Download - Koreana Winter 2014 (German)
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 01ISSN 1975-0617
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
JAHRGANG 9, N
R.4W
INTER 2014
SPEZIAL
HONGDA
E-AP
Spaziergang in Hongdae-ap an einem „Feurigen
Freitag“; Kultureller Schmelztiegel, in dem
jugendliche Energie brodelt; Für jeden ein W
ahrzeichen auf eigene Art
Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot
Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 1
Jangdokdae und Mutter und Zuhause in der Heimat
Im Herzen der meisten Koreaner leben
die Erinnerungen an das geliebte Zuhau-
se ihrer Kindheit. In diesem Zuhause in
der Heimat gibt es im sonnigen Hinterhof an
der Einfriedungsmauer einen „Jangdokdae“,
einen Platz zur Aufbewahrung von Vorrats-
krügen. Dort steht die Mutter über die Krüge
gebückt und schaut hinein. Heimatliches
Zuhause, Mutter und Jangdokdae - aus die-
sen drei Elementen besteht die Landschaft
der Sehnsucht nach der Kindheit.
Was ist „Jangdokdae“? „Jang“ ist ein fer-
mentiertes, lang haltbares Lebensmittel,
das auf dem Esstisch der Koreaner nicht
fehlen darf. Es ist ein Slow Food, das aus
lokal angebauten Sojabohnen, Chili und
Meersalz zubereitet wird und langes, gedul-
diges Warten verlangt. „Dok“ sind kleine
und große Krüge aus Ton zur Aufbewahrung
dieser Lebensmittel. „Dae“ ist ein erhöhter
Platz im Hof, wo die Krüge der Größe nach
angeordnet sind und das darin enthalte-
ne „Jang“ Sonne, Regen und Wind, Schnee,
Kälte und Hitze ausgesetzt ist und im Laufe
der Zeit langsam atmend fermentiert und
reift.
Als Wirkungsbereich der Mutter war der
Jangdokdae an einer sonnigen Stelle in der
Nähe von Küche und Brunnen angelegt.
Die Mutter, die von ihrem Platz in der Holz-
diele auf die Krüge blickt, in denen die von
ihrer Hand hergestellte Doenjang-Sojaboh-
nenpaste, Ganjang-Sojasoße, Gochujang-
Chilipaste und eingelegten Gemüse vor sich
hin reifen, ist glücklich: Denn damit kann sie
Esstisch und Leben der Familie bereichern.
An sonnigen Tagen deckt sie die Krüge auf,
damit Sonnenlicht und Wind hineindringen,
bei Anzeichen für einen Regenschauer eilt
sie zum Jangdokdae, um die Krüge zuzu-
decken. Jangdokdae war auch eine heilige
Stätte des Gebets, die von der Hingabe der
Mutter für das Wohlergehen der Familie
zeugte. In der Vergangenheit füllten viele
Mütter bei Tagesanbruch eine reine Schüs-
sel randvoll mit Wasser, stellten sie auf
einen der Krüge auf dem Jangdokdae und
verrichteten davor Gebete mit Bitten um
Wohlergehen und Glück ihrer Kinder, die
aus dem Haus waren, und ihres Ehemanns.
Aber heutzutage sind viele Menschen an
Stadtleben und Hochhäuser gewöhnt, so
dass Jangdokdae kaum noch zu finden sind.
Vom Fast Food gedrängt, verliert das traditi-
onelle Slow Food Jang seinen Glanz. Immer
mehr Menschen konsumieren nicht mehr
das von der Mutterhand hausgemachte
Jang, sondern Jang aus Fabrikherstellung.
Aber immer noch reifen im Dorf auf dem
Jangdokdae im Zuhause der Kindheit die
Liebe der Mutter und Jang. An einem Win-
tertag ähneln die einsamen, schneebedeck-
ten Krüge der Mutter, die geduldig auf ihre in
die Stadt gezogenen Kinder wartet.
IMPRESSIONEN
Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der Korean National Academy
SPEZIAL
Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot
SPEZIAL 1
04 Spaziergang in Hongdae-ap an einem „Feurigen Freitag“ Kim Kyung-ju
SPEZIAL 2
08 Kultureller Schmelztiegel, in dem jugendliche Energie brodelt Kang Young-min
SPEZIAL 3
12 Eine akustische Reise durch Hongdae-ap Seong Gi-wan
SPEZIAL 4
16 Für jeden ein Wahrzeichen auf eigene Art Jung Ji-yeon
FOKUS
22 Die UNESCO–Welterbe-Festung
Namhansanseong und ihre
Geschichten Lee Kwang-pyo
KUNSTKRITIK
28 Good Morning, Mr. Orwell von 1984 bis 2014
Lim San
INTERVIEW
34 Noh Sun-tag: Durch Fotos Fragen
stellen und Antworten an der
Grenzlinie finden Song Su-jong
MODERNE WAHRZEICHEN
40 Das Hirotsu-Haus in Gunsan:
Überbleibsel der modernen
Geschichte Koreas Roh Hyung-suk
HÜNTER DES TRADITIONELLEN ERBES
44 Tteoksal-Sammler Kim Gil-seong:
Anmutigen Symbolmustern der
Lebenswünsche verfallen Kang Shin-jae
NEUERSCHEINUNG
50 At Least We Can Apologize The Dawn of Modern Korea Encyclopedia of Korean Folk Beliefs Charles La Shure
GOURMETFREUDEN
52 Jeon: Vorboten des Festes Joo Young-ha
04
2816
LIFESTYLE
56 Chicken-Republik Park Chan-il
BLICK AUS DER FERNE
60 Dort, wo das stille Glück verweilt Lilith Müller
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
62 Realiät zeugt Fantasie,
Fantasie zeugt Realität Chang Du-yeong
Deine Verwandlung Kim E-whan
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4 KOREANA Winter 2014
Am Wochenende herrscht abends immer Hochbetrieb auf dem Spielplatz vor dem Haupttor der Hongik University. Was tagsüber ein normaler Kinderspielplatz ist, wird abends zu einem kulturellen Treffpunkt für junge Leute von heute.
SPEZIAL 1 Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot
Hongdae-ap, die Gegend um die für Kunst und Design bekannte Hongik University, ist DER Hotspot von Seoul für junge Kultur- und Kunstliebhaber. Denn hier kann man aus nächster Nähe die Vitalität der Jugendkultur Koreas sehen und erleben. Wie die Khaosan Road in Bangkok, die Sudder Street in Kalkutta und Akihabara in Tokio ist Hongdae-ap zu einem großen kulturellen Ökosystem geworden.
Kim Kyung-ju Dichter und Dramatiker / Fotos Cho Ji-young
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 5
6 KOREANA Winter 2014
W enn Sie überlegen, wie Sie die Kultur von Hongdae-ap
am besten kennen lernen sollten, würde ich die Route
empfehlen, die sich von Ausgang 9 der U-Bahnstation
Hongik University der Seouler Linie 2 aus durch die als „Walkable
Street“ bekannte Flanierstraße über den Hongdae-Spielplatz direkt
vor dem Haupttor der Universität bis hin zur Clubstraße zieht und im
Café-Viertel in Sangsu-dong mündet. Diese Strecke bietet den bes-
ten Einblick in das Nachtleben in Hongdae-ap von den Randgebieten
bis zum innersten Kern.
Sollten Sie dabei an einem „Bul-geum“ („Feuriger Freitag“: koreani-
sches Pendant zu TGIF: Thank Goodness it’s Friday) in Hongdae-ap
unterwegs sein, wird diese Gegend Sie zunächst mit ihrem Lichter-
meer überwältigen: Die leuchtenden Neonschilder unzähliger Clubs
und Geschäfte tauchen zusammen mit den Lichtern der Smart-
phones der Bummler die gesamte Straße in Lichterglanz. Selbst an
einem Wintertag ist an diesem Ort voller Tanz, Musik und Alkohol die
Kälte schnell vergessen.
Kommt man aus Ausgang 9 der U-Bahnstation, schlägt einem die
Lebenskraft der vielen jungen Menschen entgegen, die sich auf dem
kleinen Platz neben dem Ausgang angesammelt haben. Die meisten
warten mit dem Smartphone in der Hand auf ihre Verabredung. Der
Boden ist übersät mit allen möglichen Flyern von Nachtclubs und
Kneipen oder auch mit Infomaterial für Ausstellungen und Konzer-
te von armen Künstlern. Hier vermischen sich Kommerzbezogenes
und Kunstbezogenes auf dem Boden, was die zwei konstrastieren-
den Gesichter von Hongdae-ap entblößt.
Straßen sind gleich Kunst Lässt man die glänzenden Lichter am Ausgang 9 hinter sich und
kommt zur Hongik-Flanierstraße Walkable Street, ist man schon
nahe der für Hongdae-ap typischen Stadtlandschaft. Diese Straße,
die zum Spielplatz gegenüber dem Haupttor der Universität führt,
lässt sich selbst im Schlenderschritt in dreißig Minuten ablaufen.
Auf dem Weg zum Spielplatz gibt es reichlich Gelegenheit zum Shop-
pen oder sich zu stärken. Man kann seinen leeren Bauch in einem
der Straßenimbisszelte füllen, sich in Künstlerwerkstätten umsehen
oder in einem der Lädchen mit ungewöhnlichen Auslagen stöbern.
Was man auf dieser Straße auf keinen Fall versäumen sollte, ist die
Straßenkultur an sich zu entdecken. An allen Ecken und Enden der
Straße zum Spielplatz gibt es Kunst-Performances. Geht man an
den Grüppchen klatschender oder jubelnder Schaulustiger achtlos
vorbei, könnte das ein Grund zur Reue sein. Auf der Straße und am
Spielplatz geben Untergrund-Musiker Songs aus ihrem neuesten
Album zum Besten, Cosplay-Gruppen präsentieren Kostüm-Perfor-
mances oder Dichter, Rapper und Straßenkünstler kommen zusam-
men, um die Erklärung der Unabhängigkeit der Kunst vorzutragen.
Man weiß nie, was einen an einem Freitagabend auf dem Spiel-
platz vor dieser Universität erwartet: Busking von Indie-Musikern
oder irgendwelche guerillartigen Stehgreif-Performances. Sams-
tag nachmittags findet hier der Künstler-Flohmarkt „Hongdae Free
Market“ statt, den man nicht verpassen sollte.
Nachdem man mit der Performance-Kultur an der Hongdae-Peri-
pherie vertraut geworden ist, heißt es, die Tiefen erkunden und sich
dem Clubbing zu widmen. Wenn Sie Musik und Tanz mögen, dann
müssen Sie unbedingt einmal in die vitale Energie, die hier generiert
wird, eintauchen! Erst dann können Sie sagen, dass Sie in Hongdae-
ap waren.
An einem „Feurigen Freitag“ sind sogar die winzigsten Gassen in
Hongdae belagert von Leuten, beschwipst von Alkohol und Begeis-
terung. Auch zahlreiche Ausländer besuchen diese Gegend, um ein
Glas zu trinken, zu tanzen und einen heißen Freitagabend zu genie-
ßen. Vor einigen Clubs, die für attraktive, brandneue Musik berühmt
sind, stehen die Leute schon ab dem frühen Abend Schlange. In
Hongdae-ap ist es keine Seltenheit, stundenlang auf Einlass in einen
Club zu warten.
Sich unter die Künstler mischen Will man an einem Freitagabend eine etwas andere Atmosphäre als
die typische Club-Kultur in Hongdae-ap genießen, bietet es sich an,
weg von der Club-Straße in Richtung des Viertels Sangsu-dong zu
spazieren. Seitdem das Hongdae-Zentrum in die Nachbarschafts-
viertel auszustrahlen begonnen hat, gilt Sangsu-dong als eins der
neuen Trendviertel. Hier finden sich gemütliche Cafés in umfunktio-
nierten kleinen Fabriken sowie Werkstätten von Künstlern aller Art.
Besucht man eines dieser Cafés auf eine Tasse Tee, kommt man auf
natürliche Weise mit der Salonkultur in Kontakt. Da in dieser Gegend
tatsächlich Künstler der unterschiedlichsten Couleur zu finden sind,
ist es auch ein guter Ort, um einen Blick in Leben und Rhythmus
einer Künstlergemeinde zu werfen. Die Cafés hier dienen als Treff-
punkte für Künstler-Diskussionsgruppen, als Veranstaltungsorte
für Ausstellungen, Vorführungen von Independent-Filmen, Lesun-
gen mit Dichtern und Ghostwritern sowie Konzerte von Indie-Bands.
Ganz Sangsu-dong atmet das typische Ambiente alter Groschenro-
mane, das in den Clubstraßen nicht zu finden ist.
Wenn Sie auf diese Künstler treffen und echte Neugier für deren
Arbeit und Leidenschaft zeigen, können Sie sich in nur einer Nacht
mit ihnen anfreunden. Sie werden Ihnen selbstgemachten Glühwein
und Kekse anbieten, im Nu werden Sie in die Gemeinschaft des Vier-
tels aufgenommen und eine unvergessliche Nacht mit verrückten
und originellen Geschichten verbringen. Für manche mögen Alkohol,
Musik und Tanz nur eine Freisetzung unbesonnener Leidenschaften
sein, aber für diejenigen, die Hongdae-Nächte mögen, ist es eine Art,
zu leben, ein Lebensstil. Hongdae-ap ist nicht länger nur ein Lebens-
raum für Künstler, sondern ein Ort, an dem die Künstler sich mit
dem Publikum vermischen.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 7
An einem „Feurigen Freitag“ sind sogar die winzigsten Gassen in Hongdae-ap belagert von Leuten, beschwipst von Alkohol und Begeisterung. Auch zahlreiche Ausländer besuchen diese Gegend, um ein Glas zu trinken, zu tanzen und einen heißen Freitagabend zu genießen. Vor einigen Clubs, die für attraktive, brandneue Musik berühmt sind, stehen die Leute schon ab dem frühen Abend Schlange. In Hongdae-ap ist es keine Seltenheit, stundenlang auf Einlass in einen Club zu warten.
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1. Straßenkünstler, Bands und darstellende Künstler jeglicher Couleur geben auf der Flanierstraße „Wakable Street“, die zum Spielplatz vor der Hongik University führt, ihr Können zum Besten.
2. In Hongdae-ap sind lange Schlangen von Menschen, die stundenlang auf Einlass in einen Club warten, ein normaler Anblick.
3. Das Su Noraebang hat auf der Straßenseite deckenhohe Fenster, die für die Passanten das interessante Spektakel von singenden und tanzenden Karaoke-Enthusiasten bieten.
SPEZIAL 2Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot
Das als „Hongdae-ap“ (wörtl. „vor der Hongik-Uni“) bekannte Gebiet war verwaltungs-technisch gesehen früher nur ein Teil des Seouler Stadtbezirks Seogyo-dong. Bis Mitte der 1980er stand „Hongdae-ap“ nur für die Gegend vor dem Haupttor der Hongik Uni-versität mit der Picasso-Straße, in der sich die Läden für Künstlerbedarf aneinander reihten. Aber ab Mitte der 1990er Jahre expandierte Hongdae-ap und umfasst heute nicht mehr nur Seogyo-dong, sondern auch Teile von Sangsu-dong, Hapjeong-dong, Donggyo-dong, Yeonnam-dong und Mangwon-dong. Während andere wichtige Kultur-räume in Seoul wie Daehak-ro, Insa-dong und Garosu-gil den Zeitläuften entsprechend etwas an Bedeutung einbüßen, geht es mit Hongdae-ap seit zwanzig Jahren stetig berg-auf. Was ist es, das Hongdae-ap einst wie jetzt zu einem kulturellen Hotspot voller über-schäumender Energie macht?
Kang Young-minPopkünstler
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 9
1. DieIdentitätvonHongdae-apalseinkünstlerischesundfreigeistigesViertelgehtaufdieKulturderKunststudentenderHongikUniversityzurück.
2. AlsHongdae-apinden1990erJahrenalsneuerHotspotaufstieg,unternahmenjungeKünstlerindenClubsundCafésdesViertelsinteresssantekulturbezogeneExperimente.EinrepräsentativesBeispieldafüristdasAlbumDosirakteukgongdae(LunchBoxTaskforce),dasvonhöchstindividuellenBandswieSanullimundderUhuhbooBandherausgebrachtwurde.
3. DieeinziartigeStudiokulturderKünstlerverbreitetesichaufkleineWerkstätten,GalerienundCafésundwurdesozumkulturellenMainstream.
Hongdae-aps Aufstieg zum repräsentativsten
Zentrum von Kunst und Kultur nicht nur in Seoul,
sondern in ganz Korea, ist v.a. den einstigen
Kunststudenten der Hongik University zu verdanken.
Nach der Einrichtung der Kunstfakultät (Hongik Uni-
versity College of Art) im Jahr 1961 galt der Anblick der
frei und zwanglos wirkenden Kunststudenten in ihrer
verschmutzten Arbeitskleidung auf der Straße als Sym-
bol für die einzigartige künstlerische Atmosphäre, die
in Hongdae-ap herrschte. Die meisten dieser jungen
Künstler waren nicht an einer festen Anstellung inter-
essiert, sondern blieben auch nach dem Hochschulab-
schluss in Universitätsnähe, wo sie in ihren eigenen Stu-
dios ihre Kunstaktivitäten fortsetzten. Anders als heute
drängten sich in dieser Gegend zu der Zeit normale
Wohnhäuser dicht an dicht. Viele arme Künstler miete-
ten sich in den freistehenden Häusern für wenig Geld die
Garage oder ein Kellerzimmer, das sie dann als Studio
nutzten. Hier kamen Künstler aus verschiedenen Berei-
chen zusammen, um zu trinken, zu diskutieren und neue
Kulturprojekte zu planen, woraus sich die Hongdae-typi-
sche „Studio-Kultur“ entwickelte. Diese Kultur ergoss
sich dann in für die Allgemeinheit offenen Räume wie
Cafés und Clubs und aus Hongdae-ap wurde ein „inter-
essantes Pflaster“.
Cafés und Clubs als Nährboden der Hongdae-ap-Kultur Die spezielle Note von Hongdae-ap begann sich Ende
der 1980er, Anfang der 90er Jahre herauszubilden. Mit
der Austragung der Olympischen Sommerspiele in
Seoul 1988 begann die schrittweise Liberalisierung von
Auslandsreisen und der wohlhabende Seouler Stadt-
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Art
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teil Apgujeong-dong südlich des Han-Flusses (Gang-
nam) entwickelte sich mit dem sog. „Orange-Tribe“ an
der Spitze zu einem Mekka des Konsums. Mit „Orange-
Tribe“ bezeichnete man junge Koreaner aus wohlha-
bendem Hause, die Schule oder Universität im Ausland
besucht hatten. Auf der nördlichen Seite des Han-Flus-
ses schufen derweil junge, aufstrebende Künstler, aus-
gerüstet mit einer neuen Empfindlichkeit, eine experi-
mentelle und alternative Spielkultur. Ein nennenswertes
Beispiel dafür ist die erste Straßenausstellung Hongdae
Street Art im Oktober 1993, die von der Studentenverei-
nigung des Hongik University College of Art organisiert
wurde. Diese Ausstellung war konzipiert als Zeichen des
Widerstandes gegen die Vergnügungskultur des hedo-
nistischen „Orange-Tribe“, die zu dieser Zeit in Hongdae-
ap einzudringen begann.
Die Hongdae-Kultur begann ernsthaft an Schwung
zu gewinnen, als einige Künstler ihre eigenen kreati-
ven Räume mit unverkennbarer Note eröffneten. Dazu
gehörten das Electronic Café, Ollo Ollo, Baljeonso
(Kraftwerk) und Gompangi (Schimmel), um nur einige
zu nennen. In diesen Agitationsstätten junger Künstler
wurden provokative, progressive Ausstellungen, Kon-
zerte und Performances mit Low-Budget organisiert.
Das distinktive Image und die besondere Charakteristik
der Räume, welche heutzutage mit Hongdae-ap asso-
ziiert werden, bildeten sich um diese Zeit heraus. Die
Cafés und Clubs spielten die Rolle eines Inkubators für
die heutige Hongdae-Kultur.
Besonders erwähnenswert ist das Electronic Café, das
1988 von dem Grafikdesigner Ahn Sang-soo und dem
Bildhauer Geum Nu-ri eröffnet wurde. Als das aller-
erste Internet-Café in Korea führte es das Konzept des
Computer-Netzwerkes ein. Es gilt als einer der Kataly-
satoren der Hongdae-Kultur und als Geburtsstätte der
elektronischen Kommunikationsforen in Korea. Hier ist
v.a. das „Netzkunst-Projekt“ vom September 1990 zu
nennen, das Seoul und Los Angeles verband, und als
wohl weltweit erstes Projekt den Begriff „Netzwerk“
popularisierte. Beim Online-Chatting im Rahmen dieses
Projekts soll Ahn die kreative und offene Hongdae-ap-
Kultur erwähnt haben.
Gegenkultur zur etablierten Kultur und Mainstream-Musik Mit der politischen Liberalisierung, die durch die Demo-
kratiebewegung vom Juni 1987 in Gang gebracht wurde,
und dem Antritt der ersten Zivilregierung des Landes im
10 KOREANA Winter 2014
Jahr 1993 begann auch die Hongdae-ap-Kultur aufzu-
blühen. In dieser Zeit verlagerte sich in Hongdae-ap die
kulturbestimmende Kraft von der bildenden Kunst auf
die Musik: Anders als in der Mainstream-Musikszene der
Zeit, die von koreanischer und ausländischer Popmusik
geprägt war, wurden in den Cafés und Clubs verschie-
dene damals aktuelle Musikrichtungen wie Alternati-
ve, Punk, Reggae und Elektronische Musik vorgestellt.
Junge Leute in den Zwanzigern, die von klein auf in Kon-
takt mit ausländischen Kulturen gekommen und ent-
sprechend kosmopolitischer aufgewachsen waren als
die früheren Generationen, strömten nach Hongdae-ap.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass beinahe alle jun-
gen Menschen, die die uniformierte und starre Nullacht-
fünfzehn-Kultur ablehnten, nach Hongdae-ap kamen.
War die Jugendkultur der 1980er Jahre durch die Wider-
standsbewegung gegen die Militärdiktatur geprägt, so
kann die Jugendkultur in den 1990ern als Gegenkultur
beschrieben werden: Mit rot oder gelb gefärbten Punk-
Haarschnitten und Ketten an der Taille leisteten die jun-
gen Leute mit einem „Halt‘s Maul!“ Widerstand gegen
Mainstream-Musik und die Kultur des Establishments.
Sie entwickelten eine eigene, progressive experimen-
telle Kunst, mit der sie sich radikal vom Mainstream
absetzten, wobei die Clubs in Hongdae-ap zu kulturel-
len Ventilen für die koreanische Jugend wurden. Noch
interessanter ist die Tatsache, dass die Barrieren zwi-
schen Konsumenten und Produzenten abgebaut wur-
den und in den Hongdae-Clubs der „Kunde von gestern“
nicht selten zum „Künstler von heute“ wurde. Die jungen
Künstler und Musiker, die ihre Individualität zum Aus-
druck bringen wollten, lernten in Hongdae-ap Gleichge-
sinnte kennen und versuchten, gemeinsam selbst etwas
Neues zu kreieren: In den Clubs hörten sie nicht nur
Musik, sondern gründeten auch Punk- oder Alternative-
Bands oder debütierten als DJs. Ich selbst war im Café
Underground als Visual Jockey aktiv und präsentierte
dort meine Videokunst. Hauptmerkmal der Hongdae-
ap-Kultur der Zeit war, dass die Grenzen zwischen Pro-
duzent und Konsument fließend waren und Hongdae-ap
zu einer Art Schmelztiegel der Kultur wurde, in dem sich
alle mischten, gegenseitig beeinflussten und inspirier-
ten. Allgemeines Muster war, dass, wenn ein interessan-
ter neuer Hangout aufmachte, dort unweigerlich neue
Kulturprojekte geplant wurden.
