Nadine Kabuth
Die gesellschaftliche Funktion der Ehe im
bürgerlichen Roman des ausgehenden 19. und
beginnenden 20. Jahrhunderts am Beispiel
von Thomas Manns „ Buddenbrooks“ im Vergleich zu Theodor
Fontanes „Mathilde Möhring“.
Freiherr – vom – Stein Schule
Deutsch – Leistungskurs
Frau Breitner
Velmeden, den 16.04.2007
Inhaltsverzeichnis 1. Vorwort 1 2. Vorstellung beider Werke 3
2.1 Inhaltsangabe „Buddenbrooks“ von Thomas Mann __________________________ 3
2.2 Inhaltsangabe „Mathilde Möhring“ von Theodor Fontane_____________________ 5
3. Geschichtliche Hintergründe 7 3.1 Zeitgeschichtlicher Wandel vom Ende des 19. bis zum Beginn
des 20. Jahrhunderts _______________________________________________________ 7
3.2 Die damalige Bedeutung und gesellschaftliche Funktion von Ehe und Familie_____ 9
4. Werkbezogene Darstellung, Analyse und Interpretation 12 4.1 Tony und ihre Ehen ____________________________________________________ 12
4.2 Mathilde und ihre Ehe__________________________________________________ 15
4.3 Vergleich beider Frauen und ihrer Ehen___________________________________ 19
4.3.1 Mögliche Gründe und Ursachen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede_________19
5. Nachwort 21
Literaturverzeichnis Erklärung
1
1. Vorwort
Meine Jahresarbeit im Fach Deutsch behandelt das Thema „Die gesellschaftliche
Funktion der Ehe im bürgerlichen Roman des ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts am Beispiel von Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ im Vergleich zu
Theodor Fontanes „Mathilde Möhring“.
Mir war von vornherein klar, dass ich meine Jahresarbeit im Fach Deutsch schreiben
möchte und tatsächlich wurde mein Erstwunsch bei der Einwahl erfüllt. Nachdem ich
fast 900 Seiten Primärliteratur gelesen und bearbeitet habe, werde ich nun versuchen,
besonders auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie auch die äußeren sozialen
und materiellen Umstände der beiden Hauptfiguren Tony und Mathilde näher
einzugehen. Hierzu möchte ich noch kurz anmerken, dass ich es bewusst vermieden
habe, Werkschlüssel oder komplette Interpretationen der beiden Werke zu lesen, um
völlig unvoreingenommen an die Arbeit herangehen zu können.
Auch ist es mir wichtig, die Beweggründe der beiden von allen Seiten zu beleuchten
und diese dann unvoreingenommen zu analysieren und zu beurteilen. Das mir hierfür
nur ein begrenzter Rahmen zur Verfügung steht, ist mir durchaus bewusst, weshalb es
mir auch nicht möglich sein wird, alle gesellschaftlichen Aspekte und Einflüsse
genauestens zu untersuchen und darzustellen. Lieber möchte ich meinen Fokus auf die
beiden Frauenfiguren und ihre Ehen legen. Denn diese Thematik beinhaltet viel mehr
als „nur“ die Szenen einer Ehe…
2
2. Vorstellung beider Werke
2.1 Inhaltsangabe „Buddenbrooks“ von Thomas Mann
Die Buddenbrooks sind eine wohlhabende und angesehene Kaufmannsdynastie in der
Hansestadt Lübeck. Schon in dritter Generation wird die Firma nun von Konsul Johann
Buddenbrook jr. geführt. Die Patrizierfamilie bewohnt ein großes Anwesen in der
Mengstraße. Hier wohnen Buddenbrooks sen. zusammen mit Buddenbrooks jr. und
deren vier Kindern Thomas, Christian, Clara und Antonie, genannt Tony.
Buddenbrooks führen ein Leben voller Annehmlichkeiten und Privilegien mit
zahlreichen Angestellten. In dieser Umgebung wächst auch Tony Buddenbrook auf. Sie
ist die Lieblingstochter ihres Vaters und weiß schon sehr früh um die Wirkung ihres
Namens und die damit verbundenen Rechte und Pflichten. Familienstolz und –tradition
sind in der Familie Buddenbrook von großer Bedeutung. So geprägt, ist Tony ein
hübsches, im Umgang mit anderen Menschen sehr firmes, allerdings auch recht naives
und pflichtbewusstes Ding. Sie weiß, was sie ihrem guten Namen schuldig ist. Deshalb
heiratet sie dann auch zweimal, jedoch handelt es sich beide Male nicht um eine
Hochzeit aus Liebe. Ihre erste Ehe mit dem Hamburger Unternehmer Bendix Grünlich,
die auf Drängen ihres Vaters geschlossen wurde, wird geschieden, als sich herausstellt,
dass ihr Ehemann kurz vor dem Bankrott steht und Tony nur geheiratet hat, um ihre
Mitgift zu kassieren. Aus dieser Ehe geht Tonys einzige Tochter Erika hervor. Einige
Jahre später gibt sie – um den Fehler der ersten Scheidung wieder zu korrigieren – dem
Münchner Hopfenhändler Alois Permaneder das Jawort. Doch auch diese Ehe wird
geschieden, als Tony ihren Mann in flagranti mit der Köchin erwischt.
Leider gerät die ehemals so angesehene und überlegene Familie Buddenbrook in ihrer
Heimatstadt über die Jahre hin immer mehr in Vergessenheit. Nach dem Tod des Vaters
übernimmt Thomas die Geschäfte. Er heiratet spät und sein sehr zartbesaiteter Sohn
Hanno ist nicht wirklich ein würdiger Nachfolger für die Leitung der Firma. Mit
zunehmendem Alter empfindet er die Firma als immer schwerere Last auf seinen
Schultern. Er würde sich gern einmal gehen lassen – so wie sein Bruder Christian, der
ein arbeitsscheuer bon-vivant ist – und nur seinem Vergnügen statt den anstrengenden
Pflichten nachgehen. Seine Schwester Clara heiratet einen Pastor aus Riga und stirbt
früh. Auch seine Mutter stirbt bald darauf. Immer stärker manifestiert sich nun der
Verfall der Familie: Christian, ein leidenschaftlicher Hypochonder, wird schließlich von
seiner nicht standesgemäßen Frau, mit der er eine Tochter hat, in eine geschlossene
Anstalt eingewiesen, Thomas stirbt überraschend an einem entzündeten Zahn auf
3
offener Straße und auch Hanno stirbt noch als Jugendlicher an Typhus. Übrig bleiben
nur die Buddenbrookschen Frauen, die sich selbst in solch schwierigen Zeiten niemals
haben unterkriegen lassen.
