MESSEN MIT MAHR
Udo Hinz / Thomas Keidel / Rita Seidel / Jan Strümpel: Messen mit Mahr
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300893 — ISBN E-Book: 9783647300894
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Udo Hinz • Thomas Keidel • Rita Seidel • Jan Strümpel
MESSENMIT MAHRGESCHICHTE EINES FAMILIENUNTERNEHMENS SEIT 1861
Vandenhoeck & Ruprecht
Udo Hinz / Thomas Keidel / Rita Seidel / Jan Strümpel: Messen mit Mahr
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Inhalt
Von der Werkstatt zur Fabrik
Die Firma Mahr 1861–1914 7
Im Schatten der Rüstung
Carl Mahr Esslingen und die Feinprüf-Werke 1914–1945 57
Eine Unternehmensgruppe entsteht
Die Firmen Mahr und Feinprüf 1945–1992 137
Umbruchjahre
Neuausrichtung und Globalisierung 1992–2010 193
Industrie 4.0 mitgestalten
Die Firma Mahr ab 2010 265
Die Kunst präziser Fertigung
Spinnpumpen und Kugelführungen 275
Nachwort 294
Quellen und Literatur 297
Dank 301
Zu den Autoren 303
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Von der Werkstatt zur Fabrik
Die Firma Mahr 1861–1914
Jan Strümpel
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. JahrhundertEin Schlosser wird Feinmechaniker
Carl Mahr wurde am 22. Februar 1830
in Mainz geboren. Sein Vater Friedrich
Gottfried Mahr (1795–1864) stammte
aus Wiesbaden und war Klavierbauer.
Von Großherzog Ludwig II. wurde er
1844 zum Hof-Instrumentenmacher
ernannt. Das war kein wohldotiertes
Amt, sondern nur ein Titel, mit dem
man sich schmücken und der die Auf-
tragslage verbessern helfen konnte.
Der kleine Carl durchlebte keines-
wegs eine behütete Kindheit in einem
musischen Heim. Sein Vater war viel
unterwegs, um Klaviere zu reparie-
ren und zu stimmen, und als der Sohn
zehn Monate alt war, starb seine Mutter
Eleonore Magdalene (1793–1830). Carl
und seine sieben Jahre ältere Schwes-
ter Elisabeth (1823–1894) wurden zu
Leuten, über die nichts bekannt ist, in
Pflege gegeben.
Weil er ein „schmächtiges Bür-
schle“ war, sollte er eine Friseurlehre
absolvieren, doch Carl wollte unbe-
dingt Schlosser werden. Bei Schlosser-
meister Weiß in Darmstadt ging er in
die Lehre. Dies berichtete später sein
Sohn Oscar, ebenso, dass Carl Mahr
für sein Gesellenstück, ein Schloss,
mit einem ersten Preis ausgezeichnet
wurde und dafür ein Reißzeug bekam,
also einen Zirkel, der noch zu Oscars
Schulzeit im Einsatz war. Mit Anfang
zwanzig verließ Carl Mahr seine
Heimatstadt, die damals zum Groß-
herzogtum Hessen gehörte, und ging
ins württembergische Esslingen, um
Lokomotiven zu bauen.
Damals hatte man in Württem-
berg mit dem Bau von Schienen-
strecken begonnen. Esslingen wurde
1845 End station der Zentralbahn von
Ludwigsburg über Stuttgart. Auf der
Linie fuhren zunächst sechs Lokomo-
tiven und Wagen, die aus den USA
importiert und per Schiff bis nach
Cannstatt gebracht worden waren. Der
weitere Ausbau sowie die Forderung
des Königreichs nach einer eigenen
Eisenbahnindustrie führte 1846 zur
Fabrikhallen der Maschinenfabrik Esslingen Mitte des 19. Jahrhunderts. Über den Neckar
führt die mächtige Äußere Brücke, Esslingen befindet sich links vom Bild.
1900 1925
1861 1894
18751850
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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EsslingenEsslingen am Neckar war seit dem 12.
Jahrhundert durch Verfügung Kaiser Fried-
richs I. Barbarossa Freie Reichsstadt und da-
mit niemandem als dem Kaiser untertan. 1802
wurde Esslingen Württemberg angegliedert
und verlor damit seine Unabhängigkeit. Im
Zeitalter der Industrialisierung wuchs die Be-
völkerung sehr schnell. Zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts lebten rund 7.000 Menschen in der
Stadt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts 27.000.
Im Jahr 1861 wurden 15.059 Einwohner
gezählt. Esslingen war seit dem Zeitalter der
Reformation überwiegend evangelisch ge-
prägt.
Die ältesten zur Zeit der Industrialisierung gegründeten Fabriken produzierten überwie-
gend Textilien und Lederwaren, so gab es eine Tuchfabrik und eine Handschuh fabrik. Bis
etwa 1860 prägte die Metallindustrie mit mehreren Maschinen- und Werkzeugfabriken
den Wirtschaftsstandort. Während in anderen Städten Württembergs einschließlich der
Landeshauptstadt Stuttgart Handel, Verwaltung oder Militär dominierten, war Esslingen
eine „Fabrikstadt“. Neue Industriegebiete entstanden. Ein Großteil der Stadtmauer und
etliche alte Gebäude mussten Fabriken, einer Telegraphenstation sowie einer Gasanstalt
weichen.
1894 eröffnete in Esslingen das erste Arbeitsamt Deutschlands. Der 1862 gegründete Ar-
beiterbildungsverein war bald zweitgrößter dieser Vereine in Württemberg. 1869 entstand
hier der erste gewerkschaftliche Verband der Textilarbeiter in Württemberg. Bis zum Ers-
ten Weltkrieg war die Stadt eine Hochburg der Arbeiterbewegung in der Region.
Esslingen steht seit dem 19. Jahrhundert für bis heute bekannte Produkte: 1826 eröffnete
Georg Christian Kessler die erste Sektkellerei Deutschlands – „Kessler Cabinet“ ist die
älteste bekannte Sektmarke Deutschlands. Hengstenberg, heute Marktführer in der Her-
stellung von Sauerkraut, ist seit seiner Gründung 1876 in Esslingen ansässig. Bis 1973 pro-
duzierte das Textilunternehmen Merkel & Kienlin die „Esslinger Wolle“. Und der 1831
gegründete Schreiber-Verlag hatte sich früh auf Kinderbücher spezialisiert; die berühmte
Häschenschule von Fritz Koch-Gotha ist dort erschienen.
Esslingen in einer historischen Aufnahme
vom Dicken Turm aus gesehen.
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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Gründung der Maschinenfabrik Ess-
lingen (ME) durch den Ingenieur Emil
Kessler. Die Arbeiter sollten zunächst
in der näheren Umgebung rekrutiert
werden, denn die ME war das Produkt
württembergischer Wirtschafts- und
Handelspolitik und in den ersten
Jahren verpflichtet, nur Menschen aus
der Region einzustellen.
