HESSISCHES JAHRBUCH ..
FUR LANDESGESCHICHTE
Sonderdruck aus:
Band 61 · 2011
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik im 18. Jahrhundert1
Von Gerald L. Soliday
In memoriam Rudolph Binion
1. Einfiihrung
Unter den deutschen Stii.dten war Marburg vielleicht die erste, von der gesagt wurde, dass sie nicht nur eine Universitii.t habe, sondern eine sei. Schon 1786 klagte der Pii.dagoge Joachim Heinrich Campe in einer Reisebeschreibung, dass Marburg eine Universitii.t sei, wo das schlechte Benehmen der Studenten gleich ins Augen falle und nur toleriert werde, weil die Universitat eine tiberlegene Position in der Stadt habez. Im Jahre 1834 verglich der promovierte Marburger Jurist Ernst Koch seine beiden Studienorte folgendermaJ3en: ,,Gottingen hat eine Universitii.t, Marburg ist eine, indem hier alles, vom Prorektor bis zum Stiefelwichser zur Univernitii.t gehort"3. Diese Bezeichnung, heute auch unter anderen, mit Hochschulen eng verbundenen kleinen und mittelgroJ3en Stadten verbreitet4, stammte im Fall Marburgs von Augenzeugen aus der Bildungsschicht. Fur den Sozialhistoriker stellt sich nun die Frage, ab welchem Zeitpunkt auch die breitere stii.dtische Bevolkerung ein so enges Verhii.ltnis zwischen ihrer Stadt und der Universitat erkannte und offen betonte. Nattirlich war die Universitii.t seit ihrer Grtindung im Jahre 1527 for die Geschichte der Stadt auJ3erordentlich wichtig. Zu Marburgs herausragender Stellung als zweite Residenz der Landgrafen gesellte sich sogleich eine neue Rolle als Bildungszentrum for hessische Pfarrer und Staatsbedienstete. Trotz Schwankungen in den Studentenzahlen oder der wissenschaftlichen Rangstellung behielt die Universitat ihre Bedeutung for die Stadt, der sie einen tiberregionalen Namen verschaffte und deren Wirtschaft sie belebte. Zu Gunsten der Eliten, denen eine hohere Bildung immer wichtiger erschien, schloss sich die Universitii.t den ansii.ssigen Gerichts- und Verwaltungs-
1 Finanzielle Unterstutzung der Archivforschungen for den vorliegenden Beitrag gewiihrten die Alexander van Humboldt-Stiftung und the National Endowment for the Humanities. Fur groBzugige Hilfe bei der Ubersetzung danke ich Frau Dr. Andrea Puhringer, Grunberg, Frau Kerstin Hellwege, Dallas, Texas und besonders Frau Dr. Elke M. Soliday, Richardson, Texas.
2 Zit. nach H. BACH, Marburg im Urteil der Vergangenheit (1785-1837), in: Hessenland 39 (1927), S. 165-170, hier S. 165 f .
3 Ernst KocH [Eduard HELMER], Prinz Rosa-Stramin, hrsg. van Wilhelm A. ECKHARDT (VHKH 46/9), Marburg 2008, S. 85.
4 Vgl. Karl BRAUN, Claus-Marco DIETRICH, Die Kleinstadte und das Geistesleben. Zur ethnografischen Erkundung der Universitats-Stadt, in: Jb. for Universitatsgeschichte 11 (2008), S. 243-250, zur heutigen Folklorisierung und Romantisierung des Ausspruchs.
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behi:irden an, um Marburg zum Zentrum des politischen, kulturellen und religii:isen Lebens in Oberhessen zu machen, sogar nachdem die Stadt nicht mehr landgrafliche Residenz war.
Der GroJ3teil der Einwohner jedoch beurteilte die Wichtigkeit der Universitat anders. Bei der Griindung hatte die Biirgerschaft anscheinend nur eine unklare Vorstellung ihres Wirtschaftspotentials, auJ3erte sich aber missgiinstig iiber die Befreiung der Professoren von ,,biirgerlichen Lasten, Diensten, Kriegsziigen (d. h . Kriegsdiensten und Einquartierung), Schatzungen (d. h. Landes- und Reichssteuern), Gulden-Weinzoll und dgl."5. Laut Wilhelm Wolff war die Universitat ein ,,wirtschaftliche[r ] Ersatz, welchen die Stadt for den Verlust der bisherigen Pilgerziige durch den Aufenthalt der Studenten dauernd erhalten sollte. Erst in spaterer Zeit haben die Einwohner diese Fiirsorge des Landgrafen verstehen lernen, damals aber waren sie noch miJ3gestimmt"6. Nach dem Niedergang von Marburgs Wollindustrie im spaten 16. Jahrhundert waren die Gewerbe meist nur noch darauf ausgerichtet, i:irtliche statt auswartige Bediirfnisse zu befriedigen. Marburgs wirtschaftliche Misere Mitte des 17. und erneut Mitte des 18. Jahrhunderts machten die Stadt zunehmend von der Garnison, den Landesbeamten und besonders den Professoren und Studenten abhangig7. Unmittelbar nach dem DreiJ3igjahrigen Krieg, als es schien, dass die Stadt ohne Hochschule auskommen miisse, wurde diese Abhangigkeit zum ersten Mal offentlich angesprochen. 1649 erwahnten Biirgermeister und Rat, die einen mi:iglichen Einkommensverlust forchteten, eine verarmte Bevi:ilkerung, deren Nahrung einzig und allein van der Universitiit herruhrt. Ein Jahr spater war ihre Beschreibung nicht ganz so iibertrieben, aber immer noch zutreffend: wie ein unvermogender armer Orth die Statt Marpurgk in Ermangelung einer Universitiit ist und bleibtB. Mit der Restauration im Jahre 1653 war Marburg wiederum Standort der hessenkasselischen Landesuniversitat und die Spannungen wegen der Steuerbegiinstigungen der Professoren scheinen nachgelassen zu haben, besonders als im 18. J ahrhundert die Biirgerschaft den Landesherrn ganz offen darum ersuchte, die Universitat attraktiver for auswartige Studenten zu gestalten. In einer Bittschrift gegen Zoll- und Akzisenerhi:ihungen von 1741 klagten Unterbiirgermeis-
5 Wilhelm WOLFF, Die Sakularisierung und Verwendung der Stifts- und Klostergiiter in Hessen-Kassel unter Philipp dem GroBmutigen und Wilhelm IV. Ein Beitrag zur deutschen Reformationsgeschichte, Gotha 1913, S. 135.
6 Ebd., S. 136. 7 Vgl. Gerald SOLIDAY, Die Schulbildung der Marburger Handwerker in der fruhen
Neuzeit, in: Hess.Jb.LG 43 (1993), S. 107. B Zur Frage des Standorts und zur Erneuerung der Universitat siehe Gerhard MENK,
Johann Heinrich Dauber. Der Erneuerer der Marburger Universitat nach dem DreiBigjahrigen Krieg, in: Jorg Jochen BERNS (Hrsg.), Marburg-Bilder 1 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 52), Marburg 1995, S. 241- 264, Zitat S. 244, 246; vgl. Heinrich HERMELINK, Siegfried A. KAEHLER, Die Philipps-Universitat zu Marburg 1527-1927 (im Folgenden zit. als KAEHLER, da er fUr die Zeitspanne 1653-1866 verantwortlich war), 1927, ND Marburg 1977, S. 234- 252; Eckart EHLERS, Jurgen LEIB, Marburg- Stadt und Universitat, in: Hundert Jahre Geographie in Marburg, hrsg. vom Geographischen Institut Marburg (Marburger geographische Schriften 71), Marburg 1977, S. 7-32, hier S. lOf.
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ter, Vierer, Ziinfte und Gemeinde nicht wie sonst iiber die Steuerfreiheit der Professoren, sondern erkannten sogar die Berufung renommierter Professoren und die daraus erfolgende hi:ihere Studentenfrequenz - zusammen mit der Stationierung einer Garnison - als notwendige Bestandteile ihrer wirtschaftlichen Sicherheit9. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts betonten Kaufleute, Kramer und Handwerker zunehmend ihre Abhangigkeit von der Universitat und betrachteten Marburg, wie die fohrenden Schichten es langst taten, in erster Linie als Univer-
sitatsstadt10. Im Folgenden mi:ichte ich einige Ergebnisse meiner Forschungen zusammen-
fassen, die eine eingehende Untersuchung des Verhaltnisses von Universitat und Stadt in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts anstreben, in einer Zeit also, in der die Biirgerschaft am haufigsten und klarsten ausdriickte, was sie sich von der Universitat erhoffte. In einer Reihe von Bittschriften an die Landesregierung in Kassel aus den Jahren 1741, 1752, 1774, 1782, 1786 und 1803 schlugen mehrere Einwohner MaJ3nahmen zur Verbesserung von Marburgs stagnierender Wirtschaftslage vor. Ein immer wiederkehrendes Thema war die Notwendigkeit, die Studentenzahl zu vergri:iJ3ern und besonders auch Studenten auBerhalb Hessen-Kassels anzuziehen, welche, so hoffte man, mehr Geld in die hiesige Wirtschaft bringen wiirden als die einheimischen. Wenn auch eine erhi:ihte Studentenfrequenz nicht das einzige Ziel der Bittsteller war, so ist sie doch wichtig genug, um als Ausgangspunkt for eine breitere Untersuchung des Verhaltnisses von Stadt und Universitat zu dienen. Wie viele und welche Studenten zog die Universitat an? Welche MaJ3nahmen betrachteten Marburgs Einwohner als angemessen und erforderlich, um ,,Kunden" zu gewinnen, und wie reagierte die Professorenschaft auf die pragmatischen Ansichten, die Nicht-Akademiker von den Verpflichtungen der Universitatslehrer hatten? Mit ihren Bemiihungen, das zukiinftige Wohlergehen ihrer lutherischen Stadt eng mit dem Wachstum der reformierten Universitat zu verkniipfen, r iihrte die Biirgerschaft jedoch an Bedenken, die die hessischen Landgrafen mit vielen deutschen Regierungen dieser Zeit teilten: namlich die Sorge vor einem Akademikeriiberschuss, also vor einer Uberproduktion von gebildeten Mannern, die nicht im Staatsdienst unterkommen konnten. Somit war das Anwerben von Studenten eine umstrittene Frage, die nicht nur die unterschiedlichen Interessen von Stadtbevi:ilkerung, Universitat und Staat, sondern auch die Ambivalenz der Bildungspolitik am Ende des
hessischen Al ten Regimes aufzeigt.
2. Die Bittschriften der Biirgerschaft
Schon vor der Jahrhundertmitte, in der Teuerungskrise 1739-41, wurden Bedenken wegen geringer Immatrikulationen laut. Wie schon erwahnt, erbaten Unterbiirgermeister, Vierer, Ziinfte und Gemeinde im August 1741 um Erlass
9 Vgl. StAM, Best. 40a, Rubr. 2, Nr. 2.017, Bittschrift wegenAbgang der Nahirung und Erhohung des Zolls und Licents, 31.8.1741; vgl. Stephan SCHWENKE, Die gezahmte Bellona? Burger und Soldaten in den hessischen Festungs- und Garnisonsstadten Marburg und Ziegenhain im 17. und 18. J ahrhundert, Marburg 2004, S. 224 f.
10 Vgl. SOLIDAY (wie Anm. 7), S. 107; Helmut SEIER, Zurn Verhaltnis von Universitat und Stadt in Marburg 1785- 1945, in: Hess.Jb .LG 38 (1988), S. 171-201, hier S. 171 f.
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der Zoll- und Akzisenerhohung von 1735; unter den dringendsten wirtschaftlichen Problemen waren nicht nur Inflation und zunehmende Armut, sondern auch ein Ruckgang der Studentenzahlen und der mogliche Verlust der Garnison:
[. .. ] anjitzo der abgang verschiedener beriihmter Professoren gro/Jen schaden bringet, weilen hierdurch die ausldndliche Studiosi sich meist wegbegeben haben, wodurch die Frequentz hiesiger Universitaet Marburg sehr gering warden ist, einfolglich die Nahrung so schlecht, da/J die Biirgerschafft mehr um einen erlafJ allerunterthdnigst zu bitten gro/Je ursach hat, da gewi/J zu befiirchten wann die Militz au/Jer Landes gehen und wir nicht bald wieder mit einigen Professoribus Juris alhier versehen werden dorfften die biirgerliche nahrung alhier noch schlechter werden mochtell.
Breite Schichten der Burgerschaft verbanden ihr Wohlergehen mit der Anzahl und dem Renommee der Professoren, wobei sie sich hauptsachlich auf den wohl beruhmtesten Marburger Professor des 18. Jahrhunderts, Christian Wolff, bezogen, der nur neun Monate zuvor seine siebzehnjahrige Lehrtatigkeit beendet hatte, um nach Halle zuruckzukehren. Aber die Burger waren auch wegen der unterbesetzten Jura-Fakultat besorgt, die nicht genug auswartige Studenten anzog, um eine starke Frequenz zu garantieren. Offensichtlich hatte die Burgerschaft begonnen, Studentenanwerbung, aber auch mogliche Truppenabzuge genauer zu verfolgen. In einer abermaligen Bittschrift von 1752 wurden nochmals die mangelhaften Studentenzahlen als Zeichen der wirtschaftlichen Notlage angeflihrt, die eine Steuerbeglinstigung notig mache12.