Von Kult-artiger zu offener Kultur Ab der Millenniumwende wurde die Basis für die Hong-
dae-ap-Kultur aktiver ausgeweitet. Das repräsentativs-
te Beispiel ist der Free Market am Spielplatz gegenüber
dem Haupttor der Universität, der 2002, als die Fußball-
WM Korea Japan stattfand, ins Leben gerufen wurde.
Dieser Markt hat den Charakter eines Kunst-Flohmark-
tes, auf dem nicht nur Künstler, sondern jeder Interes-
sierte seine selbstgemachten Kunstwerke, Handwerks-
oder Handarbeitsprodukte verkaufen kann. Er ist nicht
nur ein Ort zum Kaufen oder Verkaufen, sondern ein
wahrer „Markt der Kultur“, auf dem Kulturen aller Art
zum Austausch zusammenkommen und die Grenzen
zwischen Alltagsleben und Kunst sowie die Barrieren
zwischen Künstlern und Bürgern eingerissen wurden.
In diesem Sinne wird er positiv bewertet als Alternative
zur herkömmlichen Art zu konsumieren. Ein ebenfalls
erfreulicher Erfolg ist darin zu sehen, dass die Hongdae-
ap-Kultur, die früher überwiegend auf das Nachtleben
fokussiert war, nun auch tagsüber etwas zu bieten hat.
Das ist auch der entscheidende Grund dafür, warum es
heute auch das allgemeine Publikum, das bislang mit
Blick auf das Nachtleben vielleicht Vorbehalte gehabt
haben mag, nach Hongdae-ap zieht.
Seit etwa 2005 herrscht in Hongdae-ap auch tagsüber
rege Geschäftigkeit. Das ist darauf zurückzuführen,
dass in den Straßen des Viertels zahlreiche Cafés öffne-
ten, die sich bei Brunch-Fans großer Beliebtheit erfreu-
en. Und wie man sich im Laufe der Zeit an Avantgarde-
Kunst gewöhnt, so ist auch die Kultur von Hongdae-ap
heutzutage zweifelsohne kommerzialisierter und kon-
sumorientierter geworden, indem sie über Kunst und
Musik hinaus jetzt auch auf Essen, Mode und Shopping
fokussiert. Sobald ein Blogger in einem Posting über den
neuesten Hotspot oder seine jüngste Restaurant-Entde-
ckung berichtet, wird ein Kreislauf in Bewegung gesetzt,
der mehr und mehr Menschen an diese Orte strömen
lässt. Die Kraft der Kultur von Hongdae-ap sollte aller-
dings nicht mit dem Verweis auf die zunnehmende Kom-
merzialisierung und Betonung von Essen und Trinken
in Verruf geraten und verschmäht werden. Die Kultur
von Hongdae-ap befindet sich in einem Prozess des wie-
derholten Wandels, der ausgehend von einer Rand- und
Kult-Kultur auf eine universellere und offenere Kultur
hin ausgerichtet ist.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 11
1, 3. Die Straßenkunst ausstellung wurde erstmals im Oktober 1993 veranstaltet. Diese vom Studentenverband der Hongik University organisierte Ausstellung mit ihrer mittlerweile mehr als 20 Jahre alten Tradition hat die Kunst von den Galerien auf die Straße geholt und damit der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
2.Auch wenn sich viele wegen der zunehmenden Kommerzialisierung von Hongdae-ap Sorgen machen, sind Produktion und Konsum alternativer Kulturformen so rege wie eh und je.
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Hauptmerkmal der Hongdae-ap-Kultur der Zeit war, dass die Grenzen zwi-schen Produzent und Konsument fließend waren und Hongdae-ap zu einer Art Schmelztiegel der Kultur wurde, in dem sich alle mischten, gegenseitig beein-flussten und inspirierten. Allgemeines Muster war, dass, wenn ein interessan-ter neuer Hangout aufmachte, dort unweigerlich neue Kulturprojekte geplant wurden.
© Street Art Exhibition © KT&G Sangsang Madang
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12 KOREANA Winter 2014
In den Live Clubs in Hongdae-ap findet man leicht Vorstellungen von Indie-Musikern, die ihre eigene unverwechselbare Musik kreieren.
In visueller Hinsicht ist es ehrlich gesagt nicht leicht, Hongdae-ap von
anderen „Kulturstraßen“ in Seoul zu unterscheiden. In Hongdae-ap gibt
es zwar architektonisch reizvolle Gebäude, aber die gibt es ebenfalls in
anderen Stadtteilen. Worin liegt dann das gewisse Etwas dieser Gegend?
Hongdae-ap ist v.a. ein „Viertel der Klänge“. Es sind die Klänge, die es so
deutlich von anderen Stadtteilen unterscheiden. Bei einem Spaziergang
durch Hongdae-ap empfiehlt es sich daher, die Augen zu schließen und
die Ohren zu öffnen. Das ist die beste Art, die Straßen dort zu „er-fühlen“
und zu genießen. Also, wie wäre es mit einer akustischen Reise durch
Hongdae-ap?.
SPEZIAL 3
Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot
Seong Gi-wan Dichter, Indie-Musiker
Fotos Cho Ji-young, Lim Hark-hyoun
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 13
Nach der Eröffnung der Seouler U-Bahnlinie 2 erlebte das
„Uni-Viertel“ im und um den Stadtbezirk Sinchon viele kultu-
relle Veränderungen. Kaufhäuser wurden gebaut und in den
Straßen um die Ewha Womans University, die älteste und renom-
mierteste Frauenuniversität des Landes, wurde die akademische
Atmosphäre von allerlei Modeläden aufgeweicht. Als in Sinchon
dann kein kommerziell nutzbarer Raum mehr übrig war, wurde die
Gegend vor der Hongik University, meistens kurz als „Hongdae-ap“
bezeichnet, zum nächsten „neuen Paradies“. Obwohl sich das Gebiet
um die Sogang University, die sich wie die Ewha Womans Universi-
ty und die Yonsei University näher im Zentrum von Sinchon befindet,
fiel die Wahl auf Hongdae-ap, was vermutlich nicht zuletzt der guten
Erreichbarkeit aufgrund der neuen U-Bahnstation geschuldet war.
So geschah es, das Hongdae-ap junge Leute, darunter die Studen-
ten aus Sinchon, anzog und die sog. „Rockcafé-Kultur“, die Mitte der
1980er Jahre in Sinchon ihren Ausgang nahm, zu einer „Indie-Kultur“
weiterentwickelte.
Von der Rockcafé-Kultur zur Indie-Kultur Der 1994 in Hongdae-ap eröffnete Punk-Club Drug (heute DGBD)
fungierte im Laufe seiner Entwicklung als Meilenstein für die Indie-
Szene. In diesem Club waren Mitte der 1990er Jahre die Grenzen
zwischen Musikern und Publikum fließend. Wenn die Musiker von
der Bühne herunterkamen, mischten sie sich unters Publikum, und
die Zuschauer, die auf der Tanzfläche abrockten, sprangen auf die
Bühne und verwandelten sich in Musiker. Tatsächlich entschlossen
sich einige junge Leute nach solchen Performances zu einer Musi-
kerkarriere. Es bildeten sich Punk-Gruppen. Sie waren aufmüp-
fig, aber nicht auf gefährliche Weise, und spielten gerne alberne,
harmlos-süße Streiche. Sie konnten es sich leisten, Skateboard zu
fahren, damals ein noch neuer und nicht ganz billiger Sport. Mit der
Zeit wurde Drug zum Sammelpunkt junger Musiker mit „Do It Your-
self-Geist“, die Anfang der 1990er Jahre zusammen mit dem sog.
„Alternative-Rock-Boom“ auf der Bildfläche erschienen: Bands wie
Crying Nut und No Brain machten diesen Club zum Mekka des kore-
anischen Punk-Rock. Andere Live-Clubs wie Spangle und Jammers
dienten ebenfalls als Unterschlupf für solche Musiker und bis heute
lebt dieser Geist in den Live Clubs in Hongdae-ap weiter.
In der Geschichte der Hongdae-Clubs markieren die Olympischen
Sommerspiele 1988 und die Fußball-WM Korea Japan 2002 zwei
Höhepunkte. Die kulturelle Öffnung und Demokratisierung, die
nach den Olympischen Spielen ernsthaft vorangetrieben wurden,
brachten die Offenheit und Experimentierfreudigkeit der Clubkul-
tur auf den Weg, die die Essenz der Hongdae-Clubkultur ausmacht.
Pionier der experimentellen Kunst war das Electronic Café, das im
März 1988 eröffnete und drei Jahre lang betrieben wurde, gefolgt
von Cafés wie Baljeonso (Kraftwerk) und HwangeumTugu (Goldener
Helm), Gompangi (Schimmel), betrieben von Kim Hyeong-tae von der
Hwang Shin-hye-Band. Die Hongdae-Clubkultur entwickelte die ihr
eigene Flexibilität und Widerstandsfähigkeit gerade durch die junge
Lebenskraft der Punk-Clubs und die Konzipierungs- und Planungs-
fähigkeit progressiver Künstler.
14 KOREANA Winter 2014
Busking- und Clubbing-Kultur existieren dicht an dicht. Die überall zu findende Vielfalt verleiht der Landschaft dieses Stadtviertels eine vibrierend bunte Fülle.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 15
Olympische Sommerspiele 1988, Fußball-WM 2002 und Clubkultur-Popularisierung Die Fußball-WM 2002 goss gewissermaßen Öl ins Feuer der Club-
kultur von Hongdae-ap, die bis dahin nur von einer kleinen Gruppe
junger Maniacs genossen worden war. Endlich trafen Versamm-
lungskultur und Clubkultur aufeinander: Die Gruppen, die sich auf
dem Seoul Plaza zum Anfeuern versammelt hatten, fanden in den
Clubs vor der Hongdae ein Ventil für ihre Begeisterung und entfach-
ten gemeinsam eine lodernde Flamme wie Feuerstein und Docht.
Der „Hongdae Club Day“, der bereits vor der WM existierte, bot sich
als idealer Treffpunkt für die jungen Leute an, die die kollektive Emp-
findlichkeit ihrer Generation miteinander teilen wollten. Die DJ-Clubs
florierten und die dröhnenden Basstöne des Techno House brachten
die Straßen in Hongdae-ap zum Vibrieren. Die Clubs breiteten sich
über die sog. „Parkplatzstraße“ und das Kraftwerk Dangin-ri bis zur
U-Bahnstation Hapjeong aus. Anhand der Verteilung der Clubs ließe
sich eine Karte des Vergnügungsviertels von Hongdae-ap zeichnen.
Der Begriff „Hongdae-ap“ umfasst als Kulturraum also die neben-
einander gelegenen Viertel vor den U-Bahnstationen Hongik Uni-
versity, Hapjeong und sogar Mangwon und im Norden den Bezirk
Yeonnam-dong.
Aber es war nicht nur die Clubkultur, die Hongdae-ap zu einem „Vier-
tel der Klänge“ machte. Die Straßen dort sind an sich schon Räume
lebhafter Musik, und „Busking“ (Straßenkunst-Performances) ist
zumindest hier nichts Neues. Hongdae-ap ist ein wahres Busking-
Paradies und die Hauptbühne der Straßenkünstler ist der Spielplatz
gegenüber dem Haupttor der Hongik University. Es ist ein Ort, an
dem noch namenlose Musiker sich darin üben, mit dem Publikum zu
kommunizieren. Ein Ort, an dem sie an einem heiteren Tag mit ihren
Gitarren aufkreuzen, musizieren und die Sonne genießen. Die fröhli-
chen Klänge ziehen die Passanten quasi „an den Ohren herbei“. Sie
erfreuen sich an den lebhaften Klängen der Vorstellung, die direkt
vor ihrer Nase aufgeführt wird. Dieser nette Unterhaltungsservice
der Straßenkünstler ist ein Ohrenschmaus. Ich frage mich, ob es
überhaupt einen einzigen Indie-Musiker, mich eingeschlossen, gibt,
der nie auf dem Spielplatz sein Können zum Besten gegeben hat.
Geradeheraus gefragt: Gibt es einen Indie-Musiker, der nie auf dem
Spielplatz eingeschlafen und dann nach stundenlangem Gitarrespie-
len und Genuss von Makgeolli (trüber, leicht vergorener Reiswein) in
der Frühe mit vom Morgentau benetzter Stirn aufgewacht ist? Natür-
lich dienen der Kinderspielplatz und das Seniorenzentrum neben-
an nach wie vor ihrem eigentlichen Zweck, aber die Klänge, die den
Spielplatz erfüllen, sind doch anders als die auf den Spielplätzen in
anderen Stadtteilen. In diesem Sinne ist es nur lohnenswert, den rei-
nen und leidenschaftlichen Klängen der jungen Straßenmusiker, die
von einer großen Zukunft träumen, Gehör zu schenken.
Die Klänge, die derzeit in Hondae-ap zu hören sind, kommen aber
nicht mehr nur aus dem Subkultur-Bereich, sondern mehr und mehr
aus einem breiten Spektrum der Pop-Kultur. So existieren derzeit
eine Reihe von Clubs verschiedener Stilrichtungen Seite an Seite:
Live Clubs speziell für Bühnenauftritte von Bands, Techno Clubs, wo
Clubbers auf Rave-Partys zu DJ-Mixen tanzen, Hip-Hop Clubs, Pop
Clubs, die einen Mix koreanischer Tanzmusik der 1990er und danach
bieten, usw. Es stimmt zwar, dass der Kern der Clubstraße heutzu-
tage eine gewisse standardisierende Kommerzialisierung erfährt,
aber in den sog. „Off Hongdae“-Randgebieten sind immer noch Klän-
ge der unterschiedlichsten Art zu hören, woran zu erkennen ist, dass
die kulturelle Bandbreite in Hongdae-ap sich erweitert und an einer
gewissen Tiefe gewonnen hat.
Akustische Reise bis ins MorgengrauenHongdae-ap ist zwar ein „Viertel der Klänge“, aber auch ein „Viertel
der Nacht“. Die Nacht bringt einem den Klang dieses Viertels noch
deutlicher ans Ohr. Es ist gut möglich, dass man bei einer „akusti-
schen Reise“ durch dieses Viertel von der Morgendämmerung über-
rascht wird. Am Wochenende sind hier viele junge Leute zu sehen,
die auf die erste U-Bahn um 05.30 Uhr warten. Sie sehen angetrun-
ken und völlig erledigt aus, scheinen aber immer noch in der Eksta-
se der Klänge, die auf ihre Trommelfelle einhämmerten, befangen.
Klänge existieren aber weniger als solche, sondern mehr als Atmo-
sphäre. Ein Klang an sich ist ja nichts anderes als Schwingungen der
Luft. Umgekehrt heißt es, dass Klänge die Luft eines bestimmten
Raumes in sich tragen. Die Klänge teilen, bedeutet die Luft teilen, ein
kollektives Atmen. In Korea gibt es keinen besseren Ort als Hong-
dae-ap, um Atem und Vibrationen voller Leidenschaft mit anderen zu
teilen. Die Vibrationen mögen im Nu verschwinden, aber ihr Echo im
Ohr wird den Reisenden weiter auf seiner akustischen Reise beglei-
ten, mal greifbar nah, mal unerreichbar fern, Tag für Tag.
Hongdae-ap ist ein Busking-Paradies und die Hauptbühne der Straßenkünstler ist der Spielplatz gegenüber dem Haupttor der Hongik University. Es ist ein Ort, an dem noch namenlose Musiker sich darin üben, mit dem Publikum zu kommunizieren. Ein Ort, an dem sie an einem heiteren Tag mit ihren Gitarren aufkreuzen, musizieren und die Sonne genießen. Die fröhlichen Klänge ziehen die Passanten quasi „an den Ohren herbei“. Sie erfreuen sich an den lebhaften Klängen der Vorstellung, die direkt vor ihrer Nase aufgeführt wird. Dieser nette Unterhaltungsservice der Straßenkünstler ist ein Ohrenschmaus.
16 KOREANA Winter 2014
Jeder streift zu einem anderen Zweck in Hong-dae-ap umher: Einige hoffen auf eine heiße Nacht im Club, andere möchten in Ruhe und Ge-mütlichkeit eine Tasse Kaffee genießen, wieder andere sind auf der Suche nach künstlerischer Inspiration. Wie unterscheiden sich ihre jeweili-gen Hongdae-ap-Wahrzeichen voneinander?
SPEZIAL 4 Ein Spaziergang durch Hongdae-ap, Seouls pulsierenden kulturellen Hotspot
Jung Ji-yeonRedakteurin von Street H Magazin
Fotos Cho Ji-young
Für Nachteulen, die singen, trinken und tanzen wollen Hongdae-ap ist ohne Übertreibung Seouls
Clubbing-Mekka. Die Clubs reihen sich auf
ein Viertel konzentriert dicht an dicht und
wenden sich im Gegensatz zu den Schicke-
ria-Clubs in den noblen Stadtvierteln Apgu-
jeong-dong oder Cheongdam-dong an eine
breitere Kundschaft. Man könnte sagen,
dass sie etwas jünger und cooler sind.
Die derzeitige Berühmtheit der Clubs in
Hongdae-ap ist nicht zuletzt dem 2001
gestarteten „Club Day“ zu verdanken. Am
Club Day, der am letzten Freitag jedes
Monats abgehalten wurde, hatte man mit
dem Kauf einer einzigen Eintrittskarte im
zuerst besuchten Club in bis zu 20 weitere
Clubs in ganz Hongdae-ap Einlass. Dieses
in seiner Art einzigartige Event war nicht
nur bei Koreanern, sondern auch bei den
ausländischen Mitbürgern gleichermaßen
beliebt. Es heißt, dass die Partystimmung
in den Straßen, die bei den Massenanfeu-
erungsaktionen während der Fußball-
weltmeisterschaft Korea Japan 2002 zu
beobachten waren, als Katalysator für die
Beliebtheit des Club Day diente. Allerdings
kam 2011 nach zehn Jahren das offizielle
Aus, als sich die größeren Clubs nicht länger
an das anfängliche Prinzip, die Gewinne aus
dem Club Day paritätisch aufzuteilen, halten
wollten.
Nichtsdestoweniger assoziiert man mit
Hongdae-ap immer noch sofort die Club-
straße mit ihren mehr als 20 Clubs. Dar-
unter sind nb2 und M2 besonders populär.
Als einer der ältesten und größten Clubs in
Hongdae-ap bietet nb2 für jeden Geschmack
etwas, von Hip-Hop Musik der 1990er Jahre
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 17
bis hin zu aktuellem elektronischem Hip-
Hop. An Wochenenden ist die Tanzfläche
mehr als überfüllt. Da dieser Club direkt
von dem koreanischen Unterhaltungsun-
ternehmen YG Entertainment betrieben
wird, finden hier öfters Showcase Partys
von Künstlern statt, die bei YG unter Vertrag
stehen. M2, der im Mai 2004 eröffnete, kann
nun schon fast auf ein Jahrzehnt Geschich-
te zurückblicken. Als Mega-Club, der durch
gemeinsame Investitionen mehrerer Elect-
ronica-Clubs gegründet wurde, verfügt M2
über drei Bars und eine gigantische Tanz-
fläche. Da auch öfters ausländische Musi-
ker oder DJs eingeladen werden, reißt der
Besucherstrom nie ab.
Clubbing ist aber nicht die einzige Option für
eine heiße Nacht in Hongdae-ap. Gopchang
Jeongol ist z.B. eine gute Alternative. „Gop-
chang Jeongol“ ist die Bezeichnung für ein
koreanisches Stew auf Basis von Innereien,
aber in diesem Fall handelt es sich nicht um
ein Restaurant, sondern um eine LP-Musik-
bar mit einer über 20-jährigen Geschich-
te. Sie verfügt über eine stattliche Samm-
lung von fast 5.000 Schlager-LPs von den
1950er bis in die 1980er Jahre. Besonders
häufig zu hören ist der psychedelische Rock
aus den 1970er Jahren, angefangen von
Shin Jung-hyun über Kim Choo-ja bis hin zu
berühmten Bands wie Sanullim und Song-
golmae. Gopchang Jeongol hat sich mittler-
weile einen solchen Namen gemacht, dass
ausländische Musiker wie MGMT, Beirut
oder Mogwai ihre Konzertreisen in Korea
unbedingt mit einem Abend in dieser Bar
beschließen.
Und dann gibt es noch das Noraebang Su,
wo man sich mit eigenen Augen und Ohren
1, 2. Unter den mehr als 20 Clubs in Hongdae-ap sind nb2 und M2 immer am vollsten.
3. Gopchang Jeongol ist eine LP-Musikbar. Sie ist so berühmt, dass für ausländische Musiker wie MGMT, Beirut und Mogwai ein Besuch fester Bestandteil zu Tournee-Ende ist.
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18 KOREANA Winter 2014
von der besonderen Sangesfreudigkeit der
Koreaner überzeugen kann. Dieses Mega-
Karaoke ist rund um die Uhr geöffnet und
einige der Karaoke-Räume haben decken-
hohe Fenster zur Straßenseite hin, sodass
man von draußen sehen kann, wie drinnen
gesungen und getanzt wird.
Für Liebhaber des gemütlichen Kaf-feegenusses Selbst für Seouler Verhältnisse ist Hongdae-
ap, wo viele Musiker, Künstler und Desig-
ner wohnen, ein Viertel mit einer besonders
hohen Konzentration an Cafés. Da Hongdae-
ap nicht nur die Gegend direkt vor der Hongik
University meint, sondern auch Viertel wie
Seogyo-dong, Sangsu-dong, Hapjeong-dong
und Yeonnam-dong umfasst, gibt es hier
nicht gerade wenige Caféstraßen. Natürlich
handelt es sich in der Mehrzahl um Kaffee-
ketten wie Starbucks oder Coffee Bean, aber
wer den Charme von Hongdae-ap richtig
entdecken möchte, der sollte in eins der pri-
vat betriebenen Cafés des Viertels gehen.
