Download - Leseprobe | Karl Pilny : Japan Inc
…..E x k l u s i v e L e s e p r o b e…..
Ab dem 26. September 2011
im Buchhandel.
Karl Pilny
Japan Inc.
Thriller
Osburg Verlag
Erste Auflage 2011 © Osburg Verlag Berlin 2011
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner
Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat und Bearbeitung: Clemens Brunn, Hirschberg Herstellung: Prill Partners producing, Berlin
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Printed in Germany
ISBN: 978-3-940731-69-2
Roman
510 Seiten, gebunden
€ 22,90 [D] | € 23,60 [A] |
sFr 34,90
Karl Pilny, geboren 1960, gilt als einer der profundesten deutschen Asienkenner. Der Wirtschaftsanwalt ar-beitete bei inter-nationalen Anwaltskanz-leien in Asien und Europa. Pilny, der heute in Berlin und Zürich lebt, verbrachte Jahre in Japan und hat mit »Das asiatische Jahrhundert«, »Tanz der Riesen« und »Tiger auf dem Sprung« drei viel beachtete, spannungsreiche Sach-bücher über die wachsende Bedeutung des asiatischen Wirtschaftsraumes für unser globales Jahrhundert ver-fasst. »Japan Inc.« ist sein erster Roman.
Der Politthriller zu Japan Atomenergie, bakteriologische Kampfmittel, die japanische Mafia der Yakuza, eine Geiselnahme im Shanghai World Financial Center – wir schreiben das Jahr 1 nach der Katastrophe von Fukushima im März 2011. Die alte Rivalität zwischen Japan, China und Korea findet durch die Tatsache, dass sich Nippon nach Fukushima noch schneller im Sinkflug befindet, neue Nahrung und befeuert den Nationalismus auf allen Seiten. Karl Pilny ist mit diesem Buch ein Politthriller der Extraklasse gelungen. Während eines Empfangs im spektakulären Wolkenkratzer des Shanghai World Financial Center bringen chinesische Studenten 300 Geiseln in ihre Gewalt, um auf die noch immer ungesühnten japanischen Kriegsverbrechen in Nanking 1937 und im Zweiten Weltkrieg aufmerksam zu machen. Insbesondere wollen sie auf die Menschenversuche der ominösen »Einheit 731« hinweisen, deren Forschungsergebnisse bis heute Verwendung finden. Welche Rolle spielen hierbei die Waguni, ein verschwörerisches Netzwerk aus Wirtschaftsführern, Teilen des Militärs und nicht zuletzt der mächtigen Yakuza in Japan? Die Welt steht am Rand einer militärischen Eskalation. Nur der Anwalt Jeremy Gouldens, der eigentlich seine verschleppte Liebe, Cathy Wong, aus den Klauen der Mafia befreien will, kann sie aufhalten.
Eine einzigartige Mischung aus
hochbrisanten Fakten, aktuellen
Ereignissen und beklemmend
realistischer Fiktion.
P r o l o g
Die vier Chinesen, die am 1. Mai des Jahres 2012 kurz vor 02:30 Uhr
morgens den Haupteingang des Shanghai World Financial Centers an
der Century Avenue betraten, wurden vom Facility Manager bereits
sehnlichst erwartet. Sie waren mit Overalls der deutschen Firma
»ThyssenKrupp Elevator« bekleidet und trugen, wie es Vorschrift war,
Montagehelme aus Polycarbonat, auf denen ebenfalls das Firmenlogo
prangte. Es handelte sich um einen Wartungstrupp, bestehend aus
einem Ingenieur und drei Mechatronikern. Die Techniker hatten zwei
schwere Werkzeugkoffer sowie ein Mini-Laptop dabei. Sie waren etwa
acht Minuten zuvor alarmiert und vom Facility Manager persönlich
über die Störung informiert worden. Offenbar steckten zwei Gäste des
zweithöchsten Hotels der Welt in einem Fahrstuhl zwischen der 93.
und der 94. Etage fest. Es handelte sich allerdings nicht um einen
hoteleigenen Aufzug des Park Hyatt. Genaueres ließ sich nicht sagen, da
die eingebaute Überwachungskamera offenbar ausgefallen und auch
die Notrufleitung seit dem ersten Hilferuf unterbrochen war. Das alles
ließ auf ein größeres technisches Problem schließen.
Die vier Männer passierten die Sicherheitsschleuse ohne
Beanstandung, die Metalldetektoren blieben stumm. Ihre Namen auf
den elektronischen Firmenausweisen stimmten mit der vorliegenden
Personenliste überein. Die holografischen Porträtfotos ebenfalls.
