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Poetiken der Migration. Ein Glossar.
Wie erzählt Literatur von Flucht und Vertreibung? Wie vom Leben im Exil oder als
illegaler Einwanderer in Europa? Wie verarbeiten einzelne Texte die Themen Kultur-
konflikt, Fremdheit, Gewalterfahrung und Sprachproblematik?
Anlässlich des Seminars 'Poetiken der Migration' unter der Leitung von Prof. Dr.
Christiane Solte-Gresser im Wintersemester 2012/13 haben Master-Studierende der
Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ein Glossar mit methodo-
logischen Begriffen und Kategorien zu diesem Forschungsfeld entwickelt.
Herausgegeben von Kristina Höfer.
Alterität/Fremdheit
Das Fremde ist das, was nicht der eigenen Identität zugeordnet wird und ungewöhnliche
und befremdliche Erfahrungen weckt. Was als ‚fremd‘ definiert wird, hängt von sub-
jektiven Erlebnissen und Kriterien ab, die relativ, perspektivisch und standortgebunden,
d.h. stark von der eigenen Kultur geprägt sind. Das Verhältnis zwischen Identität und
Alterität ist fast immer ein hierarchisches, in dem das Fremde abgewertet oder ausge-
grenzt wird, um auf diese Weise die eigene Identität zu festigen.
Laut Julia Kristeva liegt das Fremde in der eigenen Identität verborgen. Ein wichtiges
Moment bei der Begegnung mit dem Fremden ist daher die ambivalente Gleichzeitig-
keit von Ablehnung und Faszination.
In Literatur, aber auch anderen Kunstwerken, können nicht nur Stoffe und Motive, son-
dern auch Formen und Ausdrucksweisen als ‚fremd‘ empfunden werden, sodass sich bei
der Rezeption eine Vielzahl von Interpretationsspielräumen und -möglichkeiten auftun.
Darüber hinaus thematisieren literarische Texte häufig Alteritätserfahrungen, indem
Fremdheit in Erzähltexten, Theaterstücken, Gedichten oder anderen Gattungen
ästhetisch inszeniert wird. Die (eigenen) Wahrnehmungen, Erfahrungen und Stereo-
typenbildungen lassen sich durch literarisches Schreiben und Lesen über Alterität her-
vorbringen, illustrieren, reflektieren, überprüfen und in Frage stellen.
Literatur
Bossinade, Johanna: Die Stimme des Anderen. Zur Theorie der Alterität. Würzburg 2011.
Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main 2001.
Guthke, Karl: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur. Tübingen
2000.
(Qianqian Zhong)
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Autorschaft
In der Literaturwissenschaft generell die Theorie der Urheberschaft eines literarischen
Textes. In Verbindung mit Migration als literarischem Thema ein teilweise strittiger
Begriff, der vor allem zwei Hauptfragen aufwirft:
(a) Problem, inwieweit die Biographie des/der Autors/in selbst mit den fiktionalen
Themen der Migration übereinstimmt. Während manche Schriftsteller/innen ihre eige-
nen Fluchterlebnisse und damit aus ‚erster Hand’ berichten (etwa Natalia Ginzburg in
autobiographischen Essays über ihre Verbannung innerhalb Italiens während des
Faschismus), haben andere Autor/innen keinen direkten Migrationshintergrund, müssen
sich also zum größten Teil auf Augenzeugenberichte oder Dokumentationen verlassen
(etwa Marie NDiaye: Trois femmes puissantes).
(b) Verwendung von Pseudonymen, da expatriierte, verfolgte oder illegal immigrierte
Personen ‚ohne Stimme’ anonym bleiben wollen oder müssen (vgl. etwa die Comic-
Sammlung ‚Paroles sans Papiers’). Unter Pseudonym schrieb auch der Schriftsteller
Kurt Tucholsky (1890–1935), 1933 aus Deutschland ausgebürgert, der Texte unter den
Namen ‚Theobald Tiger‘, ‚Ignaz Wrobel‘, ‚Peter Panter‘ und ‚Kaspar Hauser‘ verfasste.
Auch noch heute wählen Autoren Pseudonyme, zum Beispiel der algerische Schrift-
steller Mohammed Moulessehoul, der im Exil in Frankreich als ‚Yasmina Khadra‘
publiziert.
Literatur
Detering, Heinrich: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar 2002.
Jannidis, Fotis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000.
(Jonas Nesselhauf)
Die Andere Literatur
Der Begriff der Anderen Literatur hebt die Stellung der Migrantenliteratur innerhalb der
Nationalliteratur hervor. Die Zuordnung zu dieser Literatur erfolgt nicht mehr über die
Person des/der Autors/in, sondern vor allem über die Andersartigkeit der Texte inner-
halb der jeweiligen Nationalliteratur. ‚Anders‘ ist die Migrantenliteratur insofern, als
dass die Einwohner/innen des Empfangslandes aus der Perspektive des/der Migranten/in
als Fremde dargestellt werden. Dies ermöglicht es Ersteren, sich mit diesem für sie
ungewohnten Fremdbild auseinanderzusetzen und anhand dessen ein Bild von sich
selbst zu entwerfen. Der Begriff der Anderen Literatur ist jedoch immer auch proble-
matisch, da er explizit den Aspekt der ‚Andersartigkeit‘ betont und daher zu einer
besonderen Rezeptionshaltung herausfordert, die von den Autor/innen nicht immer
intendiert ist. Er ist somit weniger neutral als bspw. der Terminus der Migrations-
literatur.
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Literatur
Ackermann, Irmgard: „Deutsche verfremdet gesehen – Die Darstellung des ‚Anderen‘ in der
‚Ausländerliteratur‘“. In: Amirsedghi, Nasrin / Bleicher, Thomas (Hrsg.): Literatur der Migra-
tion. Mainz 1997, S. 60–73.
Nell, Werner: „Zur Begriffsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten“. In:
Amirsedghi, Nasrin / Bleicher, Thomas (Hrsg.): Literatur der Migration. Mainz 1997, S. 34–48.
(Carolin Marie Buchheit)
Exilliteratur
Exilliteratur (auch Emigratenliteratur) bezeichnet Werke, die im Exil entstehen oder
nach der Rückkehr aus dem Exil Exilerfahrungen thematisieren. Ein Aufenthalt im Exil
erfolgt meist aus politischen oder religiösen Gründen und wird vom Staat erzwungen
oder vom Einzelnen freiwillig realisiert. Waren vor Ende des 18. Jahrhunderts häufig
Religionskonflikte, z.B. zwischen Protestanten und Katholiken, Auslöser für das Exil,
rückte ab Ende des 18. Jahrhunderts die Verfolgung und Vertreibung politischer oder
auch ‚rassischer‘ Gegner, z.B. während des Nationalsozialismus, in den Vordergrund.
Themen der Exilliteratur sind z.B. Reflexion des politischen Engagements, Überprüfung
der Identität oder auch Anpassungsprobleme der Exilant/innen. Interessant ist außerdem
die Aufnahme und Verbreitung von Exilliteratur im jeweiligen Heimatland der
Autor/innen.