Hongdae-ap lässt sich - mit dem Haupttor
der Hongik University als Mittelpunkt - in
Westen und Osten teilen. Im westlichen Teil
liegt die berühmteste Caféstraße, und zwar
in der Nähe der Kleinbühne Sanwoollim
Theater. Im Erdgeschoss dieses Theaters,
in dem Warten auf Godot in Korea urauf-
geführt wurde, befindet sich das Café Suka-
ra, das erste Bio-Café in Hongdae-ap. Der
Name „Sukara“ leitet sich von der japani-
schen Aussprache des koreanischen Wortes
„Sutgarak“ (Löffel) ab. Wie der Name schon
verrät, wird das Café von Kim Su-hyang,
einer koreanischstämmigen Japanerin der
zweiten Generation, betrieben. Als sie die-
ses Café eröffnete, war sie sich dank ihrer
Erfahrungen in Japan und Korea bereits des
Wertes der umweltfreundlichen Landwirt-
schaft und des Fairen Handels hinreichend
bewusst. Verwendet werden hauptsächlich
von Konsumgenossenschaften oder Stadt-
bauern gelieferte Zutaten aus biologischem
Anbau. Hier werden auch häufig Verkostun-
gen von makrobiotischen Gerichten veran-
staltet. Geschäftsführerin Kim ist gleichzei-
tig Ko-Gründerin des Bio-Straßenmarktes
Marché @ (www.macheat.net), der haupt-
sächlich im Seouler Stadtviertel Hyehwa-
dong stattfindet.
In einer Seitenstraße des Theaters San-
woollim befindet sich auch das berühmte
Kaffeehaus The 1st Shop of Coffee Prince,
in dem die 2007 ausgestrahlte gleichna-
mige TV-Serie gedreht wurde. Dieses Café
war ursprünglich ein altes Wohnhaus mit
Garten, das seit dem Seriendreh als Café
betrieben wird. Hier hängen eingerahmte
Autogramme der Schauspieler an der Wand,
was das Café besonders für japanische und
chinesische Touristen als Kulisse für Reise-
Schnappschüsse beliebt macht.
Bewegen wir uns nach Osten. Geht man
vom U-Bahnhof Sangsu in Richtung Kraft-
werk Dangin-ri, kommt man am Café Yri
vorbei, das häufig für verschiedene Kul-
turveranstaltungen wie Autorenlesungen,
Treffen von Lesern und Autoren oder klei-
ne Konzerte genutzt wird. Betrieben von
einem Musiker, ist das Yri ein Künstler-Treff
für Schriftsteller, Dichter, Musiker, Kritiker
usw. Spätabends kann man hier auch schon
mal improvisierte Jam-Sessions erleben.
Fünf Gehminuten entfernt gibt es zwei wei-
tere interessante Cafés: Das Anthracite,
eine ehemalige Schuhfabrik und berühmt
für seine industrielle Atmosphäre und die
hohen Decken, war auch Drehort für den
Film Cyrano Agency. Das weiße Gebäude
gleich nebenan beherbergt das Café Mudae-
ruk, benannt nach einem legendären, unter-
1. Café Sukara, ein organisches Café, erfreut seine Gäste mit gesunden Gerichten aus sorgfältig ausgewählten Zutaten.
2. Das von einem Musiker betriebene Yri Café veranstaltet oft Kunst- und Kultur-Events und ist ein beliebter Treffpunkt für Künstler, Schriftsteller, Dichter, Musiker und Kritiker.
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© Sukara
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© Living & Art Creative Center
gegangenen Kontinent. Der dreistöckige
Bau wird vielfältig genutzt: Im Kellerge-
schoss werden an Wochenenden oft Kon-
zerte von Indie-Bands veranstaltet und im
Erdgeschoss gibt es ein Café und eine Bar,
wo Kultur-Events wie Messen für Indepen-
dent-Bücher stattfinden. Im zweiten Stock
befinden sich Büro-Räumlichkeiten, die sich
mehrere Künstler teilen, und auf der Dach-
terrasse haben alleinstehende Frauen aus
dem Viertel einen Gemüsegarten angelegt.
Für Kulturliebhaber auf der Suche nach künstlerischer Inspiration Hongdae-ap ist eins der größsten Verlags-
viertel in Seoul. Die Gegend bietet mit Buch-
verlagen, Zeitschriftenverlagen, Design-
Studios, Druckereien usw. eine solide Publi-
shing-Infrastruktur. Besonders bemerkens-
wert sind die alternativen Buchläden. In Your
Mind in der Nähe des Theaters Sanwoollim
sind verschiedene in- und ausländische
Magazine, Eigenpublikationen und Werke
von Künstlern erhältlich. Die beeindrucken-
de hohe Holzregalwand, die im Dachboden-
stil bis unter die Decke reicht, und die her-
umlaufenden Katzen, die die Kunden begrü-
ßen, verleihen dieser Buchhandlung ein
unverwechselbares Ambiente. Your Mind
veranstaltet auch jährlich den Markt Unlimi-
ted Edition, auf dem jeder eigene Publikati-
onen, Schreibwaren, Musikplatten u.ä. frei
verkaufen kann.
In der Nähe der Parkplatzstraße, dem Zen-
trum von Hongdae-ap, befindet sich eins
der repräsentativsten architektonischen
Wahrzeichen der Gegend: KT&G Sangsang
Madang. An Wochenenden sind vor diesem
markanten Gebäude immer viele Menschen
zu sehen, die auf ihre Verabredung warten.
Mit seiner kurvigen Fassade aus Sichtbe-
ton und Glas erinnert das Gebäude an einen
Schmetterling, der, eben aus dem Kokon
geschlüpft, seine Flügel ausbreitet. Dieser
symbolträchtige Mehrzweck-Kulturraum
beherbergt im Untergeschoss ein Kunst-
film-Kino und eine Konzerthalle für Indie-
Bands und im Erdgeschoss einen Design-
Shop, während im zweiten und dritten Stock
Galerieräume für Ausstellungen verschie-
dener Art untergebracht sind.
Wer Interesse an Vintage-Möbeln hat, der
ist im aA Design Museum an der richtigen
Adresse. Betrieben wird dieses „Muse-
umcafé“ von Kim Myung-han, der auf der
Suche nach Vintage-Möbeln und Beleuch-
tungen ganz Europa bereiste. Auf natürliche
Weise hier und da im Café arrangiert, finden
sich unter den Sammlerstücken Straßen-
laternen, die in den 1920er Jahren an den
Ufern der Themse standen, Leuchten von
Tom Dixon und Stühle von Charles and Ray
Eames.
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© K
T&G
Sangsang Madang
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 21
1, 2.KT&G Sangsang Madang ist ein Vielzweck-Kulturraum mit einem Kunstfilm-Kino, einer Konzerthalle für Indie-Bands, einem Design Shop und Galerien. Das originelle Design macht das Gebäude zu einem beliebten Treffpunkt.
2
So wie sich Soho von einem armen Boheme-Viertel in eine Gegend voller Kaufhäuser, Galerien und Restaurants verwandelte, und aus Brooklyn, einer einstigen Enklave für Künstler auf der Flucht vor den hohen Mieten in Manhattan, ein nobles Wohnviertel wurde, so befindet sich auch Hongdae-ap in einem Prozess der Transformation. Mit den hochschnellenden Mieten begannen die Besitzer kleiner Läden in die Randgebiete wie Sangsu-dong oder Hapjeong-dong umzuziehen. Derzeit liegt Yeonnam-dong im Trend. Yeonnam-dong im Osten des vornehmeren Wohnviertels Yeonhui-dong war früher hauptsächlich von Chinesen bewohnt, weshalb es auch „Little China“ genannt wurde. Dank der Nähe zu Hongdae-ap und der relativ niedrigen Mieten fanden viele Künstler und junge Startups ab 2010 hier ein neues Zuhause. Der beliebteste Hotspot ist derzeit die Marktgasse Dongjin. Hinter diesem traditionellen Markt, der seine eigentliche Funktion bereits verloren hatte, eröffneten Restaurants, die diese Gasse schnell zum Trendspot der Gegend machten. Nach der Eröffnung von Tuk Tuk Noodle Thai, Coffe Libré und des japanischen Curry-Restaurants Himeji begannen auch kleine Galerien, Kneipen und weitere Restaurants aufzumachen. Zudem hat eine Sozialgenossenschaft in diesem
Jahr einen langfristigen Mietvertrag für den alten Marktplatz abgeschlossen, sodass jetzt jede Woche ein Markt stattfindet, auf dem landwirtschaftliche Produkte aus dem Land direkt an die Konsumenten verkauft werden. Besondere Beachtung verdient auch das Geschäft Eojjeoda Gage (wörtl.: Durch Zufall entstandenes Geschäft), das im Frühjahr 2014 eröffnet wurde. Ein altes, freistehendes Haus wurde renoviert und so umgebaut, dass es neun Kleinläden als gemeinsam genutzte Geschäftsfläche dient. Als trendiger, industrieller Raum ist er für die Nachbarschaft ein Ort zum Kennenlernen und Treffen, gleichzeitig aber auch ein einzigartiges architektonisches Experiment. Unter einem Dach versammelt sind eine Malt-Whisky-Bar, eine Pie-Konditorei, ein Café & Lounge, ein Friseursalon und einige Studios von Kunsthandwerkern, die gemeinsam die Werte Sharing und Koexistenz teilen. In dieser einzigartigen Ladenwelt, die eine große Auswahl an Spezialitäten wie z.B. leckere Sandwiches, Bingsu (Süßspeise aus geschabtem Eis mit Garnierungen), Kaffee und Single-Malt-Whisky bietet, ist es gelungen, Diverses „zufällig“ unter einen Hut zu bringen. Gerade dieser glückliche Zufall zeigt uns die Freude des Teilens und gemeinsamer Aktivitäten, die mehr Spaß ins Leben bringen.
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amhansanseong C
ulture & Tourism
Initiatives, Gyeongi C
ultural Foundation
FOKUS
Die UNESCO–Welterbe-Festung Das Königreich Joseon (1392-1910) hatte so viele Festungen, dass es als „das Land der Festungen“ bezeichnet wurde. Es gab unterschiedliche Arten von Festungen wie Doseong, die Festung zur Verteidigung der Hauptstadt, Sanseong, Bergfestungen, die in Notfällen als Zufluchtsort dienten, und Eupseong, Festungsanlagen rund um Ortschaften in den einzelnen Regionen. Darunter weisen die Bergfestungen die meisten Spuren der Kriege in der koreanischen Geschichte auf. Hören wir, wel-che Geschichten sich um die Bergfestung Namhansanseong winden, die im Juni dieses Jahres in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenom-men wurde.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 23
Namhansanseong und ihre Geschichten
Lee Kwang-pyo Journalist, Tageszeitung The Dong-A Ilbo
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amhansanseong C
ulture & Tourism
Initiatives, Gyeongi C
ultural Foundation
24 KOREANA Winter 2014
Für die Koreaner ist Namhansanseong mit bitteren Erinnerun-
gen verbunden. Während der Mandschu-Invasion im 17. Jh
leistete der damalige Joseon-König Injo (reg. 1623-1649) hier
Widerstand, musste sich aber schließlich der chinesischen Qing-
Dynastie unterwerfen.
Im Dezember 1636 drangen die Mandschus mit ihren 130.000 Mann
starken Truppen in Joseon ein. Nach der Überquerung des Flus-
ses Yalu nahmen sie in nur fünf Tagen die Hauptstadt Hanyang (alter
Name von Seoul) ein. Sie waren einfach nicht zu stoppen. Kurz vor
der Hauptstadteroberung war der Kronprinz eiligst auf die Insel
Ganghwa-do geflüchtet. Danach war der Weg dorthin versperrt,
sodass der König und die Minister in der Bergfestung Namhansan-
seong Zuflucht suchten.
Kurz darauf belagerten die Mandschus die Festung. König, Minister
und 15.000 Soldaten kämpften 47 Tage lang gegen das Qing-Heer.
Aber Ende Januar 1637 verließ König Injo die Festung und unter-
warf sich in Samjeon-do (Fähranlegestelle in der Gegend des heuti-
gen Seouler Stadtviertels Jamsil) den Invasoren. Joseon wurde ein
Vasallenstaat des chinesischen Qing-Reiches. Diese Szene voller
Erniedrigung und Tragödie wird in der koreanischen Geschichte nie
vergessen werden.
Festung der Landesverteidigung, Festung von Ruhm und Schande
Die ursprüngliche Anlage von Namhansanseong geht auf die Zeit der
Drei Königreiche zurück. Nach der Vereinigung der drei Königreiche
und der Eroberung des Hangang-Flussbeckens baute Silla 672 in
diesem Gebiet eine Erdfestung, den Vorläufer von Namhansanseong.
Damals versuchte Silla in einer Kraftprobe die chinesische Tang-
Dynastie (618-907), seinen Verbündeten bei der Vereinigung der drei
Reiche, zu vertreiben. Die Bergfestung wurde errichtet, um die nörd-
lichen Gebiete vor den Tang-Angriffen zu schützen. Auch 1231 und
1232, während des Mongolen-Einfalls in der Goryeo-Zeit (918-1392),
spielte sie eine große Rolle.
Im 17. Jh in der Joseon-Zeit wurde die Erdfestung dann in eine Stein-
festung verwandelt. 1621 ließ König Gwanghaegun (reg. 1608-1623)
die Festung aus Stein bauen, um einer Invasion der vom Volk der
Jurchen gegründeten Späteren Jin-Dynastie (1616–1636) im Nor-
den vorzubeugen und die Hauptstadt zu verteidigen. Der Bau wurde
vorübergehend eingestellt, aber zur Zeit von König Injo 1624 wieder
aufgenommen und 1626 abgeschlossen. Seitdem positionierte sich
Namhansanseong mit seinem rund 8km langen Festungswall neben
der Hauptstadtfestung Bukhansanseong als militärische Bastion zur
Verteidigung von Hanyang.
1636, zehn Jahre nach ihrer Fertigstellung, griff die Qing-Dynastie
Joseon erneut an. König Injo, der nach Namhansanseong geflüchtet
war, öffnete nach einem erbitterten Gefecht selbst das Festungstor,
um sich dem Kaiser der Qing-Dynastie zu ergeben. Beachtenswert
Eine Kampfkunst-Vorführung vor dem Seojangdae, dem zweistöckigen westlichen Kommandoposten, der zwecks optimaler Truppenkontrolle und Beobachtung des Feindes an der höchsten Stelle der Festungsanlage angelegt wurde.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 25
ist dabei die Tatsache, dass die Bergfestung vor dieser Kapitulation
nicht erobert worden war. In dem Geographiebuch Taengniji (Führer
durch Korea) von Yi Jung-hwan (1690-1756), heißt es: „Das Innere von
Namhansanseong ist niedrig und flach, während das Äußere hoch
und steil ist. Als die Qing-Truppen zum ersten Mal an die Festung
heranrückten, konnten sie nicht einmal die Klingen ihrer Waffen zum
Einsatz bringen, geschweige denn die Festung einnehmen. Dass der
König trotzdem aus der Festung kam, lag am Lebensmittelmangel
und am Fall von Ganghwa.“ Paradoxerweise wurde die Uneinnehm-
barkeit der Bergfestung zu einer Schwäche. 1896, als sich ein Frei-
willigentrupp aus der Gyeonggi-Region gegen die japanischen Ein-
dringlinge erhob, spielte Namhansanseong wieder eine wichtige
Rolle und während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945)
nutzten die Bewohner der Gegend die Festung als Basis für ihren
Unabhängigkeitskampf wie die Bewegung vom 1. März.
An der Festung Namhansanseong, die mehr als 1.000 Jahre lang
Zeuge entscheidender Schlachten in der koreanischen Geschichte
war, lässt sich der Entwicklungsprozess von koreanischen Festungs-
wällen ablesen. Im 7. Jh zur Zeit des Vereinten Silla-Reiches (676-
935) als Erdfestung gebaut, wurde die Anlage danach je nach Zeital-
ter auf unterschiedliche Art und Weise verstärkt. Entsprechend sind
hier die verschiedenen Baumethoden von der Zeit der Drei Königrei-
che (57 v.Chr.-668 n.Chr.) bis hin zur Joseon-Zeit zu sehen.
Militärische Bergfestung mit Zügen von AlltagslebenUnter den Bergfestungen, die die Bergkämme entlang gebaut wur-
den, weist Namhansanseong geographische und topographische
Vorzüglichkeiten auf. In Yeojidoseo (1756), einer Sammlung von Kar-
ten und geographischen Beschreibungen, die von jedem Kreis in
Joseon kompiliert wurde, ist folgende Beschreibung zu lesen: „Nam-
hansanseong ist in der Mitte flach und außen steil. Das imposante
Erscheinungsbild erinnert an eine Bergspitze, die einen Hut trägt.“
Die fast 8km lange Festungsmauer erstreckt sich 500m über dem
Meeresspiegel über das zerklüftete natürliche Terrain, was Angriffe
von außen erschwerte. Die geographische Lage an sich bot Vorteile
als militärischer Stützpunkt.
Die Spuren von verschiedenen militärischen Anlagen innerhalb
der Festung geben Aufschluss über Waffen und Kriegsführung der
Zeit. Namhansanseong ist eine Festung mit elaboriert angelegten
Angriffs- und Verteidigungsanlagen. Sie besteht aus einem inneren
Hauptwall und drei Außenmauern. Es wurden auch Vorwälle (Ong-
seong), Bastionen (Poru), Festungstore, Geheimtüren (Ammun), Nie-
derwälle, die dem Schutz der Verteidiger dienten (Yeojang), eine Art
Wehrposten (Dondae) etc. angelegt.
Ein Onseong-Vorwall ist ein Mauerwerk, das als zusätzlicher Schutz
vor das Festungstor gebaut wurde. Eindringlinge mussten zuerst die
Vormauer einnehmen, um ans Tor zu gelangen. Da diese Mauer nach
außen vorsprang, konnten die Verteidiger auf der Mauer den Feind
Namhansanseong, 2014 in die UNESCO Welterbeliste aufgenommen, ist nicht nur ein bedeutendes historisches Erbe, sondern auch ein Erholungsraum für die Bewohner der Hauptstadtregion. Vor kurzem wurden fünf Wanderrouten fertiggestellt, die es den Besuchern erlauben, sich der reizvollen Landschaft bei einer Wanderung entlang der Festungsmauer zu erfreuen.
26 KOREANA Winter 2014
aus verschiedenen Richtungen abwehren. Der Onseong hatte einen
hohen Verteidigungseffekt.
Unter den Anlagen der Festung ist heutzutage der zweistöckige,
pavillonartige Westliche Kommandoposten Seo-Jangdae am impo-
santesten und prächtigsten. Jangdae ist ein Beobachtungsposten
für Heerführer an einem Ort, von wo aus man einen Überblick über
die gesamte Umgebung hat. In den meisten Fällen wurde er an der
höchsten Stelle innerhalb der Festung errichtet, was Befehlsertei-
lung und Überwachung erleichterte. Erstreckte sich die Festung
über ein weites Areal, sodass das Kommandieren erschwert war,
wurden mehrere Jangdae eingerichtet. In Namhansanseong gab es
ursprünglich fünf Jangdae (zwei im Osten, die anderen im Westen,
Süden und Norden), von denen leider nur noch der im Westen erhal-
ten ist.
Zwischen den vier Haupttoren, die in die vier Himmelsrichtungen
hinausgingen, waren Ammun, Geheimtüren, eingelassen. Sie befan-
den sich an von außen nur schwer sichtbaren Stellen. Es waren klei-
ne Durchgänge ohne Wehrgang, durch die in Notsituationen wie
Belagerungen Proviant- und Waffennachschub geliefert wurde und
Militärboten oder Verstärkungstruppen unbemerkt ein- und ausge-
hen konnten. Mit insgesamt 16 Ammun besitzt Namhansanseong im
Vergleich zu anderen Festungen in Korea eine besonders hohe Zahl
an Geheimtüren.
Aufgrund der schmerzhaften Erfahrungen bei der Invasion des Qing-
Reichs erweiterte man die Bergfestung Namhansanseong zu einer
Dorffestung. Die Regierung führte Ansiedelungsmaßnahmen durch,
mit denen Namhansanseong über die reine Wehrfunktion hinaus
zu einer Dorffestung wurde, in der die Bewohner ein normales All-
tagsleben führen konnten. Innerhalb der Festung waren zivile und
militärische Einrichtungen auf natürliche Weise gemischt. An 125
Stellen waren Posten eingerichtet, an denen Soldaten Wache stan-
den, und dazwischen finden sich Spuren von Salz- und Kohlegruben.
Das weist darauf hin, dass für den Notfall überall Lagerräume für
Lebensmittel und militärische Vorräte geschaffen wurden.
Provisorische Hauptstadt mit einem SonderpalastIn Namhansanseong wurde ein Haenggung errichtet, ein Sonderpa-
last zur Unterbringung des Königs außerhalb des Hauptpalastes in
der Hauptstadt. Wenn sich der König wegen Invasionen oder politi-
schen Unruhen in Sicherheit bringen musste, fungierte er als eine
Art provisorische Hauptstadt. Die Existenz des Sonderpalastes in
Namhansanseong bedeutet, dass die Bergfestung schon beim Ent-
wurf nicht nur für die Verteidigung konzipiert wurde, sondern auch
zur Nutzung als provisorische Hauptstadt. Unter den rund zehn
Sonderpalästen im ganzen Land ist der Palast in Namhansanseong
der einzige, der mit den beiden wesentlichsten Elementen einer
Hauptstadt der Joseon-Zeit ausgestattet ist, i.e. mit dem königlichen
Ahnenschrein des Joseon-Reiches auf der linken Seite und mit dem
Die Wanderroute, die zum schneebedeckten Tor Jwaik führt, ist besonders beliebt. Das Jwaik ist das Osttor von Namhansanseong und seit dem 17. Jh in seiner usprünglichen Gestalt erhalten.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 27
Altar für die Götter der Erde und des Getreides auf der rechten Seite.
Auch beherbergte es Schlafgemach, Privatgemächer und Arbeits-
zimmer des Königs, sodass er im Notfall als Regierungshauptstadt
dienen konnte.
Eine weitere Besonderheit als provisorische Hauptstadt ist das
Nebeneinander von Spuren eines normalen Alltagslebens und denen
von militärischen Anlagen. Beispiele dafür sind der Schrein Hyeon-
jeol-sa, der zum Gedenken an die Loyalität von drei gelehrten Hof-
beamten errichtet wurde, die der Qing-Dynastie die Gefolgschaft
verweigerten und dafür hingerichtet wurden, oder Sungyeoljeon, der
Schrein zu Ehren von König Onjo (18 v. Chr.-28 n. Chr.), Gründer des
Baekje-Reichs, und der Zuständigen für den Festungsbau. Zu nen-
nen ist auch Cheongnyangdang, ein Schrein zu Ehren all derer, die
im Zuge des Festungsbaus ihr Leben lassen mussten und für deren
Seelen ein schamanistisches Gut-Trostritual abgehalten wird. Vor
Cheongnyangdang steht ein 350 Jahre alter Wacholderbaum, unter
dem die Bewohner zu den Göttern beteten. Erhalten ist auch noch
der Pavillon, in dem sich die adligen Yangban erholten und ihren Stu-
dien nachgingen, sowie Spuren des Marktes, der vor dem Pavillon
Yeonmugwan stattfand, wo die Soldaten ihre militärischen Übungen
machten.