Daraufhin wurden die Werkzeugkoffer und das Mini-Laptop nur
oberflächlich untersucht.
Die gesamte Sicherheitskontrolle dauerte kaum zwei Minuten.
Danach bestiegen die Techniker in Begleitung des nervösen Facility
Managers einen der insgesamt vier Doppeldecker-Fahrstühle, die von
ThyssenKrupp Elevator eigens für das World Financial Center
entwickelt wurden. Sobald sich die aerodynamisch geformten Türen
geschlossen hatten, wurden die fünf Männer mit einer Geschwindigkeit
von zehn Metern pro Sekunde nach oben katapultiert – im schnellsten
Aufzug der Welt.
Als sie einige Tage später von chinesischen Sicherheitsbeamten
befragt wurden, konnte sich keiner der Mitarbeiter des Wachpersonals,
die in dieser Nacht Dienst gehabt hatten, an irgendwelche
Auffälligkeiten erinnern. Die vier einheimischen Mitarbeiter des
deutschen Konzerns seien absolut glaubhaft und souverän aufgetreten.
Im Übrigen habe man während der dreijährigen Planungs-, Fertigungs-
und Montagephase, in der ThyssenKrupp Elevator für den Einbau von
über 40 verschiedenen Anlagen im gesamten Gebäude verantwortlich
gewesen war, stets ausgesprochen gute Erfahrungen mit den
Mitarbeitern des Unternehmens gesammelt. Ja, der Publikumsverkehr
sei an jenem frühen Morgen vielleicht etwas stärker gewesen, als zu
solch nachtschlafender Stunde gemeinhin üblich, was jedoch aufgrund
der zahlreichen anstehenden gesellschaftlichen Ereignisse im Haus zu
erwarten gewesen sei. Nein, die routinemäßige Sicherheitsüberprüfung
sei trotzdem streng vorschriftsmäßig durchgeführt worden. Ja, absolut
korrekt und vorschriftsmäßig. Nein, es habe wirklich auch nicht die
leisesten Hinweise auf etwaige terroristische Absichten oder Ähnliches
gegeben. Selbstverständlich nicht.
Es dauerte keine zwei Minuten, bis die Männer ihren Einsatzort
im 94. Stockwerk erreicht hatten. Hier oben befindet sich die knapp
800 Quadratmeter große »Sky Arena«. Hunderte von Metern über den
großen Konferenzsälen in den niedrigeren Etagen gelegen, ist diese
höchste Veranstaltungsplattform der Welt exklusiven Anlässen wie den
festlichen Banketten der chinesischen und internationalen Hautevolee
oder der werbewirksamen Präsentation neuer Luxusprodukte
vorbehalten. Hier sollten, auf Einladung der Moto Corporation, vier
Tage später rund 200 Persönlichkeiten aus der internationalen Politik
und Geschäftswelt zusammenkommen, wenn die Firma ihren
Festempfang zu Ehren ihres Präsidenten Minato Moto gab. Dieses
Event, das mehr oder weniger zufällig zeitgleich mit der Eröffnung der
großen ostasiatischen »New Energy Conference« in den
Konferenzräumen viele Etagen tiefer stattfinden sollte, wurde als eines
der wichtigsten gesellschaftlichen Großereignisse des Jahres 2012 im
World Financial Center gehandelt.
Schließlich war die Moto Corporation für das Shanghai World
Financial Center nicht irgendein Unternehmen – sie hatte es gebaut. Elf
Jahre nach dem ersten Spatenstich und nach so manchen Problemen
und zwischenzeitlichen Unterbrechungen konnte die japanische Firma
im Sommer 2008 endlich den erfolgreichen Abschluss der Bauarbeiten
vermelden. Die wahren Kosten waren geheim gehalten worden, die
Schätzungen reichen von »etwa 875 Millionen« bis »weit über 1,5
Milliarden US-Dollar«. Auf jeden Fall ist das SWFC ein Bauwerk der
Superlative. Mit seinen 492 Metern dominiert der schlanke, komplett
verspiegelte Turm die spektakuläre Skyline der Pudong New Area:
jenes gigantischen Stadtteils aus der Retorte, der seit 1990 in
atemberaubender Geschwindigkeit aus dem Boden gestampft worden
ist. Wo 20 Jahre zuvor noch sumpfiger Ackergrund war, leben und
arbeiten inzwischen mehr als drei Millionen Menschen. Mit dem
»Oriental Pearl«-Fernsehturm, dem Jin Mao Tower, der Börse und dem
Pudong New International Airport beherbergt Pudong alle neuen
Wahrzeichen der wiedererweckten »Stadt über dem Meer« – denn
nichts anderes bedeuten die chinesischen Schriftzeichen »Shanghai«.