Wichtige Exilschriftsteller/innen sind u.a. Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Nelly
Sachs und Vladimir Nabokov.
Literatur
Krohn, Claus-Dieter u.a. (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945.
Darmstadt 1998.
(Qianqian Zhong)
Expatriierung/Repatriierung
Expatriierung
Lat. Verbannung, Ausweisung; konkret auf den Entzug der Staatsangehörigkeit und die
damit verbundene Ausbürgerung bezogen und oft ein politischer Akt und unter Zwang.
Im Dritten Reich wurden etwa Thomas Mann (1875–1955), Erich Maria Remarque
(1898–1970) oder Kurt Tucholsky (1890–1935) die deutsche Staatsbürgerschaft entzo-
gen; in der DDR wurde der Liedermacher Wolf Biermann (1936–) während eines Gast-
spiels in der Bundesrepublik 1976 vom SED-Regime ausgebürgert. Möglich ist auch die
durch die Auflösung eines Staates notwendig gewordene Migration (etwa Auflösung
des Staates Jugoslawien im Jahre 1991). Interessanterweise bezeichneten sich in Europa
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lebende amerikanische Schriftsteller/innen in den 1920er Jahren selbst als ‚expatriates‘
(etwa Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Gertrude Stein und Ezra Pound). Im Ge-
gensatz dazu die Repatriierung.
Repatriierung
Im Gegensatz zur Expatriierung die Wiederaufnahme und Rückkehr, verbunden mit der
Erlangung der Staatsbürgerschaft.
(Jonas Nesselhauf)
Gastarbeiterliteratur
Die Gastarbeiterliteratur ist eine für Deutschland spezifische Unterkategorie der
Migrantenliteratur. Sie wurde von Autor/innen verfasst, die zwischen 1950 und 1970
von der deutschen Regierung als Gastarbeiter/innen aus dem europäischen Ausland
angeworben wurden und umfasst sowohl lyrische als auch prosaische Texte in deutscher
Sprache zum Thema Migration. Dargestellt werden u.a. (persönliche) Erfahrungen mit
Fremdheit sowie die Problematik des Fremdsprachenerwerbs. Trifft der Begriff des
Gastarbeiters auf die erste Generation dieser Autor/innen noch zu, ist er für Autor/innen,
die aus einer Gastarbeiterfamilie stammen, selbst aber Akademiker/innen sind oder für
Schriftsteller/innen, die sich mit Migration befassen, aber nicht im Zuge der Gast-
arbeiterbewegung nach Deutschland kamen, nicht mehr gültig. Daher wurden der Be-
griff der Gastarbeiterliteratur und der mit ihm verwandte, ähnlich restriktive Begriff der
Ausländerliteratur durch den allgemeineren Terminus der Migrationsliteratur abgelöst.
Literatur
Aktürk, Aysegül: Interkulturelles Lernen im Deutschunterricht: Vorschläge zur Didaktisierung.
Hamburg 2009.
Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-
trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)
<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-
05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.2013.
(Carolin Marie Buchheit)
Globalität/ Globalismus
Globalität ist ein Begriff aus der Wirtschaft, der die durch Globalisierung herbeigeführte
Vernetzung von Konzernen usw. beschreibt und ein Gegenkonzept zur Regionalität
darstellt. Im Bereich der Kultur findet Kulturkontakt und -transfer statt, so dass euro-
zentristische Vorstellungen und bestehende kulturelle Grenzen überschritten werden
können.
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In einer solch vernetzten und auf interkulturellen Austausch ausgerichteten Welt kann
eine ‚neue Weltliteratur‘ und -kultur entstehen. Allerdings setzt die globale Verbreitung
einer Kultur voraus, dass ihre Ausdrucksform weltweit verständlich und von Traditio-
nen unabhängig ist. Medien, die auf Bilder und Klänge zurückgreifen, sind dazu besser
geeignet als Medien, die mit Sprache und Schrift arbeiten.
Globalisierungsgegner weisen auf die Gefahr einer ‚Einheitskultur‘ hin und befürworten
daher die Förderung kultureller Partikularitäten, z.B. durch die Produktion globalisie-
rungskritischer Kunst.
Der Globalisierungsansatz von Elke Sturm-Trigonakis, der sich gegen tradierte Vor-
stellungen von National- oder Migrationsliteratur richtet, liefert auf einer systemtheore-
tischen Grundlage ein Konzept der ‚neuen Weltliteratur’, das davon ausgeht, dass
solche oftmals mehrsprachig organisierten Texte Globalisierungsphänomene besonders
gut repräsentieren.
Literatur
Rehbein, Boike / Schwengel, Hermann: Theorien der Globalisierung. Konstanz 2008.
Reichardt, Ulfried: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen. Berlin 2010.
Schmeling, Manfred / Schmitz-Emans, Monika / Walstra, Kerst (Hrsg.): Literatur im Zeitalter
der Globalisierung. Würzburg 2000.
Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die neue Weltlitera-
tur. Würzburg 2007.
(Qianqian Zhong)
Hybridität
Lat. hibrida: Mischling. Ursprünglich im biologischen Bereich gebraucht: von zweierlei
Herkunft, Zwitter, Mischling,
Sprachwissenschaft: Hybride Sprachformen entstehen aus zwei oder mehreren Sprachen
oder Vermischung von Elementen zweier Sprachen (z.B. Endungen aus einer anderen
Sprache).
Hybridität bezeichnet das Zusammenfließen mehrerer unterschiedlicher Kulturen,
Künste, Medien, Genres zu neuen Einheiten. Hybride Formen entstehen in einem offe-
nen Kulturbereich, in dem verschiedene Traditionen, Nationen, Sprachen, Stile und
Gattungen gleichberechtigt existieren.
In der postkolonialen Literatur- und Kulturtheorie ist Hybridität eine transkulturelle
Denkfigur und wird von Homi K. Bhabha und Néstor García Canclini verwendet, um
Dichotomien wie Selbst/Anderer, Zentrum/Peripherie oder Kolonisator/Kolonisierter zu
überwinden.
Nach Bhabha sind Kulturkontakte nicht mehr essenzialistisch bzw. dualistisch, sondern
spielen sich als unlösbare und wechselseitige Durchdringung von Identität und Alterität
in einem ‚dritten Raum‘ ab (‚third space‘, ‚in-between‘). Bhabha sieht Autoren wie V.S.
Naipaul oder Salman Rushdie als beispielhaft für Künstler des ‚in-between‘.
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Literatur
Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 2000.
García Canclini, Néstor: Culturas híbridas. Mexico 1990.
(Dietlinde Conrad)
Identität (kulturelle)
Die kulturelle Identität eines Menschen setzt sich aus (persönlichen) Erfahrungen mit
Alterität zusammen und bildet sich in Abgrenzung zum kulturell Anderen. Charakteris-
tisch für die Herausbildung der kulturellen Identität eines Individuums ist mit Stuart
Hall ihre Prozesshaftigkeit. In sich abgeschlossene, nationale Kulturen werden im Zeit-
alter von Globalisierung und Migration aufgesprengt. Kulturelle Identitäten bestehen
somit nicht mehr als gesicherte Einheiten, sondern befinden sich in einem permanenten
Prozess des ‚Gebildet-Werdens‘, d.h. sie sind transitorisch und immer unvollständig.