Spuren der Geschichte für heuteDie entlang der Festungsmauer angelegten Rundwege, von denen
aus man einen Ausblick auf die wunderschöne Berglandschaft hat
und den Reiz der vier Jahreszeiten genießen kann, sind als Wan-
der- und Touristenrouten berühmt. Aber das, was die Herzen der
Besucher berührt, ist nicht nur das sichtbare materielle Kulturerbe,
sondern auch die darin verborgene, von Ruhm und Schande gepräg-
te Geschichte. Ironischerweise hat diese tragische Geschichte viele
Künstler inspiriert. Der Nationaldichter Yi Yuk-sa (1904-1944) ver-
fasste während der japanischen Kolonialherrschaft das Gedicht
Namhansanseong, in dem er seinen Traum von der Unabhängig-
keit des Landes thematisierte. Der zeitgenössische Schriftsteller
Kim Hoon (geb. 1948) ließ in seinem Roman Namhansanseong Cha-
rakterere wiederauferstehen, die von der Geschichte der Schande
und dem dramatischen Wandel von politischen Konstellationen und
Gesellschaft mitgerissen wurden.
Namhansanseong ist ein Ort, an dem man die Vergangenheit über-
winden, verstehen lernen und nach vorne schauen kann. Es ist gera-
de der Ort, wo wir aus der Schande, dass der König vor den Invaso-
ren einen Kotau machte, lernen, wie unbarmherzig die Geschichte ist
und uns angesichts des Todes der drei Gelehrten bewusst machen,
was Ehre und Rechtschaffenheit bedeuten, ein Ort, an dem der Atem
des Menschen zu spüren ist. Die Aufnahme von Namhansanseong in
die Liste des UNESCO-Welterbes wird eine weitere wertvolle Gele-
genheit bieten, über das materiell Sichtbare hinaus die immateriellen
Dimensionen der Festung zu erleben.
Zwischen den in die vier Himmelsrichtungen gehenden Haupttoren befinden sich die Geheimtore Ammun, durch die Vorräte wie Lebensmittel, und Waffen hinein- und hinausgeschmuggelt wurden.
28 KOREANA Winter 2014
KUNSTKRITIK
Good Morning, Mr. Orwellvon 1984 bis 2014
Lim SanProfessor, Department of Curatorial Studies and Art Management, Dongduk Women’s University
Je bequemer die Gesellschaft im Zuge der Industrialisierung wird, desto mehr gewöhnen wir uns an die Klischees der uniformen Realität. Diese Klischees, mit denen TV-Nachrichten, Zeitungen oder kommerzielle Filme übervoll sind, treten mal in Form prächtiger Bilder, mal in Form leicht-bekömmlicher Worte an uns heran. Sie besitzen eine negative Magie, die uns die entmenschlichende Realität vergessen oder den Widerspruch als reine Illusion empfinden lässt. Haben uns aber nicht schon die großen Intellektuellen, derer sich die Menschheit rühmt, wie Franz Kafka, James Joyce und Charlie Chaplin die Erhabenheit der Kunst demonstriert, mit der wir diese Art von Bedrohung bekämpfen können? Will man an dieser Stelle einen weiteren Künstler erwähnen, dann wäre das Nam June Paik.
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© N
am June P
aik Cultural Foundation
1. Bildschirmfoto aus Nam June Paiks Good Morning, Mr. Orwell (1984)
2. Good Morning, Mr. Orwell (1984) wurde in voller Länge auf der Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014 gezeigt, die versuchte, Paiks Botschaft für die heutige Zeit neu zu entdecken.
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© N
am June P
aik Cultural Foundation
30 KOREANA Winter 2014
N am June Paik (1932-2006) erzählte als Lite-
rat, Ingenieur und Prophet von Zeitaltern und
Kunst. Er überschritt nicht nur freigeistig die
traditionellen Grenzen von Musik und Kunst, sondern
präsentierte auch durch „Text“ als Medium in vielfälti-
ger Weise das Spektrum seiner kreativen Seele, das in
seinen visuellen Images und Tönen enthalten ist. Irmeli-
ne Lebeer, die unter dem Titel Paik: Du Cheval à Christo
et autres écrits (1993) eine Sammlung der von Paik über
einen Zeitraum von 35 Jahren verfassten Artikel, Briefe,
Partituren und Szenarien herausgab, sagte, dass Paiks
Schriften von seinem endlosen Verlangen nach weitem
Raum und Freiheit durchtränkt sind und er nicht länger
in die Grenzen einer Sprache eingesperrt werden könne.
Damit drückte sie ihre Bewunderung über Paiks kraft-
volle Prosa aus. Als Pionier verschiedener Genres wie
Performance-Musik, Videoskulptur und Medien-Per-
formance wandte Paik außerdem die technische Logik
der damaligen elektronischen Technologie auf die Kunst
an. Seine Fähigkeit, naturwissenschaftlich-technische
Kenntnisse anzuwenden, wurde in Kombination mit sei-
nem literarischen Talent zum inspirativen Antriebsmo-
tor für eine Kunst, die die auf der gegenwärtigen Rea-
lität beruhende Vorstellungskraft überschritt, um die
Zukunft vorauszusagen.
Wechselbeziehung und WechselwirkungNam June Paiks kreativ-experimentaler Geist nahm
während seines Aufenthalts in Deutschland konkre-
te Gestalt an. 1932 in der südkoreanischen Hauptstadt
Seoul geboren, floh Paik nach dem Ausbruch des Korea-
kriegs 1950 nach Japan, wo er sein Studium der Musik-
und Kunstwissenschaften an der Universität Tokio mit
einer Arbeit über die Musikästhetik des österreichischen
Komponisten Arnold Schönberg (1874-1951) abschloss.
Darauf folgte seine „Deutschland-Phase“, während der
er von 1956 bis 1963 viel Neues lernte und unermüdlich
umsetzte. Zu dieser Zeit propagierten viele, von Schön-
berg beeinflusste junge Musiker mit verschiedenen
Arten von Konzertdarbietungen und Bildungsprogram-
men die „Neue Musik“, während Avantgardekünstler
mit der Interaktion von Musik und Malerei, Körper und
Klang sowie Mensch und Maschine experimentierten.
Vor dem Hintergrund dieses progressiven künstleri-
schen Umfelds beleuchtete Paik 1963 auf seiner ersten
Ausstellung in der ihm eigenen, originären Sprache die
versteckten Beziehungen zwischen Medien und Gesell-
schaft. Dafür wandte er Kommunikationsmethoden und
elektronische Eigenschaften des Fernsehens an, woraus
sich später dann die Grundlagen für eine herausfordern-
de Medienkunst entwickelten.
Paiks künstlerischer Geist wird im Nam June Paik Art
Center in Yongin, Provinz Gyeonggi-do in verschiede-
ner Form wiederbelebt. Ein Beispiel dafür ist die jüngste
Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014. In Erinne-
rung an die TV-Show Good Morning, Mr. Orwell, mit der
sich Paik am 1. Januar 1984 versuchte, zielte man dar-
auf ab, die damalige Botschaft des Künstlers für unser
heutiges Zeitalter neu zu entdecken. Entsprechend zog
das Exponat Good Morning, Mr. Orwell, das die vor drei-
ßig Jahren ausgestrahlten Fernsehbilder der Show prä-
sentierte, die größte Aufmerksamkeit der Besucher auf
sich. 1984 wurde die Show live per Satellit in Seoul, New
York, Paris und Berlin ausgestrahlt, sodass Zuschau-
er in aller Welt ein Kunsterlebnis miteinander teilen
konnten. Rund hundert Künstler, darunter die New Yor-
ker Avantgardisten John Cage und Merce Cunningham,
Popularmusiker wie Yves Montand und die Band Oingo
Boingo nahmen mit diversen Performances an die-
sem Projekt teil. Diese knapp einstündige Performance
gewährte dem Publikum einen Blick in eine Zukunft, in
der die Medien „kommunizieren“ statt zu „kontrollieren“.
Das Motiv war direkt aus George Orwells dystopischen,
1949 veröffentlichten Roman 1984 entlehnt. Orwell
zeichnet darin die Zukunft einer totalitären Gesellschaft,
die Medien wie Teleschirme und Mikrofone zu Überwa-
chung und Diktatur nutzt und durch die Amtssprache
Neusprech die Freiheit der Menschen einschränkt. Im
Mittelpunkt des Totalitarismus steht der Große Bruder.
Paik betrachtete Orwells Prophezeiung als „nur halb
richtig“ und demonstrierte der ganzen Welt das künst-
lerische Potential von Medien und Sprache, das Orwell
nicht erkannt hatte.
Die Zukunft der kommunizierenden MedienDie monumentale Bedeutung von Good Morning, Mr.
Orwell wurde von anderen Künstlern derselben Periode,
die an der Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014
teilnahmen, neu beleuchtet. Sie stellten Betrachtun-
gen über das technologische Potential der Medien sowie
deren gesellschaftlichen und politischen Einfluss an,
enthüllten den „Großen Bruder“ und widersetzten sich
ihm, der ein der heutigen Zeit entsprechendes Gesicht
trägt. So Much I Want to Say, die 1-Kanal Videoinstal-
lation der palästinensisch-britischen Künstlerin Mona
Hatoum, dokumentierte z.B. die Stimme einer Frau, die
1, 2.Good Morning, Mr. Orwell (1984) war eine internationale satellitengestützte Performance, die am 1. Januar 1984 ausgestrahlt wurde. Bei dem Event wurden WNET TV in New York und das Centre Pompidou in Paris via Satellit verbunden und an Sender in Südkorea und Deutschland angeschlossen. Die Show zeigte verschiedene Performances von über 100 Künstlern aus aller Welt.
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32 KOREANA Winter 2014
1. Pointing at Fukuichi Live Camera, (Mit dem Finger in die Live-Kamera zeigender Arbeiter in Fukushima, Japan), 2011, 1-Kanal Video, Farbe, Ton, 24 Min. 50 Sek.
2. Counter-Music, (Harun Farocki, Deutschland), 2004, 2-Kanal Video, Farbe, Ton, 25 Min.
3. PR, (Liz Magic Laser, USA), 2013, 5-Kanal-Videoinstallation, 17 Min.
4. So Much I Want to Say, (Mona Hatoum, Lebanon), 1983, 1-Kanal Video, schwarzweiß, Ton, 5 Min.
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2 3
4
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 33
sich von der Unterdrückung zu befreien versucht. Die für
dieses mit nur etwa fünf Minuten relativ kurze Werk ver-
wendete Slow-Scan-Technik, bei der mit Ton unterlegte
Momentaufnahmen übertragen werden, mag zwar sim-
pel erscheinen, bringt jedoch das Thema kompakt zum
Ausdruck. Das Werk nutzte auch die Methode der Satel-
litenübertragung. So wie Paik das Medium „Satellit“,
das sich während des Kalten Krieges unter der strengen
Kontrolle und Überwachung der Regierungen befand,
in ein mysteriöses Instrument des Experimentierens
verwandelte, um herauszufinden, ob der Dialog mittels
Kunst Ort und Zeit transzendieren kann, ist Hatoums
Werk ein Ruf nach künstlerischem Entkommen aus dem
eisernen Griff der Medien über die Gesellschaft.
Auf der Ausstellung vertreten waren auch Künstler, die
Überwachung und Zensur, vor denen Orwell gewarnt
hatte, kritisch thematisierten. Die US-amerikanische
Künstlerin Jill Magid setzte sich in Liverpool absichtlich
den Augen von Überwachungskameras aus und produ-
zierte ein Video aus den „offiziellen“ Überwachungsma-
terialien ihrer Person. Der thailändische Videokünst-
ler und Drehbuchautor Sompot Chidgasornpongse hat
Filmszenen, die der Zensur der thailändischen Regie-
rung zum Opfer gefallen waren, zu einem Film zusam-
mengestellt. Ebenfalls zu sehen war das Werk Stereo-
scope (1999) des südafrikanischen Künstlers William
Kentridge. Mit seinen einzigartigen stereoskopischen
Zeichnungen bringt Kentridge in seinem Animationsvi-
deo die mechanische Struktur der Kommunikationsme-
dien, die damals das Leben der Massen zu durchdrin-
gen begannen, zum Ausdruck und beschreibt die daraus
resultierenden emotionalen Defizite und Begierden.
Paiks 1984 machte aus der eingleisigen Übertragungs-
weise des Fernsehens einen Zwei-Wege-Kanal, entzog
ihm damit seine hierarchische Macht und schlug ein
alternatives TV-Sendemodell vor. Das Tele-communi-
cation Café und das Web Art Café präsentierten auf der
Ausstellung 2014 in diesem Sinne Videoarbeiten von
Künstlern wie Douglas Davis und dem niederländischen
Künstlerkollektiv JODI, Pionieren der Erforschung der
interaktiven Besonderheiten von Medien. Gegenstand
der Experimente war dabei das Ausloten des Interak-
tionspotentials der kommunizierenden Kunst in einer
vernetzten Gesellschaft. Solche künstlerischen Heraus-
forderungen unterstreichen die Rolle des Künstlers, der,
wie Paik in seinem Essay Art & Satellite (1984) erwähnt,
in seiner Epoche „nicht nur neue Relationen zwischen
verschiedenen Gedanken entdecken, sondern ein Netz-
werk zwischen ihnen aufbauen“ sollte.
Die Kraft der Kunst, die Realität zu überwindenDie Exponate von Good Morning, Mr. Orwell 2014 wider-
legen die brutale Herzlosigkeit, auf die der Mensch in
einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesell-
schaft nolens volens stößt. Sie fordern zudem statt eines
Herumlavierens um diese Herzlosigkeit ein dynami-
sches, anspruchsvolles Bewusstsein und lassen uns
nachdenken über das Potential und die Verantwortung
der künstlerischen Freiheit, die Paik vor dreißig Jahren
durch Live-Satellitenübertragungen an alle Weltbürger
vermittelte. In diesem Sinne erinnert uns diese Ausstel-
lung daran, warum die Kunst Nam June Paiks auch in
unserer Zeit immer noch Gültigkeit besitzt und notwen-
dig ist. Der „Mensch“ mag, wie Orwell befürchtete, auf-
grund der Verbreitung der Medien und der von oben ver-
breiteten klischeehaften Informationen verloren gegan-
gen sein. Aber wenn wir zu definieren versuchten, was
wieder zurückgewonnen werden sollte, dann wäre das
nicht einfach die holistische Form des verloren gegange-
nen Menschen. Viel dringender nötig sind Bemühungen,
die „menschlichen“ Beziehungen, die sich angesichts
der Veränderungen von Medien und Sprachen heraus-
bilden, reifer zu gestalten. Vor diesem Hintergrund ist
der künstlerische Geist von Nam June Paik für die Men-
schen des modernen Zeitalters weiterhin eine Quelle
der Kraft zur Überwindung der Realität und lebt daher
immer noch in unserer Mitte weiter.
Die Exponate der Ausstellung Good Morning, Mr. Orwell 2014 widerlegen die brutale Herzlosigkeit, auf die der Mensch in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft nolens volens stößt. Sie fordern zudem statt eines Herumlavierens um diese Herzlosigkeit ein dynamisches, anspruchsvolles Bewusstsein und lassen uns nachdenken über das Potential und die Verantwortung der künstlerischen Freiheit, die Paik vor dreißig Jahren durch Live-Satellitenübertragungen an alle Weltbürger vermittelte. In diesem Sinne erinnert uns diese Ausstellung daran, warum die Kunst Nam June Paiks auch in unserer Zeit immer noch Gültigkeit besitzt und notwendig ist.
34 KOREANA Winter 2014
Noh Sun-tag ist ein Fotograf, der die Teilung der koreanischen
Halbinsel stets kritisch unter die Lupe genommen hat. Er
begann seine Karriere als Fotojournalist und veröffentlichte
seine Arbeiten in Form von Ausstellungen bzw. Fotobänden, darun-
ter Smells like the Division of the Korean Peninsula (2004-2005), Red
House (2007) und State of Emergency (2008), sowie der Fotoserie
the strAnge ball (2006). Das Thema, das sich durch all seine Werke
zieht, ist die Frage, wie die Ideologie der Teilung in der koreanischen
Gesellschaft funktioniert. Daher können seine Arbeiten nicht vom
politischen und gesellschaftlichen Kontext getrennt werden. Nach
über 60 Jahren der Teilung haben wir uns zwar an die Teilung und die
daraus resultierenden Spannungen und Probleme gewöhnt, doch
beeinflusst diese Realität immer noch viele Bereiche unseres All-
tags. Als Gewinner des Korea Artist Prize 2014 hielt Noh am 26. Sep-
tember im MMCA Gwacheon eine Gesprächsrunde mit dem Publi-
kum. Im Anschluss daran erfolgte das Interview.
Song Su-jong: Bitte stellen Sie Ihre Arbeit etwas vor.
Noh Sun-tag: Ich erforsche, wie der Koreakrieg in unserer Realität
weiterlebt. Wir haben den Krieg und die Teilung des Landes als fixes
Kapitel der Geschichte einverleibt und sie hin und wieder zu unse-
rem eigenen Nutzen interpretiert. Ein Beispiel dafür ist die politische
Macht, die sich der Teilung des Landes bedient. Ich möchte durch
meine Arbeit aus den Rissen in dieser Macht den Wahnsinn und das
Schweigen, die dadurch bewirkten Vorteile und die Schäden sowie
das schallende Gelächter und das zynische Grinsen ausgraben und
so eingreifen, um die aktuelle Polizität zum Ausdruck zu bringen.
Das alles ist aber gar nicht so einfach.
Song: Der größte Teil Ihrer preisgekrönten Ausstellung zeigt nicht
den Schauplatz eines Ereignisses an sich, sondern die Fotografen,
die ihn verewigt haben. Was ist der Grund für Ihr beständiges Inter-
esse an dieser Dokumentation?
Noh: Meine Ausstellung Sneaky Snakes in Scenes of Incompe-
tence beruht auf unzähligen Szenen gesellschaftlicher Konflikte und
Zusammenstöße, die in den letzten etwa zehn Jahren die Stimmung
in der koreanischen Gesellschaft aufgeheizt haben. Sie umfassen die
Gegenwart unserer Gesellschaft: von den Demonstrationen gegen
die Erweiterung eines US-Militärstützpunktes in Daechu-ri sowie
den Bau eines nationalen Marinestützpunktes in Gangjeong auf der
Insel Jeju-do über die Menschenleben fordernde Brandkastastro-
phe in Yongsan während der Streiks gegen das Sanierungsprojekt
der Stadt Seoul, die Massenentlassungen bei Ssangyong Motors,
die durchgepaukte Einrichtung von Atomstromleitungen in Miryang,
die mutmaßliche Versenkung der Korvette Cheonan durch Nordko-
rea und Nordkoreas Artillerieangriff auf die südkoreanische Insel
Yeonpyeong-do bis hin zu dem tragischen Unglück der Fähre Sewol.
Es sind grauenhafte Szenen. Ich meine jedoch, dass sie nicht durch
Grausamkeit, sondern durch Inkompetenz verursacht wurden. Wer
sind diese Menschen, die mit ihren Kameras durch diese „Szenen
INTERVIEW
Noh Sun-tagDurch Fotos Fragen stellen und Antworten an der Grenzlinie findenDer Fotokünstler Noh Sun-tag (geb. 1971) wurde für seine Fotoausstellung Sneaky Snakes in Scenes of Incom-petence (2014) mit dem Korea Artist Prize, der jährlich vom Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MMCA) und der SBS Foundation zur Förderung der koreanischen Kunst verliehen wird, ausgezeichnet. Noh, der damit offiziell als kompetenter Künstler sowie Repräsentant der modernen koreanischen Kunst aner-kannt wurde, versucht nicht, die Probleme der koreanischen Gesellschaft einfach als ideologische Konfrontation zu interpretieren. Er weckt vielmehr dadurch Empathie, dass er sich ihnen als universale Probleme des Men-schen nähert und sie mit seinem Sinn für Ästhetik visualisiert.
Song Su-jong Unabhängige Ausstellerin
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 35
Noh Sun-tag will durch seine Fotos, in denen er Szenen von gesellschaftlichen Konflikten und Zusammenstößen über Streitfragen festgehalten hat, bedeutungsreiche Botschaften vermitteln. (Sneaky Snakes in Scenes of Incompetence - XIII050101P, 2013)
36 KOREANA Winter 2014
1
der Inkompetenz“ ihr jeweiliges Ziel verfolgen? Wie funktioniert Foto-
grafie? Sind Fotos, die als transparent, objektiv und unparteiisch gel-
ten, wirklich zuverlässig? Selbst wenn die Fotografie „kompetent“
ist, bedeutet diese Kompetenz dann das Gegenteil von „Inkompe-
tenz“? Das vor 175 Jahren erfundene, relativ „neue“ Medium Foto-
grafie, das über diese „inkompetenten Szenen“ wie eine Schlange
schlittert, ist das Thema dieser Ausstellung.
Song: In den Fotos trägt jeder eine Kamera. Welche Bedeutung hat
die Fotografie für Sie? Und was bedeutet Fotografie in unserem
Zeitalter?
Noh: Die Menschen, die vor Ort mit der Kamera dabei sind, fotogra-
fieren die Ereignisse aus ihrem eigenen Blickwinkel. Ich habe stets
über die unzähligen Möglichkeiten nachgedacht, Fotos zu produ-
zieren, die zwar ähnlich sein mögen, aber niemals gleich. Die Fotos
sind auch nicht unbedingt schön oder großartig. Auch wenn das Foto
großartig ist, hat der Produktionsprozess nichts Großartiges an sich.
Ich wollte den ganzen Produktionsprozess beleuchten, insbesonde-
re, wie die Szenen gesellschaftlicher Konflikte vor Ort in Form von
Bildern Gestalt annehmen. Vor Ort sind alle Fotografen mit ähnlichen
Kameras ausgerüstet und nehmen ähnliche oder ungewöhnliche
Posen ein, um ihre Bilder zu schießen. Aber auch wenn die Fotos ein
und dieselbe Szene einfangen, steckt die Botschaft nicht in den Bil-
dern an sich, sondern ist abhängig vom jeweiligen Kontext. Die Foto-
grafie ist ein vages Medium. Es ist weder genau, objektiv, transpa-
rent noch unvoreingenommen. Auch dieselben Fotos werden je nach
Kontext völlig anders interpretiert.
Song: Sie sind der erste Fotograf, der vom MMCA mit dem Korea
Artist Prize ausgezeichnet wurde. Dass dieser symbolhaltige Preis
für beachtenswerte Künstler der Moderne an einen Fotografen
ging, ist von tiefer Bedeutung.
Noh: Besonders dankbar bin ich, dass von den Personen auf meinen
Fotos Glückwünsche kamen. Da meine Fotos meist bei Demos oder
an Schauplätzen von Ereignissen mit Negativschlagzeilen aufge-
nommen wurden, ist es nicht gerade erfreulich, als Protagonist fest-
gehalten worden zu sein. Dass das eigene Konterfei dann auch noch
an den schönen Wänden eines Kunstmuseums präsentiert wird,
dürfte auch nur bedingt erfreulich sein. Worte der Gratulation und
Ermutigung kamen von vielen, die Glückwünsche meiner unfreiwilli-
gen Hauptdarsteller haben mich aber besonders gefreut, erfüllen sie
mich doch mit Bedauern und Dankbarkeit.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 37
1. In seiner Doku-Serie fängt Noh seine Fotografen-Kollegen auf der Jagd nach schlagzeilenkräftigen Fotos ein und erfasst so den Schauplatz der Konfrontation aus seiner eigenen Perspektive und Bildsuche. (Sneaky Snakes in Scenes of Incompetence - XIII050101P, 2013)
2. Einwohner von Daechu-ri, Pyeongtaek, Provinz Gyeonggi-do geraten beim Protest gegen die Erweiterung eines amerikanischen Militärstützpunkts mit der Einsatzpolizei aneinander. (the strAnge ball - 29, 2005)
2
Song: Sie haben als Fotojournalist begonnen und suchen auch
heute noch aktuelle Schauplätze auf und bleiben zum Fotografie-
ren. Interessant ist, dass Sie auch selbst Berichte schreiben und
bei Ihren Ausstellungen viel mit Text arbeiten. Daher sind viele
neugierig auf Ihre Identität.