4
2.2 Inhaltsangabe „Mathilde Möhring“ von Theodor Fontane
Mathilde Möhring ist 23 Jahre alt und wohnt zusammen mit ihrer Mutter in einer
kleinen Mietswohnung in Berlin. Ihr Vater, Buchhalter in einem Exportgeschäft, starb
am Tag vor ihrer Konfirmation, als Mathilde 17 Jahre alt war. Seine letzten Worte an
sie lauteten: „Mathilde, halte dich propper.“1 Von da an hat sie stets versucht, sich diese
Worte zu Herzen zu nehmen.
Vor dem Tod ihres Vaters wollte Mathilde immer schon Lehrerin werden. Nun aber ist
das Geld knapp und um etwas dazuzuverdienen, vermieten Mathilde und ihre Mutter ein
„chambre garnie“, ein möbliertes Zimmer ihrer Wohnung an Studenten. Eines Tages
zieht ein neuer Untermieter ein, ein Jura-Student namens Hugo Großmann. Hugo
Großmann ist 26 Jahre alt, ein sehr schöner Mann und kommt aus gutem Hause.
Mathilde findet auf Anhieb Gefallen an ihm und weiß, zum Erstaunen ihrer alten, etwas
ängstlichen und pessimistischen Mutter, seine Launen und Reaktionen immer richtig
einzuschätzen. Eines Tages erkrankt Hugo schwer an Masern. Mathilde erklärt sich
sofort bereit, ihn zu pflegen. Sie kümmert sich wochenlang um den Kranken. Als dieser
schließlich wieder fast ganz gesund ist, macht er ihr in einer sentimentalen Szene aus
Dankbarkeit und Freude über dieses bequeme Leben mit ihr einen Heiratsantrag, den
Mathilde annimmt. Bevor sie Hugo jedoch ihr Jawort gibt, verlangt sie von ihm mehr
Disziplin in Bezug auf sein Studium und mindestens den Abschluss seines ersten
Staatsexamens. Von Mathilde gefördert und gefordert, besteht Hugo tatsächlich das
erste Staatsexamen. Kurz danach hat Mathilde schon den nächsten Teil ihres Plans
ausgeführt und eine Stelle für ihren Verlobten ausfindig gemacht: Er soll Bürgermeister
in Woldenstein, einer kleinen Stadt in Westpreußen, werden. Auch dieses Vorhaben
gelingt Mathilde und unmittelbar vor ihrem Umzug nach Woldenstein heiraten sie und
Hugo endlich. In Woldenstein angekommen, ist Mathilde jetzt Frau Bürgermeister
Großmann. Ob im gesellschaftlichen oder im geschäftlichen Bereich ihres Mannes, auch
hier ist es wieder Mathilde, die – wenn auch nur im Hintergrund – die Fäden zieht und
die Zügel in der Hand hält. Nach zwei Jahren in Woldenstein wird Hugo jedoch –
aufgrund von Mathildes übertriebenem gesellschaftlichem Ehrgeiz – plötzlich schwer
krank. Obwohl es zunächst so aussieht, als hätte Hugo die Lungenentzündung
unbeschadet überstanden, erleidet er schließlich einen tödlichen Rückfall. Nach Hugos
Tod beschließt Mathilde, zu ihrer Mutter nach Berlin in ihr altes Leben zurückzukehren.
Sie möchte sich nicht wieder neu verheiraten, „nur“ um ihren gestiegenen
1 Theodor Fontane „Mathilde Möhring“: S.3, Z.33
5
Lebensstandard beibehalten zu können. Stattdessen findet sie sich mit ihrer neuen-alten
Situation ab und beginnt wieder zu lernen. Nach einiger Zeit besteht sie ihr
Staatsexamen und findet auch sofort eine Stelle als Lehrerin. Dies ermöglicht ihr, ihrer
Mutter und sich selbst ein etwas besseres Leben zu bieten.
Nach dem Tod ihres Mannes hat Mathilde viel über ihn, sich selbst und ihre Ehe
nachgedacht. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass es für Hugo und seine weiche und
schwache Art wahrscheinlich besser gewesen wäre, er hätte niemals geheiratet. Sie
muss sich jedoch auch eingestehen, dass sie ihrem Mann niemals wirklich überlegen
war und dass er sie im Endeffekt sogar mehr beeinflusst und geprägt hat als sie ihn.
6
3. Geschichtliche Hintergründe
3.1 Zeitgeschichtlicher Wandel vom Ende
des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
In der Zeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland sollte
nicht nur ein neues Jahrhundert beginnen, diese Jahrhundertwende markierte auch den
Wandel der ganzen Gesellschaft und ihrer Vorstellungen von der Welt und sich selbst.
Gerade die bürgerliche Klasse machte in diesem Zeitraum eine schleichende, aber
dennoch beachtliche und vor allen Dingen folgenschwere Entwicklung bzw. Wandlung
durch.
Von dem „Glanz“ und der „Solidität der Gründerzeit“2, in der die Wirtschaft boomte
wie nie zuvor, noch ganz berauscht, wurde vielen der Wandel der Zeit leider erst zu spät
bewusst. Der Untergang dieser Zeit und ihrer Gesellschaft ging mit der
Industrialisierung einher. Besonders die Bourgeoisie, das Besitz- und
Bildungsbürgertum, hatte schwer mit dem immer weiteren Auseinanderdriften von
Lebens- und Geschäftspraxis3 zu kämpfen. Hinzu kam noch erschwerend die
Abwendung von althergebrachter Tradition hin zum künstlerisch-schwärmerischen
Weltbild. Gerade in der Wirtschaft und Produktion war der technische Fortschritt im
Zuge der Industrialisierung kaum aufzuhalten. Schon bald waren große Fabriken mit
Hunderten von Mitarbeitern und vielen neuen, effizienter arbeitenden Maschinen
schneller und auch billiger als traditionsbewusste Familienbetriebe. Dieser Wandel hatte
auch den Zerfall der Großfamilie zur Folge.4
Doch nicht nur in der Wirtschaft kam es zu Neuerungen und Veränderungen. Der
Fortschritt hatte in allen Lebensbereichen längst Einzug gehalten. Auch die Gesellschaft
war hiervon maßgeblich betroffen, insbesondere die Rolle der Frau wurde hinterfragt
und es gab einige Versuche, sie neu zu definieren. In dieser Epoche des Zerfalls von
Tradition und Familie im alten Sinne, erhob sich die Frauenbewegung in Deutschland.