Auch wenn das zeitgleich errichtete »Taipeh 101« auf Chinas
»abtrünniger Provinz« Taiwan dem SWFC knapp den Rang abgelaufen
hat, ist es immerhin das höchste Haus auf dem ostasiatischen Festland.
Die zahlreichen Störungen während der langen Bauphase hatten zum
Teil auch politische Gründe – kein Wunder, wenn ausgerechnet ein
japanischer Konzern ein chinesisches Bauwunder errichten soll. So
hatten die Architekten, um den in knapp 500 Metern Höhe oft starken
Winden weniger Angriffsfläche zu bieten, zwischen 93. und 97.
Stockwerk ursprünglich einen kreisrunden Durchlass vorgesehen.
Doch dieser Entwurf erinnerte vor allem die chinesischen Patrioten
fatal an eine aufgehende Sonne. Die japanische Nationalflagge! Nach
allerlei wütenden revanchistischen Protesten musste der Entwurf
geändert werden. Jetzt krönt ein trapezförmiger Durchlass zwischen
96. und 100. Stockwerk das elegante Gebäude. So kam das Shanghai
World Financial Center zu einem wenig charmanten Spitznamen:
Flaschenöffner.
Letztendlich hatte die Moto Corporation durch den Riesenbau
aber doch ein deutliches Zeichen der japanischen Präsenz auf dem
asiatischen Kontinent gesetzt. Ein unübersehbares Zeichen! Und das
ließ da und dort alte Wunden erneut aufbrechen, die eigentlich nie so
richtig vernarbt waren. Japanische Aktivitäten auf chinesischem Boden
hatten für China in der Vergangenheit selten Gutes bedeutet. Nanking
war nicht vergessen. Nanking durfte niemals vergessen werden.
Aus Furcht vor terroristischen Attacken – ob nun von
nationalistisch- revanchistischer, fundamentalistischer oder anderer
Seite – war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das
World Trade Center in New York das Sicherheitskonzept für das in Bau
befindliche Gebäude gründlich überdacht und verbessert worden, was
entsprechend die Baukosten noch einmal deutlich in die Höhe
getrieben hatte. Doch der Mehraufwand hatte sich ausgezahlt: Man war
in Shanghai nun überzeugt, mit dem SWFC den sichersten
Wolkenkratzer der Welt zu haben.
In den Verhören durch Beamte der chinesischen Geheimpolizei
einige Tage später erinnerte sich Facility Manager Herr Shi, dass die
Techniker als Erstes eine Telefonverbindung in die stecken gebliebene
Aufzugskabine hergestellt hatten. Wenn sie nun erleichtert waren, so
ließen sich die vier Männer das mit keiner Miene anmerken. Auch die
Stimmen der beiden Eingeschlossenen hätten vor allem ruhig und
gefasst geklungen.
Offenbar hatte es einen Kurzschluss gegeben, der das
automatische Bremssystem auslöste. Nachdem man sich davon
überzeugt hatte, dass für die beiden Hotelgäste in der Kabine keine
Gefahr bestand und man sie in wenigen Minuten würde befreien
können, bat der Ingenieur, der das Laptop mit sich führte, den Facility
Manager höflich, ihn kurz in die Steuerungszentrale im 24. Stock zu
begleiten, wo sich auch der zentrale Kontrollraum für die
Aufzugsanlagen befindet. Es sei unbedingt erforderlich, die
betreffenden Strom- und Anschlusskreise schnellstens auf eventuelle
Fehler zu überprüfen – gerade im Hinblick auf die bevorstehenden
Großveranstaltungen, zu denen man so viele Gäste erwartete. Dazu
ließe es sich leider nicht vermeiden, die beiden nebeneinander
liegenden Aufzugsschächte zwischen dem 79. und 100. Stockwerk für
etwa drei Minuten komplett außer Betrieb zu nehmen. Ob sich dies
vielleicht rasch und diskret bewerkstelligen ließe? Solch peinliche
Pannen wie ein steckengebliebener Aufzug sollten sich schließlich
keinesfalls wiederholen.