Noh: Tatsächlich verdanke ich bei meiner Arbeit viel den aktuellen
Schauplätzen. Die Leute auf meinen Fotos wie die Demonstranten
in Maehyang-ri, Daechu-ri und Gangjeong oder die bei den Massen-
entlassungen von Ssangyong rufen in manchen Momenten nach
Hilfe. Wenn der Ernst der Lage es verlangt, schreibe ich auch schon
mal Berichte online. Wenn nötig, unterstütze ich sie mit Fotos für
ihre Aktionen oder nehme selbst daran teil. In diesem Sinne bin ich
immer noch Journalist und auch Aktivist. Ich möchte auch nicht län-
ger leugnen, dass ich das alles bin. Aber ich fühle die Notwendig-
keit, darüber nachzudenken, woher diese Realität, deren Zeuge ich
bin, rührt. Es gibt einiges, das nie in Form eines Berichts aufgezeigt
werden kann. Nicht die Gesamtumstände eines Vorfalls interessie-
ren mich, sondern die grundlegende Frage, warum es so kommen
musste, wie es gekommen ist. Die verborgene Innenseite lässt sich
nicht durch eine rein erklärende Methode zutage fördern. Ausstel-
lungen sind für Künstler wie mich eine Methode, Antworten auf diese
Fragen zu finden.
Song: Ihre Fotos halten einen ziemlichen Abstand von den Dingen,
statt klare Statements zu geben. Gab es irgendwann einen Wende-
punkt, eine Motivation, die Sie zu Ihrer eigenen Stimme und Ihrem
eigenen Stil gebracht haben?
Noh: Das war, als der Konflikt wegen der Erweiterung des US-Mili-
tärstützpunktes in Daechu-ri eskalierte. Priester Moon Jung-hyun,
mit dem ich gut befreundet bin, hatte mich gebeten, ein Wochenend-
Fotostudio im Dorf einzurichten. Später habe ich dort auch kurz
gewohnt. Irgendwann habe ich einen riesigen weißen Ball bemerkt,
der von überall im Dorf zu sehen war. Auch von den älteren Dorfbe-
wohnern wusste keiner, was das war. Einer sagte, es sei ein Was-
sertank. Während ich relevante Materialien im Internet postete
und Informationen sammelte, fand ich heraus, dass es sich um ein
Aufklärungs-Radom des US-Militärs handelte. Dieses Ding, das
Aufklärungs- und Kriegsgerät in einem war, ähnelte einem Voll-
mond, einem Golfball oder tatsächlich auch einem Wassertank. Sein
Anblick erinnerte mich an uns, die wir unter Überwachung und Kon-
trolle der Mächte leben, als sei gar nichts dabei. Das Ganze kam mir
etwas absurd und lächerlich vor. Ich habe den Ball aus möglichst
38 KOREANA Winter 2014
1
2 1. Ein kleiner Ausschnitt der Menschenmassen, die die Straßen Seouls füllten, um dem früheren Präsidenten Roh Moo-hyun bei seinem Staatsbegräbnis das letzte Geleit zu geben. Dazu gehörten auch traditionelle Riten, die am 29. Mai 2009 auf dem Seoul Plaza abgehalten wurden. (String-Pulling Theory: An excellent mystery of the great wall made by 2MegaByte - IX052901, 2009)
2. Gigantische Stapel von Frachtcontainern versperren Demonstranten den Zugang zu den Hauptstraßen der Seouler Innenstadt.. (String-Pulling Theory: An excellent mystery of the great wall made by 2MegaByte - VIII061003, 2008)
3. Noh Sun-tag ist ein Fotojournalist, der politische und gesellschaftliche Ereignisse im Korea von heute durch seine Dokumentarfotografie festhält. Auch wenn seine Fotoserien-Arbeiten auf Szenen erbitterter Konfrontation fokussieren, zeugen sie doch von tiefer Kontemplation und beißendem Humor.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 39
unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen, um möglichst viele
Interpretationen zu ermöglichen. Es war das erste Mal, dass ich
mich von meinem erklärenden Arbeitsstil losmachte.
Song: Hauptgegenstand Ihrer Arbeit sind die bitteren Aspekte, die
sich aus der Teilung des Landes ergeben haben. Oder Menschen,
die gesellschaftlich oder wirtschaftlich an den Rand gedrängt wur-
den. Diese Ausstellung fokussiert auf Fotografen, die diesbezügli-
che Szenen vor Ort festhalten. Was bedeutet für Sie „vor Ort“?
Noh: Ich bin immer neugierig, wenn ich mich vor Ort begebe: Was
passiert dort gerade? Wie wird es in den Medien übertragen? Ich
interessiere mich mehr für die Niederträchtigkeit der einen als die
Armseligkeit der anderen, versuche die Funktionsstörung im Funkti-
onieren des Staats aufzudecken, eines Staats, der gestreng verpackt
oder von Ordnung bestimmt zu sein scheint. Es ist eine Art Spötte-
lei, ein bitteres Lächeln. Ich achte darauf, wie die Machthabenden
Dinge dokumentieren, um ihre Dokumentationen anzukratzen. Es ist
sozusagen eine kleine Gegenoffensive, um auszudrücken, dass „das,
was ihr da macht, nicht nur so weitererzählt wird, wie ihr euch das
wünscht“. Ich bin nur ein Fotograf, der seine schon immer geheg-
ten Fragen durch Fotos darzustellen und zu beantworten sucht.
Daher sind die Realität, die sich in meinen Augen widerspiegelt, und
der Blick, den ich als Fotograf auf diese Realität werfe, wie die zwei
Schneiden eines Schwertes. Ich befasse mich mit Fotografie, ver-
bohre mich in sie und studiere sie, aber ich kann nicht ihr Sprecher
sein. Genau so wenig bin ich imstande, die Realität als Ganze zu
ändern, oder alles zu durchdringen und zu zeigen, auch wenn ich die
Welt in Bildern festhalte. Sicher ist, dass auch in Zukunft die aktu-
ellen Schauplätze die Grundlage meiner Arbeit sein werden. Es ist
aber nicht leicht, vor Ort zu sein und alles mit Körper und Seele auf-
zunehmen.
Song: Letzte Frage: Ein Kritiker meinte, dass die Wahrhaftigkeit
Ihrer Arbeit in Ihrem endlosen Zweifeln liege. Mit welcher Haltung
sehen Sie die Welt oder sich selbst als Fotograf?
Noh: Seit Jahren verfasse ich für ein wöchentlich erscheinendes
Filmmagazin eine Kolumne mit dem Titel Die Haare des Fotos. Haare
sind natürlich nur Haare, jedoch gibt es keine Haare, die nicht aus
dem Körper wachsen. In diesem Sinne sind Fotos die Haare der Welt,
nicht der Körper. Aber sie stammen aus dem Körper. Auf Basis die-
ser eindeutigen Tatsache kann der Körper ausfindig gemacht wer-
den. Ich kann nicht sagen, dass Fotos die Realität repräsentieren,
und ich glaube auch nicht, dass das, was wir sehen, der Ablauf von
Ereignissen ist. Unsere Gesellschaft scheint zwar richtig zu funktio-
nieren, aber manchmal wird auch eine Fehlfunktion mit einer richti-
gen Funktion verwechselt. Solche Fehlfunktionen haben stets meine
Aufmerksamkeit erregt. Ich habe versucht, solche Irrtümer näher zu
betrachten und in meinen Fotos den schwarzen Humor einzufangen,
der witzig und traurig zugleich ist. Eigentlich versuche ich nur, diese
Welt auf meine Weise zu zeigen. Ich bin jemand, der etwas verloren
hierhin und dorthin läuft und habe auch keine grundfesten Über-
zeugungen, weder über Menschen, über die Gesellschaft noch über
Fotos. Ich frage mich sogar, wer ich wirklich bin. Vielleicht sind Fotos
ein Instrument, auf all das zu blicken. Während ich immer betrachte,
bezweifle und zögere, verbinde ich Gedanken mit Gedanken, bin mir
aber nicht sicher, was das bedeuten soll.
Ich kann nicht sagen, dass Fotos die Realität repräsentieren, und ich glaube auch nicht, dass das, was wir sehen, der Ablauf von Ereignissen ist. Unsere Gesellschaft scheint zwar richtig zu funktionieren, aber manchmal wird auch eine Fehlfunktion mit einer richtigen Funktion verwechselt. Solche Fehlfunktionen haben stets meine Aufmerksamkeit erregt. Ich habe versucht, solche Irrtümer näher zu betrachten und in meinen Fotos den schwarzen Humor einzufangen, der witzig und traurig zugleich ist.
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40 KOREANA Winter 2014
Gunsan, eine am Westmeer gelegene Hafenstadt im Südwesten Koreas, gehört zu den Städten mit einer besonders hohen Konzentration an Gebäuden aus der Zeit der frühen modernen Geschichte des Landes. Dies geht darauf zurück, dass die Japaner nach der Öffnung des Hafens Gunsan im Jahre 1899 von hier aus Reis und Mineralien aus Korea in ihre Heimat schifften. In der Gegend entstanden auf natürliche Weise Gebäude, die die Japaner für ihre Zwecke benötigten, und viele der ersten Bauten aus dieser Zeit prägen bis heute das Stadtbild.
MODERNE WAHRZEICHEN
Das Hirotsu-Haus in Gunsan
Überbleibsel der modernen Geschichte Koreas
Roh Hyung-sukJournalist, Tageszeitung The Hankyoreh
1
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 41
S chon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass
es sich um kein gewöhnliches Haus handelt.
Als erstes zieht die massive ockerrote Einfrie-
dungsmauer, gedeckt mit gebrannten Dachziegeln, den
Blick auf sich. Dahinter erhebt sich eine Residenz mit
zwei Gebäuden, eins davon zweistöckig, wobei diese mit-
einander verbundenen Gebäude drei Arten von Ziegel-
dächern aufweisen: Giebel-, Walm- und Fußwalmdach.
Das üppige Dunkelgrün der Bäume, das zwischen Ein-
friedungsmauer und Hausdächern aufragt, vermittelt
ein gewisses Gefühl der stillen Geborgenheit. Seltsa-
merweise ist das Haupttor des Anwesens jedoch so klein
wie ein Pförtchen und kaum zu sehen. Denn es ist ver-
steckt in der Schmalseite einer einspringenden Ecke, die
von zwei langen, längs verlaufenden Teilen der Einfrie-
dungsmauer gebildet wird. Das Anwesen ist im Yashiki-
Stil (Herrenhaus-Stil) angelegt, dem typischen Stil einer
Residenz der japanischen Samurai-Krieger in der Sen-
goku-Zeit der Streitenden Reiche im 16. Jh. Dieses weit-
läufige japanische Herrenhaus befindet sich am West-
meer in der Hafenstadt Gunsan in der Provinz Jeollabuk-
do. Konkreter gesagt liegt es in 58-2, Sinheung-dong in
Gunsan, einem bei den japanischen Expats der Koloni-
alzeit beliebten Viertel. Gebaut als Wohnhaus für den
wohlhabenden japanischen Kurzwarenhändler Hirotsu
Keisaburo, ist es bis heute als „Hirotsu-Haus“ bekannt.
Gunsan - Schatzkammer des neuzeitlichen architektonischen ErbesIm Viertel Sinheung-dong in Gunsan reihten sich die
Residenzen von einflussreichen Japanern, die vor 70 bis
80 Jahren hier lebten, dicht an dicht. In der weitläufi-
gen, schachbrettartig angelegten Wohngegend ist auch
heute noch eine beträchtliche Anzahl von Häusern im
japanischen Stil erhalten. Noch bis in die 1970er Jahre
soll es ein besseres Wohnviertel gewesen sein, in dem
nur schwer Mietobjekte zu finden waren. Heute sieht es
hier jedoch wie in einer normalen städtischen Wohnge-
gend in Japan aus.
Mit der Öffnung des Hafens machten die Japaner Gun-
san zum Stützpunkt für den Transport von Gütern aus
dem damaligen Königreich Joseon (1392-1910) in ihre
Heimat. Als Folge davon wurde Gunsan zu einem Zent-
rum der japanischen Niederlassungen in Korea. Auf die
kleinen Inseln im Westmeer blickend, liegt die Hafen-
stadt zwischen der Mündung des Flusses Geum-gang
im Norden und der Mündung des Mangyeong-gang im
Süden, zwischen denen sich weite Ebenen erstrecken.
1. Die in Sinheung-dong in der Sadt Gunsan gelegene Hirotsu-Residenz wurde im Yashiki-Stil errichtet, der typisch für die japanischen Samurai-Herrenhäuser aus dem 16. Jh ist. Als der Hafen Gunsan im späten 19. Jh für den internationalen Handel geöffnet wurde, diente die Stadt als Stützpunkt für viele in Korea lebende Japaner. Ein Teil der damals im japanischen Stil errichteten Häuser ist bis heute erhalten.
2. Hinter dem kleinen, in der Schmalseite einer einspringenden Ecke der imposanten ockerroten Einfriedungsmauer eingelassenen Haupttor erstreckt sich ein lauschiger und unerwartet großer Garten.
Im Hafengebiet bauten die Japaner ein modernes Stadtzentrum auf,
das u.a. aus der Bahnstation der mittlerweile stillgelegten Gunsan-
Hwamul (Fracht)-Linie, der ehemaligen Zollbehörde, der Gunsan-
Zweigstelle der einstigen Bank of Chosen (Vorläufer der Bank of
Korea; registr. Kulturgut Nr. 374) und einigen Geschäften bestand.
Etwas weiter landeinwärts vom Hafen erstrecken sich auf einem
sonnigen Hügel die Viertel Sinheung-dong und Wolmyeong-dong,
wo sich viele einflussreiche und wohlhabende Japaner stattliche
Häuser bauten. Nach der Befreiung von der japanischen Kolonial-
herrschaft 1945 wurde der Handelsaustausch mit Japan und China
unterbrochen, sodass Gunsan einen Niedergang erlebte. In einem
merkwürdigen Paradox wurde die Stadt gerade deshalb von den
destruktiven Nebenerscheinungen der raschen Industrialisierung
und Entwicklung des Landes verschont, sodass zahlreiche Bauwer-
ke aus der frühen Moderne gut erhalten geblieben sind.
Unter den Häusern im japanischen Stil in Sinheung-dong ist das
Hirotsu-Haus das einzige, dessen ursprüngliche Form fast unverän-
dert erhalten ist. Hirotsu Keisaburo, der Bauherr, betrieb in Gunsan
ein Textilgeschäft und einen kleinen Bauernhof. Anders als ande-
re wohlhabende Japaner in Gunsan, die große Bauernhöfe besa-
ßen, kam er durch den Handel zu Vermögen. Er baute das Haus in
den 1920er Jahren mit fast ausschließlich aus Japan importierten
Baumaterialien. Hirotsu wollte wohl nicht nur seinen Reichtum,
sondern auch seinen verfeinerten Geschmack in puncto Architek-
tur demonstrieren. Das Haupttor ist zwar klein und in einer Seiten-
mauer eingelassen, aber innen ist das Anwesen unerwartet groß.
Gebäude und Garten harmonieren gut miteinander und das Innere
der Gebäude ist elaboriert strukturiert. Struktur und Anordnung
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42 KOREANA Winter 2014
Erdgeschossräume auf jeden Fall mit Bodenheizung ausstatteten,
um die kalten koreanischen Winter besser zu überstehen.
Architektonische Ästhetik voll schmerzhafter GeschichteEins der reizvollsten Merkmale des Hirotsu-Hauses ist die Aussicht
auf den Garten, die man von den Fluren aus hat, die die Räume im
Erdgeschoss und im ersten Stock verbinden. Je nachdem, an wel-
cher Stelle der langen Flure sich der Betrachter befindet, bietet sich
ein anderer Anblick. Der im japanischen Stil gehaltene Garten ist
mit polierten Steinen, ästhetisch geformten Bäumen und elegan-
ten Steinfiguren geschmückt und strahlt eine Schönheit aus, die von
anderer Art als die der traditionellen koreanischen Gärten ist, bei
denen die Natürlichkeit betont wird. Die Familie Hirotsu dürfte sich
jeden Tag voller Muße am reizvollen Anblick dieses Gartens erfreut
haben, der am Morgen von warmen Sonnenstrahlen durchflutet und
bei Einbruch der Dämmerung vom Glühen des Abendrots erfüllt war.
Das größte Zimmer des Hauses ist mit Oshiire (tiefer Wandschrank
zum Verstauen von Futons u.ä.) und Tokonoma (dekorative Wand-
nische mit Rollbildern und Bonsais) in einem originär japanischen
Ambiente gehalten. An den Decken der Flure, die mit natürlichen
Hölzern von Dachsparren-Dicke ausgekleidet sind, lässt sich erken-
nen, mit welch großer Sorgfalt sich der Hausbesitzer um jedes
Detail bis hin zur Materialauswahl kümmerte.
Es ist auch interessant, sich die Innenstruktur dieses Hauses
genauer anzuschauen, die die Einfachheit seiner äußeren Form
Lügen straft: Der Grundriss ist nämlich komplex und fast labyrin-
1
der Gebäude unterscheiden sich kaum von denen der
Samurai-Residenzen in der Stadt Izuhara auf der Insel
Tsushima, im Bezirk Chofu nahe Shimonoseki in der
Präfektur Yamaguchi, oder in den traditionellen Vierteln
von Kyoto.
Jenseits des Eingangstors liegt ein lauschiger Garten
voller Wacholder-, Kiefern- und Magnolienbäume. Das
zweistöckige Hauptgebäude und der einstöckige Anbau
mit Gästezimmern sind transversal verbunden und bli-
cken auf den mit Steinobjekten wie Laternen sorgfäl-
tig dekorierten, beschaulichen Garten. Im Inneren des
Hauptgebäudes ist in einer der Wände ein einzigartiges,
rundes Fenster eingelassen, das mit seiner Form und
dem Bambusgitterdesign an traditionelle chinesische
Fenster erinnert und einen starken Eindruck hinter-
lässt. Da es sich um ein im Stil typisch japanisches Haus
handelt, würde man erwarten, dass alle Fußböden
mit traditionellen Tatami-Reisstrohmatten ausgelegt
wären, aber sechs der sieben Räume im Erdgeschoss
sind mit dem koreanischen Ondol-Fußbodenheizungs-
system ausgestattet. Der Erdgeschoss-Flur führt in
sieben Zimmer, eine Küche, ein Esszimmer, zwei Toi-
letten und ein Bad sowie in einen Lagerraum. Die Zim-
mer im ersten Stock sind dann aber alle mit Tatami-
Matten ausgelegt. Man kann vermuten, dass die damals
in Korea lebenden Japaner beim Bau ihrer Häuser die
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 43
thisch wie bei einem mittelalterlichen Festungsbau. Die
Räume des Hauses wie Zimmer und Küche miteinander
verbindend, verlaufen die Flure durch das ganze Haus,
wobei die Flure in der Mitte und die seitlich verlau-
fenden Flure mit den Fenstern sich in alle Richtungen
schlängeln, in verschiedene Zimmer führen, die wie-
derum mit anderen verbunden sind. Das ruft ein leicht
unheimliches Gefühl des Herumirrens in einem rätsel-
haften Raum hervor.
Hinter dem Hauptgebäude des Anwesens befindet sich
ein zweistöckiger Betonbau, der der Hirotsu-Familie als
Lager für Geld und andere Wertsachen gedient haben
wird. Konzept und Struktur dieses Baus können erst
voll begriffen werden, wenn man den Hinterhof und das
Erdgeschoss des Hauptgebäudes mehrfach unter die
Lupe genommen hat. Dasselbe gilt für die Raumstruk-
tur des Gartens, der immer tiefer und breiter wird, je
weiter man hineingeht. Weil dieses Anwesen nicht nur
Stil und Pracht der typischen Residenz eines wohlha-
benden Japaners verkörpert, sondern auch
dessen ästhetischen Sinn für Raum wider-
spiegelt, ist es auch als Kulisse für Filme
beliebt, die vor dem Hintergrund der japa-
nischen Kolonialherrschaft (1910-1945)
spielen. In Der Sohn des Generals (The
General‘s Son, 1990) und Tazza: The High
Rollers (2006) fungierte das Haus jeweils als Hauptquartier japani-
scher Gangster bzw. als Glücksspiel-Bühne.
Nach der Befreiung Koreas 1945 ging Hirotsu, seinen ganzen Besitz
einschließlich des Hauses zurücklassend, wieder nach Japan und
seine schicksalhafte Verbindung mit Korea fand ihr endgültiges
Ende. Zuerst wurde das Haus als Besitz des Feindes von der korea-
nischen Regierung konfisziert und später an Yi Yong-gu, den Grün-
der von Honam Flour Mills (heute: Korea Flour Mills) verkauft, in
dessen Besitz es sich bis heute befindet. 2005 wurde es in die Liste
des Registrierten Kulturgutes (Nr. 183) aufgenommen. Nach dem
Abschluss der Restaurierungsarbeiten 2010 ist das Haus zu einer
touristischen Attraktion geworden, die Unmengen von Besuchern
anzieht.
Vielleicht hat Hirotsu gedacht, dass seine Familie in diesem Haus
von Generation zu Generation prosperieren würde. Gerüchten zufol-
ge soll er die einzelnen Räume mit Blick auf seine heranwachsen-
den Kinder sehr großzügig angelegt haben. Die Hoffnungen und
Träume, die er gehabt haben mag, zerplatzten jedoch im Strudel der
Geschichte mit der Niederlage Japans 1945 wie Seifenblasen.
2
Es ist auch interessant, sich die Innenstruktur dieses Hauses genauer anzuschauen, die die Einfachheit seiner äußeren Form Lügen straft: Der Grundriss ist nämlich komplex und fast labyrinthisch wie bei einem mittelalterlichen Festungsbau.
1. Eins der reizvollsten Merkmale des Hirotsu-Hauses ist die Gartenlandschaft, die sich panoramaartig von den verschiedenen Stellen der langen Flure im Erdgeschoss und ersten Stock auftut. Von den Fluren aus gesehen bietet der japanische Garten eine Schönheit, die sich distinktiv von der koreanischer Gärten unterscheidet.
2. Das Haus kombiniert die distinktiven Elemente traditioneller koreanischer und japanischer Architektur: Während die Erdgeschossräume mit Blick auf die kalten koreanischen Winter mit Ondol-Fußbodenheizung ausgestattet sind, sind alle Zimmer im ersten Stock nach japanischem Stil mit Tatami-Matten ausgelegt.