Sie forderte – ausgehend von der Emanzipation der Frau – einen besseren Zugang zu
höherer Bildung, bessere Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne. Ebenfalls
gefordert wurden ein politisches Mitspracherecht in Form des Wahlrechts und natürlich
die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Auch die Forderung nach dem Erhalt und 2 Barbara Beuys „Familienleben in Deutschland“: S. 423 i.F.z. Beuys „Familienleben“ 3 Vgl. Romanführer, Band 20.Jh., S.93 4 Vgl. Franz Fischer „Einführung in die Familiensoziologie“: S. 72 i.F.z. Fischer „Familiensoziologie“
7
der Ausweitung der Humanität wurde immer lauter.5 Die Frau wollte nicht länger nur
von ihrem Mann abhängig sein, man wollte ihr ermöglichen, sich insofern
weiterzubilden, dass sie auch allein für sich und ihre Kinder sorgen kann.
Denn vorher war das typische Ehe- und Familienbild von einer klaren Rollenverteilung
geprägt: Der Mann war der Ernährer der Familie und die Frau war für die Erziehung der
Kinder und die Führung des Haushalts zuständig – oder anders gesagt: Die Frau diente
als „Gebärmaschine“ ihrem Mann, der als autoritäres Oberhaupt über die Familie
herrschte. Ein Standardsatz vieler Mütter gegenüber ihren Kindern war: „Du musst Papa
gehorchen.“6 Dies hatte eine klare finanzielle Abhängigkeit der Frau vom Mann zur
Folge. Aber auch das gesellschaftliche Ansehen hing von dem Bestehen oder Nicht-
Bestehen einer Ehe ab. So waren Frauen, die ein oder gar mehrere außereheliche Kinder
hatten, als „Flittchen“ verschrien. Aber auch wenn eine rechtmäßige Ehe kinderlos
blieb, gab man automatisch der Frau die Schuld daran. Daher war Kinderlosigkeit auch
ein Scheidungsgrund.
5 Fischer „Familiensoziologie“: S. 75 6 Beuys „Familienleben“ : S. 434
8
3.2 Die damalige Bedeutung und gesellschaftliche Funktion von Ehe und Familie
Das Bürgertum – Leistung und Geld statt vererbte Privilegien und Adelstitel
Das Bürgertum bzw. das Besitz- und Bildungsbürgertum, die Bourgeoisie der
damaligen Zeit, hatte sich Wohlstand und Annehmlichkeiten selbst und aus eigener
Kraft durch harte Arbeit verdient – ganz im Gegensatz zum Adel, dessen traditionelle
Privilegien und Titel durch Geburt und Vererbung erlangt und weitergegeben wurden.
Das Ansehen des Bürgertums stand auf einem Fundament aus Leistung und Geld.
Angehörige des Bürgertums verwalteten als Beamte den Staat und brachten als
Unternehmer die Wirtschaft der Gründerzeit in Schwung. Dennoch bildete das
Bürgertum nicht eine geschlossene Gesellschaft oder eine „homogene Klasse“, sondern
gruppierte sich nochmals in viele kleine, isolierte Kreise, die jedoch alle ein
grundsätzliches Ideal anstrebten: „Etwas schaffen und dabei sparsam und anständig
bleiben.“ Dieser elitäre Charakter machte sie zum Vorbild der Arbeiter und Bauern.7
Andererseits gab es auch viele kaufmännische Patrizierfamilien, die den Adel für seinen
luxuriösen und dekadenten Lebensstil bewunderten und diesen nach Kräften
nachzuahmen versuchten – allerdings stets mit dem Hinweis auf eine klare moralische
Abgrenzung von der Unsittlichkeit des Adels (z.B. das Konkubinat) und seinem Mangel
an christlicher Tugend und Moral8. Hieran wird auch die mehr oder weniger stark
ausgeprägte Verankerung des Bürgertums im Glauben deutlich.
Die Ehe – Versorgungsinstrument statt Liebesbeweis?
Ehe und Familie besaßen damals einen „instrumentellen Charakter“ für die Ehepartner
und deren Familien. Eine Liebesheirat bildete die große Ausnahme, stattdessen wurde
„die Ehe im Hinblick auf Kinder - also einem potenziellen Erben - eingegangen, um –
je nach Schicht – Namen, Vermögen, Status, die Firma etc. weiterzugeben und die
Versorgung von den übrigen Familienmitgliedern im Falle von Krankheit und im Alter
zu garantieren.“ 9
Aus diesen versorgungstechnischen Gründen lebten unverheiratete Männer und Frauen
auch stets in den Familienverbänden und Haushalten der Eltern, Geschwister oder
anderer Anverwandter.
7 Vgl. Beuys „Familienleben“: S. 422 8 Vgl. Rosemarie Nave-Herz „Ehe- und Familiensoziologie“: S. 49 i.F.z. Nave-Herz „Ehe- und Familiensoziologie“ 9 Nave-Herz „Ehe- und Familiensoziologie“: S. 40
9
Die Familie – wirtschaftliche Institution statt biblischem Gebot?
Die Familie fungierte demnach als „Versorgungsinstitut“10 für alle Familienmitglieder,
was die ambivalente Einstellung zur Liebesheirat erklärt. Aus der Funktion als Trägerin
von Vermögen und/oder einem wirtschaftlichen Unternehmen resultierte nun auch die
Pflicht eines jeden Familienmitglieds, Rücksicht auf den Erhalt und aktiv Einfluss auf
die Mehrung des Kapitals zu nehmen – eben auch durch eine vorteilhafte
Eheschließung.
Berechnung und Wirtschaftlichkeit statt Zuneigung und Liebe
Eine Eheschließung beruhte also in den seltensten Fällen auf dem „biblischen Gebot
von der Liebe“ zwischen den Ehepartnern. Liebe zwischen diesen spielte nur eine
untergeordnete Rolle, das eheliche Bündnis fußte nicht auf Leidenschaft, sondern auf
Zuverlässigkeit, Nüchternheit und Achtung des Partners.