Während der intensiven Verhöre sollte sich der Facility Manager
auch daran erinnern, dass sich die angeblichen Mitarbeiter des
Wartungstrupp untereinander kaum unterhalten hatten. Auch sei kein
einziger Name gefallen. Er habe sich auf die Bitte des IT-Spezialisten
hin mit ihm nach unten begeben und könne daher keine genaueren
Aussagen über die Arbeiten machen, die die Mechatroniker während
seiner Abwesenheit am Aufzug erledigt hatten. Soviel er wisse, sei auch
keiner der Wachmänner direkt vor Ort gewesen. Und als er hinterher
das Ergebnis ihrer Tätigkeit inspiziert habe, war alles bereits wieder
wunschgemäß instand gesetzt. Nur als es den drei Mechatroniker
gelungen war, über die Notausstiegsluke der Fahrstuhlkabine zu den
Eingeschlossenen vorzudringen, habe es einen kurzen telefonischen
Kontakt gegeben. Außerdem habe der IT-Spezialist, sobald er sein
Laptop im Kontrollzentrum verkabelt hatte, seine drei Kollegen knapp
darüber informiert, dass nun die Energiezufuhr für die abgesprochenen
drei Minuten unterbrochen werde, damit er sein
Fehlerdiagnoseprogramm durchführen könne. Bald darauf hätten sie
sich beide gemeinsam wieder auf den Rückweg in den 94. Stock
gemacht. Ja, bei den beiden Befreiten habe er sich persönlich
entschuldigt. Das seien sehr höfliche und verständnisvolle Männer
gewesen, die sich nach dem Schock zu ungastlicher Stunde
verständlicherweise rasch auf ihre jeweiligen Zimmer zurückgezogen
hätten. Was sie mitten in der Nacht mit ihren grauen Anzügen und
schwarzen Köfferchen, die sie wie Vertreter aussehen ließen,
ausgerechnet im Stockwerk über der höchsten Hoteletage zu schaffen
gehabt hatten, habe er sie nicht gefragt. Er habe sich auch keine
Gedanken darüber gemacht. Nein, es habe keinerlei Anhaltspunkte
dafür gegeben, dass die beiden Männer im Fahrstuhl und die vier von
der Wartungstruppe sich bereits gekannt haben könnten.
Von den Ergebnissen des Abschlussberichts der chinesischen
Polizei wurden zweifellos nicht alle Details an die Öffentlichkeit
weitergegeben. Möglicherweise hatten die beiden Männer im Fahrstuhl
einen speziell manipulierten Elektroschocker benutzt, um den
entscheidenden Kurzschluss auszulösen, der das automatische
Bremssystem des Aufzugs aktiviert und die Elektrik des
Fahrstuhlschachtes lahm gelegt hatte. Das Gerät könnten sie,
zusammen mit den Sprengkörpern, leicht in ihren Musterkoffern
transportiert haben. Fest steht, dass die vier etwa handtellergroßen
Haftminen, mit denen die Aufzüge bestückt wurden, jeweils mit einem
starken Magneten sowie einem kleinen Funkempfänger versehen
waren, über den die Zündung ausgelöst werden konnte. Weniger
Klarheit herrscht hinsichtlich der Frage, wie die Männer die Zünder am
oberen Rand der Laufschienen der Fahrstuhltüren im 94. Stockwerk
angebracht hatten. Und zwar in beiden Fahrstuhlschächten.
Möglicherweise hatten sie die drei Minuten, in denen der Facility
Manager auf Bitten des IT-Spezialisten die Fahrstühle außer Betrieb
genommen hatte, dazu genutzt, um von dem einen Schacht in den
danebengelegenen zweiten zu gelangen. Um an den Verstrebungen der
Wände hinüberzuklettern, bedurfte es allerdings eines außerordentlich
geschickten, durchtrainierten und minutiös vorbereiteten Mannes, der
gewillt war, eine nicht nur lebensgefährliche, sondern offenbar auch
recht schmerzhafte Kletterpartie auf sich zu nehmen – dass sich an den
messerscharfen Kanten einer der weniger stark zerstörten
Querstreben Spuren von Blut entdecken ließen, sprach jedenfalls für
die Richtigkeit dieser nicht unumstrittenen Hypothese.
Alle etwaigen weiteren Erkenntnisse halten die chinesischen
Behörden nach wie vor unter Verschluss. So ist zum Beispiel völlig
unbekannt, was aus den vier chinesischen ThyssenKrupp-Mitarbeitern
geworden ist. Ein wenig mehr weiß man über das mysteriöse
Verschwinden der beiden im Fahrstuhl eingeschlossenen Hotelgäste:
Es handelte sich um zwei Japaner, die noch am gleichen Tag
ausgecheckt hatten und in ihr Heimatland zurückgeflogen waren.