44 KOREANA Winter 2014
Bis vor 20 Jahren noch arbeitete Kim Gil-seong bei
einem Bauunternehmen. Aber seine Stelle war
nicht nur ein Platz der Arbeit, sondern auch ein
Platz ständiger geistiger Qualen für ihn. „Wissen Sie,
woraus ein Haus gebaut wird? Aus Zement? Stahlträ-
gern? Nein. Ein Haus wird mit Geschimpfe und Gefluche
errichtet. Also war es nur eine Frage der Zeit, bis ich
kündigte.“ Während seine Verstörtheit mit den Gebäu-
den, die er baute, quasi Stock für Stock wuchs, stieß
er zufällig auf eine Reiskuchenform. Es handelte sich
um ein besonders wohlgeformtes Tteoksal-Exemplar.
Das war im Jahr 1975. Schon seit seiner Jugend moch-
te Kim Bäume, beschäftigte sich ausgiebig mit Bonsais
und verfiel daher sofort dem Zauber des alten Holzes.
„Wenn ich Holz mit geschlossenen Augen befühle, kann
ich sagen, was für ein Holz es ist. Das spezifische Gefühl
und die Wärme, die eine Holzart an meinen Fingerspit-
zen generiert, ist jeweils anders. Reiskuchenformen
sind meist aus dichtem, glattem Holz gemacht, das
nicht so stark duftet, so dass der subtile, im Inneren des
Holzes verborgene Reiz spürbar war.“
Allerdings spotteten auch viele, dass man Reiskuchen-
formen doch wohl kaum als sammelwerte Altertümer
betrachten könne. Trotzdem entschied Kim sich dafür,
sie zu sammeln. „Einmal abgesehen von Relikten aus
Tempeln waren Artefakte mit traditionellen Mustern
selten aufzutreiben. Kaum jemals stieß man in privaten
Haushalten auf volkstümliche Artefakte mit Mustern wie
z.B. Neunghwapan, Holzdruckstöcke für Buchumschlä-
ge, oder Sijeonjipan, Holzschnittformen zur Verzierung
von Brief- und Gedichtpapier. Im Gegensatz dazu konn-
te man leicht verschiedene Arten von Reiskuchenfor-
men finden. Was Sammelobjekte angeht, so ist bei raren
Sammelstücken schnell die Grenze des Sammelns
erreicht, während bei leicht aufzutreibenden Sammel-
stücken schnell das Interesse schwindet. Ein Mittelmaß
ist am besten, und gerade das trifft auf Tteoksal zu.“
Schönheit und Bedeutung der MusterKim erläuterte jedes einzelne Muster seiner Reisku-
chenformen, die im Wohnzimmer ausgebreitet waren.
Seine Erklärungen führten auf natürliche Weise zu den
Herzenswünschen der Tteoksal-Hersteller. Kim, der
vor allem Formen aus der Joseon-Zeit (1392-1910) sam-
melt, sagte: „Die Muster der Reiskuchenformen aus
der Joseon-Zeit beschränken sich auf Symbole wie 壽
福 (Subok; langes, glückliches Leben), 富貴 (Bugwui;
Reichtum) und 多男 (Danam; viele männliche Nachkom-
men). Auf späteren Druckformen sind auch Zeichen ein-
graviert, die das jeweilige Zeitalter widerspiegeln. Nach
dem Koreakrieg (1950-1953) erscheint zum Beispiel
das Wort ‚Frieden‘ und nach dem von Park Chung-hee
Kim Gil-seong sammelt die aus Holz gemachten antiken Reiskuchenpressen Tteoksal und die Teegebäck-Formen Dasik. Der Anwendungszweck ist zwar anders, die Form jedoch ähnlich.
HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Tteoksal-Sammler Kim Gil-seong
Anmutigen Symbolmustern der Lebenswünsche verfallenKim Gil-song (64) sammelt seit 1975, also über einen Zeitraum von fast 40 Jahren traditionelle Reiskuchenformen aus Holz, auf Koreanisch „Tteoksal“. Er öffnete die Klappe einer Holztruhe in der Ecke des Wohnzimmers und nahm seine Reiskuchenform-Schätze heraus. Der Duft alten Holzes verbreitete sich im Raum. Rechteckige Holzblöcke mit einer Länge von 10 bis 50 cm und runde Holzformen mit Griffen auf beiden Seiten kamen in rauen Mengen zum Vorschein. In alle waren traditionelle koreanische Motive mit symbolischer Bedeutung eingraviert.
Kang Shin-jaeFreiberuflicher Autor
FotosCho Ji-young
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 45
46 KOREANA Winter 2014
angeführten Militärputsch vom 16. Mai 1961 sogar das
Wort ‚Wiederaufbau‘.” Unter den Stapeln von Tteoksal
fiel mein Blick zuerst auf die Tier- und Pflanzenmuster:
Fische, die für Reichtum und viele Nachkommen ste-
hen, Schmetterlinge, die Harmonie in der Ehe symboli-
sieren, und Pflaumenblüten, die den Wunsch nach Wie-
dererlangung jugendlicher Frische ausdrücken. Danach
sprangen geometrische Muster ins Auge: Bandnudel-
Muster, die Langlebigkeit symbolisieren, Gitter-Muster
zur Abwehr von bösen Geistern, Designs auf Basis von
Taegeuk (Yin-Yang-Symbol) und Palgoe (acht Trigram-
me der Divination). Zudem gab es auch Tteoksal mit
verheißungsvollen klassischen chinesischen Schrift-
zeichen 喜 (Hi; Freude) und 壽 (Su; Langlebigkeit). Wenn
man sie näher betrachtete, konnte man erkennen, dass
die Zeichen in unterschiedlichen Kalligraphie-Stilen ein-
graviert waren. Bei allen Designs handelt es sich um
traditionelle koreanische Motive und Muster mit symbo-
lischer Bedeutung.
In Korea war der Reiskuchen „Tteok“ eine Speise, die
auf keiner der für zeremoniale Anlässe gedeckten Tafel
fehlen durfte, sei es bei Feiern anlässlich der Volljährig-
keit oder bei Hochzeiten, sei es bei Beerdigungen oder
Ahnenverehrungszeremonien. Und nie vergaß man
dabei, die Oberfläche des gedämpften Reiskuchens
durch Aufpressen einer Tteoksal mit Mustern zu ver-
zieren. Solche Muster auf Speisen, die zu Feier bedeu-
tender Anlässe zubereitet wurden, sind wohl mehr als
nur einfache Verzierungen. Tteoksal wurden bis in die
1970er Jahre, bevor die Reiskuchenherstellung mecha-
nisiert und kommerzialisiert wurde, in koreanischen
Haushalten noch häufig als „Stempel zum Aufdru-
cken von Mustern auf die Oberfläche von Reiskuchen“
benutzt. Daher kann man die Druckformen nicht ein-
fach als Alltagsgegenstand der Vergangenheit abtun.
Die Menschen suchten in der Vergangenheit für jede
Zeremonie bestimmte Muster aus, die dem jeweiligen
Anlass angemessen waren. Die Muster standen also für
ihre sehnlichsten Herzenswünsche. Das Zu-sich-neh-
men von mit Mustern versehenen Reiskuchen bedeu-
tete sozusagen das Zu-sich-nehmen dieser Wünsche.
Der Reiskuchen war in alten Zeiten also eine Speise, die
nicht nur den körperlichen Hunger, sondern auch den
seelischen Hunger stillen konnte. Aber das ist nur ein
Teil der Reiskuchen-Geschichte.
Die Reiskuchenformen waren über ihren Symbolgehalt
hinaus nämlich auch praktische Alltagsgegenstände.
Da sie normalerweise den Abmessungen des Zere-
monialgeschirrs entsprachen, konnte man mit ihnen
die Reiskuchenstränge gut zurechtschneiden. Die Ril-
len der Muster verhinderten wiederum, dass die auf
dem Geschirr aufgestapelten Reiskuchen abrutsch-
ten. Außerdem konnte die Luft durch die Oberflächen-
Vertiefungen der Muster zirkulieren, sodass der Reis-
kuchen nicht leicht verdarb. „Schon beim Kauen merkt
man, dass die Teile des Reiskuchens, die von der Form
niedergepresst wurden, besonders köstlich schme-
cken. Der Geschmack, den sie an der Zungenspitze hin-
„Ein wahrer Sammler sollte wissen, wie er seine Sammlung ordnen, die einzelnen Stücke erforschen und möglichst vielen Menschen zugänglich machen kann. Wenn eine Sammlung in einem Buch dokumentiert worden ist, dann verschwinden auch Besessenheit und Besitzgier, denn sie sind ja dann sowieso nicht mehr meine Besitztümer. Irgendwann muss der Sammler, sei es ein Individuum oder eine staatliche Einrichtung, sich allein damit trösten, dass ein Buch als Endprodukt bleibt.”
Fisch-Motive stehen für den Wunsch nach Wohlstand und reicher Nachkommenschaft. Die Motive der Formen sind je nach Region unterschiedlich: Während Hasen, Rehe und Wildblumen in Bergregionen häufig sind, finden sich in Küstengebieten häufiger Fische, Garnelen usw.
terlassen, unterscheidet sich ganz deutlich von dem der
glatten Stellen. Dazu wird ja die Oberfläche von Tteok
mit Sesamöl bestrichen. Die Rillen des Musters dienen
dabei sozusagen als Rinnen, in denen sich das Sesamöl
ansammelt.“
Daher wurden in jedem Haushalt Reiskuchenformen
hergestellt, die dann auch an die Nachbarn verliehen
wurden. Während es Druckformen gab, bei denen der
Eigentümer anhand des Designs auf den ersten Blick zu
erraten war, mussten andere mit Namen oder Adresse
des Eigentümers versehen werden, damit sie nicht ver-
loren gingen. Es gab auch einige Druckformen, in die im
Falle eines Geschenks die Glückwünsche des Schen-
kenden zum jeweiligen Anlass oder poetische Verse
eingraviert wurden. Der Prozess der Herstellung von
Reiskuchen, die Schönheit und Bedeutung in sich ver-
einten, brachte den Menschen in alter Zeit Momente der
Muße und der kreativ-künstlerischen Inspiration in den
Alltag, was möglich war.
Ein Sammler frei von Gier und NeugierMit Vertrauen in sein kritisches Expertenauge begann
Kim mit dem Sammeln von Tteoksal. So häuften sich
schließlich fast 2.000 Stücke an. Es ist keine Übertrei-
bung, zu sagen, dass seine Sammlung fast alle Arten
von Tteoksal umfasste. Je größer die Sammlung wurde,
desto größer wurde jedoch auch sein innerer Konflikt.
„Auch wenn jemand 99 Schafe besitzt, wird er einem
anderen, der nur ein einziges besitzt, dieses Schaf rau-
ben wollen, nur um die Zahl 100 zu erreichen. Ein echter
Sammler giert nach allen existierenden Sammelstü-
cken, egal, wie groß seine Sammlung schon sein mag.
Jemand, der angesichts eines Stücks fragt, ob er es sich
leisten kann, ist kein wirklicher Sammler. Ein Sammler
kauft erst einmal und überlegt sich dann einen Ausweg
aus der finanziellen Klemme. Gier und Neugier bestim-
men das Wesen eines Sammlers. Was mich betrifft,
so finde ich einen anderen Sammler, dem ich begegne,
1. In einige der Teegebäck-Formen aus Kims Sammlung sind auf der Rückseite Verse oder dem jeweiligen Anlass entsprechende Wünsche des Schenkenden eingraviert. Da diese für künstlerisches Empfinden und Lebensstil der Koreaner von einst stehen, haben solche Stücke für Sammler einen höheren Wert.
2. Das Motiv des auf einem ziegelgedeckten Haus sitzenden Vogels bringt den Wunsch nach häuslichem Glück zum Ausdruck.
3. Ungeachtet der Vielfalt der eingravierten Designs sind die Formen alle aus ein und demselben Material: ein dichtes, feinmaseriges Hartholz mit dezentem Duft, das normalerweise von Persimonen-, Jujuben- oder Eisenbirkenbäumen stammt.
1
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 49
zwar interessant, gehe aber nicht davon aus, dass er
unbedingt ein gutes Herz hat.“
Vor diesem Hintergrund vermied Kim dann wohl eine
direkte Antwort auf die Frage nach der Höchstsumme,
die er in den fast 40 Jahren seines Sammlerlebens für
ein einzelnes Stück gezahlt hatte. Statt dessen bemerk-
te er, dass mit dem Ausbau der Sammlung der Wert
eines Stückes immer subjektiver werde: Auch wenn der
Marktwert eines Stückes nur 10 Euro betrage, würde
er es nicht nicht einmal für 1.000 Euro hergeben, wenn
es unter 1.000 Sammelstücken einzigartig wäre. Aller-
dings heißt das nicht, dass Kim alles gekauft hätte,
was ihm in die Hände fiel. Er ist ein Sammler, der es
nicht ertragen könnte, dass seine Sammlung ein „bunt
zusammengewürfelter Haufen von diesem und jenem“
würde. Beim Sammeln werde irgendwann ein Punkt
erreicht, an dem man bestimmter Stücke überdrüssig
werde oder man kein wirkliches Ende sehe. In diesem
Fall würden sie direkt veräußert. Solche Entscheidun-
gen beruhen auf der Entschlossenheit, die ihn dazu
bewegte, die Baufirma zu verlassen und professionel-
ler Sammler zu werden, aber auch auf seinem Sinn für
Ästhetik, der im Laufe seines Sammlerlebens an Tiefe
gewonnen hat.
Um seinem festen Grundsatz, dass „ein wahrer Samm-
ler seine Sammlung ordnen, erforschen und möglichst
vielen Menschen zugänglich machen“ sollte, treu zu
bleiben und das nötige Geld für seine Sammlung auf-
zutreiben, gibt er Bücher heraus und organisiert Aus-
stellungen. Tatsächlich trennte er sich von seiner über
4.000 Stücke umfassenden Begaenmo-Sammlung
(dekorative Abschlussstücke an beiden Enden eines tra-
ditionellen koreanischen Kopfkissens), nachdem er das
Buch Bestickte Begaenmo, eine volkstümliche Tradition
(2001) veröffentlicht und eine Ausstellung dazu abge-
halten hatte. In Erinnerung daran sagte er: „Wenn eine
Sammlung in einem Buch dokumentiert worden ist,
dann verschwinden auch Besessenheit und Besitzgier,
denn sie sind ja dann sowieso nicht mehr meine Besitz-
tümer. Irgendwann muss der Sammler, sei es ein Indivi-
duum oder eine staatliche Einrichtung, sich allein damit
trösten, dass ein Buch als Endprodukt bleibt.“
Relikte volkstümlicher Tradition, denen „ein Hauch von Menschsein“ anhaftetBereits vor 25 Jahren veröffentlichte Kim sein Buch
Traditionelle Dasik- und Tteoksal-Motive (1989) (Dasik:
traditionelles Teegebäck), das seine ganzen Forschun-
gen zum Thema Reiskuchenformen dokumentiert.
Trotzdem kann er sich von rund 1.000 Formen immer
noch nicht trennen. Nur etwa die Hälfte seiner Samm-
lung ging an ein Universitätsmuseum. Stücken, die
seinem verfeinerten ästhetischen Blick nicht länger
standhalten können, entledigt er sich gewöhnlich ohne
Wenn und Aber. Die Reiskuchenformen haben jedoch
während seiner Karriere als Sammler verschiede-
ner Objekte der Volkskunst auch unter seinem immer
anspruchsvoller werdenden Auge nie an Wert verloren.
Wortlos streicht Kim über die Maserung einer hölzer-
nen Reiskuchenform. Es ist, als ob seine Fingerspitzen
Spuren seines leidenschaftlichen Lebens darauf hin-
terlassen würden. Auch Erinnerungen an eine ferne
Vergangenheit werden durch diese Geste heraufbe-
schworen: die rauen Hände einer Frau, die die Form
sachte auf den etwas abgekühlten Reiskuchen presst;
ihre leichten Schritte auf dem Nachhauseweg von
einem Nachbarn, der ihr für den besonderen Famili-
enanlass seine mit besonders schönen Mustern ver-
sehene Form geliehen hat; der Duft des Holzes, der
schwerer wurde durch den Gebrauch der Formen für
all die Momente des Glücks und der Trauer des gan-
zen Dorfes, und der von Generation zu Generation wei-
terströmte. Dies ist die Kraft, die nur in Artefakten der
Volkskunst weiterzuleben vermag, die von Atem und
Schweiß des kleinen Mannes durchtränkt sind, und
nicht nachgeahmt werden kann von Relikten, die die
Zeiten nur als zur Schau gestellte Kunstobjekte über-
dauert haben.
32
50 KOREANA Winter 2014
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Stoff: eine Agentur, deren einziges Ziel es ist,
Entschuldigungen für andere anzubieten.
Das scheint quasi ein Garn zu sein aus dem
sich Komödien stricken lassen, und tatsäch-
lich handelt es sich um eine Komödie, aller-
dings eine unerwartete. Der Leser sieht die
Geschichte mit den Augen des Erzählers,
der – als Inkarnation der Zuverlässigkeit
– einfach und geradeheraus bis zum Geht-
nichtmehr gestrickt ist. Er erwartet von
jedem dieselbe Aufrichtigkeit und nimmt
alles wortwörtlich. Hierin liegen das Komi-
sche und das Tragische der Geschichte.
Der Roman beginnt mit dem Protagonisten,
der als Erzähler fungiert, und dessen Freund
Si-bong, Insassen einer psychiatrischen
Anstalt. Anstatt einer Behandlung werden
sie medikamentös ruhig gestellt und täg-
lich von den beiden „Pflegern“ geschlagen.
So hätte es ewig weitergehen können, wäre
nicht ein am Bahnhof aufgelesener Obdach-
loser ihr Zimmernachbar geworden. Dieser
Mann schreibt flehentliche Notizen, die er in
die Sockenbündel, die die Patienten verpa-
cken, steckt und nach draußen befördert. Die beiden Freunde tun es
ihm gleich. Resultat: Die Polizei macht eine Razzia, das Anstaltsper-
sonal landet im Gefängnis und die Patienten werden entlassen.
Der Erzähler hat vergessen, wo er wohnt, weshalb die beiden bei
Si-bongs jüngerer Schwester Si-yeon landen. Bald drängt Si-yeons
Freund die beiden dazu, sich Arbeit zu suchen. Da stolpern sie über
eine brilliante Idee: sich für andere entschuldigen. Aber ihre „Ent-
schuldigungen“ sind nicht einfach Worte der Reue. Die Pfleger in der
Anstalt hatten sie so lange geschlagen, bis sie sich entschuldigten,
auch wenn sie sich dafür extra entschuldigenswertes Fehlverhalten
ausdenken mussten. Auf diese Weise vermischte sich das Konzept
von „Entschuldigung“ untrennbar mit der Prügel, so dass sie zwar
völlig naiv den Begriff „Entschuldigung“ für das, was sie tun, verwen-
den, es im Grunde genommen dabei aber mehr um Sühne oder Buße
geht. Die religiösen Untertöne kommen nicht von ungefähr: Eine
Figur, die erfährt, was die beiden tun, kommentiert: „Ach, ich dachte,
es gäbe nur einen Jesus.“
At Least We Can Apologize verdreht das Thema der Sühne jedoch.
Statt dass dadurch Sünden weggewaschen werden, scheint die Sühne
der Protagonisten nur weitere Probleme heraufzubeschwören. Wäh-
rend sie glauben, Gutes zu tun, ziehen sie in Wirklichkeit an losen
Fäden, was das Geflecht der menschlichen Beziehungen aufzutrennen
scheint – oder ist es der Sand, den wir uns selbst in die Augen streu-
en, so dass wir der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken müssen? Die
Geschichte packt uns am Schlafittchen und zwingt uns, das Unrecht,
das wir begangen haben, genauer zu betrachten, darüber nachzuden-
ken, warum wir es verstecken und uns klar darüber zu werden, dass
Sühne vielleicht nicht möglich ist, und schon gar nicht wünschenswert.
sechs Bänden, die sich mit Schamanismus
und der Verehrung von Dorfgottheiten und
Hausgottheiten befassen. Bei der vorliegen-
den englischen Ausgabe handelt es sich um
eine gekürzte und - zwecks leichteren Ver-
ständnisses - edierte Fassung.
Die Encyclopedia enthält über 250 Artikel zu
sechs Hauptthemen: Riten und Offizianten,
Gottheiten und Heilige Wesen, Rituelle Zere-
monialgegenstände, Rituelle Opfergaben,
Orte ritueller Zeremonien, Fachausdrücke
und Verweise. Jedes Thema kann in alpha-
betischer Reihenfolge gebrowst werden, per
Suchfunktion können bestimmte Artikel aus-
gemacht werden. Die Artikel sind von Fotos
Encyclopedia of Korean Folk Beliefs
Lee Ki-ho (2009), übersetzt von Christopher J. Dykas, Dalkey Archive Press, 2013. 185 Seiten. $13.00
At Least We Can Apologize
http://folkency.nfm.go.kr/eng/folkbeliefs.jsp, Seoul: National Folk Museum of Korea
Diese Online-Enzyklopädie ist die zweite in einer
Serie von englischsprachigen Enzyklopädien,
die das Nationale Folkloremuseum Koreas her-
ausgebracht hat. Die erste ist die Encyclopedia
of Korean Seasonal Customs, sechs weitere sind
in Planung. Die koreanische Originalversion der
Encyclopedia of Korean Folk Beliefs besteht aus
Lee Ki-hos 2009
erschienener
Roman hat einen
sehr originellen
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 51
von nur drei aufeinander folgenden Kapiteln von der Einführung des
Seouler Busliniensystems über den Niedergang der Gisaeng-Kurtisa-
ninnen-Welt bis hin zum Widerstand der Christen gegenüber der japa-
nischen Imperialpolitik. Das mag die Reise manchmal etwas unzusam-
menhängend erscheinen lassen, aber darin liegt gerade die Besonder-
heit dieses Buches. Der Vorteil ist, dass man das Buch an einer beliebi-
gen Stelle aufschlagen und etwas Interessantes über einen bestimm-
ten Zeitpunkt der koreanischen Geschichte erfahren kann.
Wie bei Geschichte generell der Fall, so wurde auch in Korea die
Modernisierung durch die Wechselwirkung von alten und neuen
Werten auf den Weg gebracht. Zum großen Teil waren die alten
Werte einheimisch und die neuen Werte Ideen und Technologien von
außen. Als diese Werte aufeinander prallten und eine neue, moder-
ne Nation auf den Weg brachten, entstand etwas originär Koreani-
sches. Die gezielten Beschreibungen der Veränderungen, die aus
diesem Zusammenprall hervorgingen, sind die größten Vorzüge von
Modern Korea. Aber es ist nicht nur interessant, zu konstatieren, was
thematisiert wird, sondern auch das, was ausgespart wird. Während
es natürlich zahlreiche Hinweise auf die Rolle Japans als Kolonial-
macht gibt und einige Kapitel speziell der Kolonialherrschaft gewid-
met sind, so fehlen doch Ereignisse wie der Vertrag von Ganghwa,
die Ermordung von Kaiserin Myeongseong und die Annexion Koreas
durch Japan. D.h. ein Großteil der Tragödien, die sich normalerwei-
se in einer Geschichte des modernen Korea finden, fehlen. Ob das
gut ist, mag dem Urteil des Lesers anheimgestellt bleiben, aber der
Gesamteffekt besteht darin, dass dadurch Korea als moderne Nation
weniger wie ein passives Opfer des Schicksals erscheint und stärker
als ein kraftvoller Agens, der sein eigenes Schicksal zum großen Teil
bestimmen kann.