Das bedeutendste Kriterium für die Partnerwahl in vermögenden Familien war die
Mitgift der Braut – schließlich ging diese nach der Eheschließung in den Besitz der
Familie des Ehemannes über. Ferner waren auch die Arbeitskraft und vor allem die
Gesundheit ausschlaggebende Faktoren für eine Hochzeit, gleichermaßen in
vermögenden wie in nicht-vermögenden Familien.11 Die Wahl des Ehepartners wurde
zudem – insbesondere bei Frauen – im Wesentlichen auch durch die eigene Familie
bzw. den eigenen Vater in seiner Funktion als Familienoberhaupt beeinflusst und
(mit-)bestimmt, da die Wahl des Ehepartners – wie oben beschrieben – nicht nur
Veränderungen für die beiden Ehepartner selbst mit sich brachte, sondern ebenfalls für
deren Familien Auswirkungen hatte (siehe z.B. Mitgift).12
Die Funktionen einer Ehe
Die wichtigste Funktion war, ist und bleibt die Reproduktionsfunktion, die sich in zwei
weitere Teilbereiche gliedern lässt: die biologische und die soziale
Reproduktionsfunktion. Da eine Ehe häufig nur eine Durchgangstür zur Familie ist, ist
die biologische Reproduktionsfunktion ein fester Bestandteil der Ehe. Sie erfüllt das
Streben nach einem Erben, der einmal den Namen, das Vermögen, den Besitz und die
Firma übernimmt und weiterführt.
Aus der sozialen Reproduktionsfunktion, auch physisch-psychische
Reproduktionsfunktion genannt, leiten sich auch die Freizeit- und 10 „Buddenbrooks-Handbuch“: S. 216 11 Vgl. Nave-Herz „Ehe- und Familiensoziologie“: S. 41 12 Vgl. hierzu auch: Nave-Herz „Ehe- und Familiensoziologie“: S. 44
10
Spannungsausgleichsfunktion der Ehe ab. Man könnte auch von der Ehe als
„Schonraum“ sprechen. Der hart arbeitende Mann findet Entspannung und Erholung
von seiner täglichen Arbeit als Ernährer der Familie im Kreise seiner Lieben, umsorgt
von seiner Frau, die für familiäre Eintracht und häusliche Harmonie sorgt. Alle
Familienmitglieder sollen sich im Schoß der Familie behütet und geborgen fühlen13.
Diese Funktion steht in einem krassen Widerspruch zu dem ökonomischen Standpunkt,
von dem aus die Ehe sonst betrachtet wird14.
Die Platzierungsfunktion geht aus der letzten Funktion einer Ehe, der
Sozialisationsfunktion, hervor. Die Sozialisationsfunktion bewirkt, dass das Leben in
einer Gemeinschaft ertragen und bewältigt werden kann. Sie sorgt dafür, dass das
Gebilde Ehe/Familie nicht schon nach kurzer Zeit aufgrund des Egoismus des anderen
wieder zusammenbricht. Die Anpassung an andere Mitmenschen und das gesamte
soziale Umfeld sowie das Finden von Kompromissen zur Konfliktlösung sind wichtige
Faktoren für den dauerhaften Erhalt einer Ehe. Die Platzierungsfunktion sorgt nun
dafür, dass auch in der außerehelichen Gesellschaft ein geeigneter Platz gefunden und
bewahrt wird. Jemand, der in eine reiche und angesehene Familie hineingeboren wird,
erhält quasi automatisch einen Platz in der höheren Gesellschaft, während jemand aus
ärmlichen Verhältnissen diesen sozialen Aufstieg nur durch sehr harte Arbeit oder –
wenn überhaupt – durch eine vorteilhafte Hochzeit schaffen kann.15
13 Vgl. „Buddenbrooks-Handbuch“: S. 216 14 Vgl. „Buddenbrooks-Handbuch“: S. 223 15 Vgl. hierzu auch: Nave-Herz „Ehe- und Familiensoziologie“ , Kapitel 4.1 „Die Funktionen von Ehe und Familie“
11
4. Werkbezogene Darstellung, Analyse und Interpretation
4.1 Tony und ihre Ehen
Ein Leben für das Wohl der Familie – Repräsentieren als oberste Pflicht?
Von klein auf hat das Repräsentieren ihrer Familie oberste Priorität für Tony und sie ist
sehr stolz darauf, ihrer Familie in dieser Art und Weise dienen zu dürfen.
Alles für die Familie – Die Bürde des Ansehens
Genau deshalb heiratet sie dann auch – aufgrund ihres Gehorsams der Familie
gegenüber – auf Drängen ihres Vaters den Unternehmer Bendix Grünlich aus Hamburg,
der zuvor längere Zeit um sie geworben hatte. Einer nicht standesgemäßen Liebe zu
dem Sohn eines Fischers hatte ihr Vater auf der Stelle eine klare Absage erteilt. Obwohl
er einige Jahre älter als Tony ist, ist Grünlich doch eine „gute Partie“16. Die Liebe
zwischen den beiden würde sowieso erst „mit der Zeit“17 entstehen. Tony zieht mit ihm
nach Hamburg und bekommt eine Tochter. Als sie erfährt, dass Grünlich mit ihrer
Mitgift lediglich dem nun nicht mehr aufzuhaltenden Bankrott entgehen wollte, lässt sie
sich von ihm scheiden und kehrt nach Hause zurück.
Der gleiche Fehler ein zweites Mal begangen - als Allheilmittel für den ersten?
Von nun an ist ihr einziger Gedanke, sich so schnell wie möglich neu zu verheiraten,
um die Schmach der ersten Ehe und die damit verbundene Schande für die Familie
wieder wett zu machen, ihre Verfehlung und ihr Versagen zu korrigieren. So heiratet sie
einige Jahre später den Münchner Hopfenhändler Alois Permaneder und zieht mit ihrer
Tochter Erika aus erster Ehe nach Bayern. Kurz nach der Eheschließung setzt sich
Permaneder mit Tonys Mitgift zur Ruhe und frönt fortan dem Wirtshaus und dem
Alkohol. Tony fühlt sich in München – so weit weg von ihrer geliebten Heimatstadt, wo
jeder weiß, wer sie ist – wie eine Fremde, eine Außenseiterin. Sie fremdelt mit der
Mentalität der Bayern und auch der bayerische Dialekt ist ihr äußerst zuwider. Zudem
stirbt ihr Baby kurz nach der Geburt, eine weitere Niederlage und Demütigung für
Tony. Doch auch dieses „Glück“ hält nicht lange an – Tony erwischt den betrunkenen
Permaneder nachts in flagranti mit der Köchin Babette. Aus diesem Grund wird nun
auch Tonys zweite Ehe geschieden, da sie sich diese weitere Demütigung keineswegs
16 Thomas Mann „Buddenbrooks“: 3/2, S. 104 i.F.z. Th. Mann „BB“ 17 Th. Mann „BB“: 3/2, S. 103
12
gefallen lassen will. Nun hält sie absolut nichts mehr in München und sie kehrt wieder
mit Erika nach Hause zurück.