Eine noch deutlichere Dokumentation von Marburgs wirtschaftlichen Sorgen, besonders denen um die Universitat, folgte ein Vierteljahrhundert spater, nachdem die Stadt von zwei schweren Schlagen getroffen worden war. Zurn einen war dies der Siebenjahrige Krieg, in dessen Verlauf die Stadt an die fonfzehnmal in die Hande verschiedener feindlicher Besatzer gefallen war und die Immatrikulationen den Tiefstand in ihrer langen Geschichte erreicht hatten: 1761nur31 neue Einschreibungen. Noch in der wirtschaftlichen Nachkriegsmisere befangen, litt die Stadt zum anderen unter der Hungersnot von 1770- 72, eine der schlimmsten in der Geschichte des vorindustriellen Europas. Ab Fruhjahr 1774 schickten Marburger Kaufleute dringende Bitten um Hilfe aufgrund ihrer wirtschaftlichen Notlage an den Landgrafen. AuJ3er der schwachen hessischen Wahrung fohrte die Stadt noch zwei weitere grundlegende Ursachen for Marburgs verzweifelte Situation an:
Eben so sind die merckliche Abnahme Un/Jer sonst so beriihmten Universitcet und die gegenwdrtige Garnisons im Oberfiirstenthum alls die Urquellen un/Jeres Verfalls zu betrachten. Es fehlet an beriihmten Professoren, die wir sonst hatten und da mann in ehemaligen Zeiten 6 bi/] 800 Studenten hat zahlen konnen, so haben wir deren gegenwdrtig kaum 150. und unter dies/Jen nicht einmahl den JOten theil fremde; Was die/Je zu ihren Bediirfni/Jen brauchen, das bringen Sie van Hau/] mit, mithin leidet un/Jre Handlung allein bey dieser Aussicht gantz entsetzlich, und mit der Besatzung hat es eine gleiche traurige BewandnifJ. Var Zeiten hatten Wir hier in
11 StAM, Best. 40a, Ruhr. 2, Nr. 2.017, Bittschrift wegen Abgang der Nahrung und
Erhohung des Zolls und Licents, 31.8.1741; vgl. SCHWENKE (wie Anm. 9), S. 224 f. 12
Wilhelm DERSCH, Beitrage zur Geschichte der Universitat Marburg im Zeitalter der Aufklarung, in: ZHG 54 (1924), S. 161-203, hier S. 167.
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Marburg und im Oberfiirstenthum drey complette Regimenter, die Garnison war zahlreich, und den Kaufieuthen wurden die Regiments Lieferungen gegonnet, jetzt aber fdllt alles dieses weg, ein Battaillon, das grostentheils beurlaubet ist, enthdlt un/Jere gantzen Garnison, die Lieferungen kommen van Cassell oder sonsten, und dieser sonst so betrdchtliche Nahrungs Zweig, will fast gar nicht mehr bedeutenl3.
Nach seiner Meinung gefragt, stimmte Franz Kunckel, der Advocatus Fisci in Marburg und Syndikus der Universitat, mit der generellen Einschatzung der Wirtschaftslage von Seiten der Kaufleute uberein. Er teilte ihre Ansicht, dass die Stadt dringendst Zuschusse von auJ3erhalb benotige und vor allem profitieren wurde, wenn die Landesregierung die Situation der Universitat verbessere. Ratte Marburg, wie er gehort habe, fr-Uher ungefahr 400 Studenten, so sei die Studentenzahl nun aufwenig mehr als 200 zuruckgegangenl4. Im darauffolgenden November schickten Unterburgermeister und Vierer eine weitere dringliche Bitte um Unterstutzung an den Landesherrn. Sie betonten den beangstigenden Zuwachs an Armen in Marburg und verdeutlichten, dass die Handwerker sich genau so abhangig von der Universitat fohlten wie die Kaufleute.
Besonders befindet sich gegenwdrtig die hiesige Universitdt gar nicht in der besten Vefa/Jung; sie ist so schwach, als sie wohl ja in ihrem Leben gewesen. Durchsiehet man das angeschlo/Jene Verzeichnis, so konnen wir kaum 150 Studenten zusammen zdhlen und unter diesen befinden nicht einmal das 4te Theil ausldnder, Alle iibrige sind Marburger StadtKinder oder gebohrne He/Je, die hierher mu/Jen oder das Vermogen nicht haben, auf eine andere Universitdt zu ziehen. Dann wer das hat, gehet allemahl Zieber auf Gottingen oder sonsten wohin, und nach Marburg gehet man nur aus Noth auch wird diese gewis bei den meisten Unserer gegenwdrtigen Auslander eintreffen. Daher geschiehet es dann auch, dafJ alle die bediirfni/Je, welche unsere izzigen Universitdt braucht wenig oder fast gar nichts bedeutet. Was sie an Kleidungsstuck Caffee Zucker oder sonsten nutz hat, bringen sie van Haus mit oder bekommen es van ihren Eltern und Angehorigen, wodurch dann der Licent Cassa, weilen sie van Abgiften befreit sind, auserordentlich geschadet wird und ein gleicher Nachtheil haben auch alle und jede Handwercker und Professionisten, .dann der Nutzen, der sie van der gegenwartigen Universitat haben, bedeutet ganz und gar nichts, und wer nichts zuzusetzen hat, mu/J elendichlich darben und der armen Cassa zur Last fallenl5.
In diesen ersten Dokumenten machten Kunckel, die Kaufleute und die Vierer noch keine konkreten Vorschlage for ein Eingreifen der Landesregierung. Sie stellten nur allgemeine Forderungen, in denen andeutet wurde, dass mehr Truppen und vor allem mehr Studenten die Situation verbessern wurden. Ihre Erwahnung der Universitat bezog sichjedoch auf einige MaJ3nahmen, die sie in den kommenden Jahrzehnten deutlicher ansprechen sollten. Wahrend sie dazu neigten, die fruheren Studentenzahlen zu ubertreiben, versuchten sie 1774 mit Hilfe einer Liste von nur 150 Studenten zu beweisen, wie gering die derzeitige Nachfrage war, besonders weil ihren Schatzungen nach nur ein Zehntel oder hochstens ein Viertel der Studierenden Nicht-Hessen waren. Trotz ihrer oft ungenauen Angaben wurde diese allgemeine Beurteilung der wirtschaftlichen
13 StAM, Best. 40d, Nr. 1.050, 6.4.1774. 14 Ebd., 4.5.1774. 15 Ebd., Best. 330, Marburg B 462, 20.11.177 4.
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Bedeutung der Universitat for die Stadt auch von dem Geheimen Regierungsrat, Vizekanzler und Professor Juris Aemilius Ludwig Homburg zu Vach geteilt. Im Jahre 1775 schloss er eine Denkschrift gegen eine Verlegung der Universitat nach Kassel mit dieser Bewertung: Endlich wurden der Stadt Marburg jiihrlich 40 bis 50 / m. r. durch den Abgang der Universitiit entzogen werden. Wie dieser Verlust zu ersetzen sey, dazu wei/3 ich kein hinliingliches Mittel vorzuschlagen16.
Im folgenden Jahrzehnt wurden die Andeutungen in den biirgerlichen Bittschriften zunehmend offener und direkter. Die hessische Teilnahme am britischen Krieg mit den nordamerikanischen Kolonien (1776- 1783) bedeutete, dass immer weniger Truppen in der hiesigen Garnison stationier t waren, weshalb die Universitat zunehmend als die Losung der wir tschaftlichen Probleme ins Licht riickte. In einem Bericht von 1782 konnte Kunckel jedoch der im Allgemeinen triiben Analyse eine positiver e Bemerkung anschlieBen. Die Stadt ware in einer noch schlechteren Lage, hiitte die Landesregierung nicht kiirzlich einen bekannten Professor for Theologie berufen, der Studenten aus Nassau, der Pfalz und Bremen anzog. Welch ein Unterschied, behauptete er, zu der stark reduzierten Anzahl der Jura-Studenten, gar nicht zu reden davon, dass es fast keine Medizinstudenten mehr gebe11.
Im Namen aller Ziinfte und der Gemeinen folgten Unterbiirgermeister und Vierer Kunckels Beispiel und verfassten eine Bittschrift voll des Lobes und der Dankbarkeit for die bemerkenswerte viiterliche Gnade, die der LandgrafUniversitiit und Stadt erwiesen hatte, indem er Inspektor und Konsistorialrat Samuel Endemann aus Hanau als Professor Primarius der Theologie nach Marburg berief. Der Zuwachs an Theologie-Studenten war schon zuvor aufgefallen, und wie die friihere Berufung des beliebten und angesehenen Zweiten Professors Johann Jacob Pfeiffer bewies dieser Schritt, dass Professoren solchen Formats der wichtigste Faktor for die Wiederbelebung der Universitiit waren. So driingten die Bittsteller auf iihnliche MaBnahmen zur Aufwertung der Jura- und MedizinFakultiiten. Fiir beide sollte die Landesregierung ein oder zwei ebenso gelehrte und rege Manner finden, die auch auBerhalb von Marburg beriihmt waren. Auf diese Vorschliige kam von dem Geheimen Rat in Kassel eine kurze kiihle Antwort: Der Magistrat ist zu bedeuten, da/3 Sermus das beste der Universitaet van selbst zu behertzigen wi/Jen werden1s.
Ob von der Meinung der hiesigen Untertanen beeinflusst oder nicht, die hessische Bildungspolitik iinderte sich nach dem Tod des Landgrafen Friedrich II. im Jahre 1785 zu Gunsten der Universitiit. Im Gegensatz zu diesem aufgekliirten Fiirsten, der seine Aufmerksamkeit und finanzielle GroBziigigkeit einer groBartigen Hofhaltung und Kunst- und Wissenschaftsfdrderung der Residenzstadt Kassel zugutekommen lieB19, stellte sich sein Nachfolger Wilhelm IX. als
l6 Ebd., Best. 5, Nr. 7.851, 28r f. ; vgl. DERSCH (wie Anm. 12), S. 168 ff. 17 StAM, Best. 5, Nr. 7.831, Kunckels Bericht an Staatsminister von Burgel, 11.5.1782. 18 Ebd., Best. 330, Marburg B 907, 3. bzw. 7.6.1782. l 9 V gl. Otto BERGE, Beitrage zur Geschichte des Bildungswesens und der Akademien
unter Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel (1760-1785), in: Hess.Jb.LG 4 (1954), S. 229- 261; Wolf VON BOTH, Hans VOGEL, Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel (VHKH 27/1), Munchen 1973; Charles W. INGRAO, The Hessian Mercenary State. Ideas, institutions, and reform under Frederick II. 1760-1785, Cambridge 1987, S. 164-187.
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echter Wohltater des weniger glanzvollen Marburgs heraus. Wahrend Fr iedrichs Regierungszeit hatten Berater - so J ohann Christoph Gottsched 1761 und General Martin Ernst von Schlieffen 1775 - den Landgrafen mindestens zweimal gedriingt, die alte Universitat aus Marburg zu verlegen und sie mit Kassels Collegium Carolinum zu vereinigen, das unter Friedrich als ein Mittelpunkt der schonen Kiinste und der naturwissenschaftlichen Forschung galt. Der Landgraf war zwar geneigt, eine Volluniversitiit in seiner Hauptstadt zu halten, nicht aber willens, sich iiber die Opposition Marburgs selbst und seines Geheimen Rats hinwegzusetzen. So wurde aus diesem Vorschlag nichts und beide Anstalten litten unter groBen finanziellen Mangeln20. 1786 iinderte Wilhelm IX. jedoch seinen Kurs. Wahrscheinlich aus finanziellen Grunden schloss er das Collegium in Kassel und versetzte die Halfte der Lehrkrafte nach Marburg. So erfuhr die Universitiit in den ersten Jahren seiner Regierungszeit einen gewaltigen Aufschwung. Zusiitzliche Berufungen, besonders in Medizin, den Naturwissenschaften und der Kameralistik, erhohten die Gesamtzahl der Professoren von 17 auf 25, die alle erhebliche Gehaltsaufbesserungen erhielten. Neue Einrichtungen waren eine Anatomie (1788), ein Entbindungshaus (1791) und ein Chemielabor (1792), die ihrerseits zu hoheren Immatrikulationszahlen fohrten21.
Schon Anfang 1786 war in einer Bittschrift der gesamten ,,Biirgerschaft Marburgs" ein optimistischerer Ton spiirbar. Dies ist ein interessantes Dokument, das moglicherweise ein Aufbrechen der geschlossenen Front zeigt, die bisherige Bittschriften dieser Art gekennzeichnet hatte. Jetzt, wo sie ein Aufbliihen der Stadt als gegeben betrachteten, erwiihnten die Bittsteller noch ein weiteres
Problem: Schon seit vielen Jahren ist der Burgerschaft alhier ein haupt Nahrungszweig entrissen warden, da sehr viele Honoratiores nicht nur die bey ihnen logirende Studenten an ihren Tisch genommen, sondern auch ein wurkliches Handwerk aus dem Tischhalten gemacht haben. Var diesem hatte der Burgerstand das Tischhalten, und es wurden auch die Contribution und andre Herrschaftliche Abgaben darauf gelegt, welches noch immer bis jezt in dem Contributionsquanto begriffen ist: allein, da nunmehro so viele Honoratioren, die in Besoldung oder sonst guter Auskunft stehen, sich diesen fur die Burger gehbrenden Erwerb angemaset haben; leiden nicht nur diese viel, sondern es wird auch gnadigster Herrschaft dadurch entzogen, da darunter sich solche befinden, welche in ihrem Namen Wein kommen lassen, die fur ihren Stand darauf haftende geringe Abgaben zwar entrichten, den grosten Theil davon aber ihren Tischherrn bey dem Essen uberla/3en. Sie sind also nicht nur Traiteurs, sondern auch Weinwirthe; und dazu komt noch da/3 auch dem Handelmann vieles
entzogen wird. [ ... ] Wir haben hier keinen Ackerbau, sondern leben blos vom Militair, Universitiit, Handlung und Gewerben: und da wir nun durch Aufnahme der Universitat, zu unsrer unterthdnigsten Danksagung, wieder aufleben werden: so hoffen auch in diesem Stuck eine gnddigste Unterstiltzung, und bitten Eure Hochfurstliche Durchlaucht unterthanigst, denen Honoratioren das bisherige Tischhalten und sonstiges in bur-
20 KAEHLER (wie Anm. 8), s. 416-419; INGRAO (wie Anm. 19), 180 ff.; DERSCH (wie Anm.
12), s. 168 ff. 21 DERSCH (wie Anm. 12), S. 174-182; KAEHLER (wie Anm. 8), S. 445-455.