Offenbar waren sie unter falschen Namen im Park Hyatt abgestiegen,
denn beim Versuch weiterer Ermittlungen in Japan verlor sich schon
bald ihre Spur.
I
D i e S e n d u n g
Erster Tag
Shanghai, 1. Mai 2012. 17:00 Uhr
Am ersten Nachmittag im Mai herrschte am Bund, der berühmten
Uferpromenade der südchinesischen Metropole, wie üblich ein reges
Treiben. Vermutlich war das Treiben sogar noch reger als üblich. Aus
den imposanten Bank- und Geschäftsgebäuden am breiten Boulevard
strömten Menschen um Menschen und fluteten in hektischem
Gewimmel die Gehsteige und Seitenwege hinab. Nebenan auf der
zehnspurigen Fahrbahn brummte der Verkehr. Autos hupten, Motoren
heulten, Fahrer fluchten oder ergaben sich seufzend in die
unabänderliche Tatsache, dass im unerbittlich anrollenden
Verkehrsaufkommen der Rushhour ohnehin nur Stop and Go möglich
war – wie sehr man auch hupen und fluchen mochte.
Vor den monumentalen Kulissen der Prachtbauten im
Kolonialstil wirkten die wogenden, schnatternden und brummenden
Massen, die namenlos die Straßen und Plätze bevölkerten, wie
wimmelnde Ameisen. Wie Ungeziefer. Irgendein übermenschliches
Wesen einer höheren Existenzform könnte auf die Idee kommen, dass
man über dieses lästige, wertlose Ungeziefer nur das entsprechende
Gift zu sprühen brauchte, um es ein für allemal loszuwerden. Dann
würde plötzlich gespenstische Ruhe einkehren in den Straßen und
Häusern dieser eben noch vor Leben strotzenden Stadt …
Es war ein sonniger Tag. Auf der eigentlichen Promenade, direkt
am Wasser des träg dahin fließenden Huangpu mit Blick auf die
futuristisch aufragende Skyline des neuen Stadtviertels Pudong am
anderen Ufer gegenüber, waren neben spazierenden Touristen und
eilenden Geschäftsleuten wie immer auch zahlreiche Jogger unterwegs.
Unter ihnen besonders viele »Langnasen« – Geschäftsleute aus Europa
und Amerika, die seit der Öffnung Chinas zu Zehntausenden in die
fernöstliche Boomtown geströmt waren und in ihrer raren freien Zeit
versuchten, sich fit zu halten.
Der durchtrainierte, etwa vierzigjährige Läufer, der mit
elastischen Sätzen den Bund entlang schnellte, hatte für die
kurzatmigen abendländischen Freizeittraber nur ein verächtliches
Lächeln übrig. Er hätte als Japaner durchgehen können, auch wenn er
für einen Japaner wohl etwas überdurchschnittlich groß gewachsenen
war. Immerhin war er im japanischen Osaka geboren und
aufgewachsen, doch sein Name – Kim Park – verwies auf seine wahre
Herkunft: Kims Eltern stammten aus dem nördlichen Korea und
gehörten zu jenen etwa zweieinhalb Millionen Koreanern, die während
der japanischen Besatzungszeit auf Nippons Inseln verschleppt und zur
Zwangsarbeit verdammt worden waren. Etwa 700000 von ihnen –
darunter auch Kims Großeltern – waren nach der Kapitulation des
Kaiserreichs im August 1945 in Japan geblieben, wo ihnen der erhoffte
gesellschaftliche Aufstieg indes meist versagt blieb. Kim Park war, nach
vielen Umwegen, einer der wenigen Japan-Koreaner, die es geschafft
hatten. Doch dafür hatte er einen hohen Preis gezahlt.
Während die meisten der europäischen Langnasen und
»Butterstinker«, an denen der Koreaner wie selbstverständlich
vorbeizog, in der abgasgeschwängerten Luft der Industriemetropole
schon bald nach Sauerstoff japsten, wirkte Kim wie ein ausgeruhter
Athlet, der sich aufwärmte. Dass er gerade erst ein hartes,
sechzigminütiges Taekwondo- Training absolviert hatte, war ihm beim
besten Willen nicht anzumerken. Bis zum Kerry Center an der Nanjing
Xi Lu, wo er, nur einige Stockwerke über seiner kleinen
Filmproduktionsfirma, in der 30. Etage in einem Penthouse residierte,
hatte er noch etwa vier Kilometer vor sich. Ein Klacks.
