Download - Probleme der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in einem reichen Land – Warum und was tun?
Graz, 22.06.2010
Probleme der Gesundheit vonKindern und Jugendlichen in einem reichen Land – Warum und was tun?
GESUND GROSS WERDEN 5. Steirische GesundheitskonferenzGraz, 22.6.2010
Wolfgang Dür, Markus Hojni
Ludwig Boltzmann Institute Health Promotion Research
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Übersicht
Teil I – Status quo Gesundheitszustand von Kinder und Jugendlichen Gesundheitsverhalten
Teil II – Was sind die Ursachen? Determinanten auf Makro- und Mesoebene
Teil III – Was tun? Stichworte: Politik und Organisation
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Gesundheit bei Schuleintritt und Primarstufe: physische Gesundheit
ca. 20% ein eingeschränktes Sehvermögen ca. 10% ein vermindertes Hörvermögen ca. 10% Erkrankungen des Bewegungsapparates 19% bis 48% Karies befallene Zähne ca. 10% der Kinder mit chronischer Krankheit und/oder Behinderung 10% bis 40% der Kinder Erkrankungen des allergischen Formenkreises
(Neurodermitis, allergische Rhinokonjunktivitis, Asthma bronchiale) 7% bis 19% der Kinder in der Primarstufe Übergewicht
(Benkert et al. 2003, Dür et al. 2006, Kromer 2002:116, Robke 1999, Prendergast et al. 1997,
Schäfer & Päßler 1996, Ravens Sieberer et al. 2003, WHO Regionalbüro Europa 2003)
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Gesundheit bei Schuleintritt und Primarstufe: psychische Gesundheit
10% bis 25% Entwicklungsdefizite im Sprachbereich 5% bis 10% Entwicklungsrückstände der Grob- und Feinmotorik 4% bis 7% Teilleistungsschwäche Legasthenie
zusätzlich 10% mit förderrelevanter Leseschwäche 4% - 7% Teilleistungsschwäche Dyskalkulie
zusätzlich 15% mit förderrelevanter Rechenschwäche 10% Angststörungen (Schulangst, Schulphobie, Sozialphobie) 8% aggressiv-dissoziale Störungen 4% - 6% depressive und hyperkinetische Störungen (ADHS)
Dordel 1998, Krombholz 2005, Straßburg et al. 2003, Thiel 2006, Ihle & Esser 2002, Wittchen 2000, Petermann 1995 Schäfer 1996, Olweus 1993
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Lebensqualität bei 11- bis 15-Jährigen (Kidscreen 10 Item Scale, t-Werte, Range 0 – 100)
48,88
51,52
55,07
53,68
48,44
44,87
40,00
50,00
60,00
11 13 15
Altersgruppen
Mittelwerte
Burschen
Mädchen
Quelle: WHO-HBSC-Survey 2006; Dür/Griebler 2007
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Subjektive GesundheitQuelle: WHO-HBSC-Survey 2006; Dür/Griebler 2007
Wie würdest du deine Gesundheit beschreiben?
1 ausgezeichnet2 gut3 eher gut4 schlecht
57,2
46,7
51,0
37,6
40,3
23,6
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
ausgezeic
hnte
Gesundheit
in %
11 13 15Altersgruppen
Burschen Mädchen
„ausgezeichnete Gesundheit“ in %
Positive Health, 15 year olds
40
48
10
2
24
53
20
3
0
10
20
30
40
50
60
excellent good fair poor
boys girls
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Psychische und somatische Beschwerden
Wie oft hattest du in den letzten 6 Monaten die folgenden Beschwerden?