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gerliche Nahrung einschlagendes Verkehr mit den studierenden gnadigst nachdrucklichst entsagen zu lassen22.
Im Gegensatz zu fruheren Bitten von Unterburgermeister und Vierern, von reichen Handelsmannern und sogar von Beamten wie Kunckel betonte dieses unterschriftslose Dokument den entscheidenden Unterschied zwischen Burgern und Nichtburgern. Letztere schlossen for gewohnlich Regierungs- und Universitatsangehorige ein - Leute, die in der Stadt ansassig waren, aber nicht Burger werden mussten. Wahrend die meisten Hessen sowohl nach ihrem Einkommen als auch nach ihrem Besitz eingestuft wurden, entrichteten Landesbeamte und Professoren keine Einkommenssteuer und viele auch keine Grund- oder Haussteuern. Dasie auch keine Verbrauchssteuern aufWein und Bier zahlten, konnten sie Studenten billiger verkostigen als die Nichtprivilegierten und sich dadurch zusatzliche Einkunfte verschaffen, die aber nach Meinung der kontributionszahlenden Burger ausschlieBlich diesen zustanden2a. Unterschiedliche Gruppen teilten zweifellos die Ansicht, dass Marburgs Wirtschaft in hohem Grad von der Universitat abhing; aber diese Bittschrift zeigt auch, dass die Einwohner verschiedene Interessen hatten, und wirft die Frage auf, wie sich der wirtschaftliche Gewinn, den die Studenten als Verbraucher mit sich brachten, auf die Stadtburger und die nichtburgerlichen Eliten verteilte.
Die ersten Regierungsjahre Wilhelms IX. stellten einen Hohepunkt in der Institutions- und Immatrikulationsgeschichte der Universitat selbst dar. Danach verursachten die Franzosische Revolution und die Napoleonischen Kriege erneut finanzielle Note und rucklaufige Immatrikulationszahlen. Im Marz 1803 war die Burgerschaft wiederum so besorgt um Marburgs wirtschaftlichen Niedergang, dass Unterburgermeister und Vierer eine erneute Eingabe nach Kassel sandten. Sie verstunden, dass Missernten und Krieg zusammen eine Teuerungskrise ausgelOst hatten, aber die Abhangigkeit der Stadt von ihrer Universitat veranlasse die Sprecher, um MaBnahmen zu bitten, die den Schwund der Studenten aufhielten. Keine fruhere Eingabe zeigte sich so genau uber die internen Angelegenheiten der Universitat informiert und war so klug und detailliert in ihren Verbesserungsvorschlagen. Die Professoren betrachteten diese Bittschrift als eine Reihe von unverschamten Zurechtweisungen, aber sie diente spateren Forschern wie Wilhelm Dersch, Rudolf Brieger und Siegfried Kaehler als Ausgangspunkt for die Beurteilung des Allgemeinzustandes der Universitat, besonders der Lehrkrafte und ihres akademischen Ranges. Hier interessieren nun jene Streitpunkte, die Auskunft zu Anzahl und Zusammensetzung der Studentenschaft geben.
Mehrere Schritte schienen den Bittstellern geeignet, der Universitat groBere Anziehungskraft zu verleihen: Sogar wenn Marburg niemals Erfolge wie die von Gottingen, J ena, Leipzig oder Halle erhoffen konne, so konne es doch die Hauptaufgabe aller Universitaten erfollen - so viel Geld wie moglich in das Land zu bringen und dort zu behalten. Aber die akademischen Regeln und ihre Durchsetzung seien so streng, dass nicht-hessische Eltern zogerten, ihre Sohne nach Mar-
22 StAM, Best. 330, Marburg B 907, 31.3.1786. 23 Das Thema Steuerprivilegien und die daraus entstehenden wirtschaftlichen Vorteile
der Honoratioren wurden von Kaehler nicht angesprochen.
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burg zu schicken, und oft geneigt seien, Gottingen vorzuziehen. Jeder Fehltritt wurde bestraft, als ob die jungen Leute Erwachsene seien. Die Professoren ubten ihre Rolle in loco parentis nicht aus und die Studenten, sich selbst und Gleichaltrigen uberlassen, wurden ungebardig. Statt in das Familienleben und die kultivierten Kreise der Professoren aufgenommen zu werden, seien die meisten auf Freunde und ihre eigenen Gesellschaften, Kranzchen und Orden angewiesen. In den Augen der Burger sollten die Verbindungen nicht verboten und ihre Mitglieder nicht bestraft werden, solange sie gutes Betragen, ernstes Studium und Kameradschaft forderten. Zurn Beispiel erschien ihnen die vorubergehende Suspendierung eines Duellanten angemessener als der Verweis von der Universitat, wie es die Regeln vorschrieben. Jungen Mannern wurde damit eine Lektion erteilt und Marburg wurde keine Abnehmer verlieren, vor allem nicht die verschuldeten Studenten, die ihre Glaubiger im Stich lassen konnten. Auch die Verordnung, den Studierenden nicht langer als drei Monate Kredit zu gewahrten, sei ein Nachteil - sowohl for die Studenten, die gewohnlich ihre Geldmittel am Anfang oder Ende des Semesters erhielten, als auch for ihre Glaubiger, die oft ausstehende Betrage einziehen sollten, ehe sie den Schuldnern zur Verfogung standen. Wenn die Glaubiger das Geld hingegen zu spat einzogen, konnten die Studenten die Zahlung verweigern. So konnten solche Regeln das Verhaltnis von Studenten und Burgern empfindlich storen. Aber wahrend sie um Anderungen im Kreditwesen und um gemilderte StrafmaBnahmen for die Studenten ersuchten, kamen die Bittsteller zuletzt wieder zu einem Punkt aus fruheren BurgerEingaben zuruck, namlich dass die Fahigkeit der Universitat, nicht-hessische Studenten anzuziehen, letztlich vom Ruf der Professoren abhange. Deren Ruhm auBerhalb Hessens basiere auf ihren Veroffentlichungen und die Vertreter der Burger verglichen die aktiven Gottinger Professoren mit der weniger regen Gruppe in Marburg. Ohne Namen zu nennen, druckten die Bittsteller ihre Ansicht aus, dass manche Professoren ihren Verpflichtungen nicht nachkamen24.
Die Beherztheit der Burgerschaft, sich in interne Universitatsangelegenheiten einzumischen, weckte naturlich Entrustung unter den Professoren. Sie verteidigten die strenge Disziplin mit der Behauptung, dass ein milderes System ein nur noch schlechteres Betragen der Studenten zur Folge habe. Sie mokierten sich uber die Ansicht, dass Studentenverbindungen einzig harmlose gesellschaftliche Organisationen seien - waren sie nur Kindereien, hatte das Reich sie 1794 nicht verboten. Im Ubrigen wurden Verlangerungen von Kreditterminen die Eltern der Studierenden in noch hohere Schulden sttirzen und den Glaubigern die Eintreibung erschweren. Diese Beschwerden bezogen sich auf die gesetzlichen Regeln und weniger auf die Professoren, die for deren Durchsetzung verantwortlich waren. Aber in anderen Beschwerdeschriften ftihlten sich die Professoren zu Unrecht personlich angegriffen. Sie bestritten aufs Heftigste jegliche Vernachlassigung ihrer Studenten: Einer der wirklichen Vorteile des Studiums in Marburg sei, dass die Universitat Studenten von guter Fuhrung die Gelegen-
24 Vgl. Rudolf BRIEGER, Eine Klage der Marburger Burgerschaft uber den Verfall der Universitat im Jahre 1803 und die Ursachen des Ruckgangs, in: ZHG 56 (1927), S. 280-346, hier S. 281- 286; StAM, Best. 5, Nr. 7.837, Zusammenfassung der Bittschrift, 28.3. 1803.
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heit gebe, mit den Professoren und anderen ,,Honoratioren" zu verkehren. Vielleicht sei das Gewicht, das die Burger auf Ruf und Veroffentlichungen der Lehrkrafte legten, verstandlich for die Einwohner, die die Universitat nur von ihrem eigenen wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachteten. Doch die Marburger Professoren hat ten genug veroffentlicht, ohne dabei ihre wichtigsten, namlich ihre Lehrerpflichten, zu vernachlassigen.
Dieser offiziellen Antwort zufolge lag die Erklarung for den Ruckgang an Immatrikulationen weder an den hessischen Disziplinarverordnungen noch an der Marburger Professorenschaft. Auch andere Universitaten hatten ahnliche Probleme und die Grunde dafor seien meist allgemeiner Art: die um sich greifende Inflation, beschrankte Zulassungsvorschriften und die Moglichkeit for immer mehr junge Manner, sich in Handel und Gewerbe zu betatigen. Die durch den Krieg verursachten Veranderungen von Sakularisierung, Mediatisierung und der franzosischen Annexion linksrheinischer Gebiete bedeuteten for Marburg groBere Studentenverluste als for andere Universitaten. Zuletzt, in einer Art Gegenangriff, beschuldigten die Professoren die Marburger des Versuchs, sich zu bereichern, indem sie hohere Preise als im nahen GieBen verlangten. AbschlieBend druckten die Professoren ihr Vertrauen aus, dass die landgrafliche Untersuchung der Gesamtsituation ihre eigene Analyse rechtfertigen und die beleidigende Anschuldigung, die Marburger Professoren seien verantwortungslos, widerlegen werde2s.
Leider scheint keine Untersuchung erfolgt zu sein, vermutlich, weil die zunehmend konservative Landesregierung mit der Meinung der Professoren ubereinstimmte. Brieger und Dersch benutztenjedoch die Burger-Bittschriften als Basis for eine sorgfaltige Studie uber die 27 Professoren und vier Dozenten, ihre Qualifikationen, ihre Veroffentlichungen sowie die ihnen zur Verfogung stehende Infrastruktur. Obwohl sie zugeben mussten, <lass vermehrte Veroffentlichungen vielleicht mehr Studenten angezogen hatten, so hielten sie doch die Professoren for besser als nur ausreichend qualifiziert for eine so kleine Universitat. Sie argumentierten, dass bei der so hoch qualifizierten Professorenschaft die Probleme Marburgs tatsachlich woanders lagen - bei kriegsbedingter Inflation, verstarktem Abgang der jungen Manner zu nichtakademischen Beschaftigungen, rechtlichen Zulassungsbeschrankungen zum Studium, der Tendenz des nahen Gottingen, die meisten alteren Universitaten in den Schatten zu stellen und endlich bei einem unzulanglichen und unberechenbaren UniversitatsEtat26. Briegers Analyse ist im GroBen und Ganzen annehmbar, doch sollen hier nicht die wissenschaftlichen und institutionellen Qualitaten der Universitat, sondern die Beforchtungen der Burger wegen Studentenanwerbung und Immatrikulationszahlen untersucht werden.
25 BRIEGER (wie Anm. 24), 8 . 289-294; KAEHLER (wie Anm. 8), 8. 471-476, Anm. 13. 26 BRIEGER (wie Anm. 24), 8. 342-346.
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 69
3. Studentenschaft und Frequenz
Meine Forschungen uber die Immatr ikulationsfrequenz und die Marburger Studentenschaft beruhen auf zwei Quellenarten: den gedruckten Matrikelbuchern sowie einigen Verzeichnissen aller zu einem bestimmten Zeitpunkt anwesenden Universitatsbesucher. Die Matrikel sind chronologische Namenslisten, die der Rektor bzw. seit 1728 der Prorektor bei der Eintragung jedes neuen Studenten weiterfohrte. Derartige Register, von unterschiedlicher Qualitat und Zeitspanne, bestanden an den meisten deutschen Universitaten, und seit Franz Eulenburgs klassischer Monographie von 1904 sind sie die Grundlage for fast alle Untersuchungen von Frequenz, Einzugsbereich und sogar der relativen Rangstellung der Universitaten vom Mittelalter bis Ende des 19. Jahrhunderts21. Die Marburger Matrikel registrierten Studenten nach Namen, Datum der Ersteinschreibung und Herkunftsort, obwohl die Prorektoren erst 1795 begannen, auch die Fakultatszugehorigkeit systematisch zu notieren. Leider wurde die soziale Herkunft nur in Ausnahmefallen, etwa bei Adeligen oder Professorensohnen, angegeben. Jedoch kann man anhand dieser Daten die Schwankungen der Immatrikulationen, den Anteil von Hessen zu Nicht-Hessen sowie den Einzugsbereich der Universitat im Lauf der Zeit verfolgen. Ein kurzer Uberblick uber die Immatrikulationsfrequenz von der Wiedereroffnung der Universitat nach dem DreiBigjahrigen Krieg bis zum Ende des alten Reiches soll hier als Ausgangspunkt for eine Diskussion der hessischen Bildungspolitik im 18. Jahrhundert dienen.