Kim erhöhte die Schrittfrequenz, als er auf die Nanjing Lu einbog,
die turbulente Hauptgeschäftsstraße und pulsierende Lebensader der
Stadt. Doch er hatte keinen Blick für die bunten Leuchtreklamen, die
aggressiven Straßenhändler und die Scharen von Shoppern,
Schaufensterbummlern und Touristen, die Chinas bedeutendste
Einkaufsmeile bevölkerten. Er schielte auf den Pulsmesser an seinem
schlanken Handgelenk und tat das, was ihm beim Laufen immer schon
am leichtesten gefallen war: nachdenken.
Den ganzen Tag schon drehten sich seine Gedanken nur um zwei
Dinge. Das eine war eine aufregende Frau, die ihn für heute Abend
eingeladen hatte. Das andere war ein aufregendes Drehbuch, dessen
Exposé und Anfangsszenen ihm – wie er meinte – zugespielt worden
waren. Der Arbeitstitel dieses Werks lautete Yellow Submarine, aber
der Inhalt hatte nichts mit dem gleichnamigen Film jener vier Pilz
köpfe aus dem fernen Liverpool zu tun. Als Autor firmierte ein gewisser
Julian Peek. Kim Park hatte gründlich recherchiert und war zu dem
Ergebnis gekommen, dass es sich bei diesem Namen um ein
Pseudonym handeln musste. Kein Einziger der ihm bekannten
Filmagenten hatte jemals von einem Drehbuchautor namens Julian
Peek gehört – und Kim, der seit fast zehn Jahren in diesem Geschäft
unterwegs war, kannte viele Agenten. Selbst die ihm bis dato
unbekannte, gutaussehende Agentin mit der sinnlichen Stimme, die
einige Tage zuvor unangemeldet in sein Büro geplatzt war, hatte ihm
außer dem Filmstoff nur eine gefälschte Visitenkarte hinterlassen.
Kim Parks filmische Produktion ruhte im Wesentlichen auf zwei
Säulen: Zum einen produzierte er in Zusammenarbeit mit mehreren
großen amerikanischen und britischen Werbeholdings Commercials
für den ostasiatischen Raum. Das war sein Brot-und-Butter-Geschäft,
mit dem er ganz gut über die Runden kam. Zum anderen hatte er an
einer Sendereihe filmisch aufbereiteter Interviews mit asiatischen
Berühmtheiten gebastelt: vom thailändischen Punkmusiker mit
Drogenproblemen über den provokanten koreanischen
Installationskünstler bis hin zum chinesischen Anwalt, der sich für die
Rechte der Wanderarbeiter einsetzt. Ihre minimalistische Machart war
das Markenzeichen dieser Porträts, die sich unter den seriösen
Redakteuren der großen TV-Anstalten mittlerweile eine treue
Fangemeinde erworben hatten. Als Interviewer konnte er unbequem
werden, wobei er aber stets fair zu bleiben versuchte und eine
asiatische Zurückhaltung übte. CNN Asia hatte sich schließlich dazu
durchgerungen, dem Newcomer einen Exklusivvertrag anzubieten. Seit
anderthalb Jahren hieß es daher einmal im Monat An Appointment with
Kim Park.
Er hatte Erfolg. Er war ein recht bekanntes Gesicht im Fernsehen
geworden und die ostasiatische Prominenz riss sich förmlich um seine
Interviews. Nur zu gerne hätte er auch diesen nebulösen
Drehbuchautor Julian Peek zu einem Treffen vor der Kamera
eingeladen. Doch wer seinen wahren Namen nicht nennt, zeigt meist
erst recht nicht sein wahres Gesicht.