Hatte bis dahin die Textil- und Me-
tallindustrie das Wirtschaftsleben der
Stadt geprägt, so war die ME vom Start
weg das größte Industrieunternehmen
Württembergs. Sie beschäftigte vom
ersten Tag an fast 500 Arbeiter, zahlte
die besten Löhne, hatte die modernsten
Maschinen und verfügte bereits über
eine moderne fließband artige Abfolge
von Werkstatt-Einheiten. 1847 wurde
die erste Lokomotive ausgeliefert, 1870
die tausendste. Von der Maschinenfa-
brik Esslingen ging ein starker Impuls
aus für die wirtschaftliche Blüte und
die ingenieurtechnische Kompetenz
des gesamten Neckarraums, der bis
in die Entstehung der Unternehmen
von Gottlieb Daimler und Carl Benz
fortwirkte. Nach langer, wechselvoller
Geschichte übernahm Daimler-Benz
1965 die ME und stellte die Produk-
tion drei Jahre später ein.
Von Mainz am Rhein nach Esslin-
gen am Neckar sind es rund zweihun-
dert Kilometer Luftlinie, Carl Mahr
war ein „Fernwanderer“ aus einem
fremden Territorium. Dass er dennoch
1851/52 eine Anstellung als Monteur Noch schnell drübergeschrieben: „Mahr hat nachfolgende Lok. montiert“.
Produktionsliste aus der Maschinenfabrik Esslingen.
1900 1925
1861 1894
18751850
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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bei der Maschinenfabrik erhielt, ist
wohl aus einem Mangel an regionalen
Fachkräften, insbesondere Meistern,
sowie Mahrs offenbar guter Qualifika-
tion zu erklären. Tüchtig wird er auf
jeden Fall gewesen sein, denn er hat
sich zügig hochgearbeitet: In den Jah-
ren 1855 bis 1865 war er Werkmeister
und leitete in dieser Zeit die Montage
von mindestens fünfzig Lokomotiven –
von der „Appenzell 2“ für die Vereinigte
Schweizerbahn bis zur „Weil der Stadt“
für die Königlich Württembergischen
Staats-Eisenbahnen. Wir wissen das
dank eines im Oktober 1865 ausge-
stellten Dokuments, das alle unter Carl
Mahrs Leitung gebauten Lokomotiven
auflistet (die entsprechenden Baujahre
ließen sich anhand von Lieferlisten er-
mitteln).
Kurze Zwischenfrage: Wenn da
ein „Mahr“ in alten Dokumenten
auftaucht, können wir sicher sein,
dass es sich immer um genau unseren
Carl Mahr handelt? Ja, sehr sicher.
Als Zugereister hat Carl Mahr seinen
Nachnamen nach Esslingen mitge-
bracht, die Steuerbücher der Stadt
verzeichnen weit und breit keinen
anderen Mahr.
Eine „Beschreibung der Maschi-
nenfabrik Esslingen“ in der „Illus-
trierten Zeitung“ vom November 1858
vermittelt eine genaue Vorstellung
von Carl Mahrs Arbeitsplatz: „Mon-
tierungswerkstätte, 145 Fuß lang, 60
Fuß breit. [ca. 41,5 x 17 Meter] – Die
Montierungswerkstätte besitzt eine
Galerie, auf der eine Doppelreihe
von Schraubstöcken, mehrere Bohr-
maschinen und zwei Kranen [= Krä-
ne] an gebracht sind. – Im Augenblick
befinden sich in Arbeit 13 Lokomoti-
ven. Es sind beschäftigt 212 Arbeiter.“
Gearbeitet wurde in der Regel an sechs
Tagen die Woche von 6:00–12:00 Uhr
und von 13:00–19:00 Uhr, also zwölf
Stunden täglich. Eine Werksfotogra-
Werkmeister Carl Mahr – links auf dem Führerstand – und Kollegen 1864 mit der eben fertiggestellten Lokomotive „Skjold“.
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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fie von 1864 zeigt Carl Mahr im Kreis
seiner Kollegen auf dem Führerstand
der Lokomotive „Skjold“, eine Bestel-
lung der Dänischen Staatsbahn.
Etwa alle zwei Monate verließ eine
Lok aus den Händen seiner Mann-
schaft die Fabrik. Carl Mahr wird für
die präzise Ausführung sämtlicher
Arbeiten verantwortlich gewesen sein
und über ein hohes Maß an Quali-
tätsbewusstsein verfügt haben. Mit
dem Zollstock oder Greifzirkel in der
Hand wird er jeden Tag aufs Neue
erlebt haben, welche Bedeutung dem
passgenau gefertigten Einzelteil bei
einer komplexen Maschine wie der
Dampflokomotive zukommt. Nur:
Hier ging es um tonnenschweres Ge-
rät und darum, maximal auf den halben
Millimeter genau zu messen – im Feld
der Feinmechanik war Carl Mahr noch
nicht unterwegs.
Allerdings machte er sich bereits
Gedanken zur Verbesserung der Pro-
duktion. 1863 reichte Carl Mahr bei
der Zentralstelle für Gewerbe und
Handel in Stuttgart ein Patentgesuch
ein für die Erfindung eines Stechmaß-
stabs. „Dieser Maßstab besteht aus in
Holz eingefassten und mit den Spitzen
vorstehenden Nadeln, welche in das
Papier einer Zeichnung eingedrückt,
dem Zeichner den eigentlichen Maß-
stab unmittelbar geben.“ Das Gesuch
wird abgelehnt, da bereits Mahrs Vater
ein vergleichbares Gerät angemeldet
und hergestellt hatte.
Als Fabrikarbeiter und Meister
hat es Carl Mahr weit gebracht und
die Frau fürs Leben gefunden. Er
reicht ein Heiratsgesuch ein, das po-
sitiv beschieden wird: Am 28. Mai
1857 heiratet Carl Mahr in Esslingen
Bertha Emma Fuchslocher, geboren
am 27. Mai 1833 in Esslingen, Toch-
ter des aus dem nahen Schorndorf
im Remstal stammenden Schneider-
meisters Johann Jacob Fuchslocher
und seiner Frau Rosine Charlotte.
Zwar hätte Carl ohne den Nachweis
eines gewissen Vermögens (und ohne
Esslinger Bürgerrecht) gar keine
Heiratserlaubnis erhalten, doch um
einen Hausstand zu gründen, muss er
sich Geld borgen: Das Unterpfands-
buch der Stadt Esslingen verzeichnet,
Die ältesten Porträtaufnahmen von Bertha und Carl Mahr, entstanden um 1870.