Der Vorteil der zweiten Quelle, also der Studentenverzeichnisse, ist, dass sie die GroBe der gesamten anwesenden Studentenschaft und damit eines hauptsachlichen Konsumenten von Waren und Dienstleistungen der Stadt angibt. Es bestehen for das 18. Jahrhundert mehrere solcher Listen (Vgl. Tab. 2), sowohl vereinzelt als auch in einer Reihe von systematischen Verzeichnissen, die der Prorektor im Wintersemester 1786/87 begann. In diesen Verzeichnissen ist der Herkunftsort jedes Studenten um seine Fakultatszugehorigkeit, das Datum seiner Immatrikulation und sogar um sein Quartier in der Stadt erganzt. So erlauben einige Listen, zusatzlich zu Rekrutierungsraum und Studienfach, eine Berechnung der Aufenthaltsdauer und der seinerzeitigen Wohnverhaltnisse in Marburg. Dadurch !asst sich eine grundlichere Untersuchung der Marburger Studentenschaft durchfohren als zu jedem anderen Zeitpunkt in der fruhneuzeitlichen Geschichte der Universitat. Dieser Beitrag benutzt Stichproben aus
27 Franz EULENBURG, Die Frequenz der deutschen Universitaten von ihrer Grundung bis zur Gegenwart, Leipzig 1904, ND Berlin 1994; vgl. die exemplarische Kritik und Analyse von Rainer Christoph SCHWINGES, Immatrikulationsfrequenz und Einzugsbereich der Universitat GieBen 1650-1800, in: Peter MORAW, Volker PRESS (Hrsg.), Academia Gissensis. Beitrage zur alteren Universitatsgeschichte. Zurn 375jahrigen Jubilaum (VHKH 45), Marburg 1982, S. 24 7-295, hier S. 249, sowie die neuere und statistisch basierte Kritik in Uwe ALSCHNER, Universitatsbesuch in Helmstedt 1576-1810 (Beih. zum Braunschweigischen Jb. 15), Wolfenbuttel 1998, hier S. 25-45; die Zusammenfassung bei DERS., Die Universitat Helmstedt als Modell pragmatischer Matrikelforschung, in: Peter HERDE u. a. (Hrsg.), Universitat Wurzburg und Wissenschaft in der Neuzeit (Quellen und Forsch. zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Wurzburg 53), Wurzburg 1998, S. 109-130, hier s. 110-120.
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den Quellen, um die Zusammensetzung der Studentenschaft sowie einige Bedenken der Burger anzusprechen.
Dafor sind zuerst zuverlassige Daten for die jahrlichen Einschreibungen zu uberpriifen, d. h. die drei fruheren Zahlungen zu vergleichen und in Einklang zu bringen (Tab. 1, Abb. 1)28. Abb. 129 betont die Kurve der dreijahrigen gleitenden Durchschnittswer te, die die starken Schwankungen der Jahre 1653 und 1727 etwas ausgleicht. Dies waren die Jahre, in denen die Wiedereroffnung der Universitat nach dem DreiBigjahrigen Krieg bzw. ihr zweihundertjahriges Griindungsjubilaum gefeiert wurden, was zur Ehrenimmatrikulation von vielen teilnehmenden Honoratioren fohrte, die jedoch nicht als Studierende blieben3o. Der gleitende Durchschnitt gleicht solche gro.Ben Unterschiede aus, hebt aber markante Veranderungen hervor, ohne allzu viel zu glatten31. Dadurch wird die allgemeine Tendenz der historischen Entwicklung deutlich. Uber die gesamte Zeitspanne gab es im Durchschnitt 86,3 Einschreibungen pro Jahr, wonach die Philippina in die kleinen bis mittelgroBen deutschen Hochschulen eingestuft werden kann32. Obwohl die Marburger Immatrikulationsfrequenz iiber den gesamten Betrachtungszeitraum keinen extremen Schwankungen unterlag, kann man auch mittelfristige Pendelbewegungen erkennen - zuerst einen Abwartstrend von der Neueroffnung bis um 1688. Danach kam ein unregelma.Biger, aber erkennbarer Aufstieg bis Mitte der 1730er Jahre, der sich bereits in den 1720er Jahren zugespitzt hatte. Wie in Gie.Ben kam auch in Marburg nach 1736 eine Wende33 mit einer langen, teilweise sehr starken Frequenzabnahme, die bis
28 StAM, Best. 5, Nr. 7. 776, Best. 305a, Nr. 333, Auszug aus den Matricul Buchern der Universitaet Marburg, waraus zu ersehen, wie viele Studenten injedem Jahr van 1701 bis 1790 eingeschrieben warden , bearbeitet 1790 vom Prorektor Prof. Theol. et Alumnorum Ephore Dr. Joh. Franz Coing, EULENBURG (wie Anm. 27), S. 293-298; Theodor BIRT, Catalogi studiosorum Marpurgensium 1653-1830, Marburg 1904-1914, ND Nendeln 1980. Die Daten in Tab. 1 korrigieren Diskrepanzen zwischen diesen Quellen, meist durch N achziihlung der Eintriige in der gedruckten Matrikel, und ber ichtigen, wenn moglich, die zahlreichen Druck- oder Rechenfehler; dennoch sind Fehler in dieser Tabelle nicht auszuschlieBen.
29 Fur die Gestaltung der Abbildung danke ich Herrn Dr. Martin Luers, Munchen. 30 Im Allgemeinen sind in der Marburger Matrikel selten Personen aufgelistet, die
nicht, wie Universitatsverwandte oder minderjiihrige Professorensohne, Studenten im eigentlichen Sinn sein konnten.
31 Vgl. SCHWINGES (wie Anm. 27), s. 258, Anm. 28. 32 Wenn man die gleitenden Mittelwerte benutzt, kommt der Durchschnitt auf 85,9
Einschreibungen pro Jahr. Auf Grund einer Bearbeitung der Daten von EuLENBURG (wie Anm. 27), S. 100 f., 162 f., vergleicht SCHWINGES (wieAnm. 27), S. 188, Tab. 1, die lmmatrikulationen an deutschen Universitaten innerhalb des Zweiten Kaiserreiches 1871-1918: danach stieg Marburg von Platz 18 (1701- 1750) auf Platz 15 (1751-1800) unter den 31 Universitaten. Siehe auch Matthias AsCHE, Von der reichen hansischen Burgeruniversitat zur armen mecklenburgischen Landeshochschule. Das regionale und soziale Besucherprofil der Universitaten Rostock und Butzow in der Fruhen Neuzeit (1500-1800) (Contubernium 52), Stuttgart 2000, S. 171, um Marburg mit den lutherischen Universitaten in der Zeit von 1649 bis 1800 zu vergleichen.
33 Vgl. SCHWINGES (wie Anm. 27), S. 258 ff., 266 ff. , sowie seine gesamte Analyse der frequentiellen Pendelbewegungen und der Wirtschaftszyklen.
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 71
in die friihen 1780er Jahre anhielt und in der die biirgerlichen Bedenken zunahmen. Ein markanter Anstieg der Immatrikulationen nach 1782 fohrte zu der hochsten Frequenz in der Zeitspanne von 1653 bis 1815. Sogar in dem um 1795 beginnenden Abwartstrend lag das Inskriptionsniveau weit iiber dem Durchschnitt.
Diese Immatrikulationsschwankungen sind ebenso auf au.Beruniversitare Ereignisse wie aufVeranderungen innerhalb der Universitat zuriickzufohren -hauptsachlich die schon erwahnten haufigen Kriege und der generelle Stand der deutschen Wirtschaft. Obwohl Studenten im Allgemeinen vom Wehrdienst befreit waren, ist anzunehmen, dass sie und ihre Familien dennoch von der politischen Zerriittung und der unsicheren Wirtschaftslage in Kriegszeiten betroffen waren. Wahrscheinlich wurde ihre Wahl eines bestimmten Studienorts direkt oder indirekt von der jeweiligen Kriegssituation mit beeinflusst. Von allen Kriegen in der Zeitspanne 1653 bis 1815 traf der Siebenjahrige Krieg (1756-1763) die Universitat wegen der wiederholten Belagerungen und Besatzungen Marburgs besonders hart34. In diesen Krieg fiel auch der Tiefststand det Immatrikulationen for die gesamte Geschichte der Universitat: 1760 gab es 35, 1761 sogar nur 31 neue Einschreibungen. Derart negative Auswirkungen hatten weder der Spanische (1701-1714) noch der bsterreichische Erbfolgekrieg (1740-1748) ebenso wenig der amerikanische Unabhangigkeitskrieg (1775-1783) , die allesamt ebenfalls Hungersnote und Teuerung mit sich brachten. Zwei Kriege des spaten 17. Jahrhunderts, der Franzosisch-Hollandische Krieg (1672-1679) und der Pfalzische Erbfolgekrieg (1688-1697), wirkten sich besonders nachteilig aufMarburgs Immatrikulationen aus, vermutlich weil die wichtigsten Kriegsschauplatze traditionelle Einzugsgebiete der reformierten Universitat waren35. Doch war, wie gesagt, der Abwartstrend im langen Zeitraum der Revolutions- und Koalitionskriege schon zu jener Zeit offensichtlich. Die Ursachen wurden intensiv diskutiert und die kriegsbedingten Erklarungen sowohl von den damaligen Marburger Professoren36 als auch von modernen Wissenschaftlern akzeptiert. Obgleich die Immatrikulationsfrequenz nicht so stark zuriickging wie in fruheren Kriegen, fiel ein Tiefstand in die unsichere Zeit nach der franzosischen Besatzung, als das neue Westphalische Regime sich noch nicht entschieden hatte, ob die Universitat weiterhin Bestand haben solle37. Der Entschluss zur Weiterexistenz der Marburger Universitat und die gleichzeitige Schlie.Bung der Universitat Rinteln im Jahre 1809 brachten 1810 nur einen voriibergehen-
34 Walter KDRSCHNER, Geschichte der Stadt Marburg, Marburg 1934, S. 175-186; vgl. George Thomas Fox, Studies in the rural history of upper Hesse, 1650-1830, Diss. Nashville, Tenn. 1976, S. 187.
35 Vgl. SCHWINGES (wieAnm. 27), S. 263 ff. 36 Vgl. auch die Bemerkungen uber den Zustand der Universitiit im Jahre 1806 von
dem 1805 promovierten Studenten Philipp Ferdinand Brebe bei BACH (wieAnm. 2), S. 167. 37 ,,Ein dreijahriges Hin und Her", laut SEIER (wie Anm. 10), S. 176; vgl. KAEHLER (wie
Anm. 8), S. 488 f. In dieser Zeit betonte die Burgerschaft nochmals ihre vollige wirtschaftliche Abhiingigkeit von der Universitiit; vgl. Margret LEMBERG, Die Universitat Marburg im Konigreich Westphalen, in: Andreas HEDWIG u. a . (Hrsg.), Napoleon und das Konigreich Westphalen. Herrschaftssystem und Modellstaatspolitik (VHKH 69), Marburg 2008, S . 223-238, hier S. 225 f.
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den Aufschwung. Eine ahnliche Besserung ist aus der zeitweiligen Zunahme von Einschreibungen nach anderen Kriegen ersichtlich, namlich in den Jahren 1680/81, 1764, 1783 sowie 1814.
Nicht nur die Kriege, sondern auch die generellen i:ikonomischen Bedingungen in Friedenzeiten miissen in Betracht gezogen werden, um die Entwicklung der Immatrikulationen zu verstehen. Heute versuchen Wirtschafts- und Sozialhistoriker die allgemeine Wirtschaftslage in vormodernen Agrargesellschaften meist anhand von Getreidepreisschwankungen zu schatzen. In seiner bahnbrechenden Untersuchung der Immatrikulationsfrequenz hat Christoph Schwinges die Einschreibungen in der GieBener Matrikel sorgfaltig mit Preiskurven im Raum Frankfurt-Wetterau verglichen3B. Auch in den Teuerungs- oder Hungerkrisen, die nur wenig mit Kriegen zu tun hatten, in den Jahren 1708-12, 1722-28, 1739-41 und 1770- 72 ist die Korrelation von extrem hohen Preisen und gleichzeitigen FrequenzeinbuBen deutlich erkennbar39. Da Marburg ebenfalls in den Wirtschaftsraum Frankfurt eingebettet war und die groBen interterritorialen Preisschwankungen dadurch miterlebte4o, ware zu erwarten, dass der Frequenzverlauf der beiden Universitaten Ahnlichkeiten aufweist. Tatsachlich gab es in einigen dieser Krisenjahre Verluste, wie Schwinges sie for GieBen festgestellt hat, namlich in den spa.ten 1730er und den frii.hen 1770er Jahren, als Marburg starke EinbuBen zu verzeichnen hatte41. Andererseits litt GieBen in den Teuerungskrisen 1708-12 und 1722-28 noch starker, wahrend die Marburger Immatrikulationsfrequenz in beiden Fallen einen Aufwartstrend aufwies42. Mitte der 1730er Jahre begann for beide Universitaten eine Stagnations-, im Falle Marburgs eher eine Rii.ckgangsphase, eine ahnliche aber nicht parallel laufende negative Entwicklung, von der sich GieBen nie vi:illig und Marburg erst in den 1780er Jahren erholte43. In den zahlreichen Krisen wie auch ii.her das ganze Jahrhundert hinweg waren die Unterschiede in der Entwicklung der beiden Bil-
38 Das klassische Werk von Wilhelm ABEL, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Hamburg, Berlin 1974, dient als Interpretationsmuster und Informationsquelle fiir die Analyse von Wirtschaftszyklen bei Fox und Schwinges sowie auch hier fiir einen Dberblick der moglichen Zusammenhange zwischen Frequenz und Preiszyklen; SCHWINGES (wie Anm. 27), S. 263, betont, dass die lokale Preis- und Frequenzentwicklung immer in groBraumigem Zusammenhang verstanden werden sollte, da es um den gesamten Einzugsbereich und nicht nur die einzelne Universitatsstadt gehe. Obgleich Fox (wie Anm. 34) das Thema Frequenz nicht anspricht, untersucht seine Dissertation die Marburger und oberhessischen Preis- und Wirtschaftszyklen im gesamteuropaischen Kon text.