Amin Maalouf betont, dass jeder Mensch mehrere, teilweise sich widersprechende
Identitätsmerkmale in sich vereint, die seine individuelle Identität ausmachen. Muss
sich ein Individuum, z.B. aus religiösen Gründen, für eine Zugehörigkeit entscheiden,
entstehen sogenannte ‚identités meurtrières‘, die oftmals auch verleugnete Bestandteile
der eigenen Identität bekämpfen.
Da kulturelle Identität zunächst entwickelt werden muss und meist durch Konflikte ent-
steht, ist sie immer auch problematisch; gleichzeitig ist sie produktiv für das Schreiben
von Literatur, indem sie das Hervorbringen von Identität illustriert, reflektiert und kriti-
siert. Der Prozess der Identifikation mit oder der Abgrenzung von einer Identität kann
sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption eines literarischen Textes bewusst
gemacht und hinterfragt werden.
Literatur
Hall, Stuart: „Die Frage der kulturellen Identität“. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität.
Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994, S. 180–222.
Maalouf, Amin: Les Identités meurtrières. Paris 2001.
(Qianqian Zhong)
Imagologie
Die Imagologie ist ein wichtiger komparatistischer Forschungszweig, der sich mit nati-
onalen Selbst- und Fremdbildern (Auto- und Heteroimages) auseinandersetzt. Die frühe
Imagologie war v.a. in der französischen Komparatistik eine positivistisch ausgerichtete
Völkerpsychologie, die von der Existenz beschreibbarer Nationalcharaktere ausging. In
den 1960-er bzw. 1980-er Jahren orientierte sich die Imagologie mit Hugo Dyserinck
neu. Ihre Aufgabe besteht nun nicht mehr darin, Nationalstereotypen zu bestimmen und
zu beschreiben, sondern Genese und Wirkung solcher ‚images‘ herauszuarbeiten mit
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dem (auch außerliterarischen) Ziel, ideologisierende Kategorien bzw. Vorstellungen,
wie Volkscharakter oder nationales Denken, aufzubrechen und für ungültig zu erklären.
Literatur
Dyserinck, Hugo: „Komparatistische Imagologie. Zur politischen Tragweite einer europäischen
Wissenschaft von der Literatur“. In: Dyserinck, Hugo / Syndram, Karl Ulrich (Hrsg.): Europa
und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur
des 19. und 20. Jahrhunderts. Bonn 1988, S. 13–38.
Fischer, Manfred S.: Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte.
Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie. Bonn 1981.
Florack, Ruth: Bekannte Fremde. Zur Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Li-
teratur. Tübingen 2007.
(Kristina Höfer)
Interkulturalität
Als Oberbegriff umfasst Interkulturalität Phänomene wie Multi- und Transkulturalität
und bezeichnet als solcher die Interaktion zwischen Kulturen. Der Umgang mit anderen
Kulturen, z.B. durch die Beschäftigung mit fremdsprachiger Literatur, ist ein wesentli-
cher Bestandteil der Komparatistik. Eine interkulturell oder auch fremdhermeneutisch
ausgerichtete Literaturwissenschaft beschäftigt sich u.a. mit Fragen von Identität und
Alterität, kultureller Differenz, Nationalstereotypen und Mehrsprachigkeit.
Wolfgang Welsch grenzt Interkulturalität von Transkulturalität ab, indem er kritisch
betont, dass das Konzept der Interkulturalität auf Herders ‚Kugelmodell‘ zurückgreift,
dem eine essenzialistische Vorstellung von kulturellen Entitäten zugrunde liegt, d.h.
Kulturen bestehen als stabile, voneinander abgegrenzte Einheiten. Zwischen ihnen fin-
det ein Dialog statt, der zwar gegenseitiges Verstehen unterstützt, nicht aber zur Über-
schreitung bzw. Auflösung kultureller Grenzen führt.
Literatur
Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2006.
Schmeling, Manfred: „Literarischer Vergleich und interkulturelle Hermeneutik. Die literari-
schen Avantgarden als komparatistisches Forschungsparadigma“. In: Zima, Peter V. (Hrsg.):
Vergleichende Wissenschaft. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken.
Tübingen 2000, S. 187–199.
Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Lucynda Darowska und Claudia
Machold (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Dif-
ferenz. Bielefeld 2009, S. 39–65.
(Kristina Höfer)
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Kulturelle Differenz
Kulturelle Differenz bezeichnet generell Unterschiede und Grenzziehungen zwischen
Kulturen und Individuen, die in einer multikulturellen Gesellschaft als abgeschlossene,
voneinander abgegrenzte Einheiten mit stabilen Rändern bestehen. In einer trans-
kulturellen Gesellschaft lösen sich diese Trennlinien auf, Grenzen werden brüchig und
durchlässig, sodass Differenz mit Homi K. Bhabha nicht mehr nur zwischen Kulturen
und Individuen, sondern auch in deren Inneren besteht. Bhabha versteht Differenz als
Trennlinie und Bindeglied in einem. Sie ist daher ambivalent und muss durch Hybridi-
sierungsprozesse, z.B. Mimikry, permanent erzeugt werden, um (kulturelle) Identität
neu auszuhandeln.
Für eine Fokussierung von kultureller Differenz auf Literatur und Kultur vgl. ‚Third
Sprace‘/‚Dritter Raum‘.
Literatur
Bonz, Jochen / Struve, Karen: „Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Differenz: ‚in
the middle of differences‘“. In: Moebius, Stephan / Quadflieg, Dirk (Hrsg.): Kultur. Theorien
der Gegenwart. Wiesbaden 2006, S. 140–153.
Moosmüller, Alois: „Kulturelle Differenz: Diskurse und Kontexte“. In: Ders. (Hrsg.): Konzepte
kultureller Differenz. Münster u.a. 2009, S. 13–45.
Wieviorka, Michel: Kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten. Hamburg 2003.
(Kristina Höfer)
Kulturkontakt
Kulturkontakt meint das Miteinander-in-Berührung-kommen zweier oder mehrerer
Kulturformen, z.B. durch Reisen, literarische Übersetzung oder Themen und Formen
von Kunstwerken. Im Kontext der Migration kann Kulturkontakt sowohl zu einer
Akkulturation, einem veränderten bzw. angepassten Verhalten von Individuen und
Gruppen, als auch zu Abgrenzung führen. Kulturkontakt ist zudem ein essentieller Be-
standteil der interkulturellen Literatur, die danach strebt, einen Kontakt bzw. Diskurs
zwischen den Kulturen herzustellen, z.B. indem dem/der Leser/in mit Hilfe eines litera-
rischen Textes eine andere Kultur näher gebracht wird. Durch den Vergleich postkolo-
nialer Werke aus der Perspektive der ehemals kolonisierten Völker oder der Kolonisato-
ren kann die gegenseitige Beeinflussung von zwei oder mehr Kulturen nachvollzogen
und das notwendigerweise vorhandene Machtgefälle zwischen diesen ausgemacht
werden.