Indirekter Dienst an der Familienehre – Die Projektion der eigenen Wünsche auf
andere Familienmitglieder
Fortan konzentriert Tony sich nun nicht mehr darauf, durch eigene Taten die
Familienehre zu bewahren und zu verteidigen, sondern unterstützt vor allem ihren
Bruder Thomas nach Kräften, der schließlich sogar zum Senator gewählt wird.
Auch könnte man behaupten, sie hätte noch eine „dritte Ehe“18 geführt, nämlich die
ihrer Tochter Erika mit dem Unternehmer Hugo Weinschenk. Obwohl sie dieses Mal
„nur“ die Brautmutter ist, geht Tony – die „eigentliche Braut“19 - wieder voll und ganz
in dieser Hochzeit und Ehe auf, alles geschieht nach ihrem Willen und auch die
häusliche Einrichtung der Frischvermählten ist ganz nach ihrem Geschmack. Allerdings
soll auch diese Ehe nicht von Erfolg gekrönt sein, da Weinschenk schließlich wegen
Veruntreuung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wird.
Die Aufgabe der einzig wahren Liebe – Ein Bann, der nicht zu brechen ist?
Somit kann Tony auch mit dieser Ehe ihrer Familie keinen Vorteil verschaffen und
muss nun damit leben, dass es ihr nicht vergönnt war, ihrer Bestimmung und Pflicht zu
folgen und ihrer Familie durch eine vorteilhafte und vornehme Vernunftehe noch Glanz
und Würde zu verleihen. Den einzigen Mann, den sie jemals wirklich geliebt hat, durfte
sie aufgrund des Standesunterschiedes nicht heiraten: den Medizinstudenten Morten
Schwarzkopf aus Travemünde. Dennoch hat sie ihn nie vergessen und spricht bis zu
ihrem Lebensende immer mal wieder von ihm – meistens, indem sie eine Aussage von
ihm zitiert.
Eine Buddenbrook ist eine Buddenbrook – egal was passiert…
Tony ist schon immer auf Äußerlichkeiten sehr fixiert und für diese empfänglich
gewesen – schöne, große Anwesen, eine edle und stilvolle Einrichtung, geschmackvolle
Kleider mit großen und zahlreichen Atlasschleifen, große Diners und Gesellschaften.
Auch glaubt sie, dass das Repräsentieren ihres Familiennamens oberste Priorität
verdient hat. So verlebt sie den Rest ihres Lebens – unglücklich und dennoch recht
18 Th. Mann „BB“: 8/1, S. 447 19 Th. Mann „BB“: 8/1, S. 445
13
zufrieden mit dem Verlauf ihres eigenen Lebens und dafür umso interessierter und
mitfühlender an dem Leben ihrer Verwandten.
Kindliche Naivität – Das Geheimnis der Tony Buddenbrook?
Festzuhalten bleibt, dass Tony sich in all den Jahren nicht groß verändert hat. Nach
ihren beiden Scheidungen behauptet sie zwar gern, sie sei jetzt „keine Gans“20 mehr,
sondern eine vom Leben und vom Schicksal hart geprüfte Frau, die schon so allerhand
miterlebt und gesehen hätte. Doch so erwachsen wie sie sich hier selbst sieht, ist sie
niemals geworden. Auch ihren Hang zu dramatischen Szenen, die sie stets mit ihrem
lauten und hemmungslosen Kinderweinen untermalt, konnte sie in all den Jahren nicht
ganz ablegen. Interessant ist auch die Tatsache, dass Tony sich nach relativ kurzer Zeit
auch in der Rolle einer geschiedenen Frau, der vom Schicksal übel mitgespielt und die
von den Männern nur benutzt und betrogen wurde, recht gut gefällt und sie versucht,
auch dieser Rolle und ihren Anforderungen gerecht zu werden. Auch diese Aufgabe
füllt sie voll und ganz aus und befriedigt sie.
20 Th. Mann „BB“: 5/9, S. 301
14
4.2 Mathilde und ihre Ehe
Willkommen im kleinbürgerlichen Mief – einer Mischung aus Armut, Ängstlichkeit,
Resignation und Pessimismus
Das Leben der Mathilde Möhring vor, während und nach ihrer Ehe mit Hugo Großmann
zeichnet das Lebensbild einer Aufsteigerin aus eigener Kraft.
Aufgewachsen im muffigen Kleinbürgermilieu, ist die Angst um die eigene Existenz
aufgrund der auch durch den frühen Tod des Vaters verursachten Armut allgegenwärtig.
Dadurch bedingt muss sie auch ihren Traum, Lehrerin zu werden, aufgeben. Besonders
die Mutter ist davon in ihrer Ängstlichkeit und ihrem Pessimismus nachhaltig geprägt.
Dennoch besitzt Mathilde stets den festen Willen, dieser Misere eines Tages zu
entfliehen.
Wenn der Ehemann in spe zum Fluchthelfer wird – Heirat als Mittel zur Flucht?
Eines Tages jedoch sieht die weder wirklich schöne noch anmutige oder aufreizende
Mathilde mit ihrem Gemmengesicht endlich ihre Chance zur Flucht aus dem
kleinbürgerlichen Mief gekommen. Hugo Großmann, ein Jura-Student aus gutem und
wohlhabendem Hause, mietet sich in das möblierte Zimmer der Möhrings ein.
Eines Tages erkrankt Hugo schwer an Masern. Sofort ist Mathilde zur Stelle und pflegt
den Kranken wochenlang aufopferungsvoll und mit einer Engelsgeduld. Kaum hat
Hugo die schwere Krankheit überstanden, macht er Mathilde in einem Anflug von
Sentimentalität einen Heiratsantrag – jedoch mehr aus Dankbarkeit als aus Liebe und
Zuneigung. Nachdem sie Hugo ins Gebet genommen und ihm ihre Vorstellungen von
einer Ehe unmissverständlich klar gemacht hat, nimmt sie seinen Antrag schließlich an.
Mathilde macht gleichzeitig das bestandene Examen Hugos zur Bedingung für die
Hochzeit.21
Ein stilles Abkommen in beiderseitigem Einverständnis – Tauschhandel sozialer
Aufstieg gegen bequemes, angenehmes Leben?
Dass Hugo diese Bedingungen stillschweigend akzeptiert und ohne ein Wort des
Einwands oder der Widerrede hinnimmt, lässt sich auf zweierlei Art und Weise deuten.