39 SCHWINGES (wie Anm. 27), S. 262- 270. 40 Vgl. Fox (wie Anm. 34), S. 46 ff., iiber Marburgs lange wirtschaftliche Abhangigkeit
von Frankfurt, S. 126- 213, 176-207, iiber die hier erwahnten Marburger Preiskrisen. 41 23,1%von1739 bis 1741; 20,3 % von 1770 bis 1772. 42 Genauer: 37,5 % Abnahme der Einschreibungen in GieBen in den Jahren 1707-09
und eine unregelmaBige Zunahme von 15 % in der Marburger Preiskrise von 1709-14; ein Sturz von 50 % in GieBen 1724-28, gerade zu der Zeit, als Marburgs Aufwartstrend einen noch starkeren Anstieg verzeichnete, der bis Mitte der 1730er Jahre anhielt.
43 SCHWINGES (wie Anm. 27), S. 266, ,,In der Zeit von 1736 bis 1800 [ ... ] stagnierte der
Universitatsbesuch in GieBen ungeachtet der kriegs- und krisenbedingten Frequenzeinbriiche auf dem bis dahin niedrigsten Niveau seiner Geschichte".
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 73
dungsanstalten groBer als die Ahnlichkeiten. Schon Schwinges beobachtete die Differenzen im Frequenzverlauf und fohrte sie auf politisch-administrative Faktoren zurii.ck, besonders auf die erfolgreichere hessen-kasselische Vorsorgeund Getreidehandelspolitik in den Teuerungskrisen44. Die Marburger Frequenzaufschwii.nge der 1720er und 1780er Jahre zeigen auch, dass inneruniversitare Entwicklungen - wie die Berufung Christian Wolffs 1723, die Eingliederung des Carolinum 1786 und die institutionellen Investitionen danach - eine ebenso groBe Rolle spielen konnten wie wirtschaftliche Konjunkturzyklen.
Historiker, die sich mit der Universitat Marburg befassten, unterteilten ihre interne Entwicklung im 18. Jahrhundert meist in drei Zeitabschnitte: 1723 bis 1740 als Sieg der Aufklarung wahrend Wolffs Tatigkeit in Marburg, 1740 bis 1786 als eine Zeit der Stagnation und ein Tiefpunkt in der Geschichte der Universitat und 1786 bis 1806 als Zeit der Wiederbelebung, in deres gerade genii.gend Aufschwung gab,~ es Marburg ermi:iglichte, die SchlieBungen und Neu- ~(>z,.. organisation im Konigreich Westphalen zu ii.berstehen45. Abb. 1 reflektiert diese drei Phasen, aber es ist zu betonen, dass es keine eindeutige Wechselwirkung zwischen Immatrikulationszahlen und den wichtigsten inneruniversitaren Entwicklungen zu geben scheint. Der Rii.ckgang an Immatrikulationen begann z. B. schon vor Wolffs Abgang 17 40, und nach den groBen Problemen der 1760er und 70er Jahre kam ein neuer Aufschwung schon vor 1786, dem Jahr, in dem ein Strom an Hilfsmitteln aus Kassel eintraf.
Stark betont wurde in den bii.rgerlichen Bittschriften das Thema der externen Anwerbung bzw. der Anteil von Nicht-Hessen unter den Universitatsbesuchern, besonders im 18. Jahrhundert. Die Anziehungskraft der Bildungsanstalt auBerhalb Hessen-Kassels war ein besonders dringendes wirtschaftlichesAnliegen der Marburger Burger und Landesregierung und Professoren scheinen diesen gangigen merkantilistischen Standpunkt geteilt zu haben. Tab. 2 zeigt die Zahl der anwesenden Studierenden in den 41 aufgefundenen Namenslisten von 1749 bis 1815 und hebt auBerdem den Prozentsatz von ,,fremden" Studenten unter ihnen hervor46.
44 Ebd. , S. 271; ohne eine vergleichbare eingehende Analyse der Marburger Frequenz, die hier nicht unternommen werden kann, mussten sich Schwinges' Schlussfolgerungen iiber die Versorgungspolitik auf Peter HERTNER, Thomas Fox, Lebensmittelpreise in Marburg 1764-1830: Agrarkonjunktur und obrigkeit liche Versorgungspolitik in der vorindustriellen Gesellschaft, in: Arthur E. IMHOF (Hrsg.), Historische Demographie als Sozialgeschichte (QForschHessG 31), Darmstadt, Marburg 1975, S. 855-917, beziehen; eingehender als Schwinges, aber auch skeptischer in Bezug auf die kasselische Versorgungspolitik ist Fox (wie Anm. 34), S. 214-253.
45 Vgl. KAEHLER (wie Anm. 8), S. 332-479; DERSCH (wie Anm. 12). 46 Die Verzeichnisse befinden sich im StAM, Best. 305a, Nr. 4.145, 1749; Duplikat in
Best. 5, Nr. 16.157; Best. 5, Nr. 8.250, 1768, WS 1779/80 bis WS 1795/96; Best. 330, Marburg B 462, 177 4; Best. 305n, Nr. 333, WS 1793/94, SS 1794, SS 1795 bis SS 1802, WS 1814/15; Best. 5, Nr. 7.784, SS 1806, WS 1806/07; Best. 330, Marburg B 2.929, SS 1813. Der Vergleichbarkeit halber basiert die Unterscheidung von Hessen und Nicht-Hessen im SS 1813 noch auf den Landesgrenzen der vormaligen Landgrafschaft und nicht auf denen des Konigreichs Westphalen. In problematischen Fallen wurden Ortsangaben in den Verzeichnissen mit den gedruckten Matrikeln bei BIRT (wie Anm. 28) verglichen. EuLEN-
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Um zumindest einen Eindruck vom Anteil der auswartigen Universitatsbesucher for die Zeit vor 1749 zu vermitteln, miissen etwa gleichmaBig verteilte Stichproben aus den J ahren 1654, 1677, 1700, 1724 von Immatrikulierten genugen (Vgl. Tab. 3)47. Aber die ubliche Gegenuberstellung von Hessen und NichtHessen erlaubt keinen hinreichenden Schluss auf Einzugsbereich und Zusammensetzung der Studentenschaft, denn Nicht-Hessen konnten aus der Nahe, wie aus dem nur 36 km entfernten Laasphe in Sayn-Wittgenstein kommen, wiihrend die meisten Studierenden, die aus dem kasselischen Niederhessen oder aus Hanau stammten, uber groBere Distanzen anreisen mussten. So bietet auch die Entfernung der Herkunftsor te von der Universitiit Marburg eine aufschlussreiche Perspektive und die Stichproben in Tab. 4 geben einen Uberblick des Marburger Einzugsbereichs nach Distanz48.
Wie andere mittelgroBe und kleine Landesuniver sitiiten im 18. Jahrhundert bezog Marburg die meisten Studenten aus den beiden niichstgelegenen Zonen bis zu 50 bzw. 100 km. In der zweiten Jahrhunderthiilfte kamen aus diesen Zonen durchschnittlich 64,5 % der Marburger Studierenden, verglichen mit 71,6 % der GieBener. Besonders bemerkenswert ist, dass in all diesen Stichproben mehr Marburger Studenten aus Zone 2 als aus Zone 1 anreisten. Im Gegensatz zur GieBener Universitiit, deren Einzugsbereich sich hauptsachlich auf Zone 1 konzentrierte, war der Rekrutierungsraum der Marburger auf die Zonen 2 und 3 verteilt und damit ausgedehnter als der von GieBen49.
Nun stellt sich die Frage, ob Marburg im 18. Jahrhundert einen ahnlichen allmahlichen Ruckgang der auswiirtigen Studentenschaft zu verzeichnen hatte wie die kleineren Universitaten GieBen, Rostock oder Helmstedtso. In Tab. 2 und 3 zeichnen sich zwar einige wichtigen Schwankungen, aber kein stetiger Ruckgang des Anteils an nicht-hessischen Universitiitsbesuchern ab. Der niedrigste Anteilsdurchschnitt von 27,7 % erschien in den Listen der Studierenden wahrend des Frequenztiefs von der Mitte des Jahrhunderts bis 1783. In den vier fruheren Stichproben lag der Anteil von Nicht-Hessen weit hi:iher, wobei ins Auge fallt , dass er in den 1780er Jahren wieder anstieg. Sogar wiihrend des nachfolgenden Frequenzverfalls war der Prozentsatz von auswartigen Studierenden
BURG (wieAnm. 27), S. 301, veri:iffentlichte Studentenzahlen fi.ir 16 Marburger Listen, aber seine Gesamtzahlen stimmen in nur vier Fallen mit Tab. 2 i.iberein.
47 Alle Daten au s den gedruckten Matrikeln bei BIRT (wie Anm. 28). 48
Nur vergleichbare Stichproben aus der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts, nicht die vollstandigen Studentenverzeichnisse, ermi:iglichen einen Uberblick im Rahmen dieser Studie.
49 Die Anziehungskraft und der Ruf einer Universitat werden haufig an der Anzahl der
von weither kommenden Studierenden gemessen. Aber in den Stichproben aus der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts kamen nur ungefahr 10 % der Marburger Studentenschaft aus einer Entfernung von i.iber 200 km, geringfi.igig mehr als die 8,7 % in der GieBener Studentenschaft, jedoch weit weniger als die 17 % in Helmstedt.
50 Zu diesen Vergleichen vgl. SCHWINGES (wie Anm. 27), S. 272- 278; ASCHE (wie Anm.
32), S. 172-181, 358-364; ALSCHNER, Helmstedt (wie Anm. 27), S. 125-129; DERS, Universitatsbesuch (wie Anm. 27), S . 118-121, 144 ff., 156 ff.
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 75
immer noch hi:iher als um die Mitte des Jahrhunderts, im Durchschnitt doppelt so hoch wie der von GieBen oder Rostock51.
Was mag Studenten, und besonders die Nicht-Hessen unter ihnen, nach Marburg gezogen haben? War die Berufung beruhmter Professoren so wichtig, wie die Burger betonten? Welche weiteren Faktoren spielten bei der Wahl des Studienorts eine entscheidende Rolle52? Bildungshistoriker sind sich einig, dass die deutschen Studenten der Fruhneuzeit eine Universitiit hauptsachlich aufGrund ihrer Konfession wahlten53 . Nach dem DreiBigjiihrigen Krieg hing der Ruf der Philipps-Universitiit von ihrer Stellung als eine der bedeutenden kalvinistischen Bildungsanstalten des Reiches ab54. Tatsiichlich ist anzunehmen, dass NichtHessen, die nach Marburg kamen, groBtenteils Kalvinisten aus Gebieten ohne eigene Universitiit waren55. Vielleicht kann ihre Anwesenheit den hohen Anteil von Auswiirtigen zu geburtigen Hessen in den Studentenverzeichnissen nach 1786 erkliiren (Tab. 2). Doch in den Bittschriften der pragmatischen lutherischen Burgerschaft wurde Religion als Entscheidungsfaktor nicht einmal erwiihnt und for junge Marburger Manner, die aus praktischen Grunden in ihrer Heimat studieren wollten, war die Konfessionszugehorigkeit kein Hinderungsgrund56. 1782 priesen Unterburgermeister und Vierer die beiden neuen Theologieprofessoren Endemann und Pfeiffer, aber nicht etwa wegen ihrer kalvinistischen Lehre, sondern wegen der Anzahl von Theologie-Studenten, die sie nach Marburg zogen.
Dies fiihrt zu einem immer wieder auftauchenden Thema in den Burgerbittschriften zuruck: die Berufung von renommierten Professoren als wirksamste Strategie, nicht-hessische Studenten anzuziehen. Schon 1741 hatte die Burgerschaft den Weggang von beruhmten Professoren wie den des erwahnten
51 Dennoch neigten die bi.irgerlichen Bittsteller dazu, den Anteil von Nicht-Hessen zu unterschatzen. Zweifellos war dies eine Strategie, Kassels Zustimmung zu erlangen, aber in diesem Fall war die Tendenz der Landesregierung, mit der realistischeren Einschatzung der Professoren i.ibereinzustimmen, gerechtfertigt.
52 ASCHE (wie Anm. 32), S. 185- 215, bietet eine ausgezeichnete Analyse der Kriterien fi.ir die Wahl eines Studienortes. Leider ki:innen hier nur einige der die Bi.irgerbittschriften direkt betreffenden Faktoren angesprochen werden.
53 Ebd., S. 185; vgl. SCHWINGES (wie Anm. 27), S. 262. 54 Gerhard MENK, Die kalvinistischen Hochschulen und ihre Stadte im konfessionellen
Zeitalter, in: Heinz DuCHHARDT (Hrsg.), Stadt und Universitat (Stadteforschung, Reihe A: Darstellungen 33), Ki:iln u. a. 1993, S. 83-106.
55 Obwohl die Herkunftsorte - wie kalvinistische oder katholische Lander - der Auswartigen feststellbar sind, ist ihre individuelle Konfession nicht mit Sicherheit zu bestimmen, da weder die Matrikel noch die Studentenverzeichnisse Auskunft i.iber religii:ise Zugehi:irigkeit geben.
56 Ein systematischer Hinweis auf die konfessionelle Zusammensetzung der Studentenschaft kommt leider nur von den 136 gebi.irtigen Marburgern in den Stichproben, deren Konfessionszugehi:irigkeit den Kirchenbi.ichern entnommen wurde. Fast 40 % waren lutherisch in einer offiziell kalvinistischen Hochschule. SEIER (wie Anm. 10), S. 177, Anm. 21, schreibt i.iber eine Entkonfessionalisierung der Universitat Marburg ,,schon ausgangs des 18. Jahrhunderts"; vgl. KAEHLER (wie Anm. 8), S. 456 f.; es sollte jedoch betont werden, dass lutherische Marburger injeder Stichprobe von 1654 bis 1806/07 (auBer 1724) aufscheinen.