Literatur
Knatz, Lothar / Caspar, Norbert / Otabe, Tanehisa (Hrsg.): Kulturelle Identität und Selbstbild:
Aufklärung und Moderne in Japan und in Deutschland. Berlin/Münster 2011.
Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung,
Kulturtransfer. Stuttgart/Weimar 2005.
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Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-
trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)
<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-
05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.2013.
Thomas, Alexander / Kammenhuber, Stefan / Schroll-Machl, Sylvia (Hrsg.): Handbuch Inter-
kulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle
Berufstätigkeit. Göttingen 2003.
(Carolin Marie Buchheit)
Kulturtransfer
Kulturwissenschaftliche Bezeichnung für Prozesse, in denen Kulturgüter, kulturelle
Muster und Strömungen sowie die dazugehörigen Verhaltensweisen aus einem kultu-
rellen Zusammenhang in einen anderen übernommen bzw. übertragen werden, wobei
nicht nur die Übernahme, sondern auch die produktive Aneignung, Um- und Neudefini-
tion eine Rolle spielen. Die Wechselwirkungen zwischen Kulturen können bestehen in:
Übertragung, Aneignung, Annäherung, Austausch, Abwehr, Vermittlung, Rezeption.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kulturtransfer begann Mitte der 80er
Jahre am Beispiel der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich
(Hans-Jürgen Lüsebrink, Michel Espagne und Michael Werner). Das Phänomen des
Kulturtransfers ist auch ein wichtiger Bestandteil der interkulturellen Literaturwissen-
schaft.
Große Unterschiede zwischen den Kulturen sowie eine Kluft zwischen der Vorstellung
und der Wirklichkeit einer anderen Kultur können zum ‚Clash of Cultures‘ führen
(Samuel P. Huntington).
Literatur
Espagne, Michel / Werner, Michael (Hrsg.): Transferts. Les relations interculturelles dans
l'espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle). Paris 1988.
Espagne, Michel / Greiling, Werner (Hrsg.): Frankreichfreunde. Mittler des französisch-
deutschen Kulturtransfers (1750-1850). Leipzig 1996.
Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, Interaktion, Fremdwahrnehmung,
Kulturtransfer. Stuttgart/Weimar 2005.
Lüsebrink, Hans-Jürgen / Schmeling, Manfred / Solte-Gresser, Christiane (Hrsg.): Zwischen
Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus
deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart 2013 (im Druck).
(Dietlinde Conrad)
Literaturen ohne festen Wohnsitz
Das Konzept des Romanisten Ottmar Ette setzt sich kritisch mit Entwürfen wie Natio-
nal-, Migrations- und Weltliteratur auseinander, da es die Oppositionen, die diesen
Begriffen zu Grunde liegen, aufbrechen will. Die ‚Literaturen ohne festen Wohnsitz‘ rü-
cken Bewegungen zwischen Orten, Zeiten, Räumen, Gesellschaften und Kulturen in den
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Vordergrund. Als Reaktion auf die Wechselwirkungen zwischen lebensweltlichen Ver-
änderungen und literarischen Entwicklungen macht Ette Grenzen und Grenzziehungen
sichtbar und hinterfragt so das homogenisierende Konzept der Weltliteratur.
Literatur:
Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen: 2: ZwischenWeltenSchreiben, Literaturen ohne festen Wohn-
sitz. Berlin 2005.
(Hanna Matthies)
Métissage
Lat. miscere, mixtus.
Wortfamilie: métis, métisse, im Bereich der Biologie: gekreuzt, Kreuzung. Mestize
Métissage: Kreuzen
Während unter dem Begriff ‚Métissage‘ die Verbindung von zwei Kulturen zu
verstehen ist, wird in Gegenkonzepten wie der ‚Négritude‘ die eigene Kultur von ande-
ren abgegrenzt. Léopold Sédar Senghor setzt sich mit diesem Begriff auseinander und
plädiert für einen ‚métissage culturel‘.
Literatur
Senghor, Léopold Sédar: Liberté, Bd. 1: Négritude et humanism. Paris 1964.
(Dietlinde Conrad)
Migrantenliteratur
Migrantenliteratur ist ein Sammelbegriff für deutschsprachige Literatur von
Migrant/innen und beschäftigt sich thematisch mit Migration und persönlichen Erfah-
rungen des/der Autors/in im jeweiligen Einwanderungsland. Der Begriff „läuft [aller-
dings] als Genrebezeichnung Gefahr, alles, was immigrierte oder minderheiten-
angehörige AutorInnen produzieren, Migrantenliteratur zu nennen.“ (Rösch 1998) So
ergibt sich ein enger, sich nicht auf die Literarizität oder Ästhetik des Textes beziehen-
der Literaturbegriff, welcher die soziale Stellung der Autor/innen betont, da die Zuord-
nung zur Migrantenliteratur über den Migrationshintergrund des/der Autors/in erfolgt.
Zudem lenkt der Begriff eine Rezeptionshaltung, mit der der jeweilige Text allein als
Ausdruck von Migrationserfahrungen verstanden wird.
In der Migrantenliteraturforschung stellt das Herkunftsland der Autor/innen ein wichti-
ges Analysekriterium dar. Ein zentrales Arbeitsgebiet ist hier die ‚Literatur türkischer
Migrant/innen in der Bundesrepublik Deutschland‘. Ein komparatistischer Zugang wird
unterstützt, indem vermehrt Wissenschaftler/innen mit türkischen Wurzeln und turkolo-
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gischen Kompetenzen über Literatur türkischer Migrant/innen forschen (z.B. Göktürk
1994, Kurayazici 1997, Yesilada 1997).
Weitere wichtige Thesen stammen u.a. von Frederking („Schreiben gegen Vorurteile“,
1985) und Wierschke („Schreiben als Selbstbehauptung“, 1994).
Literatur
Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-
trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)
<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-
05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.2013.
(Sarah Maurer)
Migration
Migration bezeichnet den dauerhaften Wechsel des Wohnortes meist von einem Land in
ein anderes. Gründe für Migration sind u.a. Flucht aus Krisen- oder Kriegsgebieten,
Hoffnung auf bessere Arbeits- und Bildungschancen, Verbesserung der Lebensqualität,
politische oder religiöse Verfolgung. Spezifische Unterformen der Migration sind
Emigration (Auswanderung aus dem eigenen Land), Immigration (Einwanderung in ein
fremdes Land) und Remigration (Rückwanderung aus einem fremden Land in das Hei-
matland).
Das durch Migration verursachte Aufeinandertreffen mehrerer unterschiedlicher Kultu-
ren führt sowohl zu Kulturkontakt und Vermischung von z.B. Nationalitäten, Rassen,
Sprachen, als auch zu Konflikten und Abgrenzung.