Zum einen könnte man annehmen, dass es an Mathildes großer Willensstärke, ihrer
Zielstrebigkeit und ihrer Entschlossenheit und Selbstsicherheit liegt, dass Hugo – der all 21 Vgl. Theodor Fontane „Mathilde Möhring“: 8.Kapitel, S. 41, Z. 25-31 i.F.z. Th. Fontane „MM“
15
das in diesem Moment vielleicht eher einschüchternd und herrisch empfindet – sich das
als Mann gefallen lässt. Zum anderen, wenn man nun Hugos Charaktereigenschaften
mit in Betracht zieht, könnte man auch zu folgender These gelangen: Hugo ist aus
gutem und wohlhabendem Hause, er ist in einer höhergestellten Familie mit vielen
Privilegien und Annehmlichkeiten aufgewachsen. Hierin liegt möglicherweise die
Erklärung für seine äußerst stark ausgeprägte Faulheit und Bequemlichkeit. Genau
dieses sorgenfreie und bequeme Leben hat er bis jetzt bei Mathilde kennen gelernt.
Vielleicht steckte also viel mehr Kalkül, Berechnung und die Aussicht auf den eigenen
Vorteil in dem Heiratsantrag Hugo Großmanns, als es in diesem Moment selbst
Mathilde hätte vermuten können?
Die offizielle Verlobungsfeier findet im kleinen Kreis statt, allerdings ist die
Verbindung Mathildes mit einem Mann aus gutem Hause längst das Gesprächsthema
Nummer eins in der Nachbarschaft.
Zuckerbrot und Peitsche – ein einfaches Prinzip mit großer Wirkung
Bevor Mathilde nun ihren Plan „Sozialer Aufstieg“ weiterverfolgt, gönnt sie ihrem
Verlobten noch „eine Woche Weihnachtsferien“22. Nach Ablauf dieser Ferienwoche
jedoch ist der Spaß für Hugo erst einmal vorbei: Mathilde nimmt ihn ein weiteres Mal
ins Gebet. Bis zu seiner Examensprüfung besucht er nun jeden Tag das Repetitorium an
seiner Universität. Abends fragt seine Verlobte ihn dann in der Wohnstube im Beisein
der Mutter ab. Damit ihm diese Prozedur jedoch nicht zu anstrengend wird, baut
Mathilde immer wieder kleine Lernpausen ein, in denen sich Hugo einen Moment lang
ausruhen und erfrischen darf. Geschickt wie sie nun mal ist, weiß Mathilde ganz genau,
wie sie Hugo bei Laune hält und ihn trotzdem nach ihren Vorstellungen leiten und
formen kann: Mit Zuckerbrot und Peitsche.
Tatsächlich besteht Hugo sein Examen und ist nun Referendar. Doch auch für die Zeit
nach dem Examen hat Mathilde bereits vorgesorgt: Die westpreußische Stadt
Woldenstein hat eine Stelle als Bürgermeister ausgeschrieben, eine Stelle ganz nach
Mathildes Geschmack und Vorstellungen. Hugo bewirbt sich um den Posten und erhält
kurze Zeit später die Zusage.
Der Preis des Ruhms – Was kostet der soziale Aufstieg?
Nach einer bescheidenen Hochzeit macht sich das frisch vermählte Paar auf nach
Woldenstein. Dort angekommen, leben sich die beiden recht schnell und gut ein. Bald
22 Th. Fontane „MM“: 9.Kapitel, S.52, Z. 11
16
verkehrt das junge Ehepaar in den höchsten Kreisen der Woldensteiner Gesellschaft.
Diese Tatsache, ihr neuer Titel als „Frau Burgemeister“ und das damit verbundene
soziale Prestige führen dazu, dass Mathilde sich am Ziel ihrer Träume und Bemühungen
sieht und endlich glücklich und zufrieden mit Hugo zusammenlebt.
Dieses harmonische Glück findet jedoch ein jähes Ende, als Hugo plötzlich an einer
schweren Lungenentzündung erkrankt und schließlich stirbt, obwohl Mathilde ihn
abermals aufopferungs- und liebevoll gepflegt hat.
Von 0 auf 100 und zurück – Unabhängigkeit und Emanzipation als endgültige Lösung
des Problems?
Plötzlich steht Mathilde also wieder allein da. Sie steht von einer Sekunde auf die
andere wieder vor dem Nichts – dem sozialen und dem materiellen Aus.
Mathilde lehnt die zweifelhafte Stelle als bezahlte Hausdame bei einem reichen Grafen
ab und kehrt nach Hause zu ihrer Mutter zurück. Wieder dort, wird sie als
„frischgebackene“ Witwe ebenso abschätzig von den Nachbarn beäugt wie damals als
frischgebackene Braut. Aus diesem Grund drängt ihre Mutter zunächst auch auf eine
baldige Wiederverheiratung ihrer Tochter. Dies lehnt Mathilde jedoch ebenso
kategorisch ab wie die Wiederannahme ihres Mädchennamens mit der Begründung,
dass dies „Ableugnung des Tatsächlichen“23 wäre.
Aber Mathilde wäre nicht Mathilde, wenn sie sich nicht schon längst etwas Neues
überlegt hätte. Resultierend aus der Erkenntnis, dass selbst ein gesellschaftlich höher
gestellter Mann ihr nicht langfristig den von ihr so heiß ersehnten sozialen Aufstieg und
die so beruhigende materielle Sicherheit bieten kann, wird Mathilde nun endlich klar,
dass sie sich nur aus eigener Kraft einen neuen Lebensinhalt und den für sie
angemessenen Platz im Leben schaffen kann. Mehr noch, sie gibt sogar zu, dass Hugo
in ihren Augen wahrscheinlich „viel zu weich und schwach“ war und „besser nie
geheiratet hätte“24. Auch muss sie sich eingestehen, dass Hugo sie während ihrer Ehe
viel stärker beeinflusst hat, als sie es bei ihm jemals vermocht hätte. Mathilde ist in ihrer
Ehe mit Hugo gereift. Genau dieser Einfluss gibt ihr nun die Kraft und den Mut, sich
mithilfe ihrer Zielstrebigkeit, ihrer Disziplin und ihrer Willensstärke endlich selbst zu
verwirklichen und sich ihren lang gehegten, großen Traum zu erfüllen: Lehrerin zu
werden. Mathilde lernt fleißig und besteht ihr Examen schließlich „viel glänzender als
23 Th. Fontane „MM“: 17. Kapitel, S. 109, Z. 33f 24 Th. Fontane „MM“: 17.Kapitel, S. 110
17
Hugo damals das seine“25. Direkt nach dem Examen bekommt sie eine Stelle als
Lehrerin. Nun kann sie völlig selbstständig und unabhängig für sich und ihre Mutter
sorgen und ihr Leben so leben, wie sie es will.
