „Never Forget“.
Grzegorz Kwiatkowski
Yeah, for me it’s kind of a … it sounds silly … but it’s: never forget. We shouldn’t
forget about this stuff, you can’t forget about it for the future generations. We should
say about it as much as we can, that it was a fact and it happened. Many people want
to change history. And I think these kind of shoes, this kind of artifacts, this is the old
truth. So we have to secure these artifacts from the Holocaust because it will not be
so easy to say it didn’t happen. It’s kind of an anti-war statement, pacifist statement,
but also a “never forget” statement.
Erzähler: Für Grzegorz Kwiatkowski kann es nicht um „historischen Abfall“ gehen.
Während rechtsextreme Gruppen in Deutschland wie in Polen versuchen, die
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Geschichte umzudeuten oder zu leugnen, stehen diese Schuhe für die „alte
Wahrheit“. Sie sind Beweis gegen jene, die sagen: einen Holocaust hat es nicht
gegeben.
Musik 3: Trupa Trupa „Never Forget“.
Lesung: Aus dem Buch Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und
die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft.
„Aus der Industrie, die später die Schuhe in alle Teile des Reiches versandte, blieben
diese Lederstreifen zurück, übersäten das ganze riesige Gelände des Lagers, das,
sich so beeindruckend gepflegt darbot in Form eines weitläufigen Rasens und den
rechteckigen Erinnerungsmalen aus weißem Stein. Hier nun, war eine weitere
überraschende Verbindung zwischen der Metropole Auschwitz und ihrer
Satellitenstadt Stutthof: Nicht nur Menschen wurden von dem unabänderlichen
Gesetz eingeholt, obwohl sie den Ort bereits verlassen hatten, sondern auch die
Schuhe der Ermordeten, derer, die vernichtet worden waren, begleiteten sie hierher.“
Absage
Die unbegrabenen Schuhe von Stutthof
Sie hörten ein Feature von Malgorzata Zerwe und David Zane Mairowitz
Es sprachen: Monika Oschek, Stefan Kaminski und Felix von Manteuffel
Ton: Michael Kube
Musik: Trupa, Trupa
Die Nachdichtung der Texte von Gerzegorz Kwiarkowski besorgte Bernhard
Hartmann.
Regie: die Autoren
Redaktion: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2018