Durch die literarische Darstellung von Migration und damit verbundenen Themen wie
Grenzerfahrung, Identität, kulturelle Differenz, Fremdheit, Sprache oder Mobilität
werden Migrationsproblematiken vergegenwärtigt.
Literatur
Chambers, Iain: Migration. Kultur. Identität. Tübingen 1996.
Matzner, Michael (Hrsg.): Handbuch: Migration und Bildung. Weinheim/Basel 2012.
Oltmer, Jochen: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. München 2012.
(Qianqian Zhong)
Migrationsliteratur
Migrationsliteratur ist eine Sammelbezeichnung für alle Texte, die sich mit Migration
auseinandersetzen. Im Mittelpunkt steht das durch Migration bedingte Aufeinander-
treffen verschiedener Kulturen und die damit verbundenen Integrations- und Verständ-
nisprobleme innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft. Während bei der
Migrantenliteratur die Herkunft des/der Autors/in ausschlaggebend ist, gilt bei der Mig-
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rationsliteratur die thematische Konzeption des Werkes als entscheidendes Zuord-
nungskriterium. Da Literatur zum Thema Migration jedoch nicht ausschließlich von
Einwanderern verfasst wird, sollte der enge Begriff der Migrantenliteratur durch den
Begriff der Migrationsliteratur ersetzt werden.
Literatur
Büker, Peter / Kammler, Clemens (Hrsg.): Das Fremde und das Andere: Interpretationen und
didaktische Analysen zeitgenössischer Jugend- und Kinderbücher. Weinheim/München 2003.
Declerq, Elien: „‚Écriture migrante’, ‚littérature (im)migrante’, ‚migration literature’: réflexions
sur un concept aux contours imprécis“. In: Revue de littérature comparée 399 (2011/3), S. 301–
310.
Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-
trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)
<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-
05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.23013.
(Carolin Marie Buchheit)
Mimikry
Homi K. Bhabhas Konzept der kolonialen Mimikry bezeichnet eine subversive Strategie
der Kolonialisierten, die koloniale Macht nachzuahmen. Charakteristisch für die
Mimikry ist nicht die vollständige Assimilation, sondern die ironische Ambivalenz von
Ähnlichkeit und Differenz („almost the same, but not quite“ Bhabha 2000, S. 86). Da
die Nachahmung nur teilweise vollzogen wird und der Kolonialherr nicht vollständig
durch den Kolonialisierten repräsentiert, d.h. widergespiegelt, werden kann, haftet der
Mimikry ein bedrohliches Moment an, das den kolonialen Machtdiskurs unterläuft und
seine Instabilität aufzeigt.
Für die Fokussierung der Mimikry auf Literatur und Kultur vgl. den Beitrag zu ‚Third
Space‘/‚Dritter Raum‘.
Literatur
Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 2000.
Strohmaier, Alexandra: „Zu Homi K. Bhabhas Theorem der kolonialen mimikry“. In: Babka,
Anna / Malle, Julia (Hrsg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung.
Reflexion. Wien/Berlin 2012, S. 69–85.
Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2013.
(Kristina Höfer)
Mobilität
Mobilität meint die allg. Fähigkeit, sich zu bewegen, wobei der Begriff Unterkategorien
wie ‚soziale‘, ‚geistige‘ und ‚passive Mobilität‘ aufweist: ‚soziale Mobilität‘ bezeichnet
den sozialen Auf- oder Abstieg einer Person in einer Gruppe, 'geistige Mobilität' die
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Denkfähigkeit einer Person und ‚passive Mobilität‘ die Bewegung von Waren und
Kulturgut. Ist mit Mobilität eine Bewegung oder ein Ortswechsel gemeint, kann diese
unterschiedliche Gründe haben: Es könnte sich um eine Bildungs- oder Urlaubsreise
handeln, aber auch um eine Reise aus politischen oder religiösen Gründen, welche auch
unfreiwillig (Verfolgung) geschehen kann. Mobilität wird durch neue Verkehrsmittel
und daraus resultierenden neuen Reisemöglichkeiten gefördert.
Mobilität führt zu interkulturellem Austausch, Kulturtransfer, Perspektivenwechsel und
einer anderen Wahrnehmung des eigenen Landes bzw. der eigenen Kultur, was sich
sowohl auf die Produktion als auch auf die Rezeption literarischer Texte auswirkt. Diese
Erfahrungen können in literarischen Texten, z.B. in Reise- und Erfahrungsberichten,
festgehalten werden, indem sowohl das Geschehen als auch die Emotionen während der
Reise geschildert und Eindrücke über die fremde Kultur sowie ihre Einflüsse auf die
eigene thematisiert werden.
Durch die Mobilität können nicht nur Texte über Reisen und Kulturkontakt entstehen,
sondern auch für mehrere Menschen zugänglich gemacht und verbreitet werden.
Literatur
Taddei, Elena / Müller, Michael / Rebitsch, Robert (Hrsg.): Migration und Reisen. Mobilität in
der Neuzeit. Innsbruck 2012.
Kaelble, Hartmunt: Historische Mobilitätsforschung. Darmstadt 1978.
(Antonella Ziewacz)
Multikulturalität
Multikulturalität oder Multikulturalismus bezeichnet das Nebeneinander-Bestehen von
Kulturen in einer Gesellschaft, die zwar anerkannt und hierarchisch gleichrangig, aber
immer noch voneinander abgegrenzt existieren. Im Gegensatz zur Transkulturalität
findet hier kaum Austausch und Überschreitung der eigenen Kulturgrenzen statt.
Die eigene, aus der Heimat mitgebrachte Kultur stellt somit einen problematischen Un-
terschied zur Kultur des Landes dar; es besteht die Gefahr von zu starker Abgrenzung
und im Extremfall Ghettoisierung, der Aufbau einer Parallelgesellschaft. Gleichzeitig
können Stereotype und Vorurteile zwischen den verschiedenen Kulturen nicht abgebaut
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werden, vgl. dazu etwa die stereotype Darstellungen von Türken in der deutschen
Comedy (z.B. Erkan und Stefan) oder den Roman Russendisko von Wladimir Kaminer.
Dieses Multikulturalitäts-Konzept wird von Vertretern der Interkulturalität und der
Transkulturalität stark kritisiert, etwa von Welsch: „Der Multikulturalismus sieht die
Partialkulturen innerhalb einer Gesellschaft noch immer wie Kugeln oder Inseln an und
befördert dadurch tendenziell Ghettoisierung.“
Literatur
Bronfen, Elisabeth / Marius, Benjamin / Steffen, Therese (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge
zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997.
Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahr-
hundert. Wien 1996.
Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Darowska, Lucynda / Machold,
Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Dif-
ferenz. Bielefeld 2009, S. 39–65.
(Jonas Nesselhauf)
Nomadismus
Nomadismus bezeichnet die ständige Wanderung mit dem gesamten Hausrat von einer
Station zur nächsten (in Bezug auf die Viehzucht: von einer Weidefläche zur nächsten).