Die zweifache Emanzipation – Warum jedem Ende auch ein Anfang innewohnt
So gesehen hat sich Mathilde im Verlauf ihres Lebens sogar zweimal emanzipiert.
Die erste Emanzipation war die Flucht aus den ärmlichen, kleinbürgerlichen
Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen ist. Diese „soziale Emanzipation“ vollzog sie
durch die Hochzeit mit einem wohlhabenden, höher gestellten Mann, dessen Aufstieg
zum Bürgermeister und dem damit verbundenem Titelgewinn („Frau Burgemeister“)
sowie dem sozialen Aufstieg in die höheren Kreise der Gesellschaft bis hin zu den
Honoratioren.
Die zweite Emanzipation erfolgt erst nach dem Tod Hugo Großmanns. Die junge Witwe
Mathilde erkennt, dass ihr persönliches Glück nicht von einem Mann, sondern nur von
ihr selbst abhängt. Ganz zu schweigen davon, dass sie es war, die in dieser Ehe die
Zügel in der Hand hielt und die gemeinsamen Geschicke zielstrebig lenkte. Ihr Streben
nach höherer Bildung und der damit verbundenen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit
und das kontinuierliche Verweigern einer Resignation oder „schnellen Problemlösung“
(„Wiederverheiratung“)26 sind deutliche Anzeichen für ihre zweite Emanzipation. Ob
diese jedoch ohne die vorangegangene Ehe bzw. den Tod ihres Ehemannes überhaupt
möglich gewesen wäre, bleibt zu bezweifeln. Somit könnte Mathilde sehr wohl mit ihrer
Behauptung richtig liegen, dass Hugo sie während ihrer Ehe viel stärker und
nachhaltiger beeinflusst hat, als es ihr bewusst war und als sie ihren Mann jemals hätte
beeinflussen können. Man könnte auch sagen, dass Mathilde ihr Leben als junge Witwe
nur so selbstbewusst und selbstsicher weiterführen und gestalten konnte, weil sie durch
den ihr von ihrem Ehemann gegebenen Freiraum - fernab von jeglicher klassischer
Rollenverteilung – erst ihre eigene innere Stärke entdeckt und kennen gelernt hat. Durch
seine fehlende Vormachtstellung in der Ehe und die fehlende Unterdrückung seiner
Frau hat Hugo es ihr ermöglicht, sich selbst zu finden und zu verwirklichen. Genau
dadurch ist es Mathilde nach Hugos Tod möglich, ihr Leben selbst in die Hand zu
nehmen. Diese kurze, aber schöne Ehe ist also auf jeden Fall als ein Vorteil und eine
positive Lebenserfahrung Mathildes zu betrachten, auch oder gerade weil sie ein so
jähes und plötzliches Ende findet, gleichzeitig aber den Beginn des wirklichen, echten,
befreiten und selbst bestimmten Lebens der Mathilde Möhring markiert.
25 Th. Fontane „MM“: 17. Kapitel, S. 110, Z. 30 26 Vgl. Th. Fontane „MM“: 17. Kapitel, S.109, Z. 15f
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4.3 Vergleich beider Frauen und ihrer Ehen
Können zwei Frauen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten,
wirklich etwas gemeinsam haben? Die eine, Tony Buddenbrook, die niemals Armut und
Existenzangst kennen gelernt hat. Die andere, Mathilde Möhring, der nie etwas einfach
so zuflog oder geschenkt wurde. Oder sind es vielleicht gerade diese Gegensätze, die
sich am Ende anziehen und doch mehr Gemeinsamkeiten bergen, als man vermuten
würde?
4.3.1 Mögliche Gründe und Ursachen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Wie bereits erwähnt, stammen die beiden Frauen aus zwei grundverschiedenen sozialen
Schichten: Tony Buddenbrook, die reiche Kaufmannstochter aus einer alten
Patrizierfamilie, die stets ein Leben voller Annehmlichkeiten und Privilegien führt, den
Luxus und den Status ihrer Familie voll auskosten kann. Ihr gegenüber steht nun
Mathilde Möhring, aufgewachsen im Kleinbürgertum, deren Vater schon früh stirbt und
somit seine Frau und seine Tochter in einem von Armut und Existenzangst beherrschten
Leben zurücklässt. Dennoch haben sie eine Gemeinsamkeit: Keine der beiden hat aus
Liebe geheiratet. Mathilde wittert ihre Chance zum sozialen Aufstieg, Tony will mit
ihrer ersten Ehe ihrer Pflicht gegenüber ihrer Familie nachkommen und mit der zweiten
Ehe die Schmach über die erste, misslungene Ehe wieder wettmachen. Bei beiden ist
also das Motiv, eine möglichst vorteilhafte Verbindung einzugehen. Mathilde hat in
erster Linie ihren eigenen Vorteil im Blick, sie wünscht sich nichts sehnlicher, als der
Enge ihrer kleinbürgerlichen Verhältnisse und dem Leben voller Entbehrungen endlich
entfliehen zu können, außerdem würde sie alles dafür geben, eines Tages einen Titel zu
tragen. Tony hingegen will vor allem einen Vorteil für ihre Familie und die Firma
erreichen, das Ansehen und möglicherweise auch das Kapital dieser bewahren und
vermehren und durch mögliche Nachkommen den Namen Buddenbrook weiter
verbreiten. In direktem Zusammenhang damit ist auch die Entscheidung für oder gegen
einen potentiellen Ehepartner zu betrachten. Während Mathilde sich ihren Ehemann
Hugo Großmann – abgesehen von der pro forma erfolgenden Zustimmung ihrer Mutter
- völlig frei und selbst aussuchen kann, wird Tony ihr erster Mann Bendix Grünlich
regelrecht von ihren Eltern – insbesondere von ihrem Vater – aufgezwungen. Die Wahl
ihres zweiten Ehemannes Alois Permaneder trifft sie hingegen relativ selbstständig.
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Das Ende der Ehe bedeutet für Tony zwar den Status einer geschiedenen Frau
innezuhaben, allerdings kehrt sie jedes Mal wieder in ihr altes, angenehmes und
privilegiertes Leben zurück. Sie selbst trägt von den beiden Scheidungen keinen
nennenswerten Schaden davon. Anders scheint es zunächst bei Mathilde. Als ihr Mann
stirbt, steht sie wieder ganz am Anfang – nämlich vor dem sozialen und auch
materiellen Aus. All ihre Errungenschaften – der soziale Aufstieg, der Titel und das
Prestige als Frau des Bürgermeisters, die finanzielle Sicherheit sind mit einem Mal
wieder verloren. Anstatt sich nun aber in die Resignation über das Scheitern des eigenen
Lebensplans zu flüchten, erkennt Mathilde schließlich, dass sie keinen Mann braucht,
um sich einen Platz im Leben sichern und sich ihre Träume verwirklichen zu können.