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1861 1894
18751850
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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dass sich Carl Mahr, „Mechanicus in
der hiesigen Maschinenfabrik“, im
Jahr 1857 zur Finanzierung der Aus-
steuer 150 Gulden lieh. Die Summe
wurde bis 1870 zurückgezahlt.
Bald nach der Heirat wird Bertha
schwanger, das erste Kind wird im
März 1858 tot geboren. Bertha Mahr
wird sechs weitere Kinder zur Welt
bringen und mit ihnen viel Leid er-
leben, denn die meisten sterben früh:
Nach Bertha Louise (4. November
1859) kommt am 14. März 1861 Karl
Friedrich zur Welt, er stirbt bereits
ein Jahr später am 3. April 1862. Carl
Reinhold (20. November 1862 bis 18.
April 1882) wird knapp zwanzig Jahre
alt, Emil Wilhelm (2. April 1864 bis
25. Mai 1864) lebt nur wenige Wo-
chen. Dann wird am 23. Januar 1866
Oscar geboren und einige Jahre später
schließlich Richard Julius (1. Juni 1873
bis 13. Mai 1877), der mit nur vier Jah-
ren stirbt. )
Dass so viele Kinder das Erwachse-
nenalter nicht erreichten, war in dieser
Zeit nicht ungewöhnlich, sondern
etwas, mit dem man jederzeit rechnen
musste – eine Serie von Schicksals-
schlägen ist es dennoch. Eine bedeu-
tende Rolle unter den Geschwistern
hat für Oscar Mahr, den späteren
Nachfolger im Geschäft, nur seine
sechs Jahre ältere Schwester Bertha.
Sie heiratet 1881 den aus Reutlin-
gen stammenden Christian Gottlob
Lamparter, Ratsschreiber in Esslingen,
wird Mutter zweier Kinder und stirbt
am 1. August 1932 im thüringischen
Bischofferode.
In den 1850er Jahren nahm die Wirt-
schaft in Deutschland an Fahrt auf.
Konjunkturmotor war der Ausbau des
Schienennetzes und der Eisenbahn-
industrie. Zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts und noch für einige Jahrzehnte
war die Produktion im Wesentlichen
kleingewerblich geprägt; die Menschen
arbeiteten in Manufakturen oder in
Heimarbeit im Dienst eines Ver legers,
der das Material organisierte und für
den Vertrieb der Ware sorgte. Zum
Ende des Jahrhunderts sollten dann
rund 60 Prozent der erwerbstätigen
Menschen in Fabriken arbeiten.
Dazwischen hatten die Staaten
und Gebiete, die sich 1871 zum Deut-
schen Kaiserreich zusammenschlossen,
eine Phase wachsender Wirtschaft er-
lebt, die Gründerzeit. Sie begann um
1845 und brachte zahlreiche tech-
nische Innovationen mit sich. Mit
der Entwicklung dampfgetriebener
Maschinen entstanden ganz neue
Möglichkeiten der industriellen Fer-
tigung. Im Zeichen von Kohle und
Stahl ging nun jegliche Produktion
schneller, effizienter und in größerem
Maßstab vonstatten. Die Gesellschaft
wurde mobil, Rohstoffe, Materialien
und Waren konnten mit der Eisen-
bahn ebenso zügig an den Ort ihrer
Verwendung transportiert werden wie
die Menschen, die ihre Arbeit nun in
zunehmendem Maß nicht mehr auf
dem heimischen Feld oder im Dienst
kleinteiliger Handwerke fanden. Die
fabrikmäßige Fertigung senkte die
Stückkosten massiv; viele Konsum-
güter wurden immer preiswerter und
für immer mehr Menschen erschwing-
lich. Das brachte Dynamik in den
allgemeinen Konsum, führte jedoch
auch dazu, dass ganzen handwerk-
lichen Berufszweigen die wirtschaft-
liche Grund lage entzogen wurde.
Bis heute verbinden wir insbesonde-
re zwei Bereiche mit der Gründerzeit:
zum einen den städtebaulichen Wan-
del, der uns die so beliebten Altbauten,
Gründerzeitvillen und die Fülle an
Repräsentationsbauten wie Museen,
Oscar Mahr.
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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Theatern und Bahnhöfen beschert hat.
Und zum anderen die wohlklingenden
Namen der Industriellen, die in dieser
Phase den Grundstein für regelrechte
Wirtschaftsimperien legten: Krupp,
Schering, Haniel, Siemens, Zeiss,
Merck und viele andere. Auch jenseits
der Großindustrie machten sich Unter-
nehmer einen bis heute nachhallenden
Namen: Lothar Faber zum Beispiel mit
seiner Bleistift fabrik, Michael Thonet
mit seiner innovativen Produktion
von Stühlen aus Bugholz oder Hubert
Underberg, der seinem in stets verläss-
licher Qualität hergestellten Kräuter-
schnaps seinen Namen gab.
Während Carl Mahr im Jahr 1861 Lo-
komotiven für die Nassauische Bahn
und die Österreichische Staatsbahn
montiert, eröffnet der Mechaniker
Friedrich Kübler in der Esslinger
Kiesstraße 16 eine Feinwerkstätte
und beginnt mit der Herstellung von
Schieblehren und Maßstäben, also
von Messschiebern und – noch nicht
faltbaren – Zollstöcken. Er arbeitet
zunächst wohl als sogenannter Allein-
meister, später mit vielleicht ein oder
zwei Angestellten. Im „Verzeichnis der
Vereinigung Handel- und Gewerbe-
treibende“ des Stadtschultheißenamts
Esslingen ist 1866 Kübler als wahlbe-
rechtigtes Mitglied gelistet wie außer
ihm nur noch ein weiterer Mechaniker.
Was unterschied damals einen
Schlosser von einem Mechaniker?
Aufschluss darüber geben die „Er-
gebnisse der zu Zollvereinszwecken
im Jahre 1861 in Württemberg statt-
gehabten Gewerbeaufnahme“ – die
erste nach modernen Gesichtspunk-
ten erhobene Statistik ihrer Art. Sie
unterschied zwischen der Berufsgrup-
pe „Schlosser, worunter auch Zirkel-,
Zeug-, Bohr-, Säge-, Messer-, Nagel-,
Büchsen-Schmiede, Sporer, Feilen -
hauer, Instrumentenschleifer und
Scherenschleifer“ zu zählen sind, und
der Berufsgruppe „Mechaniker für
mathematische, optische, physika lische
Gegenstände“. Die Mechaniker arbei-
teten also insbesondere im Dienst der
Wissenschaft, und wer sich im Feld der
Feinmechanik auf die Anfertigung von
Messwerkzeugen spezialisierte, hatte
seinerseits häufig, wenn nicht sogar
in erster Linie Spezialisten mit beson-
deren Wünschen als Kundschaft, der
produzierte und verkaufte en détail,
nicht en gros.