Ein fester Wohnsitz existiert nicht, sodass die dauerhafte Eingliederung in Institutionen
und Normen der Gesellschaft schwierig ist. Somit ist Nomadismus eine Wanderung
ohne endgültige Ankunft. Es existieren unterschiedliche Arten von Nomadismus, bspw.
der ‚Fernwanderer Nomadismus‘, bei dem im Laufe eines Jahres mehrere 100 Kilo-
meter zurückgelegt werden. Dementsprechend gibt es auch den ‚Nahwanderer Noma-
dismus‘. Hier pendelt man zwischen Sommer- und Wintergebiet. Nomadismus ist in
Asien und Afrika verbreitet, er kommt aber auch in Skandinavien vor.
Die für den westlichen Kulturkreis zugleich befremdliche und faszinierende Lebens-
weise ganzer Nomadenvölker wurde in der Literatur vielfach von Außenstehenden
beschrieben und in Bezug zur eigenen Lebensweise gesetzt. Zudem können ‚Nomaden‘
durch das Medium Text die eigene Lebensweise aus ihrer Sicht darstellen und auf diese
Weise ein Bild ihrer Kultur vermitteln.
Literatur
Scholz, Fred: Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise. Stutt-
gart 1995.
Vajda, Laszlo: Untersuchungen zur Geschichte der Hirtenkulturen. Wiesbaden 1968.
(Antonella Ziewacz)
Orientalismus
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Orientalismus als eine Form des Exotismus ist ein vom Westen geführter Diskurs über
den Orient, der mit Oppositionspaaren wie Zentrum/Peripherie, Überlegene/Unter-
legene, Eigenes/Fremdes arbeitet und auf diese Weise die westliche Dominanz über den
Orient beschreibt. In Orientalism (1978) stellt Edward Said die These auf, der Orient sei
eine westliche Erfindung des 19. Jahrhunderts, entstanden v.a. durch abwertende oder
romantisierende franz. und brit. Darstellungen des Orients in Literatur, Kunst und
Wissenschaft, um in Abgrenzung dazu die eigene Identität herauszubilden und zu
stärken.
Sein Konzept von Orientalismus überträgt Said in Culture and Imperialism (1993) auf
andere vom Kolonialismus geprägte Kulturen und kommt zu dem Ergebnis, dass diese
erst durch den imperialistischen Einfluss dominanterer Kulturen ‚geschaffen‘ wurden.
Für literatur- und kulturwissenschaftliches Arbeiten ist Saids Verständnis von Orienta-
lismus dort hilfreich, wo das ‚Andere‘ als Gegenbild zum ‚Eigenen‘ konstruiert wird
und stereotype Selbst- und Fremdzuordnungen stattfinden.
Literatur
Said, Edward: Culture and Imperialism. New York 1993.
Said, Edward: Orientalism. New York 1978. (Kristina Höfer)
Postkolonialismus
Einerseits beinhaltet der Begriff Postkolonialismus eine rein zeitliche Komponente, die
sich auf die geschichtlichen Abläufe nach der Unabhängigkeit der (ehemaligen) Kolo-
nien bezieht. Andererseits bezeichnet Postkolonialismus einen Theorieansatz, der im
Bereich der Literatur vorrangig bei der Analyse solcher Texte Anwendung findet, die
sich mit Kolonialismus bzw. Postkolonialismus auseinandersetzen. Der Schwerpunkt
des postkolonialen Interpretationsansatzes liegt in der thematischen Betrachtung von
gesellschaftlichen Hierarchien und der konkreten Darstellung der ehemaligen Koloni-
almächte, der ehemaligen Kolonien oder der dort lebenden Menschen. Zeitpunkt der
Textproduktion, Sprache des Textes sowie Herkunft des/der Autors/in sind in der post-
kolonialen Betrachtungsweise von Texten zwar relevant, thematische und strukturelle
Aspekte stehen allerdings im Vordergrund.
Das Hauptziel postkolonialer Theorien ist es, eurozentrische Denkansätze zu relativie-
ren und in Frage zu stellen.
Stuart Hall oder Homi K. Bhabha gehören zu den wichtigsten Vertretern des Postkolo-
nialismus.
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Literatur
Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisa-
beth / Marius, Benjamin / Steffen, Therese (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-
amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997, S. 219–246.
Loomba, Ania: Colonialism, Postcolonialism. London 2009.
Meyer, Michael: The Compact Introduction to Literature. Reading, Thinking, Writing. Boston
u.a. 2009.
Castro Varela, María do Mar / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie: Eine kritische
Einführung. Bielefeld 2005.
Young, Robert J.C.: Postcolonialism: A Very Short Introduction. Oxford u.a. 2003.
(Anna Schoon)
Reiseliteratur
Die Reiseliteratur umfasst Texte, die den Ablauf bzw. Verlauf, die Beschreibung und
Eindrücke einer Reise festhalten. Es existieren keine formale Verbindlichkeiten (Bsp:
Tagebucheintrag, Brief); ein wichtiges, durchgängiges Moment ist aber die Themati-
sierung des Schreibprozesses. Als eine der ältesten Literaturgattungen blickt sie auf eine
lange Entwicklung zurück (z.B. Homers Odyssee, die zeigt, dass Reiseliteratur nicht mit
Erfahrungsbericht gleichzusetzen ist.). In der Antike verfasste man zudem die ‚itinera‘,
einfache, zur Orientierung dienende Marschkarten mit nicht näher beschriebenen Weg-
stationen (z.B. die Tabula Peutingeria aus dem 4. Jhd.). Durch Pilgerreisen im Mittel-
alter entstanden objektive Berichte über fremde Länder. Eine subjektive Meinung wurde
vermieden, da die Neugier als Sünde galt. Im 16. Jahrhundert forderte Giovanni Batista
Romusio in seiner ‚Anleitung zum Beobachten‘ Reisende zur präzisen Wahrnehmung
auf. Mit Laurence Sternes Sentimental Journey through France and Italy rückten sub-
jektive, die Emotionen der Reisenden fokussierende Beschreibungen in den Vorder-
grund. Im Biedermeier wurden neben den Reiseeindrücken auch die Fortbewegungs-
mittel thematisiert. Ab der Jahrhundertwende entstand eine neue Unterkategorie der
Reiseliteratur, nämlich der Auswandererbrief. Somit ist eine Entwicklung von der
objektiven Reisebeschreibung zu einer subjektiven, wertenden Beobachtung zu erken-
nen.
Eine Funktion der Reiseliteratur ist das stellvertretende Sehen. Weitere Funktionen sind,
z.B. die sprachliche Gestaltung von Fremdheitserfahrung, Konfrontation mit dem Ande-
ren und damit einhergehend mit dem Eigenen.
Aus der Reiseliteratur entstanden Arbeiten zu den unterschiedlichen Mentalitäten
(Wuthenow) und es entwickelte sich auch eine Reisetheorie (Stewart).
Literatur
Brenner, Peter: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vor-
studie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990.
Ecker, Gisela / Röhl, Susanne (Hrsg.): In Spuren Reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der
Reiseliteratur. Berlin 2006.