Tony hingegen resigniert nach dem Scheitern ihrer zweiten Ehe zumindest in Bezug auf
ihre eigene Person. Sie muss erkennen und akzeptieren, dass sie ihrer Familie nicht in
dem Maße dienlich sein konnte, wie es ihr eigentlich von Geburt an vorbestimmt war.
Während Tony sich in die Resignation und die rege Anteilnahme und Beteiligung am
Leben ihrer Familienmitglieder flüchtet, entdeckt Mathilde ihre Unabhängigkeit und
emanzipiert sich. Sie erkennt plötzlich, dass sie all ihre Ziele auch ganz allein und aus
eigener Kraft erreichen kann und beginnt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass beide Frauen, Tony und Mathilde, zwar
vorteilhafte Vernunftehen eingegangen sind und dass alle Ehen ein jähes Ende fanden.
Allerdings hat sich für Tony durch ihre beiden Ehen nicht wirklich etwas geändert, auch
sie hat sich über die Jahre nicht wirklich geändert. Schließlich hatte sie stets die
Möglichkeit, in ihr altes Leben – das sich vom finanziellen Standard und sozialen Status
her kaum von dem Leben mit ihren Ehemännern unterschied – zurückzukehren.
Mathilde hingegen wollte sich zunächst über einen Mann bzw. die Ehe mit ihm
emanzipieren, musste aber als junge Witwe schließlich erkennen, dass sie diesen Mann
als Mittel zum Zweck gar nicht gebraucht hätte bzw. gar nicht braucht und auch nie
brauchen wird. Sie erkennt plötzlich, was in ihr steckt und dass ihr im Grunde die
gleichen Möglichkeiten wie ihrem Mann offen stehen: Der Zugang zu besserer Bildung
und somit zu einem guten, gesicherten Einkommen mit dem sie für sich selbst sorgen
kann. Es muss jedoch betont werden, dass trotz des beginnenden gesellschaftlichen
Wandels eine „emanzipierte Karriere“ wie die der Mathilde Möhring die große
Ausnahme bildete. Somit könnte man Mathilde als eine Pionierin bzw. Vorreiterin ihrer
Zeit betrachten.
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5. Nachwort
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Wandel der gesellschaftlichen Funktion
der Ehe sehr stark von der Emanzipation der Frau beeinflusst, wenn nicht sogar von ihr
hervorgerufen wurde. Die Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten sowie
der damit verbundenen eigenen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit war maßgeblich
daran beteiligt, dass die Vernunftehe ihren Reiz zumindest teilweise verlor und immer
stärker in Vergessenheit geriet. Die Gleichstellung bzw. Gleichberechtigung von Mann
und Frau und auch die allmählich aufkommende Egalität innerhalb der Gesellschaft
haben nun eigentlich für jeden den Weg zur Hochzeit aus Liebe freigemacht. Dennoch
gibt es auch in unserer heutigen Zeit noch genügend Ehen, die aus reiner Vernunft, aus
ökonomischen Gründen oder gar auf das Drängen oder den Zwang der eigenen Familie
hin geschlossen werden. Zum einen, weil manche Frauen sich selbst kaum etwas
zutrauen und sich (und ihre Kinder) lieber sicher versorgt wissen wollen. Andere Paare
heiraten, um sich die Steuervorteile für Ehepaare zu nutze zu machen. Manch eine(n)
packt vielleicht auch einfach nur die Torschlusspanik, wenn sie oder er mit Ende 20
oder Mitte 30 immer noch nicht unter der Haube ist. So mancher (Mann) heiratet
möglicherweise aus purer Faulheit und Bequemlichkeit und will sich so das Geld für die
Putzfrau sparen. Aber auch äußere Gegebenheiten verlangen heutzutage oft noch die
Ehe als einzig richtige und legitime Idealform der Familie. So ist es erwiesenermaßen
für einen verheirateten Mann viel leichter, in einer Firma Karriere zu machen als für
einen unverheirateten. Ist eine Frau jedoch verheiratet, muss sie sich beim
Einstellungsgespräch häufig die Frage nach eventuell geplanten Kindern gefallen lassen
– denn ein Ausfall durch Schwangerschaft, der zudem noch weiterhin Geld in Form des
Gehalts kostet – wird von manchen Chefs nicht gern gesehen. Beim Thema
„erzwungene Ehe“ oder „Zwangsheirat“ fällt der Blick fast schon automatisch in einen
anderen Kulturkreis: Gerade – aber auch nicht ausschließlich – in muslimischen
Ländern und Familien werden zukünftige Ehepartner einander oft schon im Kindesalter
versprochen. Diese „Abkommen“ laufen über die Eltern bzw. die Väter ab. So etwas
bietet schließlich beiden einen sozialen bzw. gesellschaftlichen und oft auch
ökonomischen Vorteil.
Es bleibt also weiterhin eine Frage offen:
Leben wir heute in einem emanzipierten und gleichberechtigten Zeitalter oder in einem
Zeitalter der Emanzipation und Gleichberechtigung?
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Literaturverzeichnis
• Primärliteratur
Fontane, Theodor: „Mathilde Möhring“ mit Materialien,
Klett Verlag, 1. Auflage, Stuttgart 1969
Mann, Thomas: „Buddenbrooks – Verfall einer Familie“,
Fischer Taschenbuch Verlag, 54. Auflage, Frankfurt am Main 2004
• Sekundärliteratur
Beuys, Barbara: „Familienleben in Deutschland – Neue Bilder aus der deutschen
Vergangenheit“, Rowohlt Verlag, Reinbek / Hamburg 1980
Filser, Franz: „Einführung in die Familiensoziologie“,
Uni-Taschenbücher Verlag, Schoeningh / Paderborn 1978
Moulden, Ken und von Wilpert, Gero: „Buddenbrooks-Handbuch“,
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1988
Nave-Herz, Rosemarie: „Ehe- und Familiensoziologie“,
Juventa Verlag, 1. Auflage, Weinheim / München 2004
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Erklärung
Ich versichere hiermit, dass ich diese Facharbeit selbstständig verfasst, keine anderen
als die angegebenen Hilfsmittel verwendet habe und dass sämtliche Stellen, die
benutzten Werken im Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen worden sind, mit
Quellenangaben kenntlich gemacht wurden. Diese Versicherung gilt auch für
Zeichnungen, Skizzen und bildliche Darstellungen.
Nadine Kabuth
Velmeden, den 16.04.2007
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