Kim Parks Unternehmen hatte mit der Produktion von
Spielfilmen bisher nichts zu tun gehabt. Und Japan spielte in seinen
Arbeiten nur insofern eine Rolle, als zu seinen Auftraggebern im
Werbebereich etliche japanische Firmen gehörten. Von einer ersten,
erfolglos gebliebenen dokumentarischen Fingerübung einmal
abgesehen, hatte er noch nie in Japan gedreht. Daher wunderte er sich,
dass man mit diesem unerhört brisanten Projekt ausgerechnet an ihn
herangetreten war. Yellow Submarine war ein Film, für den man einen
Autor in Japan mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
öffentlich gelyncht hätte. Die Story, die auf bisher unveröffentlichten
Fakten zu beruhen schien, erzählte von den Verwicklungen hoher
Militärs in grausame Menschenversuche, deren Spätfolgen bis in die
jüngste Vergangenheit hineinreichten und die zweifellos auch noch die
Gegenwart bewegten. Ein Thema, das Kim Park sofort packte und nicht
mehr losließ. Besonders reizvoll fand er auch die erzähltechnische
Umsetzung der Filmidee: Nach einer atmosphärisch dichten
Einleitungssequenz wurde der Plot konsequent aus der Sicht eines
jungen Rechtsanwalts in Tokio aufgefächert, der – angestellt bei einer
großen, internationalen Sozietät – eher aus Zufall mit der Führung
eines komplizierten Schadenersatzprozesses gegen einen mächtigen
japanischen Großkonzern beauftragt wird, dabei zunächst grandios
scheitert und erst mit Hilfe seiner couragierten japanischen Freundin
weitere Beweise herbeischaffen kann, die nun eine Wiederaufnahme
des Verfahrens in greifbare Nähe rücken. Doch dann muss der junge
Anwalt erkennen, dass er erneut gegen Windmühlenflügel ankämpfte,
während eine dunkle Vergangenheit ihre langen Schatten immer
bedrohlicher über die Gegenwart wirft.
Als er eine knappe halbe Stunde später sein mit funktionalem
Schick eingerichtetes Penthouse auf dem Dach des Kerry Centers
betrat, führte Kims erster Weg zum Kühlschrank. Er nahm eine Flasche
Perrier heraus, goss den Inhalt in ein großes Glas und warf zwei
Magnesiumtabletten hinterher. Er nutzte die Zeit, in der sich die
Tabletten sprudelnd auflösten, um in sein Arbeitszimmer zu gehen, wo
er die oberste Schublade eines roten Lackschränkchens öffnete, in dem
er seine persönlichsten Schätze verwahrte: einige militärische
Rangabzeichen und Verdienstmedaillen, seine verbeulte
»Hundemarke« aus Aluminium sowie einen Schlüsselanhänger aus
Sterlingsilber. Sein Vater hatte darauf zwei gekreuzte Anker prägen
lassen, als Sohn Kim sein erstes Kommando als U-Boot-Kapitän erhielt.
Wie lange war das schon her? Es waren tolle Zeiten gewesen, damals,
bei der südkoreanischen Marine. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte
er zur Elite gehören dürfen – und nicht zum Abschaum wie in seiner
Jugend in Japan. Aber der Preis war grausam hoch. Davon kündete eine
große Narbe, die von seinem rechten Schlüsselbein schräg bis hinunter
zur siebten Rippe auf seiner linken Körperhälfte führte. Er hatte noch
nie über seine Verwundung gesprochen. Auch nicht über die Monate
danach; diese dunkelsten Momente seines Lebens in den
unmenschlichen Gefängnissen eines der schlimmsten Regimes dieser
Welt.
Ganz oben in der Schublade lag die dünne Klarsichtmappe, die
das – leider unvollständige – Exposé sowie die ersten Drehbuchszenen
zu Yellow Submarine enthielt. Kim zog die Mappe vorsichtig, beinahe
ehrfürchtig, heraus und ging, mit einem kleinen Umweg über die
Küche, wo er nach seinem Mineraldrink griff, in sein weiträumiges
Wohnbüro hinüber. Dort setzte er sich an den Schreibtisch, trank einen
Schluck und vertiefte sich erneut in die Lektüre.
»Yellow Submarine«
Drehbuch – Rohfassung
von Julian Peek
MARINEBASIS KURE – AUSSEN / TAG
Über der lang gezogenen Bucht der Marinebasis von Kure, nicht weit von
Hiroshima, erhebt sich die Sonne majestätisch aus dem milchigen Grau
des Morgens und lässt Himmel und Meer miteinander verschmelzen. Im
silbrigen Glitzern der flachen Wellen schiebt sich ein langer Schatten
langsam aufs offene Meer hinaus. Das Rauschen des Kielwassers mischt
sich mit den heiseren Schreien der Möwen, die das auslaufende
Unterseeboot begleiten. Hoch oben an der Abbruchkante der Steilküste
beobachtet eine junge Frau, wie das U-Boot Kurs auf die offene See
nimmt und zum Tauchgang ansetzt. Der Bug senkt sich, die Flagge am
Turm beginnt heftig zu schlagen. Das dunkel schimmernde Haar der Frau
steht in reizvollem Kontrast zum hellen Glanz der Gold- und Silberfäden,
mit denen ihr festlicher Kimono durchwirkt ist. Auf ihren kalkweiß
geschminkten Wangen sind Tränenspuren zu sehen. Während im
Hintergrund das Boot unter der Wasseroberfläche verschwindet, hebt sie
plötzlich ihre rechte Hand vors Gesicht. Stahl blitzt auf. Mit einer
entschlossenen Bewegung zieht sie sich die scharfe Klinge quer über den
Hals. Aus der durchschnittenen Kehle spritzt ein hellroter Blutstrahl.