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(Antonella Ziewacz)
Stereotyp/Nationalstereotyp
Stereotyp ist ein weiter Begriff, der in zahlreichen Disziplinen verwendet wird
(Psychologe, Soziologie oder Literaturwissenschaft). Walter Lippmann prägte in den
1960er Jahren den Begriff des Stereotyps als Produkt des notwendigen, kognitiven Vor-
gangs, die Komplexität der Welt zu reduzieren, um sie zu verstehen. Problematisch sind
Stereotype, wenn sie zu Vorurteilen oder ideologisch aufgeladen werden und so gesell-
schaftliche Hierarchien etablieren und festigen.
Im Bereich der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Nationalitäten spielen Stereotype
ebenfalls eine wichtige Rolle. Komplexitätsreduktion ist auch hier Ursprung der verein-
fachten Darstellung von Nationalitäten: Eine Nation wird auf die von außen am stärks-
ten wahrgenommenen Eigenschaften reduziert; Realität und Fiktion vermischen sich
hierbei meist. Nationalstereotype etablieren sich über persönliche, durch entsprechende
Vorurteile geprägte Erfahrungen und über wiederholte Darstellungen in den Medien.
In der Literatur funktionieren Stereotype ähnlich wie in der Realität, auch wenn in
literarischen Texten die sprachliche Verfasstheit solcher Bilder vom Anderen im Vor-
dergrund steht. Einerseits sind insbesondere in der Erzählliteratur gerade bei Neben-
charakteren Reduktionen und Anspielungen auf Eigenschaften unabdingbar.
Ironischerweise verleiht eben dieses Anspielen auf dem/der Leser/in bekannte Voran-
nahmen dem Text eine gewisse Tiefe. Dennoch ist der übermäßige Gebrauch von Ver-
allgemeinerungen sowohl in der Literatur als auch in Medien wie Film und Theater mit
Vorsicht zu genießen, da Stereotype durch ständige Wiederholungen gefestigt werden,
was wiederum zu Vorurteilen und Diskriminierung in der außertextlichen Wirklichkeit
führen kann. Zahlreiche Texte erweisen sich daher auch als ein subtiles Spiel mit be-
kannten Stereotypen, durch das die vermeintlich bekannten Eigenschaften durchaus in
Frage gestellt oder dekonstruiert werden können.
Literatur
Florack, Ruth: Bekannte Fremde: Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Liter-
atur. Tübingen 2007.
Florack, Ruth: Nation als Stereotyp: Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und fran-
zösischer Literatur. Tübingen 2000.
Lippmann, Walter: Public Opinion. London 1961.
(Anna Schoon)
18
Subaltern Studies/Subaltern Speech
In ihrem programmatischen Essay „Can the subaltern speak?“ setzt sich die Literatur-
theoretikerin Gayatri Spivak kritisch mit den poststrukturalistischen Bestrebungen, das
Subjekt als Inhaber von Autorität und Macht abzuschaffen, auseinander. Französische
Intellektuelle gaben vor, mit Arbeiter/innen der ‚dritten Welt’ im Klassenkampf auf
einer Ebene zu sein und nicht mehr für sie zu sprechen, sondern mit ihnen zu agieren.
Spivak hingegen betont, dass das Ersetzen von Repräsentation durch revolutionäre
Aktion ideologiefestigend wirkt und die Subjekte der ‚dritten Welt’ zu Objekten des
westlichen Blicks degradiert. Der Versuch westlicher Intellektueller, sich als Subjekt
transparent zu machen, festigt koloniale Machtstrukturen und unterstützt ökonomische
Interessen des Westens. Der doppelbödige Begriff ‚subaltern‘ (Untergebener) themati-
siert gleichzeitig die Unterdrückung durch den Westen und den vereinfachenden west-
lichen Blick auf ‚die armen Unterdrückten‘. Zudem verweist der Begriff auf die Situa-
tion indischer Frauen, die durch das dortige Patriarchat und den Imperialismus doppelt
unterdrückt werden.
In Bezug auf Literatur ermöglicht dieser Ansatz, Repräsentationslogiken offen zu legen
und nach ihrer Funktion zu fragen. Im engeren Sinne eignet er sich zur Untersuchung
von Texten, in denen westliche Autor/innen Figuren aus anderen Kulturen schaffen, sie
sprechen lassen oder über sie sprechen.
Literatur
Spivak, Gayatri Chakravorty: „Can the subaltern speak?“. In: Morten, Stephen: Gayatri
Chakravorty Spivak. London 2003, S. 66–111.
(Hanna Matthies)
Third Space/Dritter Raum
Der ‚dritte Raum‘ ist ein imaginärer Zwischen- bzw. Schwellenraum, in dem Hierar-
chien und Dichotomien zwischen Kulturen aufgelöst sind. Kulturelle Identitäten und
Differenzen werden im ‚dritten Raum‘ immer wieder neu verhandelt und entstehen als
Produkt kultureller Hybridisierung durch permanentes Oszillieren zwischen festen
Identifikationsmöglichkeiten.
Das Konzept des ‚dritten Raums‘ ist ein wichtiger Bestandteil der Kulturtheorie Homi
K. Bhabhas und lässt sich dann anwenden, wenn mehrere (ambivalente) kulturelle Zu-
gehörigkeiten aufeinandertreffen und zusammenwirken, sodass sowohl nationalphilolo-
gische als auch multi- oder interkulturelle Blickwinkel nicht mehr ausreichen, z.B. bei
Texten, die zur ‚neuen Weltliteratur‘ zählen.
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Literatur
Babka, Anna / Malle, Julia (Hrsg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik.
Anwendung. Reflexion. Wien/Berlin 2012.
Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 2000.
Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2013.
(Kristina Höfer)
Transkulturalität
Im Gegensatz zur Interkulturalität findet hier eine zunehmende Vernetzung und Vermi-
schung der Kulturen infolge von Globalisierung und Migration statt. Die Kulturen
innerhalb der Gesellschaft sind nicht mehr eindeutig fixiert, kaum noch voneinander zu
trennen.
Nach Welsch ist in der Transkulturalität fremdes Element in der eigenen Person zu er-
kennen, die Gesellschaft ist damit – schematisch gesprochen – nicht nur aus eindeutig
‚roten’ und ‚blauen’ Personen gemischt, sondern auch jedes Individuum ist selbst wie-
der eine Mischung aus Einflüssen der ‚roten’ und ‚blauen’ Kultur. Diese Vermischung
ist laut Welsch durch Globalisierung und Migration längst der Normalfall: „Für jedes
Land sind die kulturellen Gehalte anderer Länder tendenziell zu Binnengehalten gewor-
den.“ (Welsch 2009)
Eine solche Überschreitung von Kulturgrenzen findet sowohl auf der gesellschaftlichen
Makroebene statt (etwa in der Konsumkultur oder der Medizin), wie aber auch auf der
Mikroebene, wo sich unterschiedliche ethnische und kulturelle Hintergründe in einer
Gesellschaft verstärken.