Friedrich Kübler, Jahrgang 1816,
stirbt am 6. November 1867, wenig
später verkauft seine Witwe Christiane
Dorothea Kübler die Werkstatt an
Carl Mahr. Noch wenige Jahre zuvor
wäre das nicht ohne weiteres möglich
gewesen, denn bis zur Einführung der
Gewerbefreiheit in Württemberg 1862
steuerten die Zünfte den Arbeitsmarkt
und konnten jemandem aus plausiblem
oder auch eigennützigem Grund die
Ausübung eines Berufs untersagen.
Im Dezember 1867 gibt Carl Mahr
durch ein gedrucktes Zirkular bekannt,
dass er ebenjenes Geschäft zum 1. Ja-
nuar 1868 fortführen werde:
1861In Deutschland wird das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch eingeführt,
Vorgänger des heutigen HGB. – Die Börse Stuttgart wird gegründet. – Der schotti-
sche Physiker James Clerk Maxwell führt das erste Farbfoto der Welt vor. – Philipp
Reis erfindet einen Apparat zur Herstellung einer elektrischen Fernsprechverbin-
dung: das Telephon. – Die erste transkontinentale Telegraphenleitung der USA wird
fertiggestellt und ersetzt den bis dahin weltweit schnellsten Dienst zur Übermittlung
von Nachrichten: die Pferde-Stafette. – Beim Bau des Mont- Cenis-Tunnels in den
Alpen werden erstmals Bohrmaschinen mit Druckluftantrieb eingesetzt. – Abraham
Lincoln wird Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. – Robert Bosch,
Fridtjof Nansen, die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé und der Filmpionier
Georges Méliès kommen zur Welt.
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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„Esslingen (Württemberg), im
Dezember 1867.
Durch Gegenwärtiges habe ich
die Ehre Sie zu benachrichtigen, dass
ich das seit einer Reihe von Jahren
durch den verlebten F. Kübler dahier
betriebene, sich ausschließlich auf die
Fabrikation von Kalibern (Schieb-
lehren) & Maßstäben beschränkende
mechanische Geschäft käuflich erwor-
ben habe & dasselbe vom nächsten
1ten Februar für alleinige Rechnung
& unter meiner eigenen Firma fort-
betreiben werde.
Während sechzehnjähriger Tätig-
keit in der Esslinger Maschinenfabrik
mit den Eigenschaften dieser wichtigen
Spezialitäten ganz besonders vertraut,
hoffe ich allen Anforderungen der fort-
geschrittenen Technik zu entsprechen.
Indem ich mich Ihrem geneigten
Wohlwollen bestens empfehle, werde
ich durch Solidität & Pünktlichkeit Ihr
schätzbares Vertrauen zu rechtfertigen
suchen & zeichne
Hochachtungsvoll ergebenst Carl
Mahr, Mechaniker.“
Die Maschinenfabrik Esslingen war
der attraktivste Arbeitgeber in der Re-
gion und erlebte um 1865 wirtschaft-
lich gute Jahre. Dass sich Carl Mahr
„neu orientieren“ wollte, wie man heu-
te sagen würde, und die ME verließ,
um sich mit einer kleinen Werkstatt
selbständig zu machen, klingt sehr
nach Abenteuer und Risiko, zumal
für einen Familienvater. Mahrs Spur
in der Maschinenfabrik verliert sich
Ende 1865, das muss nicht, kann aber
sein Ausscheiden zu diesem Zeitpunkt
bedeuten. Und Ende 1867 erhält er
unverhofft die Gelegenheit zur Über-
nahme der Kübler’schen Werkstatt.
Was sich in diesen zwei Jahren im Le-
ben der Mahrs ereignete und zu dieser
Veränderung führte, lässt sich nicht re-
konstruieren – umso genauer das, was
danach geschah.
Anfang 1868 legt Carl Mahr ein „In-
ventar bei Eröffnung meines Geschäfts,
1. Januar 1868“ an. In diesem Buch listet
er auf, welche Gerätschaften und Roh-
stoffe er von Witwe Kübler erworben
hat: Ambosse, Schraub stöcke, diverse
Hämmer, Zirkel und Winkel, 80 guss-
stählerne Feilen, Kloben, Zangen, Boh-
rer, Lineale, elf Stempel zur Angabe
von Kalibermaßen, einen Schleifstein,
eine französische Werkbank und drei
Teilmaschinen. Mit 100 Gulden Wert
der wertvollste Posten: eine große Teil-
maschine samt Tisch und Kasten zur
Herstellung genauer Strichteilungen –
alles in allem eine umfangreiche Fein-
mechaniker-Ausstattung, für die er 540
Gulden bezahlt.
Im Esslinger Steuerbuch von 1861/62 war schon Platz für einen Leihbibliothek-Inhaber
vorgesehen, doch der wurde wieder ausgestrichen. Seine Registernummer übernahm der
Mechaniker Friedrich Kübler: Er hatte Gewerbesteuer zu zahlen, außerdem kleinere Beträge
an Stadt und Amt, insgesamt 5,26 Gulden. Am 16. Juni 1862 hat er die Summe beglichen.
Dieses schlichte Dokument belegt, dass 1861 die Werkstatt existierte, die einige Jahre später
Carl Mahr übernahm. Mahrs Name findet sich erstmals im Esslinger Steuerbuch von 1869/70.
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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Die Esslinger Geiselstraße von Westen aus fotografiert. Mahrs Haus ist das links der Bildmitte etwas hervorragende Gebäude.
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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Anschließend verzeichnet Mahr,
welche Werkzeuge er bis dato schon
besessen hat: eine große Drehbank,
zwei Reißzeuge, diverse Feilen, Zan-
gen, Sägen, Schraubenzieher, Wasser-
waagen und Schraubzwingen, insge-
samt ein nicht sehr großer, eher für
Schreinerarbeiten geeigneter Bestand,
der möglicherweise von seinem vier
Jahre zuvor verstorbenen Vater, dem
Klavierbauer stammte und sich auf 137
Gulden Wert summiert (davon allein
100 Gulden für die Drehbank).
Diese Auflistung lässt keinen Raum
für die idyllische Vorstellung vom Fa-
brikarbeiter, der sich in freien Stunden
als leidenschaftlicher Tüftler betätigt,
bis er seine Chance gekommen sieht,
auf dem Gebiet der Feinmechanik den
Sprung in die Selbständigkeit zu wa-
gen. Und doch stellt sich Carl Mahr
im Jahr 1868 und im Alter von 38 Jah-
ren ganz neu auf. Er wird nicht nur
Inhaber eines Geschäfts, dessen Aus-
stattung er sofort erheblich aufstockt,
sondern auch Besitzer einer Immobilie.