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Christian Wolff bedauert. Die Studenten scheinen den groJ3en Wissenschaftler in hochstem Grad respektiert zu haben57, woraus Kaehler schlieJ3t, dass Wolffs uberregionaler Ruf einen besonders hohen Anteil der auswartigen Immatrikulanten erklartss. Die Stichprobe von 1724, dem zweiten Jahr von Wolffs Marburger Tatigkeit, bestatigt diesen Eindruck, denn der Anteil von Inskribenten aus Hessen-Kassel (meist aus den Entfernungszonen um 50 bzw. 100 km) war relativ niedrig, wahrend der Anteil mit einer Reisestrecke von etwa 200 km fast 16 % betrug, das hochste Niveau in den Stichproben aus dem 18. Jahrhundert (Vgl. Abb. 2)59. Doch die Bedingungen for eine dauerhafte Besserung waren aufgrund der mangelhaften Infrastruktur und der unbesetzten Lehrstellen ungunstig und es gelang dem Landgrafen auch nicht, einen weiteren ,,Star", namlich Johann Christoph Gottsched, als Nachfolger Wolffs zu gewinnen. Freilich konnten auch weniger beruhmte Professoren den Erwartungen der Burger gerecht werden, doch die Bittsteller waren mit der Anwesenheit eines individuellen Prominenten allein nicht zufrieden. In den Jahren 1741und1782 hoben sie das Problem einer unterbesetzten Fakultat hervor. Wie schon erwahnt, war es bei der Wiederbelebung der Marburger Universitat nach 1786 eine Kombination von zusatzlichen Berufungen, prominenten Wissenschaftlern und wichtigen institutionellen Investitionen, die den erfolgreichsten Frequenzanstieg des Jahrhunderts bewirkte. Diese hohe Frequenz hielt aber nicht an und der anschlieJ3ende unregelmaJ3ige Ruckgang verunsicherte die Burger erneut: 1803 ging es nicht mehr um Anzahl oder Beruhmtheit der Professoren, sondern um Universitatsregeln, die die Anziehungskraft der Philippina beeintrachtigten. Den Bittstellern zufolge besaJ3 die Universitat zwar beruhmte Wissenschaftler, die aber mehr veroffentlichen und den Studierenden gegenuber weniger streng sein sollten, um Studenten von Gottingen nach Marburg zu ziehen. Diese Einmischung in inneruniversitare Angelegenheiten von Seiten der Burgerschaft verscharfte die Spannungen zwischen dieser und den Professoren, von deren Rufund Tatigkeit das wirtschaftliche Wohlergehen der Stadt mit abhangig war.
Zuletzt soll noch eine fruhere Beschwerde uber die Professoren und andere Honoratioren angesprochen werden - eine Beschwerde, die zu einer der interessantesten Burgereingaben zuruckfohrt. Nur ein Jahr ehe der Prorektor begann, seine Semesterlisten zu verfassen, klagten die Burger uber Steuerprivilegien der Honoratioren, die das angestammte Recht der Burger, Studenten zu beherber-
57 Im Gegensatz zu seinem Vorganger Denis Papin, der vom Landgrafen und der internationalen wissenschaftlichen Welt respektiert wurde, jedoch in Marburg 1688 bis 1695 niedrige Horerzahlen und wenig finanzielle Unterstiitzung hatte und wohl kaum eine Rolle im Aufwartstrend der Immatrikulationen nach 1688 spielte; vgl. KAEHLER (wie Anm. 8), S. 308, Anm. 3; Eduard WINTZER, Denis Papin's Erlebnisse in Marburg 1688-1695, Marburg 1898.
58 KAEHLER (wie Anm. 8), S. 391, Anm. 31, hat errechnet, <lass der Anteil von Auswartigen, ,,deren Heimat nicht im eigentlichen Hessen und in seinen unmittelbaren Nachbarlandern wie Nassau, Westfalen und der Rhein- und Maingegend gelegen war", die sich zwischen 1724 und 1740 jahrlich einschrieben, im Durchschnitt bei 25,1 % lag.
59 Fast 10 % dieser Immatrikulanten reisten iiber mehr als 300 km an. Da jedoch die i?/A.. Herkunftsorte von fast 15 % der Inskribenten nicht zu bestimmen sind, ist annehmen, I\ <lass der Anteil derjenigen, die von iiber 200 km herkamen, sicherlich hoher als f6 % war.
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 77
gen, untergruben. Viele Verzeichnisse identifizieren die Eigentumer bzw. Vermieter der Studentenwohnungen; daher ist es moglich, die wirtschaftliche Konkurrenz der nichtburgerlichen Elite zu schatzen. So wohnten im Wintersemester 1786/87 275 Studierende bei 124 Hausbesitzern, von denen 51 (41,l %) individuelle Steuerprivilegierte waren. Ein Drittel dieser Honoratioren hatte Verwandte (fast immer Sohne) bei sich, aber zumindest die ubrigen 34 waren Vermieter in direkter Konkurrenz zu steuerzahlenden Burgern. Von den sieben Vermietern, die mehr als fonf Studenten im Haus hatten, waren drei Steuerprivilegierte (der Oberforster, der Universitats-Konzertmeister und einAssessor beim Peinlichen Gericht) und vier Steuerzahler (ein Kaufmann und drei Gasthalter)60. Da 104 (37,8 %) der Studenten bei steuerprivilegierten Nichtburgern wohnten, hatten die Burger allen Grund, sich uber diese starke Konkurrenz zu beschweren. Im April 1786 fohrte diese Situation zu der schon erwahnten Bittschrift, die um ein Verbot der Studentenbekostigung seitens der ,,schriftsassigen" Eliten ersuchte. Dem Suchen stehet nicht zu fugen war die knappe Antwort aus Kassel61, und vielleicht war es nur ein Zufall, dass in den folgenden Jahrzehnten der Anteil der Studierenden bei steuerprivilegierten Konkurrenten auf32,0 % (WS 1796/97) bzw. 20,8 % (1806/07) absank. Doch diese Erleichterung konnte wohl kaum die wirtschaftlichen Vorteile der Honoratioren ausgleichen.
4. Die hessische Bildungspolitik
Es ist nicht leicht, den Einfluss der Burgereingaben auf die hessische Bildungspolitik einzuschatzen, weil die Landesregierung den Anlass oder die Grunde for ihre Beschlusse nicht immer angab. Die Marburger Bittschriften, die um hohere Studentenzahlen ersuchten, scheinen keine unmittelbare Wirkung gehabt zu haben. Im Gegenteil waren die Reaktionen des Geheimen Rates eher negativ: Nicht nur wurde 1786 eine Anderung von burgerlichen und nichtburgerlichen Privilegien abgelehnt, sondern sch on vier J ahre zuvor bekamen Burgermeister und Rat den Bescheid, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kummern und es dem Landgrafen zu uberlassen, Sorge for die Entwicklung der Universitat zu tragen. Auch die konkreten Vorschlage zu weniger strikten Disziplinarverfahren 1803 brachten keine direkte Abhilfe. Es ist anzunehmen, dass die hessische Regierung in diesem Fall weit wichtigere und dringendere Probleme hatte. Im Ubrigen aber scheint es klar, dass die kultur- und bildungspolitischen Interessen der Landgrafen sich im gesamten 18. Jahrhundert auf mehrere Institutionen, die Universitaten in Marburg und Rinteln, die Hanauer Akademie sowie das Collegium Carolinum, die kunst- und naturwissenschaftlichen Akademien und das Fridericianum in Kassel, verteilten - von den beeindruckenden und sehr kostspieligen Bauprojekten ganz zu schweigen.
60 Die haufigsten biirgerlichen Berufe in der Stichprobe waren Gasthalter bzw. -geber, Wirt, Bierbrauer, Kaufmann, Becker und Metzger. Von den Professoren hatten 1786/87 zwei, Prof. jur. von Johann Heinrich Christian Selchow und Prof. theol. Johann Jacob Pfeiffer, je drei Studenten, die meisten Eigentiimer oder Vermieter jedoch nur einen oder zwei Studenten bei sich wohnen.
61 StAM, Best. 330, Marburg B 907, Resolution des Geheimen Rats in Kassel, 7.4.1786.
78 Ger a ld L . Soliday
Obwohl die Universitat nicht von hochster finanzieller oder kultureller Prioritat for die Landgrafen war, teilte die Landesregierung die Sorgen der Marburger Einwohner um Immatrikulationszahlen und bemiihte sich, Abhilfe zu schaffen. 1749 nahm sie eine Untersuchung uber die Ursachen der Studentverluste vor62, versuchte ohne Erfolg, Christian Wolff <lurch Gottsched zu ersetzen, und schien so empfindlich wie die Marburger Professoren in Bezug auf die Konkurrenz des moderneren Emporkommlings in Gottingen. Obwohl sie nicht gewillt waren, viel Geld in teure Berufungen und die Infrastruktur zu investieren, widersetzten sich die Landgrafen jedoch dem Plan , die Universitat als Teil des Carolinums nach Kassel zu verlegen - ein Zeichen, dass die Marburger Universitat unter den Ratgebern der Fiirsten iiberzeugende Freunde hatte. Ubrigens bewies die Landesregierung ihrer ersten Universitat gegeniiber immer eine pragmatisch merkantilistische Einstellung, die die Marburger ganzlich akzeptierten und die selbst die Professoren in einem erheblichen Grad teilten. Es war die Hauptaufgabe der Universitat, den zukunftigen Mitgliedern der hessischen Staatskirche und Landesverwaltung eine gute Berufsausbildung zu bieten; wenn sie dariiber hinaus auch Nicht-Hessen und mit ihnen auswartige Gelder ins Land bringen konnte, war dies um so besser.
Wie viele andere deutsche Fiirsten im 18. Jahrhundert ergriffen auch die hessischen Landgrafen MaBnahmen, die Studentenzahlen ihrer Landesuniversitaten zu erhohen. Als erstes ordneten sie an, <lass einheimische Sohne, die eine Stellung im Staatsdienst anstrebten, mindestens zwei Jahre an den heimischen Landesuniversitaten absolvieren mnssten. Diese erste hessische Verordnung von 1723 wurde 1731 erneuert, dann 1771 und 1782 wiederholt, wobei der zunehmend scharfere Ton der Edikte zeigt, dass die fruheren erfolglos geblieben waren63. Bekanntlich waren solche Neuerungen keine Seltenheit in der friihneuzeitlichen Staatenwelt. Eine ahnliche Diskrepanz zwi schen Vorsatz und Ausfohrung mag wohl auch andere MaJ3nahmen gekennzeichnet haben, die das Studium in Marburg attraktiver gestalten sollten. Gelegentlich setzte die Landesregierung das Curriculum und die Unterrichtspraxis fest, um das Studium geordneter oder planmassiger zu machen. 1766 entwarf der Landgraf einen kompletten Lehrplan for jede der ;1er Fakultaten, mit der ausdriicklichen Absicht, es Studenten ohne Stipendiwn zu ermoglichen, ihr Studium in drei oder vier und denjenigen mit Stipendien in fonf Jahren zu absolvieren. Obgleich das Programm schon sehr anspruchsvo!] war, schrieb Kassel den Professoren vor, an vier Wochentagen Vorlesungen zu halten und Veranstaltungen, die sich zeitlich iiberschnitten , tunlichst zu vermeiden. Dariiber hinaus sollten sie ihre Kurse bis Semesterende abschlieBen oder ihr Honorar einbiiBen.64. 1782 wies der Landgraf die Professoren an, ihre Vorlesungen piinktlich zu beginnen, Abschweifungen zu vermeiden und die Gewohnheit aufzugeben, am Ende des Semesters Doppelvorlesungen zu halten, um ihre Kurserechtzeitig zu bee nden65. AuBerdem zogerte
62 KAEHLER (wie Anm. 8), S. 391, A=. 31, S. 394, Anm. 3 2. 63 H LO 3: 920, ?.6. 1723 ; 4: 52 f., 12.61731; 6: 605 f., 12.3 .1771; 6: 1.066, 1.7.1782. 64 Ebd., 6: 306-311, 17. 1.1766; KAEHLER (wieAnm. 8), S . 415. 65 H LO 6: 1.063- 1.066, 21.6.1782; K4EHLER (wie Anm. S)t, S. 419 f.
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 79
die Landesregierung nicht, Professoren ob ihrer Lassigkeit zu schelten, auch hierdurch deutlich bemiiht, Marburgs Qualit at als Studienort zu verbessern.