Literatur
Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Darowska, Lucynda / Machold,
Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Diffe-
renz. Bielefeld 2009, S. 39–65.
(Jonas Nesselhauf)
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Vielsprachigkeit/Multilinguale Literatur
Multilingualität beschreibt generell den/die in mehreren Sprachen schreibende/n
Autor/in:
(a) Besonders Schriftsteller/innen mit Migrations- oder Fluchterfahrung schreiben
mehrsprachig, sowohl in ihrer Heimatsprache, als auch in der zumeist ‚neuen’ Sprache,
etwa Milan Kundera und Agota Kristof, die aus Tschechien bzw. Ungarn in den franzö-
sischen Sprachraum geflohen sind.
(b) Gerade Autor/innen in (sprachlichen) Minderheiten können durch multilinguale
Literatur ihr Lesepublikum erweitern, auch über die eigene Sprache hinaus. Beispiele
dafür finden sich etwa bei hispanoamerikanischen Schriftsteller/innen der USA
(‚Spanglish‘) wie Rolando Hinojosa oder Gloria Anzaldúa, aber auch in Regional-
dialekten wie dem Sächsischen oder dem Saarländischen.
(c) Einen besonderen Fall von (b) bilden multilingual aufgewachsene Schrift-
steller/innen, z.B. Samuel Beckett (1906–1989), der in irischem Umfeld aufwächst und
später in Frankreich und im französischsprachigen Afrika lebt. Ähnliche Beispiele las-
sen sich in Staaten mit mehreren offiziellen Landessprachen oder Amtssprachen fest-
stellen, etwa in Kanada oder der Schweiz.
(d) Ein Sonderfall des/der multilingualen Schriftstellers/in ist der Selbstübersetzer. Dies
ist dabei oft mehr als eine reine ‚Übertragung’ in eine andere Sprache, sondern eine
(durch den/die Autor/in als Urheber mögliche) für den neuen Sprach- und Kulturraum
angepasste ‚Umschreibung’ des Textes. So übersetzten etwa der deutsche Schriftsteller
Stefan Heym (d.i. Helmut Flieg, 1913–2001) oder auch Samuel Beckett ihre Werke
selbst.
Literatur
Bhatia, Tej K. / Ritchie, William C. (Hrsg.): The Handbook of Bilingualism. Malden, MA 2012.
Hutchinson, Peter: Stefan Heym. Dissident auf Lebenszeit. Würzburg 1999.
Pittler, Andreas: Samuel Beckett. München 2006.
Schmeling, Manfred / Schmitz-Emans, Monika (Hrsg.): Multilinguale Literatur im 20.
Jahrhundert. Würzburg 2002.
Venuti, Lawrence (Hrsg.): The Translation Studies Reader. London 2000.
(Jonas Nesselhauf)
Weltliteratur (neue)
Goethes Idee der Weltliteratur meint, dass die einzelnen Nationalliteraturen durch inter-
kulturellen Austausch und Übersetzung gleichermaßen an einer Weltliteratur partizipie-
ren. ‚Neue Weltliteratur‘ ist eine Bezeichnung für im Zeitalter von Migration und
Globalisierung entstehende Texte, die aufgrund sprachlicher, inhaltlicher oder formaler
Aspekte nicht mehr nur einer Nationalliteratur zugeordnet werden können, also trans-
national sind, z.B. von Emine Sevgi Özdamar, Salman Rushdie oder Michael Ondaatje.
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Einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit solchen Texten sollten Theo-
rien und Methoden zugrunde liegen, die diese Tendenzen berücksichtigen und methodi-
sche Grenzen der Nationalphilologien überschreiten, z.B. eine transareale Literaturwis-
senschaft, wie sie Ottmar Ette vorschlägt.
Literatur
Bachmann-Medick, Doris: „Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Welt-
literatur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68/4 (1994), S. 585–612.
Lamping, Dieter: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und eine Karriere. Stuttgart
2010.
Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die neue Weltlitera-
tur. Würzburg 2007.
(Kristina Höfer)
Writing Back
Im Kontext der postkolonialen Literaturanalyse bezeichnet ‚Writing Back‘ das
‚Anschreiben‘ gegen einen europäischen Text aus einer postkolonialen Situation heraus.
Das Hauptziel ist es, die Dominanz europäischer Literatur bzw. in europäischer Litera-
tur ausgedrückter Werte und Weltansichten in Frage zu stellen, zu relativeren und aus
dem Zentrum der Wahrnehmung zu drängen.
Der Begriff geht zurück auf den Literaturkritiker und Autor Salman Rushdie, der in den
frühen 1980er Jahren den Zeitungsartikel „The Empire writes back with a vengeance“
veröffentlichte (The Times, 3. July 1982).
Eines der prominentesten Beispiele ist Chinua Achebes Things Fall Apart (1958), ein
Roman der ausdrücklich gegen Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) gerichtet ist.
Heart of Darkness wurde lange als ein frühes Werk gegen die brutalen Kolonialprakti-
ken Belgiens gefeiert, bis Achebe 1975 das Gegenteil behauptet und Conrad als Rassis-
ten bezeichnet. Achebe bezieht sich insbesondere auf die Darstellung der Afrikaner
(z.B. häufige Verwendung von Tiermetaphern) und deren Verwendung von Sprache.
Literatur
Achebe, Chinua: „An Image of Africa: Racism in Conrad’s Heart of Darkness”. In: Conrad,
Joseph: Heart of Darkness. Authoritative Text. Backgrounds and Contexts. Criticism. New
York/London 42006, S. 336–349.
Ashcroft, Bill / Griffiths, Gareth / Tiffin Helen: The empire writes back. Theory and practice in
post-colonial literature. London 1989.
Hawkins, Hunt: „Heart of Darkness and Racism“. In: Conrad, Joseph: Heart of Darkness.
Authoritative Text. Backgrounds and Contexts. Criticism. New York/London 42006, S. 365–
375.
Thieme, John: Postcolonial con-texts: Writing back to the Canon. London/New York 2001.
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(Anna Schoon)
Zusammenlebenswissen
Ottmar Ette hebt mit diesem Begriff die dynamische Verschränkung und Interaktion
von Literatur(wissenschaft) und außerliterarischer Welt hervor. Gegensätze zwischen
Realität und Fiktion lösen sich in Wechselwirkungen auf. Dadurch entstehen Spiel-
räume zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in denen Zusammenleben
erprobt oder häufiger das Scheitern eines solchen beobachtet werden kann. ‚Zusammen-
lebenswissen‘ beschreibt keinen Idealzustand, sondern konzentriert sich auf Bewe-
gungsgeschichten von Menschen, die sowohl Zerstörung, als auch dynamischen Aus-
tausch oder einen kreativen Schaffensprozess anregen können. Im Gegensatz zu
identitären Konzepten, wird erfolgreiches Zusammenleben aus der kulturellen Differenz
heraus verstanden.
Literatur
Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen: 3: ZusammenLebensWissen: List, Last und Lust literarischer
Konvivenz im globalen Maßstab. Berlin 2010.
(Hanna Matthies)