Er kauft ein Haus in der Geiselstraße
(häufig „Geiselgasse“ genannt) in der
Beutau-Vorstadt, einem engen und
eher ärmlichen Eckchen Esslingens zu
Füßen des „Dicken Turms“ der alten
Befestigungsanlage, wie eine zeitge-
nössische Fotografie aus Familien-
besitz eindrücklich zeigt.
Seinen Erwerb dokumentiert das
„Esslinger Kaufbuch“: „Friedrich
Müller, Schlossermeister von Esslin-
gen, verkauft an Carl Mahr, Mecha-
niker in Esslingen Gebäude Haus No
7. Ein zweistöckiges Wohnhaus mit
2 Wohnungen, gewölbtem Keller an
der Geiselstraße, nebst einer hinter
dem Hause befindlichen massiven Fein-
werkstätte und Dreherei, sowie dem
sämtlichen bei diesen Gebäulichkeiten
befindlichen Hofraum und Gartenplatz,
sowie allen Zubehörden um die Summe
von fl. 3450. Brühl/Esslingen den 5. De -
zember 1868.“
Die gesamte Summe von 3.450 Gul-
den lieh er sich – seine zweite und letzte
Kreditaufnahme – bei einem Fräulein
Carolina Keßler aus Stuttgart sowie
Christian Weber, Spielwarenfabrikant
in Esslingen; bis 1877 war alles zu-
rückgezahlt. Etwas Geld, 330 Gulden,
kam durch den Verkauf eines seiner
Frau Bertha gehörenden „Baumguts“
herein, einer Wiese mit Obstbäumen.
Die Familie Mahr, die bis dahin in
der Oberen Metzgerbachstraße (heute
Oberer Metzgerbach 28) gelebt hatte,
zieht in die Geiselstraße, und auch die
Werkstatt im Haus der Witwe Kübler
verlagert Carl dorthin, in die Räume, die
bislang Schlosser Müller genutzt hatte.
Für die nächsten zwanzig Jahre wird sich
dort sein Lebensmittelpunkt befinden.
Als Steuerzahler tritt Carl Mahr
im Esslinger Steuerregister unter der
Nummer 868 erstmals 1869/70 in Er-
scheinung. Glücklicherweise gibt das
Steuerregister auch Auskunft über
Friedrich Kübler: Der Mechaniker
1950 1975 2000
Udo Hinz / Thomas Keidel / Rita Seidel / Jan Strümpel: Messen mit Mahr
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300893 — ISBN E-Book: 9783647300894
Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
18
Schieblehre, 1860er Jahre
Die älteste Schieblehre im Besitz
der Firma Mahr, gefertigt aus Stahl
und Messing und laut Überlieferung
aus dem Jahr 1868. Zwei Skalen
vorn messen in Millimetern und
Wiener Zoll, mit der Rückseite lässt
sich „englisch“ und „rheinländisch“
messen.
Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
1900 1925
1861 1894
18751850
Udo Hinz / Thomas Keidel / Rita Seidel / Jan Strümpel: Messen mit Mahr
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
19
zahlte im Abrechnungsjahr 1861/62
erstmals Gewerbesteuer. Dies ist der
einzige, jedoch stabile Beleg für die
Eröffnung seiner Geschäftstätigkeit
im Jahr 1861 – zu einer Zeit, als man
keine großen Formalitäten kannte, ein-
fach loslegte und oft genug auch bald
wieder scheiterte. Auf das Jahr 1861
wird sich Carl Mahr in allen Pros-
pekten, Briefköpfen und sonstigen
Werbemitteln seiner Firma beziehen:
„Gegründet 1861“ – wenn auch nicht
von ihm selbst. Doch es ist an ihm, das
Geschäft wachsen und prosperieren zu
lassen. Dazu hatte er drei gute Start-
voraussetzungen: seine Begabung und
um fassende Berufserfahrung, die stei-
genden An forderungen an die Messge-
nauigkeit im industriellen Zeitalter und
die Einführung des metrischen Systems
in den deutschen Ländern.
Millimeterarbeit –
Die Meter konvention und andere
Vereinheitlichungen
Anfang des 19. Jahrhunderts kam man
auf Deutschlands Straßen nicht sehr
rasch voran, überall gab es Grenzen
und Zollstationen. „Wir sind schon
durch ein Dutzend Fürstentümer,
durch ein halbes Dutzend Groß-
herzogtümer und durch ein paar
Königreiche gelaufen, und das in der
größten Übereilung in einem halben
Tag“, beklagt sich eine Figur in Georg
Büchners satirischem Theaterstück
Leonce und Lena von 1836.
Im Gefolge der Französischen
Revolution und unter der Herrschaft
Napoleons wurde in der „Franzosen-
zeit“ begonnen, mit Deutschlands
Kleinstaaterei aufzuräumen. Die
geistlichen und viele kleine weltliche
Fürstentümer wurden mediatisiert,
das heißt größeren Territorialmächten
eingegliedert, ebenso verloren viele
Reichsstädte ihre Selbständigkeit, un-
ter ihnen Esslingen. Der Habsburger
Franz II. legte 1806 die Kaiserkrone
nieder, damit war das Deutsche Reich
als Institution aufgelöst. Württem-
berg wurde zum Königreich erhoben
und bildete nun ein Territorium mit
wesentlich größerer Landfläche (knapp
20.000 Quadratkilometer) und Bevöl-
kerung (rund 1.380.000 Einwohner).
Im Gebiet der Deutschen existierten
Eisenbahnkarte von Württemberg und Baden aus dem Jahr 1867.
Das Gebiet Württembergs ist grün unterlegt.
1950 1975 2000
Udo Hinz / Thomas Keidel / Rita Seidel / Jan Strümpel: Messen mit Mahr
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
20
nur noch 39 Länder (und nach der
Reichsgründung von 1871 letztlich 25
Länder), wesentlich weniger Grenzen
und damit weniger Zollstellen, was den
Handel begünstigte.
Gleichwohl gab es noch keinen
deutschen Nationalstaat und immer
noch zahlreiche Länder, die über ihr je
eigenes Münz-, Maß- und Gewichtssys-
tem verfügten. Nelkenbrechers Allge-
meines Taschenbuch der Münz-, Maß- und
Gewichtskunde für Bankiers und Kauf-
leute (1820) vermittelt einen Eindruck
davon, wie vertrackt, ja verwirrend, im
Grunde irrwitzig die Materie selbst
nach ihrer Reformierung noch war. Es
gibt Auskunft über die „Maße und Ge-
wichte nach der neuen Württemberger
Maß- und Gewichtsordnung vom 30.
November 1806. Eine Kostprobe:
„Der Fuß hat 10 Zoll à 10 Linien und
hält 127 franz. Linien, also 286,49
franz. Millimeter; mithin 8 ¾ pCt. kür-
zer als der rheinländische. Die Rute hat
10 Fuß. – Die Württemberger Elle soll
214,4 Württemberger Dezimallinien
halten; da nun 100 solcher Linien oder
der Württemberger Fuß 127 franz.