Es bleibt offen, wie nachdriicklich diese Verfogungen durchgesetzt wurden, aber in den 1770er und 80er J ahren schien die Landesregierung mehr denn je dazu entschlossen, die Studentenzahlen zu erhohen. Etwaige gute Vorsatze, die Immatrikulationen zu begiinstigen, waren in dieser Zeit jedoch verbunden mit Bedenken um sozialen Aufstieg und Akademikeriiberschuss, die die hessischen Beamten mit anderen deutschen Regierungen teilten66. Im Fall Hessens fand diese Mischung aus wirtschaftlichen und sozialen Angsten in landgraflichen Erlassen ihren Ausdruck. Die erste, eher allgemeine Verordnung erschien 1774 und war an den gemeinen Mann gerichtet:
Nachdem Wir misfallig wahrgenommen, dafJ uiele gemeine Unterthanen, welche sich von ihrem biirgerlichen oder biiuerlichen Gewerbe gantz wohl niihren, wann sie ihr Vermiigen bis zu einer gewissen oft nicht einmal hinreichenden Grii/Je hinauf gebracht haben, alsdann aus blofJem Uebermuth und um nur ihre Familie iiber den Stand zu erheben, ihre Siihne zu einem hiiheren Beruf, wozu sie sich gleichwohl oft am allerwenigsten schicken, bestimmen und aufziehen lassen, hierdurch aber nicht nur dieselben, anstatt ihnen eine Wohlthat zu erzeigen, vielmehr nicht selten auf ihr ganzes Leben ungliicklich machen, sondern auch dem Ackerbau, den Professionen, Kunsten und Fabriquen viele Hande entziehen und solchergestalt dem Staate auf eine doppelte Weise gro/Jen Schaden zufiigen; So finden Wir Uns bewandten Umstiinden nach bewogen, hierdurch gniidigst zu verordnen, da/J niemand von Burgern oder Bauern, noch auch ein Herrschafftlicher Liuree-Bedienter seine Kinder von den gemeinen Handthierungen ab und zum Studieren, oder zu dem Stande der sogenannten Honoratiorum erziehen soll, er habe denn vorher hinliingliche Attestate von deren Fahigkeit, Talenten, und, dafJ sie sich zu dem erwiihlten hiiheren Stande schicken, beygebracht, und Unsre gnadigste Einwilligung dazu erhalten; gestalten diejenige, welche ohne diese Erlaubni/J sich von nun an dem Studieren widmen, schlechterdings zu keinem Beneficio oder Stipendio sich Hoffnung zu machen, auch, dafJ sie nicht employirt oder befiirdert werden, und nach Befinden noch schiirferen Einsehens zu gewiirtigen haben67.
Diese erste Zulassungsbeschrankung hing eher mit den Vorurteilen bzw. Vorbehalten der Regierung gegen Aufstiegsmobilitat als mit wirtschaftlichen Aspekten zusammen. Wie die Professoren in einer Bitte um Milderung der strengen Regeln betonten, kam die Verordnung zu einem Zeitpunkt, an dem die Frequenz sowohl in der Universitiit als auch in hessischen Gymnasien und Schulen besonders niedrig war. Die erwiihnten Zugangsbeschriinkungen konnten dem flor und Ansehen der Universitat und der Nahrung der Stadt , beide von der Anzahl der Studenten abhiingig, weiteren Schaden zufogen. Sie konnten sogar der Grund dafiir sein, dass zwanzig Jahren spiiter nicht genug ausgebildete Manner for die Stellen in Kirchen-, Schul- und Staatsdienst vorhanden wiiren. Gleichzeitig lieBen die Bittsteller vorsichtig Zweifel an dieser Standespolitik laut werden:
66 AscHE (wie Anm. 32), S. 216-220, bietet einen guten Uberblick iiber das umstrittene Forschungsthema.
67 HLO 6: 769 f., 2.7.1774; vgl. StAM, Best. 5, Nr. 7.750, lr-21r, Vorakten und Kopie der Verordnung.
80 Gerald L. Soliday
Vielleicht wird dadurch manches grosse Genie den Wissenschaften zu unwiederbringlichem Schaden entzogen, da die Erfahrung, sowohl in Hessen als auswarts lehret, da/3 der Burger- und Bauernstand afters Manner uon grosen Talenten geliefert hat6B.
Diese Argumentation beeinflusste die Einstellung der Landesregierung keineswegs , obwohl es nicht moglich ist, ohne Beweismaterial wie Annahmeverweigerungen oder Dispensen zu schatzen, ob und in welchem Ma13e diese ersten Einschrankungen durchgesetzt wurden69.
Nach der Wiederbelebung der Universitat und den hi:iheren Immatrikulationen der spaten 1780er und fruhen 90er Jahre fohrte der Landgrafjedoch immer strengere Zugangsbeschrankungen ein. Bis 1793 forch tete man nicht den Mangel an qualifiziertem Personal, vor dem die Professoren gewarnt hatten, sondern im Gegenteil ein Arbeitslosenproblem bei Hochschulabsolventen:
Nachdem die Anzahl derer Landes-Kinder, welche sich dem Studiren widmen, seither so zugenommen, da/3 solche mit denen Aussichten, welche ihnen der erwahlte Stand giebt, in keinem Verhaltni/3 mehr stehet, und daher uiele unuersorgt bleiben, somit alsdann den Ihrigen, oder dem Staat zur Last fallen milssen; So finden Wir Uns bewogen, die unterm 2ten Julius 1774 uon Unsers in Gott ruhenden Herrn Vaters Gnaden zu Einschrankung des Studierens bereits erlassene Verordnung auch auf alle Diener, welche nicht wenigstens in der siebenten Classe der Rang-Ordnung stehen, jedoch in der Maf3e zu erstrecken, da/3 den Predigern uerstattet seyn solle, einen ihrer Sohne ohne uorgangige Dispensation studieren zu lassen. Allen Unsern Uniuersitaten, Hohen Schulen und Gymnasien aber untersagen Wir ernstlich, niemand wider dieser Verordnung zuzulassen, sondern sich sowohl, als ein jeder anderer, den es angehet, hiernach unterthanigst zu achten [ ... ]70.
Ab 1793 mussten dann nicht nur Bauern oder einfache Burger, sondern sogar Staatsdiener von niederem Rang um eine spezielle Zulassungserlaubnis for ihre Sohne ansuchen. Nur Sohne von Professoren und hoheren Beamten wurden nach dem Schulabschluss ohne Beschrankung zum Studium zugelassen. Obgleich Pastoren jeweils einen ihrer Sohne auf die Universitat schicken konnten, durften junge Manner aus anderen Schichten oder Rangen ohne Dispens oder
68 Ebd. , 22r-26v, Bittschrift, 10.11.1776, von Prorektor und Professoren sowie die Resolution des Geheimen Rats, 12.11.1776, Nachdem die Ordnung aus guten Grunden und mit gutem Vorbedacht errichtet worden, die dagegen angefilhrte Grilnde aber keinesweges erheblich sind, so hat es auch dabey sein bewenden.
69 Die Einschreibungen in der gedruckten Matrikel bei BIRT (wie Anm. 28) zeigen keine Zulassungen mit Dispens zwischen den Jahren 1774 und 1785, drei 1786, danach wieder keine bis 9.4.1795 und dann regelmaBige Dispensationen bis 1807. Unklar ist jedoch, ob dieser Befund auf ein gewisses laissez-faire oder eher auf eine sorgfaltige Prufung der Herkunft oder anderer Qualifikationen und vielen daraus erfolgenden Annahmeverweigerungen var 1795 deutet. Stefan BRAKENSIEK, Furstendiener - Staatsbeamte - Burger. Amtsfohrung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstadten (1750-1830) (Burgertum 12), Gottingen 1999, S. 65, kam die Dispenspflichtigen unter den Ortsbeamten betreffend zu folgendem Schluss: ,,Offenbar zag die Einfohrung der Studienbeschrankungen keine groBere Exklusivitat des sozialen Rekrutierungsfeldes for die kiinftigen Ortsbeamten nach sich".
70 HLO 7: 576, 21.12.1793; 6: 42 ff., Rang-Reglement, 13.3.1762; 7: 860 f., Rang-Ordnung for die Civil-Dienerschaft, 3.11.1800.
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 81
Sonderzulassung nicht studieren. ,,Ausgeschlossen waren damit die Sohne der Burgermeister (auch der von Kassel und Marburg), der Amtmanner, der Advocaten, Arzte und Pfarrer, a lso des tiberwiegenden Teils des akademisch gebildeten Btirgertums"71 . Waren entsprechende Anstellungsmoglichkeiten zwar eine Hauptsorge des Landgrafen, waren seine Beschltisse doch nach wie vor auch stark von Standesbewusstsein gepragt. In diesem Fall war seine Auffassung so begrenzt, dass der hessische Landtag 1798 um Liberalisierung bat:
Die zu den Wi/3enschaften erforderliche Talente sind nicht besondere Eigenschaften des Standes und Rangs und7:aj3en sich keine Grenzen anweisen. Die Erfahrung lehrt uielmehr, da/3 Leute uon geringer Herkunft dem Staat die nutzlichsten Dienste geleistet haben. Auf3erdem sind wohlhabende Einwohner eines Landes, wenn sie gleich zu einer geringern Claj3e gehoren, schazbare Unterthanen, weil ihr Vermogen nicht nur uielfaltige Einflu/3 in das gemeine Beste hat, sondern auch zum Vortheil des Herrschaftlichen Interesse gereicht. Dergleichen Unterthanen die ihre Sohne aus eigener Mitteln studiren laf3en konnen, durften daher wo nicht eine grosere doch wenigstens eine gleiche Rucksicht als diejenigen Manner uom Stande uerdienen. [ ... ] Anwesende Stande und Deputirten van Pralaten, Ritter- und Landschaft wunschen und bitten daher gehorsamst, da/3 die beim Studiren der Landeskinder gemachte Einschrankung aufgehoben und dem allerlichen Gutfinden uberlaj3en werden moge72.
Das Resultat dieser Bittschrift um Bildungschancen for begabte junge Manner, besonders die aus dem Btirgerstand, war ein Kompromiss seitens der Lan
desregierung:
Hat es bey denen erlaf3enen Verordnungen [177 4 bzw. 1793] lediglich sein Bewenden, jedoch werden Serenissimus bey Burgers Sohne, welche das Erforderliche Vermogen haben, und sonst dazu qualifiziert sind, nach Befinden gnadigst zu dispensiren geneigt seyn73.
In den Stichproben stieg die Anzahl von Studierenden, die mit Dispensationen eingeschrieben wurden, tatsachlich von nur 3 (1,1 %) im WS 1786/87 auf 17 (7,6 %) im WS 1796/97 und dann auf 33 (20,8 %) 1806/07 an74. Demnach war es
71 Gunter HOLLENBERG (Hrsg.), Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649-1798 (VHKH 48/3), Marburg 1989, S. 609, Anm. 92; unrichtig aber die Behauptung, dass die Einlassungsbeschrii.nkung auf die ersten sieben Rangklassen schon im Jahre 1774 in Kraft trat.
72 StAM, Best. 5, Nr. 7.750, 63r-66r, Desiderium commune XX. das Studiren der Lan-deskinder betr., 10.1.1798.
73 Ebd., Resolution des Geheimen Rats, 16.1.1798; vgl. HOLLENBERG (wie Anm. 71), S. 609 f.
74 StAM, Best. 5, Nr. 8.250; Best. 305n, Nr. 333; Best. 5, Nr. 7.784 sowie BIRT (wieAnm. 28); vgl. BRIEGER (wie Anm. 24), S. 345. Leider gibt es hier nur for die wenigen Studenten aus der Stadt Marburg selbst zuverlassige soziale Daten: StAM, Herkunft und Beruf aus dem Marburger Sippenbuch 1500-1850, hrsg. van Kurt STAHR, 23 Bde. masch., Marburg 1950-1966, Eintragungen mit MSB-Nr. identifiziert. Drei Marburger Studenten, zwei jungere Sohne von Oberpfarrern und der Sohn eines wohlhabenden Gastwirts, hatten 1796/97 je einen Dispens, obwohl die beiden Sohne Jacob Hofmanns, Nachrichter in Marburg, interessanterweise keine Dispensation benotigten. Der Sohn des Gastwirts studierte Jura und wurde Notar in Frankfurt, alle anderen studierten Medizin und wurden Arzte. Die fonf Studenten waren Justus Friedrich Fenner (MSB 13.934), Johann Conrad Fiebell
82 Gerald L. Sol iday
die Strategie der Landesregierung, weiterhin die Frequenz zu uberwachen und das Prinzip der AusschlieBung zwar offiziell beizubehalten, jedoch gleichzeitig eine zunehmend flexible Zulassungspolitik zu tolerieren.
5. Ergebnisse: Drei Perspektiven
So war die Studentenzahl ein zentrales Problem, das sowohl die Interessen von Stadt, Universitiit und Landesregierung als auch die Ambivalenz der hessischen Bildungspolitik am Ende des 18. Jahrhunderts zeigt. Obzwar sowohl Burger und Professoren in Marburg als auch der Landgraf ein Aufbliihen der Universitiit erhofften, sahen sie dies aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Am logischsten und unkompliziertesten erscheint die pragmatische Haltung der burgerlichen Bittsteller. Sie begriffen ihre wirtschaftliche Abhiingigkeit von einer erfolgreichen Institution, deren Studenten moglichst viel Geld in die Stadt bringen sollten. Deshalb bevorzugten sie Nicht-Hessen, die ihrer Meinung nach mehr ausgeben mussten als die einheimischen Studenten, welche Familien und Geldmittel in Reichweite hatten. Je wohlhabender die Studenten, desto besser -diese Vermutung geht aus den Eingaben hervor, deren immer gezieltere Bitten um MaBnahmen, wie renommierte Professoren, eine groBzugigere Kreditpolitik, mildere Disziplin und Zulassung von Studentenverbindungen, die die Universitii.t for elitiire Kreise anziehender machen sollten. So sprachen sich die Burger nicht gegen eine elitiire Hochschulbildung per se aus, sondern gegen unverantwortliche Professoren sowie gegen Honoratioren, die ihre Steuerprivilegien missbrauchten, um die auf studentische Tischhaltung angewiesenen Burger zu ubervorteilen.