Lankovs Essay-Sammlung ist kein typisches Geschichtsbuch. Für all
die Leser, für die Korea Neuland ist, ist das Buch eine leicht zugäng-
liche Einführung in die moderne Geschichte des Landes. Alte Hasen
wiederum dürften faszinierende Leckerbissen entdecken, der ihr
Korea-Verständnis weiter vertieft.
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen, die Korea zum
ersten Mal in seiner Geschichte zu einem Hauptakteur auf der politi-
schen und wirtschaftlichen Weltbühne machten“, als die größte des
Landes. The Dawn of Modern Korea basiert lose auf einer Kolumne,
die Lankov ab Anfang 2002 für The Korea Times schrieb, und verfolgt
„den Wandel in Bezug auf Leben und Stadtlandschaft“ im Laufe der
letzten rund 100 Jahre.
Das Buch beginnt mit einer Art Vorspiel im Jahr 1784, dem Jahr, als
das Christentum seinen Weg auf die koreanische Halbinsel fand.
Korea ist in diesem Punkt außergewöhnlich, da das Christentum nicht
durch ausländische Missionare ins Land gebracht wurde, sondern von
einem Koreaner, der sich in China zum christlichen Glauben bekehrte.
Danach macht Modern Korea einen Satz von fast einem Jahrhundert
ins Jahr 1871, als die ersten Fotos in Korea aufgenommen wurde, und
taucht ernsthaft 1881 in die Materie ein, als die erste Gruppe koreani-
scher Studenten ins Ausland reiste, um etwas über moderne techni-
sche Errungenschaften zu erfahren. Die 97 Essays, folgen meistens
diesem Strickmuster, d.h. sie erläutern einschneidende Ereignisse der
koreanischen Geschichte. Dazwischen finden sich Kapitel, die einzelne
Jahrzehnte oder bestimmte Zeiträume abdecken.
Entsprechend ist Modern Korea mehr eine Aneinanderreihung von
Einzelschnappschüssen als eine fortlaufende Betrachtung. Statt
Geschichte zu diskutieren, bietet es einen Kaleidoskop-Blick auf den
Wandel der Zeiten. Auf diese Weise bewegt sich der Leser innerhalb
begleitet, die man wiederum separat unter
„Multimedia“ finden kann. Das erlaubt einen
detaillierten Einblick in viele Aspekte der
koreanischen Volkskultur, die Korea als Nati-
on geformt haben.
Es gibt aber noch einige Fehler auszubügeln.
So ist die Stichwort-Suche unterbrochen: Auf
der Trefferseite erscheint zwar die Anzahl
der Treffer, aber nichts weiter. Auch besteht
nicht die Möglichkeit, eine Suche auf eine der
beiden Enzyklopädien einzuschränken, es
erscheinen immer Treffer aus beiden. Das
muss sich in der Praxis nicht unbedingt als
Nachteil erweisen, da die beiden Enzyklopä-
dien Bestandteil eines größeren Werkes (der
Encyclopedia of Korean Folk Culture) sind
und es gewisse Überschneidungen zwischen
beiden gibt, aber für den Anfänger kann es
verwirrend sein. Langfristig gesehen dürf-
te es zudem hilfreicher sein, separat in den
einzelnen Enzyklopädien surfen zu können,
besonders, wenn nach Abschluss des Pro-
jekts acht verschiedene Quellen zur Verfü-
gung stehen werden. In Bezug auf die Orga-
nisation der Informationen ist anzumerken,
dass die Sektion „Multimedia“ sowohl Fotos
als auch Videos listet, es daneben aber auch
noch die Sektion „Filme“ gibt, die dieselben
Videos enthält. Abgesehen von der unter-
brochenen Stichwort-Suche – hier sollte
schnellstmöglich Abhilfe geschaffen wer-
den – sind das alles nur kleinere Schönheits-
fehler. Der Wert des Inhalts der Encyclope-
dia wiegt bei weitem solche Probleme der
Webseitenarchitektur auf. Während sich die
moderne koreanische Popkultur mittlerweile
schon ihren Platz auf der Weltbühne erobert
hat, bleiben viele Aspekte der koreanischen
Volkskultur weiterhin unbekannt. Diese
digitale Enzyklopädie und die weiteren, die
das Nationale Folkloremuseum in Zukunft
hinzuzufügen plant, sind wichtige Schritte,
diese Aspekte der koreanischen Kultur für
englischsprachige Interessenten leichter
zugänglich zu machen.
Andrei Lankov (2007), EunHaeng NaMu, 366 Seiten. 13.000 KW
The Dawn of Modern Korea
Für Andrei Lankov, früher an der Kook-
min University in Seoul und derzeit an
der University of Oslo tätig, gilt die moder-
ne Ära, eine Ära von „rekordbrechenden
52 KOREANA Winter 2014
G egen den dritten März oder den neunten September nach
Lunarkalendar gingen sie mit den Frauen des Hauses an
einem warmen, windstillen Tag mit einem Kessel nach
draußen, setzten diesen auf einen Felsen der Klippe, pflückten Wild-
blumen oder Chrysanthemen, mit denen sie Jeon machten, und
kochten eine Beifußsuppe. Fröhlich und ausgelassen vergnügten sie
sich den ganzen Tag über vom Morgen bis zum Abend“ – so ein Aus-
zug aus dem Buch Aufzeichnungen des Dorfes Myeongdeok, ver-
fasst von Chae Je-gong (1720-1799), einem Gelehrten und Beamten
der Joseon-Zeit (1392-1910), in dem ein Ausflug zum Blumenfeld
beschrieben wird.
Zu dieser Zeit, als die Frauen nicht frei aus dem Haus gehen durf-
ten, wurde der Tag des Picknicks im Blumenfeld entprechend heiß
herbeigesehnt. Was bei einem solchen Ausflug nicht fehlen durfte,
waren natürlich Hwajeon (Blumen-Pfannkuchen). Für Hwajeon wird
zuerst aus Klebreismehl ein leichter Teig zubereitet. Dann gibt man
eine dünne Schicht Teig in eine gut eingeölte Pfanne, garniert ihn mit
frisch in Bergen oder Feldern gepflückten Blüten und brät ihn aus.
Der Duft, der sich beim Ausbraten des kohlenhydrathaltigen Kleb-
reises entwickelt, regt den Appetit an. Im Frühling werden Azaleen-
und Birnenblüten verwendet, im Herbst Chrysanthemen. Da Duft
und Form der Blüten bewahrt werden, sind Hwajeon-Pfannküchlein
an sich schon ein Festessen, mit dem sich die Freuden der Jahreszeit
genießen lassen.
Wertvolle Speisen in wertvollem ÖlHeutzutage sind verschiedene Speiseölsorten leicht erhältlich, aber
für die Menschen der Joseon-Zeit gab es nur Sesam- und Perilla-
öl, das aus Sesam- bzw. Perilla-Körnern gepresst wurde. Eine der
Arbeiten, denen die Bauern vor dem Chuseok-Erntedankfest im ach-
ten Mondmonat nachgingen, war Ernte und Pressen von Sesam- und
Perilla-Körnern, um zu den Feiertagen Jeon mit einer aromatischen
und guten Geschmacksnote zubereiten zu können. Vor allem Öl aus
Sesam, der aus den Ländern an der Westgrenze Chinas kam, wurde
wegen seines aromatischen Dufts besonders geschätzt und daher
„Cham-gireum (Echtes Öl)“ genannt.
Früher war es jedoch alles andere als einfach, Speiseöl zu gewinnen.
Im Somunsaseol, einer von Yi Si-pil (1657-1724) verfassten Enzyklo-
pädie des praktischen Wissens, wird eine traditionelle Perillasamen-
Presse erwähnt: „Ein Block aus hartem Holz oder Stein, der einer
Holzpantine mit hohen Sohlen ähnelt, dient als Grundlage. Gedämpf-
te Perilla-Samen werden in zwei oder drei Hanfsäcke gefüllt und
darauf gelegt. Schlägt man so stark auf die Säcke, wie man auf
die Sohle eines Lederschuhs hämmern würde, läuft das Öl durch
die Öffnung des unteren Blocks.“ Da Sesamöl auf dieselbe Weise
gewonnen wurde, war dieses „wertvolle Öl“ eine Zutat, die bis zur
Joseon-Zeit nur in der Hofküche häufiger verwendet wurde.
Gericht für FesteUnter den in Sesamöl ausgebratenen Gerichten wurde am Joseon-
Königshof v.a. Jeonyueo besonders geschätzt. In der Palastküche
trocknete man verschiedene, im Westmeer gefangene Fische, aus
denen man dann bei Banketten Jeonyueo zubereitete: Dafür wurden
die getrockneten Fische in schräge Scheiben geschnitten, mit Stär-
kemehl bestäubt, in Eigelb getunkt und in Sesamöl ausgebraten.
1765, im 41. Regierungsjahr von König Yeongjo (reg. 1724-1776), fand
in Gyeonghui-gung, einem Nebenpalast der Königsfamilie, zum
Geburtstag des Regenten ein Bankett statt. Der königlichen Anord-
GOURMETFREUDEN
Jeon ist ein Oberbegriff für alle Arten von Gerichten, bei denen verschiedene Zutaten wie Fleisch, Fisch oder Gemüse in Mehl gewendet, in geschlagene Eimasse getaucht und dann in Öl ausgebraten werden. Das Öl, in dem die Jeon goldbraun gebraten werden, verleiht den Pfannküchlein ein delikates Aroma und eine besondere Geschmackstiefe. Von Jeonyueo (Fisch-Jeon im Eimantel gebraten), die einst nur auf die Haupttafel des Königs kamen, bis hin zum Straßenimbiss Bindaetteok (Mungobohnen-Pfannkuchen), haben sich Arten und Status von Jeon zwar je nach Zeitalter und Zutaten divers entwickelt, aber mit dem brutzelnden Geräusch von Jeon und dem aromatischen Ölgeruch assoziieren die Koreaner immer noch Festtagsstimmung.
Joo Young-ha Professor of Folklore Studies, Graduate School of Korean Studies, Academy of Korean StudiesFotos Lim Hark-hyoun
„
Vorboten des Festes
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 53
Umberfisch-Jeonyueo war ein teures Gericht, das in der Joseon-Zeit nur dem König oder bei verschiedenen Hofbanketten serviert wurde. In der späten Joseon-Zeit wurden dann diverse Arten von Jeon - seien es dünn filetierte, in Öl gebratene Fisch- oder Fleischscheiben - zum Bestandteil jeder Festtafel. Bei besonderen Anlässen wurden sie sogar in den Häusern der Normalbürger serviert.
54 KOREANA Winter 2014
nung, Festbankette bescheiden zu halten, entsprechend, wurden
lediglich zehn Gerichte aufgetischt, dazu gehörte auch Jeonyueo.
Als ob nur eine Sorte von Jeonyueo nicht ausreichend gewesen
wäre, wurde auch noch Fasanenfleisch auf Jeonyueo-Art mit Mehl
bestäubt und im Eimantel gebraten serviert. Das heißt, dass zwei von
den zehn Gerichten Jeonyueo waren.
In der späten Joseon-Zeit kam Jeonyueo dann auch bei den Festes-
sen der adligen Yangban-Haushalte und sogar bei Normalbürgern
auf den Tisch. Und das auch nicht mehr nur zu feierlichen Anlässen.
In dem 1924 von Yi Yong-gi (1870-1933), einem Experten für Ernäh-
rungswissenschaft, veröffentlichten Kochbuch Joseon Mussang Sin-
sik Yorijebeop (Unschlagbare neue Kochrezepte aus Joseon) heißt
es: „Jeonyuyeo passt zu jeder Gelegenheit: Bei Hochzeits- und Trau-
erfeiern, bei Ahnenverehrungszeremonien und Geburtstagsfeiern,
bei Banketten, bei Trinkrunden, ja bei einer auf Form bedachten
Tafel darf Jeonyueo nicht fehlen.“ Bei Anlässen, zu denen viele Men-
schen zusammenkamen, waren für eine ordentlich gedeckte Tafel
in Sesamöl gebratene Fisch-Jeon zwar ein Muss, war jedoch kein
Sesamöl vorhandeln, behalf man sich mit Perillaöl. Denn die in Öl
gebratenen Speisen an sich waren ein Zeichen dafür, dass die Gäste
mit der ihnen gebührenden Gastfreundschaft bewirtet wurden
Vom Gericht für den König zum Gericht für jedermannAls im 20. Jh die Speiseölsorten vielfältiger und billiger wurden, fand
auch die Delikatesse Jeon allgemein Verbreitung. Die repräsenta-
tivste Jeon-Variante ist dabei Bindaetteok, die sog. „Koreanische
Pizza“. Bindaetteok – die Bezeichnung stammt höchstwahrschein-
lich von „Bindaebyeong“, „Pfannkuchen zur Bewirtung von Gästen“
– wird nicht in Sesamöl, sondern in Schweinefett gebraten. Schwei-
nefett wurde oft von den Chinesen, die sich Ende des 19. Jhs in Korea
niederließen, zum Braten verwendet. Bindaetteok-Pfannkuchen, für
die ein Mungobohnen-Teig mit verschiedenen Gemüsen und Fleisch
gemischt ausgebraten wurde, war ein Gericht, das ursprünglich mit
der Hofspeise Jeonyueo verglichen werden konnte. Aber in der von
Chaos und Not geprägten Zeit des Koreakriegs wurden die aus billi-
gen Zutaten hergestellten Bindaetteok zu einem populären Straße-
nimbiss. Dieser warme, vor Schweinefett triefende Mungobohnen-
Pfannkuchen erfreute sich in den Zeiten, in denen schwer an Fleisch
zu kommen war, beim einfachen Volk großer Beliebtheit.
Auch heute noch finden sich auf den traditionellen Märkten „Jeon-
Gassen“. Geht man dort vorbei, lässt einen der aromatische Duft von
Öl innehalten, ein Duft, der sich nicht nur beim Braten von dicken
Bindaetteok-Pfannkuchen entwickelt, sondern auch von verschiede-
nen anderen Jeon-Sorten aufsteigt, seien es Jeon mit Sesamblätter-
oder Seetangmantel, mit Fleisch, Gemüse und Glasnudeln gefüllte
Tintenfisch-Würste, Pilz-Jeon usw. Je nach persönlicher Vorliebe
kann man aus dem Angebot auswählen und die Jeon bei einem Glas
eisgekühlten Makgeolli (trüber, leicht vergorener Reiswein) genie-
ßen. Jede anfängliche Unbehaglichkeit, die man vielleicht empfin-
den mag, wenn man am Straßenstand neben Wildfremden sitzend
isst, verfliegt schnell und macht einer heiteren Fröhlichkeit Platz, die
sogar das Beisammensein von zwei, drei Leuten in ein lebhaftes Fest
verwandelt. Obwohl Jeon heutzutage ein gewöhnliches Gericht ist,
dienen die verschiedenen Jeon-Sorten immer noch als Festessen,
das die Stimmung erhöht. Vielleicht lässt einen das Geräusch brut-
zelnden Öls und der davon ausgehende aromatische Duft an Jeon-
yueo erinnern, ein Gericht aus längst vergangenen Tagen, einst ser-
viert an Festtagen, an denen es hoch her ging.
1 2
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 55
3
1, 2.Jeon ist ein Oberbegriff für alle Arten von Gerichten, bei denen verschiedene Zutaten in der Pfanne ausgebraten werden. Für Jeonyueo werden dünne Scheiben Fisch mit Mehl bestäubt, in geschlagene Eimasse gedippt und gebraten. Für Bindaeddeok wird ein Pfannkuchenteig mit Gemüse, Fleisch- oder Fischstücken in der Pfanne ausgebraten. Und in den Teig für Meeresfrüchte-Lauch-Jeon - eine beliebte Beilage für Makgeolli-Reiswein - kommen neben Schalotten noch Tintenfisch, Muscheln und Garnelen.
3.Jeon ist ein Gericht, das den Zutaten durch einfache Zubereitung tiefen Geschmack verleiht. Nur durch Ausbraten in der Pfanne gewinnen Allerweltsgemüse wie Sesamblätter, Zucchini oder Chinakohl eine pikante Geschmacksnote.
56 KOREANA Winter 2014
Chicken-RepublikEs scheint, dass der Hauptgrund dafür, dass meine Tochter sich glücklich schätzt, einen Koch als Vater zu haben, meine Hühnchen-Frittierkünste sind. Sie gibt nie damit an, dass ihr Vater ein bekannter Koch in Seoul ist, der nebenher auch noch schreibt und Bücher veröffentlicht. Das einzige, was sie stolz von sich gibt, ist: „Gestern hat mein Papa für mich Hühnchen frittiert! Da seid ihr neidisch, was?“ Das entspricht durchaus dem Verhalten eines jungen Bürgers in der Chicken-Republik.
V or Kurzem hatte ich auf einer Mailand-Reise ein
besonderes Erlebnis. Auf meine Bitte, mir ein
gutes Restaurant zu empfehlen, schleppte mich
mein jüngerer Kollege, der dort als Koch arbeitet, in ein
Brathähnchen-Lokal. Für mich, der ich handgemach-
te feine Ravioli, exquisites Safran-Risotto nach Mailän-
der Art oder Ossobuco alla milanese erwartet hatte,
war das eine überraschende Wahl. Aber meine Reaktion
auf dieses vertraute Hühnerfleischstück im Mund war
„Daumen hoch!“ Innen saftig und zart, außen knusprig
und erstaunlich pikant, war es für mich ein „vertrauter“
Geschmack.
Frittiertes Hähnchen auf koreanische Art erobert die WeltIch war schlichtweg von den Socken, dass frittiertes
Hähnchen auch mitten in einer italienischen Stadt ser-
viert wurde. Ist Italien nicht ein Land, in dem seit eh
und je die nationale Küche das Zepter in der Hand hält?
Italienische Männer verlangt es immer nach den von
„Mamma“ gekochten Speisen und außer Haus bestellen
sie möglichst etwas Ähnliches - obwohl sie sich wahr-
scheinlich auch mit einem Hamburger abfinden wür-
den, wenn die Bedienung hübsch ist. Ich konnte also nur
darüber staunen, dass frittiertes Hähnchen, ein typi-
sches Fast Food, in einem solchen Land populär ist.
Mein Kollege war überzeugt davon, dass dieses Hühner-
gericht vom koreanischen „Chicken“ stammt (Anmer-
kung: In Korea meint „Chicken“ „Frittiertes Hähnchen“).
Modernist Cuisine (2011), eine von einer amerikanischen
Kochexperiment-Gruppe verfasste, hochgelobte Koch-
Enzyklopädie, sorgte mit der Thematisierung von Frit-
tiertem Hähnchen auf koreanische Art für Furore. Denn
die Autoren, ausnahmslos renommierte Köche und For-
scher, präsentierten den Anhängern der Feinen Küche
(meistens Köche und Gourmets) „Crispy Chicken Wings,
Korean-Style“. Das Rezept basiert auf der in Korea ent-
wickelten, einzigartigen scharfen Soße. Hähnchen auf
koreanische Art, das dank dieser Soße süß und scharf-
pikant zugleich schmeckt, macht einfach süchtig.
Der jüngste „Chimaek“-Hype in Asien darf hier nicht
unerwähnt bleiben. Die TV-Serie My Love from the
Star, in der die Hauptdarsteller „Chimaek“ (Chi(cken) +
Maek(ju): Chicken und Bier) genießen, wurde in China
und anderen Ländern ausgestrahlt, wo „Chimaek“ sich
solcher Beliebtheit erfreut, dass es sogar als Eigenname
verwendet wird. In Hongkong schossen Hunderte von
koreanischen Chicken-Restaurants wie Pilze aus dem
Boden, weshalb sich sogar Sorgen um einen überhitzten
Wettbewerb regen.
Die „verrückte Liebe“ der Koreaner zu ChickenAbgesehen von den USA dürfte es kein Land geben,
in dem mehr frittierte Hähnchen verzehrt werden als
in Korea. Bezogen auf den Pro-Kopf-Konsum dürf-
te Korea sogar weltweit auf Platz 1 rangieren. Die vom
Forschungsinstitut der KB Financial Group Inc. heraus-
gegebenen „Lage-Analyse des koreanischen Brathähn-
chengeschäfts 2013“ zufolge, sollen 2012 fast 800 Mio.
Hühner geschlachtet worden sein. In den letzten zehn
Jahren soll sich der Umsatz des koreanischen Chicken-
Marktes von 330 Mrd. Won (ca. 240 Mio. Euro) auf 3,1
Bio. Won (ca. 2,25 Mrd. Euro) verneunfacht haben. Korea
trägt den Titel „Chicken-Republik“ nicht umsonst.
LIFESTYLE
Park Chan-il KochFoto Cho Ji-young
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 57
Die koreanische Vorliebe für Hähnchen ist immens: Laut einer Untersuchung werden in Korea pro Jahr an die 800 Mio. Hähnchen verzehrt.
© P
elic
ana
58 KOREANA Winter 2014
serviert wurde. Noch heute erinnern sich viele an die
Hähnchen, die sich dort am Elektro-Grillspieß drehten.
Damals gab es den Trend, dass die Väter mit einem Grill-
hähnchen in einer gelben Papiertüte von der Arbeit nach
Hause kamen. Das war wohl das Beste, was die stets
hochbeschäftigten koreanischen Väter machen konnten,
denen einfach die Zeit fehlte, ihre „Väterlichkeit“ durch
gemeinsames Schreinern im Hinterhof oder Rasen-
mähen zu demonstrieren. Auch ich erinnere mich noch
daran, wie mich als Jugendlicher gegen Mitternacht das
würzige Aroma des Grillhähnchens weckte.
In Soße marinierte Hähnchen von Pelicana, der 1982 in
Daejeon gestarteten ersten Chicken-Franchise-Kette
Koreas, und die Popularität der amerikanischen Fast
Food-Kette KFC, die 1984 in Korea Einzug hielt, sorg-
ten dann für einen neuen Boom auf dem Chicken-Markt.
Auch der Start der professionellen Baseball-Liga in den
1980er Jahren trug viel zum Wachstum dieses Marktes
bei. Die Menschen aßen gerne Hähnchen, während sie
sich die Baseballspiele im Fernsehen ansahen. Mit der
Fußballweltmeisterschaft 2002 erreichten die goldenen
Zeiten des Brathähnchengeschäfts dann ihren Höhe-
punkt: Nicht nur zu Hause und in Chicken-Restaurants
mit Breitwand-TV, wo man sich die Spiele ansehen konn-
te, sondern auch auf der Straße, wo sie an die Wände von
Hochhäusern projiziert wurden, feuerten enorme Men-
schenmengen, Hähnchenkeulen in den Händen schwin-
Das heißt aber nicht, dass die Koreraner schon seit
alters her frittierte Hähnchen nach heutiger Zuberei-
tungsart gegessen hätten. In der Vergangenheit war
nicht nur Speiseöl wertvoll, auch das Huhn war ein wert-
volles Nutztier, wie die Redewendung „Damit Huhn auf
den Tisch kommt, muss erst der Schwiegersohn zu
Besuch kommen“ zeigt. Erst Mitte der 1960er Jahre, als
mit der Industrialisierung der Landwirtschaft die Mas-
senproduktion von Futtermitteln möglich wurde und
sich auch die Zuchtmethoden verbessert hatten, konnte
sich die Hühnerzucht-Industrie rapide entwickeln. 1971
brachte ein koreanischer Speiseölhersteller das erste,
in Massenproduktion hergestellte Sojaöl auf den Markt,
was den einheimischen Chicken-Markt ernorm wachsen
ließ.