Linien ausmachen, so hält die Würt-
temberger Elle 272,288 franz. Linien
= 614,235 franz. Millimeter; und 100
Württemberger Ellen betragen 91,989
Berl. oder 88,837 Brabanter oder
112,232 Ellen in Frankfurt a. M. oder
108,654 Ellen in Leipzig oder 78,830
Ellen in Wien. (…) – Ein Mess- oder
Klafterholz ist 6 Fuß breit und hoch
und 4 Fuß lang und wird in Viertel und
Achtel à 2 Ellen eingeteilt; der Klafter
enthält 98,7839 franz. Kubikfuß, mit-
hin 3,3862 franz. Steres oder beinahe
ein Viertel Berliner Haufen.“
Zoll (die Breite eines Daumens), Elle,
Fuß, Klafter (die Spanne zwischen den
ausgestreckten Armen eines erwach-
senen Mannes) – der Mensch war seit
alters her das Maß aller Dinge, und
ursprünglich mochte es genügt haben,
gleichsam pi mal Daumen zu messen.
Doch mit der Industrialisierung erwies
sich die unübersichtliche Lage als ech-
tes Hindernis in der technologischen
Entwicklung und dem Wissenstrans-
fer. Seit 1790 betrieben die Franzosen
die Durchsetzung des metrischen Sys-
tems als Standardmaß. 1799 wurde der
Meter im revolutionären Frankreich
eingeführt, definiert als der zehnmilli-
onste Teil des Erdquadranten auf dem
Meridian von Paris, also als der zehn-
millionste Teil der Entfernung vom
Pol zum Äquator. Im Staatsarchiv de-
ponierte man ein Endmaß aus reinem
Platin mit rechteckigem Querschnitt,
den „Urmeter“.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts
wurde das metrische System in den
meisten europäischen Staaten über-
nommen: in Teilen Deutschlands un-
ter französischer Besatzung vor 1815
(etwa in der Pfalz), in den Niederlan-
den und Luxemburg 1820, in Spani-
en in den 1850er Jahren, in Italien
Guss der internationalen Meterstäbe in Paris. Holzstich aus dem Jahr 1874.
1900 1925
1861 1894
18751850
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
21
1861, im Norddeutschen Bund 1868;
nach der Reichsgründung wurde ihr
Geltungsbereich auf ganz Deutsch-
land ausgedehnt. Am 1. Januar 1872
trat sie als Reichsgesetz in Kraft,
ab 1876 durften nur noch die neu-
en Maße verwendet werden. „Vom
Wunsche geleitet, die internationale
Einigung und die Vervollkommnung
des metrischen Systems zu sichern“,
unterzeichneten 17 Staaten am 20. Mai
1875 die Internationale Meterkonven-
tion, der im Lauf der Jahre viele weitere
Länder beitraten. Ebenso beschlossen
sie die Übernahme des Urmeters und
des Urkilogramms als Maßeinheiten.
Seit dem Jahr 2000 wird der 20. Mai,
an dem die Meterkonvention verab-
schiedet wurde, als „Tag des Messens“
begangen (siehe dazu www.world-
metrologyday.org).
Das für Carl Mahr wohl wichtigste
Datum war der 29. April 1869. An
diesem Tag wurde in Württemberg,
Bayern und anderen süddeutschen
Ländern das Gesetz zur Einführung
des Meters zum Jahreswechsel 1872
erlassen. Zoll, Fuß, Elle, Rute und
Meile hatten damit als Längenan-
gaben ausgedient, auch die zahllosen
unterschiedlichen Festlegungen in
den jeweiligen Ländern: So hatte der
Fuß in Sachsen 283,19 mm betragen,
in Württemberg 286,49 mm, in Bay-
ern 291,86 mm, in Nürnberg 303,75
mm und der Rheinfuß in Preußen
313,85 mm. Von den zahllosen Maß-
und Gewichtssystemen außerhalb
Deutschlands ganz zu schweigen – zu
einer Zeit, als man schon Grad Celsi-
us maß und noch immer auch in Grad
Réaumur und Grad Delisle (Russland).
Und apropos Zeit: Die war in Köln eine
andere als in Königsberg, erst ab 1893
galt in ganz Deutschland die Mittel-
europäische Zeit (MEZ). Für Klarheit
gesorgt wurde übrigens auch auf ganz
anderem Gebiet: 1880 erschien das
Vollständige Orthographische Wörterbuch
der deutschen Sprache, nach den neuen
preußischen und bayerischen Regeln, der
erste „Duden“.
Carl Mahrs Schieblehren boten die
Möglichkeit, bis zu vier Maßsysteme
abzubilden. Der Kunde gab bei seiner
Bestellung an, welche er benötigte, zum
Beispiel: „Meter, Leipzig, rheinl., engl.“
oder „Bayern, Meter, Paris, engl.“
So schrieb es Carl Mahr noch in den
1880er Jahren in sein Bestellbuch, was
dafür spricht, dass auch nach Einfüh-
rung des Meters weiterhin längere Zeit
lokal unterschiedlich gemessen wurde.
Trotzdem brauchte man jetzt Meter-
maße, und Mahr konnte sie liefern:
„Herr C. Mahr in Esslingen hat uns
die bei Einführung des Metermaßes
für die verschiedenen Eichämter des
Landes nötigen 2 Meter langen Nor-
malmaßstäbe von Stahl geliefert, und
sind wir mit deren Ausführung in jeder
Beziehung zufrieden, was wir Herrn
Mahr auf sein Ansuchen mit Vergnügen
bezeugen. Königl. Zentralstelle für Ge-
werbe und Handel, Stuttgart im Januar
1872.“
Solche „Zeugnisse“ holte Carl Mahr
aktiv ein, um sie in Prospekten und auf
Werbezetteln abzudrucken. Von Anfang
an war das, was wir heute sein Marke-
tingkonzept nennen würden, die hohe
Qualität seiner Produkte und die große
Kundenzufriedenheit herauszustellen.
Da wir sehr wenige konkrete Hinweise
auf seinen frühen Kundenkreis haben,
sind diese Zeugnisse hilfreiche Quellen.