Dann fällt sie lautlos über den Rand der Klippe in die Tiefe, hinunter in
die brodelnde Gischt, und bleibt seltsam verrenkt auf einem von den
Wogen umspülten Felsen liegen. In ihre starren Pupillen eingebrannt: die
stolz wehende »Rising Sun« – die alte Kriegsflagge der kaiserlichen
Marine Japans.
Schnitt.
Kim Park atmete tief durch, legte das Manuskript auf den Schreibtisch
und trat hinaus auf seine großzügig bemessene Dachterrasse. Aus 130
Metern Höhe ließ seinen Blick über das abendliche Shanghai schweifen.
Über diese herrliche, geheimnisvolle, wuchernde »Perle des Ostens«.
Da unten schwirrten mehr als 18 Millionen rastlose Menschen umher,
die in zahllosen Hochhausbauten wie die Termiten immer höher
hinauswollten. Auch Kim hielt eine bis an den Horizont ungetrübte
Sicht für lebensnotwendig, ja überlebensnotwendig. Überleben, ohne
verrückt zu werden, war schon immer sein Spezialgebiet gewesen. Mit
gutem Grund. Was sollte man auch anderes erwarten von jemandem,
der seine besten Jahre eingesperrt verbracht hatte: freiwillig und voller
Begeisterung (von jenen unfreiwilligen dunklen Monaten einmal
abgesehen). Mit drei Dutzend anderen jungen Männern
zusammengepfercht auf engstem Raum in einer knapp siebzig Meter
langen Röhre aus Stahl. And we lived beneath the waves in our yellow
submarine …
Wer da draußen wusste eigentlich von seiner militärischen
Vergangenheit? War dieser Julian Peek etwa ein Marinekamerad von
damals, womöglich auch ein Japan-Koreaner? Auf jeden Fall besaß der
Mann eine Menge Mumm. Und er kannte sich verdammt gut mit den
japanischen Gepflogenheiten aus – und mit einer japanischen
Vergangenheit, von der man noch heute nicht gern sprach. Kim musste
endlich einen Weg finden, um an ihn heranzukommen. Verflixt, wer
sind Sie, Mister Peek?
Kim Park begab sich wieder nach drinnen, nahm die
Klarsichtmappe und legte sich an ihren Platz in der Schublade zurück.
Heute Abend würde seine Frage jedenfalls nicht mehr beantwortet
werden. Heute Abend war die Party bei Cathy – das andere Thema, um
das sich seine Gedanken den ganzen Tag schon bewegten. Cathy Wong,
diese umwerfende Chinesin aus Los Angeles und Shanghaier
Korrespondentin des amerikanischen Vanity Fair-Magazins, hatte dem
im Umgang mit anderen immer nüchtern und beherrscht wirkenden
Kim gründlich den ansonsten so kühlen Kopf verdreht. In seinen Augen
war sie die vollkommene Frau, die mittlerweile allerdings einen
gravierenden Fehler hatte: Sie war nicht mit ihm zusammen, sondern
mit einem Butterstinker. Jeremy Gouldens – pah! Ein abgehalfterter
Winkeladvokat mit dubioser Vergangenheit, der sich erfolglos in der
Welt herumgetrieben hatte, bis er vor etwa einem Jahr in die
kosmopolitischen Zirkel Shanghais hineingeplatzt war und die viel
versprechenden ersten zarten Bindungen zwischen Kim und Cathy
brutal gekappt hatte. Was sie nur an diesem hässlichen, latent
versoffenen Riesenbaby fand? Gouldens war mindestens zwanzig Jahre
älter als Cathy. Viel zu alt für sie. Kim warf einen raschen Blick auf seine
Panerai. Es wurde langsam Zeit, zu duschen und sich anzuziehen.
Vor den Fenstern begannen die Lichter der Großstadt zu glitzern.
Cathy würde schon noch begreifen, dass sie einen besseren Mann
verdient hatte. Er durfte jetzt nicht lockerlassen. Er würde ihr Herz
erobern. Irgendwann. Bald.