„Prototyp“ des Chicken auf koreanische Art ist das Grill-
hähnchen, das in dem 1961 eröffneten Myeong-dong
Yeongnyang Center, einem auf Hähnchen spezialisier-
ten Restaurant im Seouler Stadtviertel Myeong-dong,
Damals gab es den Trend, dass die Väter mit einem Grillhähn-chen in einer gelben Papiertüte von der Arbeit nach Hause ka-men. Das war wohl das Beste, was die stets hochbeschäftigten koreanischen Väter machen konnten, denen einfach die Zeit fehlte, ihre „Väterlichkeit“ durch gemeinsames Schreinern im Hinterhof oder Rasenmähen zu demonstrieren.
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KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 59
gend, die koreanische Mannschaft enthusiastisch mit
dem Schlachtruf „Daehan-minguk (Republik Korea)“ an
- Szenen, die weltweit für Aufregung sorgten.
Frittierte Hähnchen und DevisenkriseDer koreanische Chicken-Boom hat auch eine Schatten-
seite. Jeong Eun-jeong, Autorin von Koreanische Chi-
cken verweist in ihrem Buch auf eine wichtige Tatsache:
„Seit 1997 ist Chicken unangefochten die Nr. 1 unter den
Gerichten, die beim Auswärts-Essen bestellt werden.
1997, als Chicken sich diese Position sicherte, war genau
die Zeit, als der „mühselige Marsch“ begann. Während
der asiatischen Devisenkrise, in Korea wegen des IWF-
Rettungspakets auch als „IWF-Krise“ bekannt, eröff-
neten viele Familienernährer, die von heute auf morgen
auf der Straße standen, Hähnchenrestaurants, um ihre
Familie durchzubringen. Dafür brauchte man keine spe-
ziellen Fertigkeiten oder Fachwissen und auch nur rela-
tiv wenig Kapital. Seitdem gilt das Chicken-Restaurant
für die Baby-Boomer, die mit 40 bis 50 Jahren frühzeitig
aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als Geschäftsbe-
reich, in den man leicht einsteigen kann.
2011 gab es landesweit ca. 25.000 Franchise-Chicken-
Restaurants. Zählt man Nicht-Franchise-Restaurants
mit, kommt man auf rund 36.000, was 0,71 Chicken-
Restraurants pro 1.000 Koreaner macht. Die Zahl der
Geschäftspleiten ist ebenfalls enorm. In der Lage-
Analyse des koreanischen Brathähnchengeschäfts
2013 heißt es, dass in den letzten 10 Jahren pro Jahr
etwa 7.000 Restaurants aufmachten, während im glei-
chen Zeitraum 5.000 aufgaben. Die durchschnittliche
Lebensdauer liegt bei lediglich 2,7 Jahren. Da kann der
Wettbewerb nur knallhart sein. Vor ein paar Jahren ver-
kaufte ein Großhändler frittierte Hähnchen zum halben
Preis, was bei den kleineren Betreibern heftige Empö-
rung hervorrief. Der gerechte Zorn verbreitete sich all-
gemein, weil die Kleinstunternehmer sich eh schon
mehr schlecht als recht durchschlagen mussten und
der Großhändler die Situation nur noch verschlimmerte.
Hätte man Fernseher, Kühlschränke oder Ramen-Ins-
tantnudeln zum halben Preis vermarktet, hätte es eine
solch kollektive öffentliche Reaktion nicht gegeben. Das
koreanische Chicken ist eben mehr als ein gewöhnliches
Gericht.
Wenn Chicken im Westen Fast Food ist, kann es in Korea
„Soul Food“ genannt werden. Nicht nur bei freudigen
Anlässen, sondern auch bei traurigen und ärgerlichen
ist Chicken jederzeit für uns da. Frittiertes Hähnchen -
ein Gericht, das wie ein Freund die Momente der Freu-
de, Wut, Trauer und des Glücks mit uns teilt. Auch heute
vergessen wir nach der Arbeit zusammen mit Kolle-
gen oder Freunden bei einem frittierten Hähnchen und
einem Glas Bier die Sorgen des Lebens. Auf diese Weise
wird der seelische Hunger gestillt.
1. Eine 1968 in der Tages-zeitung Kyeonghyang Daily erschienene Wer-bung für Chicken vom Elektro-Grillspieß.
2. Zu der Zeit war es all-gemein üblich, dass die Väter nach der Arbeit Grillhähnchen mit nach Hause brachten.
3. In den Ländern Asiens, in die die koreanische TV-Serie My Love from the Star exportiert wurde, wurden die Szenen mit Chimaek zum Stadtgespräch und lösten nicht nur in Südostasien, sondern auch in Korea einen Chimaek-Hype aus.
3
60 KOREANA Winter 2014
Dort, wo das stille
BLICK AUS DER FERNE
Seoul ist meisterhaft in der Verführung – die Stadt zieht Menschen
mit ihrer Fülle und Intensität in den Bann. Alle Sinne werden ange-
sprochen. Ständig. Überall. Und in jeder Form: Der heiße Fußboden,
der im harschen Winter eiskalte Füße wieder auftaut, der Klang des
Mopeds, das nachts eine deftige Mahlzeit an die Haustür liefert, der
Geruch von Knoblauch, der vom Abendessen meines Nachbarn in
der U-Bahn erzählt, und nicht zuletzt die Abermillionen von Neon-
lichtern und Reklametafeln, die in Restaurants, Cafés und Bars ein-
laden, wo kulinarische Gelüste jeglicher Couleur erfüllt werden.
Seoul pulsiert, atmet konstante Veränderung, Geschichte, Kommerz,
Kunst und Kultur. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Doch
dann schlich sich fast unbemerkt, mit kleinen leisen Schritten, eine
Sehnsucht nach innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Zufriedenheit
an.
Als ich zum ersten Mal einen Fuß in ein traditionelles Teehaus setze,
durchfährt mich ein wohliges Gefühl. Es ist November – die molli-
ge Wärme und die schlichte, doch gemütliche Einrichtung erzeugen
eine süße Behaglichkeit. Mobiliar, Beleuchtung und Geschirr üben
sich in dezenter Zurückhaltung, um dem Tee ungeteilte Aufmerk-
samkeit zukommen zu lassen. Dieser schmeckt ungewohnt. Es han-
delt sich nicht um Tee im eigentlichen Sinne, sondern um den Auf-
guss der Chinesischen Beerentraube – auf der Karte als „Omijacha“,
ein Trank mit fünf Geschmacksrichtungen, angepriesen.
Erst nach und nach wage ich mich an grünen Tee, der im Vergleich zu
Kaffee ein Schattendasein in Korea führt. Das mag am Geschmack
liegen oder am Image, aber vor allem an der Kultur beider Getränke.
Es bedarf Achtsamkeit und Ruhe, wohlschmeckenden Tee zuzube-
reiten und darüber hinaus einiger Utensilien und Grundkenntnisse
über die Verarbeitung qualitativ hochwertigen grünen Tees, der im
Süden Koreas angebaut wird. Die zarten Teeblätter sind kleine Prin-
zessinnen, die als solche behandelt werden wollen: fürsorglich und
behutsam. Teekanne und Schälchen möchten zunächst vorgewärmt
werden. Die Blätter dagegen scheuen kochendes Wasser – die Zeit
des Abkühlens lädt zur Kontemplation ein. So kann schon die Zube-
reitung einer Schale Tee meditative Kraft entwickeln. Diese entfaltet
sich vollends im Genuss des Getränks. Die Aufmerksamkeit rich-
tet sich dabei ganz auf den delikaten Geschmack, der sich mit jedem
Aufguss verändert. Bereits im Mund wirkt der grüne Tee stärkend
und belebend. Der Zauber liegt in der Verbindung energiespenden-
der und beruhigender Kräfte, die sich sowohl im Zubereiten als auch
im Teetrinken entfalten. Beidem wohnt gleichermaßen Harmonie
und Ruhe inne. Tee – das ist Balsam für Körper und Seele, flüssiges
Glück.
Ein Glücksgefühl ganz anderer Art erfüllt mich beim Ausüben von
Seonmudo. Wie der Name verrät, handelt es sich um eine spiritu-
elle Bewegungsform – das Wort setzt sich aus „Seon“, im deutsch-
sprachigen Raum als „Zen“ bekannt, das für Meditation steht, sowie
„Mu“ für Kampf und „Do“ für Methode oder Weg zusammen. Bereits
seit der Silla-Zeit (57 v.Chr. – 935 n.Chr.) existiert diese koreanische
Kampfkunst, die von buddhistischen Mönchen weitergegeben und
praktiziert wird. Seonmudo gilt als Trainingsmethode zur Harmo-
nisierung von Körper und Geist, die zu einem höheren Bewusst-
sein führt und im Idealfall in der Erleuchtung mündet. Der Unter-
richt mutet allerdings sehr irdisch an, Erschöpfung und Muskelkater
inklusive. Er besteht aus der Verbindung verschiedener Atem- und
Dehnungsübungen, Meditation, Yoga-Elementen, Qigong-Formen
sowie Kampfkunst, die in festgelegter Abfolge eingeübt werden. Als
Anfängerin spüre ich schmerzlich, welche Muskeln ich im Alltag
kaum nutze. Immer und immer wieder lässt uns Meister Shin, Träger
des 4. Dans (Schwarzer Gürtel), die gleichen Formen wiederholen.
Meine Beine zittern, wenn wir eine schwierige Pose minutenlang hal-
ten sollen. Im Spiegel bemerke ich manchmal die fehlende Eleganz
meiner Ausführung.
Die Schönheit und Anmut dieser Kampfkunst kann man im Tem-
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 61
Lilith MüllerLektorin, Hankuk University of Foreign StudiesGlück verweilt
Ein von der Autorin selbst hergestellter Teetisch
pel Golgul-sa in der Nähe von Gyeongju bewundern. Im Hauptsitz
der weltweiten Seonmudo-Vereinigung lernen und lehren buddhis-
tische Mönche gemeinsam mit Menschen aus der ganzen Welt und
demonstrieren ihr Können. Das ist Ansporn und Hoffnung zugleich.
Doch während des Übens gibt es nur das Hier und Jetzt. Ich fokussie-
re mich auf den Atem, einzelne Körperteile und ihre Muskeln: Bewe-
gung, Anspannung, Entspannung. Ich spüre, wie sich durch Konzen-
tration und mentale Einkehr ein hellwaches Bewusstsein und innere
Ausgeglichenheit formen. Äußerlich zeugen rosa Wangen und ein
zufriedenes Lächeln von Erfüllung.
Die Woche beginnt auch mit einem Lächeln. Dem von Meisterin Om
– Künstlerin, Philantropin und Lehrerin – , wenn Sie die Tür zu ihrem
Studio im Nordwesten Seouls öffnet. Ihre Schülerinnen lehrt sie,
das traditionelle koreanische Papier Hanji zu verarbeiten, um dar-
aus Schachteln, Tabletts, Uhren, Lampen oder sogar Möbel zu fer-
tigen. Schritt für Schritt erklärt Frau Om interessierten Frauen den
Umgang mit diesem vielseitigen Material. Jeden Montagmorgen
sitze ich seit zweieinhalb Jahren in die Arbeit versenkt in ihrem Stu-
dio, entwerfe Skizzen für ein neues Projekt, vermesse Papier, zerle-
ge es mit einem Skalpell, leime oder lackiere.
Während 17 Stockwerke tiefer Hektik und Lärm die Schnellstraße
entlang des Han-Flusses beherrschen, erfüllen Konzentration und
Muße jeden Winkel des Arbeitsraumes. Zu Beginn mangelt es mir an
Geduld. Ich löchere die Meisterin mit Fragen über die Fertigstellung
eines Objekts und fühle nicht selten Enttäuschung, wenn diese nicht
zeitnah scheint. Dies ändert sich mit meinem ersten Möbelstück aus
Hanji: einem Tisch zum Teetrinken. Allein die Recherche und Pla-
nung beanspruchen zwei Wochen: Größe, Form, Farben des Papiers
und Verzierung – alles muss berücksichtigt werden. Skizzen über
Skizzen. Dann der Beginn des Projekts: Zunächst werden die Außen-
wände sowie die Tischplatte und zwei Schubladen aus Pappe gebaut.
Messen, schneiden, feilen, polieren, zusammenleimen. Voll und ganz
vertiefe ich mich in die Arbeit, merke nicht, wie sich Schultern und
Nacken verspannen. Genauso wenig bekomme ich mit, wie die Zeit
verfliegt. Oft gehe ich erst am Nachmittag, manchmal ist bereits der
Abend angebrochen.
Nur langsam schreitet das Werk voran. Doch dieses Eintauchen öff-
net eine weitere Tür – eine Tür in die Stille und Zufriedenheit. Es gibt
nichts außer dem Papier. Gedanken, Wünsche, Sorgen existieren
nicht mehr. Während mein Fokus bei der traditionellen Seon-Medita-
tion, die ich im Tempel praktiziere, immer wieder abschweift, schafft
es der Hanji-Kurs, ihn zu bündeln. Er ist eine Art „Papier-bearbei-
tende-Meditation“. Nachdem das Äußere und Innere des Tisches mit
schwarzem und dunkelrotem Papier eingekleidet sind, fehlt noch die
Dekoration. Dafür sind Teeblätter und zwei Teeschalen aus Hanji als
Griffe vorgesehen. Wieder und wieder schneide ich mit dem Skalpell
grünes Papier in Form von Teeblättern zurecht. Den ersten fünfzehn
sieht man die Bemühungen an, dann werden die Formen fließender.
Innere Ruhe stellt sich ein. Nach dem letzten Lackieren und einer
Gesamtdauer von fünf Monaten kann ich zum ersten Mal eine Schale
Tee auf meinem Tisch zubereiten. Ein perfekter Moment, für den sich
die Anstrengung gelohnt hat.
Seoul, die Stadt der Schnelligkeit und Verlockungen, birgt auch Plät-
ze der Stille und inneren Ruhe. Es liegt an jedem selbst, diese Orte
für sich zu suchen, sich ganz auf das stille Glück einzulassen und zu
verweilen.
REZENSION
Realiät zeugt Fantasie, Fantasie zeugt RealitätChang Du-yeong Literaturkritiker
Die Jahre kurz nach der Millenniumwende, als
Kim E-whan mit dem Schreiben anfing, waren
in Korea die Blütezeit der Fantasy-Romane, die
durch die Beliebtheit der Serie Dragon Raja von Lee
Yeong-do ausgelöst wurde. Dragon Raja folgte der
Grundkonstellation der Fantasy-Welten mit Stämmen,
Magie usw. nach dem Vorbild von Tolkiens Der Herr der
Ringe. Der Erfolg dieses Romans führte in Korea zu
einer Flut von Werken gleichen Strickmusters und das
Erscheinen von Drachen, Magie usw. wurde zur For-
mel für die koreanische Fantasy-Literatur, die dann v.a.
durch ihre Anwendung auf Online-Spiele zu einer Kon-
vention für Fantasy-Romane wurde.
Im Gegensatz dazu wird in Kims Werken, denen meis-
tens Zeit und Raum des Alltags als Hintergrund dienen,
die Realität von der Fantasie überlagert. Der Roman
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Der Junge, der Socken sammelt (2007) beginnt damit,
dass der Protagonist einen geheimen Durchgang ins
Land der Fantasie findet. In der Realität ist er ein ganz
gewöhnlicher Teenager, der sich Sorgen macht, ob er
die Universitätsaufnahmeprüfung bestehen oder eine
Freundin finden kann, aber während er im Land der Fan-
tasie ein- und ausgeht, entwickelt er sich zu einer ein-
flussreichen Person, die bei vielem mitmischt. Auch in
dem Roman Der Außerirdische von fünf Uhr nachmit-
tags (2008) koexistieren Realität und irreale Fantasie-
welt: Man Kann sie zwar nicht erkennen, aber überall in
unserer Umgebung stolzieren getarnte Außerirdische
herum und ein normal erscheinendes Café ist in Wirk-
lichkeit die geheime Agitationsstätte von Spezialagen-
ten, die diese Außerirdischen verfolgen und festnehmen.
In Kims Erzählungen existiert die Fantasiewelt parallel
zum langweiligen Alltag.
Die Werke von Kim E-wahn, in denen Realität und Fanta-
sie Seite an Seite bestehen, werden manchmal als Alle-
gorien auf die Realität interpretiert. In seinem Roman
Die Kugel der Verzweiflung, der dem Autor 2009 den
Ersten Multi-Literatur-Preis und Ruhm einbrachte, zeigt
seine Einsicht in Existenz und Begierde des Menschen.
Der Schauplatz des Romans ist das Seoul von heute, die
Stadt, in der wir leben. Urplötzlich taucht eine nicht iden-
tifizierbare schwarze Kugel auf und schluckt die Men-
schen einen nach dem anderen, was sie immer stärker
werden lässt, sodass sich die Menschheit schließlich
vom Aussterben bedroht sieht. Die Menschen-absorbie-
rende Kugel, die als Motiv wohl Zombie-Filmen entlehnt
Kim E-whan hat sich über viele Jahre hinweg im Bereich der so genannten Genre-Literatur einen festen Platz gesichert. 1996 begann er, unter Ausnutzung der PC-Kommunikation zu schreiben und nach seinem Studienabschluss im Jahr 2000 machte er sich mit Online-Fortsetzungsromanen unter den Lesern der Genre-Literatur einen Namen. Bereits sein erster Buchroman Die Geister von Evitagen (2004) wies auf seine vielfältigen Interessen hin, zu denen Science Fiction, Fantasy, Computerspiele, Animationsfilme, Kinofilme, Mythen und Legenden sowie Horror gehören.
62 KOREANA Winter 2014
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 63
Ende wieder auf die Frage der Realität der Gegenwart.
Die Erzählung, die mit der Frage: „Was wird in Zukunft
geschehen?“ angefangen hat, stellt am Schluss, als alle
Geschichten erzählt sind, dem Leser die Frage: „Was ist
es, das du wirklich begehrst?“
Kim E-whan fasziniert den Leser an verschiedenen Stel-
len seiner Erzählungen, an denen sich Realität und Fan-
tasie überlagern, mit einer „zwar vertrauten, aber bis
dahin noch nicht entdeckten Fremdheit“. Man könnte
es vielleicht die Faszination von dem nennen, was man
nach einem langem Spaziergang in der Schwerelosigkeit
der frei herumschweifenden Vorstellungskraft unver-
sehens entdeckt. Das kann ein scharfer Hinweis auf das
Verhalten des Menschen oder auch eine Mahnung vor
seiner übermäßigen Gier sein. In seiner Erzählung Nie-
sen mit der Kaffeetasse in der Hand, in der es um die
unsinnige Tagträumerei eines Gesprächs mit einer aus
dem Abfluss gekrochenen Schnecke geht, füllt der Autor
die Geschichte mit reichlich originellen Einfällen, um
dann mit dem Satz abzuschließen: „Die Realität zeugt
Geschichten, Geschichten zeugen Realität; beide zusam-
men haben unser Leben geschaffen, indem sie einan-
der zeugten“. Wenn man daran denkt, dass für Kim eine
Geschichte eine von der Vorstellungskraft à la Science
Fiction und Fantasy überquellende Geschichte, sprich
eine Fantasiegeschichte ist, dann lässt sich der obige
Satz wie folgt umformulieren: „Realität zeugt Fantasie,
Fantasie zeugt Realität“. Diese Schnittstelle birgt das
Potential, die Grenzen zwischen der Genre-Literatur und
der orthodoxen Literatur zu überschreiten.
ist, symbolisiert den Tod, kann aber auch als Metapher für das auf
voller Front heranrückende Große Kapital als reizvolles literarisches
Mittel verstanden werden, das die Gier des Menschen restlos ent-
blößt.
Die Koexistenz von Realität und Fantasiewelt liefert einen wichtigen
Hinweis sowohl für die Genre- als auch für die orthodoxe Litera-
tur. Kims Werke, die die Möglichkeit der Reflexion über die Realität
bzw. die des Einsehens in die Realität aufzeigen, sind von besonde-
rer Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass die Genre-Literatur
hauptsächlich wegen ihrer wesensbedingter Selbstwiderspiegelung
anstelle von Realitätswiderspiegelung oder wegen ihres eskapisti-
schen Charakters kritisiert wird. Auch aus der Sicht der orthodoxen
Literatur sind die Frische, die Kims Science Fiction- und Fantasy-
artige Weltanschauung zeigt, seine Kühnheit, die Grenzen der Vor-
stellungskraft ungehemmt zu erweitern, und seine Fähigkeit, das
Interesse der Leser nachhaltig zu fesseln, beachtenswert.
In diesem Sinne ist Kims Deine Verwandlung eine Erzählung, die
das Potential der seinen Werken innewohnenden „Grenzvorstellun-
gen“ an den Tag legt. Diese Erzählung, die 2010 in der Literaturzeit-
schrift Munhakdongne (Literaturdorf) veröffentlicht wurde, ist die
veränderte Version der Erzählung Verwandlung!, die einige Jahre
zuvor in dem auf Fantasy-Literatur spizialisierten Webzin Mirror
(mirror.pe.kr) veröffentlicht worden war. „Was würde geschehen,
wenn der Mensch seinen Körper beliebig ändern könnte?“ Diese
Grundfrage der Erzählung hat ihre Wurzeln in der Science-Fiction-
Tradition, deren Lieblingsstoff künstliche Menschen bzw. Roboter
sind. Verwandlung! besteht aus etwa zwanzig kurzen Texten, die
aus Berichten von Wissenschaftlern der Zukunft stammen könnten.
In Deine Verwandlung erscheinen dazu die Figuren „Ich“ und „Du“.
Das epische Grundgerüst wird durch die Darstellung verschiedener
Geschehnisse aufgebaut und durch Gespräche zwischen „Ich” und
„Du” oder Beschreibungen der psychischen Befindlichkeit ausgeklei-
det. Wenn in Verwandlung! originelle Vorstellungen einfach nur anei-
nandergereiht waren, so ist in Deine Verwandlung die Literarität auf
einer höheren Ebene gesichert und die Vorstellungen weisen mehr
Tiefe und Breite auf.
Infolgedessen bietet die Erzählung das Vergnügen, einen Blick in die
Zukunft à la Science Fiction zu werfen und bewirkt gleichzeitig eine
Reflexion über die Gier des Menschen. An manchen Stellen ist eine
gewisse Huldigung an Animations- oder Kinofilme auszumachen,
die eine dunkle, deprimierende Zukunft darstellen, bzw. eine Paro-
die derselben. Andere Stellen ließen sich hingegen als erzählerische
Anwendung der Theorien über Homosexualität oder Psychoanalyse
interpretieren. Die Vorstellungen und Reflexionen sind nicht auf die
Zukunft fixiert, sondern weisen mit Bezügen zum antiken Griechen-
land oder zum Seoul von heute dynamische Aspekte auf. Ist man
eine Weile den Spuren der interessanten, wunderlichen bis irrsinni-
gen Vorstellungen über die künftige Welt gefolgt, so stößt man am
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