Sie belegen Aufträge auch von seinem
einstigen Arbeitgeber, der Maschinen-
fabrik Esslingen:
„Wir bezeugen hiermit dem Mechani-
ker Herrn C. Mahr von Esslingen auf
Wunsch, dass er bei Einführung des
Metermaßes in unserer Fabrik unsern
ganzen Bedarf in Maßstäben für Werk-
stätten und Zeichnungsbüros geliefert
hat. (…) Wir haben bis jetzt von Herrn
Mahr ca. 20 Stück 2 Metermaßstäbe, 60
Stück 1 Metermaßstäbe und 500 Stück
½ Metermaßstäbe geliefert erhalten,
nebst einer großen Anzahl von Schieb-
lehren; die Ausführung war gut und
geschmackvoll, die sehr tiefe Teilung
war durchaus genau und fein ausge-
führt, und nehmen wir deshalb keinen
Anstand, dem Herrn Mahr zu bezeu-
gen, dass er uns mit seinen Lieferungen
vollkommen befriedigt hat. Esslingen
im Juni 1872, Maschinenfabrik Esslin-
gen. Der Direktor: Emil Kessler.“
1950 1975 2000
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
22
Der akute Bedarf an neuen, verläss-
lichen Messwerkzeugen konnte also
gedeckt werden und stellte ein sicheres
Geschäft dar. Mit fortschreitender
Ausdifferenzierung des Marktes stie-
gen jedoch auch die Anforderungen an
die Messgenauigkeit, und hier sah Carl
Mahr seine Chance zur Profi lierung
mit einer überschaubaren Produktpa-
lette von „Spezialitäten“. So bezeich-
nete man damals nicht den Schwarz-
wälder Schinken, sondern – laut dem
Deutschen Wörterbuch der Brüder
Grimm – eine „Besonderheit, nament-
lich das besondere Gebiet, auf dem
jemand innerhalb seines Fachs arbeitet
oder Kenner ist“.
Aus der Zeit um 1873 datiert Mahrs
erste überlieferte Preisliste. Sie umfass-
te Schieblehren in vier Kategorien: A.
Kaliber ohne Stellschraube, Zirkelspit-
ze und Stahleinfassung; B. Kaliber mit
Stellschraube; C. Kaliber mit Zirkel-
spitze; D. Kaliber mit Stellschraube und
Zirkelspitze. Sie waren mit und ohne
Nonius zum genauen Messen des Zehn-
telzentimeters erhältlich. Für Stahlein-
fassung wurde ein Aufpreis berechnet.
Es gab „Kaliber in Neusilber,
fein ausgearbeitet“, natürlich „ent-
sprechend teurer“. Allgemein galten
vier Preiskategorien von billig bis
teuer. Maßstäbe wurden in Holz- und
Metallausführung geliefert. Die Preise
wurden „in süddeutscher Währung“
angegeben: Das waren Gulden (abge-
kürzt fl. = Florin) und Kreuzer (kr.), die
wie der Taler und Groschen im Nor-
den nach der Gründung des Deutschen
Reichs 1871 von der Mark (M) abge-
löst wurden – der „Reichswährung“,
die diese Preisliste weiter hinten dann
zusätzlich ausweist. Die Einführung
der Mark zum 1. Januar 1876 brachte
übrigens auch in Währungsdingen
Spezialität Schieblehren: Carl Mahrs erste Preisliste aus der Zeit um 1873.
1900 1925
1861 1894
18751850
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
23
endlich den Übergang zum Dezimal-
system, denn bis dato war ein Taler
in 30 Groschen zu zwölf Pfennig ein-
geteilt und ein Gulden in 60 Kreuzer.
Hatte Mahr mit seinen Erzeugnis-
sen anfangs kaum Konkurrenz, so
erwuchs sie ihm bald auch aus den
eigenen Reihen. 1874 gründete Carl
Stiefelmayer in Esslingen eine Fa-
brik, die sich zunächst auf Schiebleh-
ren spezialisierte; die Firma existiert
noch heute. Auf einer Gruppenaufnah-
me der Belegschaft von etwa 1890 (s.
Seite 34) sieht man Carl Mahr neben
August Reber sitzen, der wenig später
eine eigene Messgerätefabrik eröffnen
und Mahrs Mitarbeiter Kirchner als
Meister zu sich holen wird. 1899 eröff-
nete ebenfalls in Esslingen die Firma
Georg Reicherter, Spezialfabrik für
Messgeräte und Prüfmaschinen, zu-
nächst insbesondere Schieblehren und
Mikrometer. Umso wichtiger wurde es
für Mahr, die kompromisslose Qualität
seiner eigenen Produkte herauszustrei-
chen wie in diesem Werbeschreiben
von etwa 1878:
„Der Besitz guter, genauer Maßstäbe
ist für jede Eisenbahnwerkstätte, für
jede größere oder kleinere mechani-
sche Werkstätte, für jedes Zeichen-
büro eine Notwendigkeit, welche
zur Genüge anerkannt ist. Wie viele
höchst unangenehme Differenzen
wurden schon hervorgerufen durch
Ungenauigkeit der Maßstäbe hinsicht-
lich ihrer Totallänge sowohl als auch
hinsichtlich der Ungenauigkeit in den
Unterabteilungen.
Ich habe mir die Aufgabe gestellt,
diesem Übelstande abzuhelfen, und
bin durch äußerst praktische Ein-
richtungen in der Lage, neben mei-
nen Schieblehren Maßstäbe liefern
zu können, welche allen gerechten
Anforderungen entsprechen, indem
jeder einzelne meiner Maßstäbe als
Präzisionsmaßstab bezeichnet werden
darf, dabei aber der Preis in Anbe-
tracht der Genauigkeit der Maßstäbe
ein verhältnismäßig billiger ist.
Indem ich mir erlaube, Sie bei
Bedarf in diesen Artikeln um Ihre
Werbung im Fachblatt:
Annonce im „Anzeiger für Berg-, Hütten-
und Maschinenwesen“ vom 2.3.1881.
Ein Kubierungs-Gabelmaß von Mahr im
Einsatz. Die Fotografie ist späteren Datums,
am Prinzip des Geräts hat sich seit seiner
Entwicklung aber nichts geändert.
1950 1975 2000
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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gefälligen Aufträge, deren bester Aus-
führung Sie sich versichert halten dür-
fen, wie auch um gütige Weiteremp-
fehlung geeigneten Orts ergebenst zu
bitten, zeichne
Hochachtungsvollst C. Mahr.“
Schon früh zählten Forstämter zu
Mahrs wichtigen Kunden. Neben
den Schieblehren und Stahlmaßstä-
ben in der Länge von 500, 1.000 und
2.000 Millimetern hatte Mahr Ku-
bierungsgabelmaße im Sortiment.
Sie wurden 1863 bei den Königlich
Württembergischen Forstämtern ein-
geführt und ermöglichten, den Ku-
bikinhalt eines Baumstamms von bis
zu einem Meter Durchmesser sofort
ablesen zu können. Mahrs Gabelmaß
aus Eisen konnte von der Forstdirek-
tion „wegen seiner Dauerhaftigkeit,
Brauchbarkeit bei jeder Witterung,
geringer Abnützung und scharfer
Messung zu weiterer Verbreitung bes-
tens empfohlen werden“. Zufrieden
äußern sich zudem die Wiener Loko-
motiv-Fabriks-Aktiengesellschaft in
Floridsdorf bei Wien, die Königliche
Eisenbahndirektion in Stuttgart, die
Groß herzogliche Badische Verwaltung
der Eisenbahn-Hauptwerkstätte und
die Königliche Hüttenverwaltung im
Württembergischen Wasser al fing en.