Doch wo die Marburger Bugerschaft um verstiirkte MaBnahmen for Studentenanwerbung bat, reagierten die Professoren entrustet und defensiv. Sie verubelten jede Einmischung von Seiten der Kaufleute und Handwerker, die statt Bildung ihre eigenen pekuniiiren Interessen in den Mittelpunkt stellten. Sie teilten zwar die Ansichten der Burger, dass Professoren in loco parentis handeln sollten, aber for sie bedeutete dies Disziplin und Sozialisierung, nicht das Verhiitscheln der Studenten als Kunden, mit denen Geld zu machen war. Ihrer Meinung nach sollten Veroffentlichungen nicht hoher gewertet werden als die Lehrtiitigkeit. Ihre Ansicht ii.her eine Ausgewogenheit von auswiirtigen und einheimischen Studenten war sachkundiger und uneigennutziger als die in den burgerlichen Bittschriften, obwohl sie den Burgern nie widersprachen, wenn es um die allgemeine Wichtigkeit von hoheren Immatrikulationszahlen ging. Obgleich sie ihrer Zugehorigkeit zur Elite des Landes und den damit verbundenen Steuerprivilegien sicher waren, teilten die Professoren das Vorurteil der Landesregierung gegen Aufstiegsmobilitiit nicht. 1776 iiuBerten sie eine milde Kritik an den ersten Studienbeschriinkungen und das Anstreben einer liberaleren Zulassungs-
CMSB 14.056), Johann Jacob Georg Justi (MSB 19.383), Georg Friedrich Hofmann (MSB 17.971) und Johann Anton Hofmann (MSB 17.971). Im WS 1806/07 studierte Anton Fiebell (MSB 14.056), der ji.ingste Sohn eines Gastwirts, Jura, wiihrend Ferdinand Wendelstadt CMSB 36.258) Sohn eines Arztes war und spiiter selbst Arzt in Hersfeld wurde. Alle diese jungen Manner wiihlten freie Berufe und wiiren unter der restriktiven Standespolitik des Landgrafen wahrscheinlich vom Studium ausgeschlossen worden .
Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 83
politik im Landtag von 1798 war wohl in ihrem Sinn. Als regimetreue Diener konnten sie eine Elite auf der Basis von Talent und Besitz beforworten. Ohne eine eigentliche Opposition zu bilden, erhofften sie eine groBzugige Unterstutzung der Lehrstellen und der Infrastruktur sowie eine offenere Bildungspolitik.
Doch diese ambivalente Politik wies keine klare Richtung auf, da es unterschiedliche Anspruche zu vereinbaren galt und die Universitiit mehreren Zwecken dienen sollte. Ihre ursprungliche und wichtigste Rolle war, eine hohere Ausbildung for den Staatsdienst zu bieten. Gegen Ende des J ahrhunderts deuteten erweiterte Programme for Medizin und Naturwissenschaften auf den pragmatischen Ehrgeiz, der auch Landesregierung und Professoren motivierte, gebildete und nutzliche Manner als Pfarrer, Juristen und Arzte im Staatsdienst oder in freien Berufen zu haben. Gleichzeitig konnte die Universitiit das Ansehen des Landgrafen auBerhalb Hessens erhohen, indem die Ausbildung von reformierten Pfarrern dem hiesigen und ausliindischen Kalvinismus diente und gleichzeitig auswiirtiges Geld ins Land brachte. Hier deckten sich die Interessen der Landesregierung und der Stadt Marburg, denn beide betrachteten die Universitiit als Mittel, die zerruttete Wirtschaftslage zu verbessern, und so waren die Burgereingaben angemessene Schritte, um staatliche Interventionen zu erwirken. Trotz Scheltens oder gelegentlicher Zuruckweisungen gibt es keinen Grund, an der ,,viiterlichen" Sorge der Landgrafen um Marburgs Wohlergehen zu zweifeln. Eine erfolgreiche Universitiit lag in aller Interesse.
Obwohl die Landesregierung dieser Einschiitzung von der Bedeutung ihrer Universitiit beistimmte, erwog sie bei ihren Beschlussen ii.her Bildungspolitik und Studentenzahlen auch andere Umstiinde. Die Landgrafen wollten eine renommierte Universitiit in Marburg, waren aber nicht gewillt, zum Nachteil anderer Bildungsanstalten oder kultureller Vorhaben Gelder zu investieren -zumindest nicht vor 1786. Sie erkannten die Vorteile einer guten Universitiit an, forchteten jedoch ein allzu schnelles Wachstum der Studentenzahlen nach dem groBen Aufschwung. Dazu kam gegen Ende des Jahrhunderts die Besorgnis um einen Akademikeruberschuss. AuBerdem hatten die hessischen Landgrafen schon zuvor eine vielleicht noch stiirkere Beforchtung angesprochen, die den sozialen Aufstieg in die gebildeten Eli ten betraf: Die Zulassungsbeschriinkungen konnten zu einer Abnahme und nicht zu einem Zuwachs der Eliten fohren, denen die Universitiit dienen sollte und die die Burger als ihre besten Kunden betrachteten. Die notleidenden Marburger sahen eine zahlreiche und zahlungskriiftige Studentenschaft als einen Weg aus ihrer Wirtschaftsmisere. Doch die Landesregierung war nur bedingt gewillt, diesen Weg einzuschlagen - somit blieb Ambivalenz das Merkmal der hessischen Bildungspolitik am Ende des 18. Jahrhunderts und auch noch daruber hinaus.
84 Gerald L. Soliday Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 85
Tab. 1. Jahrliche Immatriku latione n in Marburg 1653-1815 Tab. 2. Studierend e in Marburg 1749-1815
Jahr Zahl .Jahr Zahl .Jahr Zahl .Jahr Zahl .Jahr Zahl .foohr Zahl Datum Anzahl Hessen Nicht- Datum Anzahl H es sen Nicht-1653 196 1680 93 1707 68 1735 123 1762 53 1789 136 in% Hess en in % Hessen 1654 110 1681 95 1709 73 1736 123 1763 83 1790 150 in % in% 1655 87 1682 78 1710 78 1737 115 1764 109 1791 112 Okt. 1749 193 68,4 31,6 ws 93/94 292 59,6 40,4 1656 109 1683 62 1711 59 1738 101 1765 74 1792 141 SS 94 323 57,0 43,0
1657 91 1684 52 1712 101 1739 108 1766 82 1793 139 1658 104 1685 64 1713 94 1740 96 1767 51 1794 118 1659 91 1686 64 1714 84 1741 83 1768 86 1795 98
Sep. 1768 174 69,0 31,0 Nov. 1774 162 72,2 27,8 ws 79/80 105 77,1 22,9 SS 1780 124 77 4 22.6
ws 94/95 272 57,4 42,6 SS 95 268 55,2 44,8 ws 95/96 233 52,8 47,2 SS 96 254 516 48.4
1660 102 1687 78 1715 77 1742 96 1769 62 1796 131 SS 1781 133 69,9 30,1 ws 96/97 225 51,1 48,9 1661 115 1688 47 1716 72 1743 103 1770 79 1797 89 SS 97 230 53 0 47.0 1662 92 1689 60 1717 79 1744 83 1771 66 1798 102 ws 86/87 275 571 42.9 ws 97/98 211 49 3 50,7 1663 106 1690 89 1718 53 1745 78 1772 63 1799 86 SS 87 320 58,1 41.9 SS 98 203 51,2 48,8 1664 89 1691 76 1719 87 1746 111 1773 61 1800 103 ws 87/88 303 61,1 38,9 ws 98/99 195 51,8 48,2 1665 94 1692 79 1720 74 1747 109 1774 56 1801 80 SS 88 324 63,6 36,4 ws 99/00 200 50,5 49,5 1666 87 1693 71 1721 72 1748 78 1775 52 1802 90 ws 88/89 281 61,6 38,4 SS 1800 209 54,5 45,5 1667 80 1694 94 1722 71 1749 85 1776 50 1803 92 SS 89 314 63,1 36,9 ws 00/01 216 61,1 38,9 1668 75 1695 93 1723 79 1750 58 1777 52 1804 92 ws 89/90 282 61 7 38.3 SS 1801 202 57 4 42 6 1669 103 1696 75 1724 101 1751 62 1778 65 1805 76 SS 90 324 54.9 451 ws 01/02 188 53,7 46,3 1670 68 1697 94 1725 73 1752 83 1779 49 1806 82 ws 90/91 294 54 1 459 SS 1802 181 55 8 442 1671 91 1698 77 1726 83 1753 76 1780 54 1807 82 SS 91 305 58,7 41,3 SS 1806 158 59,5 40,5 1672 85 1699 91 1727 174 1754 84 1781 70 1808 59 ws 91/92 313 58 1 419 ws 06/07 159 57 2 428 1673 70 1700 102 1728 76 1755 87 1782 57 1809 75 SS 92 320 61,6 38,4 1674 88 1701 91 1729 88 1756 82 1783 115 1810 121 ws 92/93 285 60,4 39,6 SS 1813 143 54,5 44,1 1675 75 1702 65 1730 105 1757 75 1784 92 1811 80 SS 93 307 59,0 41,0 ws 14/15 185 53,0 47,0 1676 96 1703 71 1731 105 1758 90 1785 81 1812 92 1677 71 1704 97 1732 101 1759 63 1786 150 1813 66 1678 65 1705 82 1733 86 1760 35 1787 155 1814 105 1679 61 1706 73 1734 107 1761 31 1788 124 1815 64 Tab. 3. Immatrikulierte in Marburg 1654-1724
Jahr Immatrikulierte Hessenin % Nicht-Hessen in% 1654 110 50,0 50,0 1677 71 52 1 479 1700 102 56 9 431 1724 101 48,5 51,5
84 Gerald L. Soliday Die Marburger Studentenschaft und die hessische Bildungspolitik 85
Tab. 1. Jahrliche Immatrikulationen in Marburg 1653-1815 Tab. 2. Studierende in Marburg 1749-1815
Jahr Zahl J ahr Za hl J a h r Zahl Jahr Zahl Jahr Za hl Jahr Zahl Datum Anzahl Hess en Nicht - Datum Anzahl Hessen Nicht-1653 196 1680 93 1707 68 1735 123 1762 53 1789 136 in% Hes sen in% Hessen 1654 110 1681 95 1709 73 1736 123 1763 83 1790 150 in% in% 1655 87 1682 78 1710 78 1737 115 1764 109 1791 112 Okt. 1749 193 68,4 31,6 ws 93/94 292 59,6 40,4 1656 109 1683 62 1711 59 1738 101 1765 74 1792 141 SS 94 323 57,0 43,0
Sep. 1768 174 69,0 31,0 ws 94/95 272 57,4 42,6 1657 91 1684 52 1712 101 1739 108 1766 82 1793 139 Nov. 1774 162 72,2 27,8 SS 95 268 55,2 44,8 1658 104 1685 64 1713 94 1740 96 1767 51 1794 118 ws 79/80 105 77,1 22,9 ws 95/96 233 52,8 47,2 1659 91 1686 64 1714 84 1741 83 1768 86 1795 98 SS 1780 124 77 4 226 SS 96 254 516 48 4 1660 102 1687 78 1715 77 1742 96 1769 62 1796 131 SS 1781 133 69,9 30,1 ws 96/97 225 51,1 48,9 1661 115 1688 47 1716 72 1743 103 1770 79 1797 89 SS 97 230 53 0 47 0 1662 92 1689 60 1717 79 1744 83 1771 66 1798 102 ws 86/87 275 57 1 42.9 ws 97/98 211 49 3 50,7 1663 106 1690 89 1718 53 1745 78 1772 63 1799 86 SS 87 320 58,1 41,9 SS 98 203 51,2 48,8 1664 89 1691 76 1719 87 1746 111 1773 61 1800 103 ws 87/88 303 61,1 38,9 ws 98/99 195 51,8 48,2 1665 94 1692 79 1720 74 1747 109 1774 56 1801 80 SS 88 324 63,6 36,4 ws 99/00 200 50,5 49,5 1666 87 1693 71 1721 72 1748 78 1775 52 1802 90 ws 88/89 281 61,6 38,4 SS 1800 209 54,5 45,5 1667 80 1694 94 1722 71 1749 85 1776 50 1803 92 SS 89 314 63,1 36,9 ws 00/01 216 61,1 38,9 1668 75 1695 93 1723 79 1750 58 1777 52 1804 92 ws 89/90 282 61 7 38.3 SS 1801 202 57 4 42.6 1669 103 1696 75 1724 101 1751 62 1778 65 1805 76 SS 90 324 54 9 45.1 ws 01/02 188 53,7 46,3 1670 68 1697 94 1725 73 1752 83 1779 49 1806 82 ws 90/91 294 541 45.9 SS 1802 181 55 8 44.2 1671 91 1698 77 1726 83 1753 76 1780 54 1807 82 SS 91 305 58,7 41,3 SS 1806 158 59,5 40,5 1672 85 1699 91 1727 174 1754 84 1781 70 1808 59 ws 91/92 313 581 41.9 ws 06/07 159 57 2 42.8 1673 70 1700 102 1728 76 1755 87 1782 57 1809 75 SS 92 320 61,6 38,4 1674 88 1701 91 1729 88 1756 82 1783 115 1810 121 ws 92/93 285 60,4 39,6 SS 1813 143 54,5 44,1 1675 75 1702 65 1730 105 1757 75 1784 92 1811 80 SS 93 307 59,0 41,0 ws 14/15 185 53,0 47,0 1676 96 1703 71 1731 105 1758 90 1785 81 1812 92 1677 71 1704 97 1732 101 1759 63 1786 150 1813 66 1678 65 1705 82 1733 86 1760 35 1787 155 1814 105 1679 61 1706 73 1734 107 1761 31 1788 124 1815 64 Tab. 3. Immatr ikuliert e in Marbur g 1654-1724
J ahr Immatriku lierte Hessen in % Nicht-Hessen in % 1654 110 50,0 50,0 1677 71 52 1 47,9 1700 102 56 9 43.1 1724 101 48,5 51,5
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