Letzterer unterstanden die Mech a -
nischen Werkstätten, deren Aufga-
bengebiet auch die Beaufsichtigung
der staatlichen und privaten Maschinen -
baubetriebe umfasste.
Mahrs Produkte werden nicht nur
empfohlen, sondern auch prämiert:
Auf der Schwäbischen Industrie-Aus-
stellung in Ulm 1871 erhält Carl Mahr
die „Fortschrittsmedaille“ zur „Aner-
kennung des Fortschritts in Gewerbe
und Handel“, auf der Weltausstel-
lung Wien 1873 ein Anerkennungs-
Diplom, 1879 eine Auszeichnung in
München sowie eine Prämierung bei
der Württembergischen Landesge-
werbeausstellung 1881. Dass er „aus-
gezeichnete“ Arbeit liefert, druckt er
auf jeden seiner frühen Kataloge.
Ein Anerkennungs-Diplom auf der
Weltausstellung! In Wien fand 1873
die fünfte Weltausstellung seit der
Londoner Premiere 1851 statt und die
erste auf deutschem Boden. Es war eine
riesige internationale Überblicksschau,
die sechs Monate lang das Neueste aus
Industrie, Kunstgewerbe und Land-
wirtschaft präsentierte. Carl Mahrs
Mitwirkung dürfte darin bestanden
haben, dass einige seiner Kaliber oder
Maßstäbe inmitten eines großen Ange-
bots vergleichbarer Erzeugnisse ausla-
gen. In einem umfassenden Bericht über
die Weltausstellung zu Wien im Jahre
1873 wird Mahr nicht erwähnt, dafür
die Konkurrenz: „Als Normal-Me-
termaß zweiter Ordnung ist das von
F. Wilhelm Breithaupt & Sohn aus
Kassel ausgestellte Normal- und Dop-
pelmeter sowie Hildebrandts (Berlin)
Haupt-Normal-Meterstab bemerkens-
wert. Auch Froment- Dumoulin, Bar-
bier, Jacquemin-Verguet & Lelièvre aus
Paris, verschiedene andere Schweizer
und deutsche mechanische Werkstät-
Briefkopf mit gekrönten Häuptern: Carl Mahrs Prämierungen.
1900 1925
1861 1894
18751850
Udo Hinz / Thomas Keidel / Rita Seidel / Jan Strümpel: Messen mit Mahr
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Carl Mahr und die Messtechnik im 19. Jahrhundert
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Whitworth, Brown & Co.Der britische Ingenieur Joseph Whitworth (1803–1887) wirkte bahnbrechend bei
der Abkehr von handwerklichen Herstellungsmethoden hin zum Austauschbau und
schuf damit Grundlagen für die Massenfertigung. Seit 1837 setzte er Rundlehren mit
festgelegtem Über- und Untermaß für die Passung ein und stellte Kaliberlehren und
Ringlehren mit feiner Abstufung her. Diese Normallehren fanden seit den 1850er
Jahren weite Verbreitung. 1841 entwickelte Whitworth ein einheitliches Messsystem
für Schrauben, 1856 ein Präzisionslängenmessgerät mit einer Genauigkeit von 1/400
Millimeter. Zudem erlangte er Anerkennung mit konstruktiven Verbesserungen an
Drehmaschinen.
Maßgeblich durch Whitworth etablierte sich die Normung als Grundlage der indus-
triellen Fertigung. Beim Austauschbau musste nicht mehr wie in der handwerklichen
Methode probiert werden, ob die zu montierenden Einzelteile auch richtig zusammen-
passten. Wenn sie exakt nach der technischen Zeichnung unter Beachtung der Tole-
ranzwerte gefertigt wurden, konnten sie rationeller hergestellt und montiert werden.
Die Serienproduktion ermöglichte dezentralisierte Produktionsprozesse: Unternehmen
konnten die Herstellung bestimmter Teile an Firmen delegieren, die das präziser und
kostengünstiger erledigten – die Geburtsstunde der industriellen Spezialisierung. Wie
so oft war hierbei der Krieg der Vater aller Dinge, denn Whitworth bediente sich seiner
Entwicklungen zur Produktion von Waffen wie dem Whitworth-Sharpshooter, der im
Amerikanischen Bürgerkrieg zum Einsatz kam, eines der ersten Scharfschüt zengewehre.
Als Erfinder des modernen Messschiebers mit Nonius gilt der Amerikaner Joseph
R. Brown (1810–1876). Er war der Sohn im Unternehmen Brown & Son, das einige
Jahre nach seiner Gründung 1833 als Brown & Sharpe seinen Weg zu einer bedeuten-
den Größe im Maschinenbau antrat und bis heute Messgeräte produziert. 1851 ent-
wickelte Joseph Brown einen Messschieber, der handlich und für jeden Schlosser er-
schwinglich war. Dazu konstruierte Brown auch gleich eine automatische Teilmaschine.
Brown & Sharpe war seit 1867 auch der weltweit erste Anbieter industriell gefertigter
B ügelmessschrauben. Die bewegliche Noniusskala zur Steigerung der Ablesegenauigkeit
hat im 17. Jahrhundert der französische Mathematiker Pierre Vernier eingeführt, wes-
halb der Brown’sche Messschieber im anglophonen Raum seither vernier caliper heißt.
Die bei uns und in vielen anderen Ländern übliche Bezeichnung geht auf den portu-
giesischen Mathematiker und Astronomen Nunes (latinisiert: Nonius) zurück, der den
Nonius jedoch nicht erfunden hat.
1950 1975 2000
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der
vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Lektorat: Dr. Jan Strümpel Satz: BEISERT & HINZ Unternehmenskommunikation GmbH,
Göttingen / Wiebke Schneider
Abbildungsnachweis
Das Bildmaterial in diesem Buch stammt aus dem Mahr-Archiv, Göttingen mit Ausnahme von: S. 10: Daimler-Archiv,
Stuttgart; S. 59, 61: DIN-Archiv; S. 111: Dr. Albrecht Mahr; S. 112: Bundesarchiv; S. 117 oben: Stadtarchiv Göttingen;
S. 129 oben: Sammlung E. Kienzle / G. Spur; S. 238: Fraunhofer ICT-IMM, Mainz; S. 276: Erik Liljeroth.
Abbildung Titelseite
Schieblehre aus den 1860er Jahren, Mahr Esslingen.
Das älteste erhaltene Messgerät von Mahr
Abbildung Rückseite
Messung einer Welle mit dem Formtester MarForm MMQ 400, Mahr Göttingen.
Moderner Messplatz für jede Formmessaufgabe
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