täglich – mehrmals wöchentlich – einmal wöchentlich – einmal im Monat – seltener:
Kopfschmerzen, Magen/Bauchschmerzen, Rücken-/Kreuzschmerzen, allgemein schlechteBefindlichkeit, Gereiztheit, Nervosität, Einschlaf- oder Durchschlafstörungen, Benommenheit/Schwindel
Quelle: WHO-HBSC-Survey 2006; Dür/Griebler 2007
13,0
17,815,5
23,6
12,7
30,0
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
35,0
40,0
2 o
der
mehr
Beschw
erd
en in %
11 13 15
Altersgruppen
Burschen Mädchen
2 oder mehr psychische und/oder somatische Beschwerden täglich oder mehrmals wöchentlich
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Bewegungsverhalten
Körperliche Aktivität„...dass du dabei außer Atem gerätst und ins Schwitzen kommst“ Richtlinien zum
Bewegungsverhalten bei Kindern und Jugendlichen(vgl. Biddle et al., 1998;
Pate et al., 1998):
mindestens eine Stunde pro Tag
Quelle: WHO-HBSC-Survey 2006; Dür/Griebler 2007
27,5
21,8
26,8
15,0
12,99,2
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
35,0
40,0
min
d. 60 m
in. an 7
Tagen d
ie W
oche in %
11 13 15Altersgruppen
Burschen Mädchen
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Übergewicht und Adipositas Quelle: Zwiauer 2007; Daten aus 2005/2006
19,4%
18,7%
17,8%
22,2%
20,6%
20,9%
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Jugendliche RaucherInnenQuelle: WHO-HBSC-Survey 2006; Dür/Griebler 2007
20 Prozent der RaucherInnen rauchen bereits 10 oder mehr Zigaretten täglich 8,5 Prozent rauchen ein Päckchen oder mehr
3,2
0,10,4
1,6
0,40,1
5,9
2,93,9
8,6
4,2 4,2
8,08,0
19,0
8,9
7,5
21,1
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
Rau
chen
in %
B M B M B M
11 13 15Altersgruppen
gelegentlichwöchentlichtäglich
Wie oft rauchst du derzeit Tabak?
1 täglich2 ein- oder mehrmals wöchentlich3 seltener4 gar nicht
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15-Jährige: AlkoholkonsumQuelle: WHO-HBSC-Survey 2006; Dür/Griebler 2007
29,6
8,0
13,9
9,7
21,2 20,0
31,8
26,0
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
35,0
40,0
Alk
oh
olk
on
sum
in
%
Bier* Wein* Alcopops* Trunkenheit* *
BurschenMädchen
* wöchentlich oder öfter** mindestens 1-mal innerhalb der letzten 30 Tage
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Determinanten auf der gesellschaftlichen Makroebene
Durch welche – sogenannten – Makrofaktoren wird Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinflusst?
Armut Soziale Ungleichheit Neue Probleme der Jugendphase
Soziale Entstrukturierung der Jugendphase (gegenüber „The Adolescent Society“, J. Coleman)
Zeitliche Entstrukturierung der Jugendphase durch Bildungskarrieren; verlängerte ökonomische Abhängigkeit vom Elternhaus ins Erwachsenenalter
Anforderungen an Kompetenzenerwerb, Persönlichkeitsbildung, „unprogrammatische Individualität“ (Luhmann)
Anpassung an beschleunigten gesellschaftlichen Wandel
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Kinder- und Jugendarmut in ÖsterreichCaritas »Zum Thema: Kinderarmut« 3/2003
113.860 Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre (6%) leben in Österreich in verfestigter Armut
278.000 Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre (14,7%) sind in Österreich armutsgefährdet.
d.h. sie verfügen über weniger als 60% des nationalen Medianeinkommens 27% der Kinder unter 16 Jahren leben EU-weit in armutsgefährdeten
Haushalten
Kinderarmut zählt für die betroffenen Personen zu den bedeutendsten Einflussgrößen
auf ihre Gesundheit (Spencer 2000, Taylor et al. 2000, Richter/Hurrelmann 2006)
hat Wirkungen (Spätfolgen) im gesamten Lebensverlauf
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Wie wirkt Armut auf die Gesundheit? Das LebenslagenkonzeptHolz et al. 2005
Armut erzeugt durch die Summierung von ungünstigen Faktoren eine Situation aus Mangel und Belastung, die der Gesundheit schadet:Einkommen hat einen zentralen Einfluss auf Lebenschancen und Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen, aber auch auf soziale Indikatoren, wie Bildung, soziale Netzwerke, Gesundheit, Wohn- und Familiensituation
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Soziale Ungleichheit
Soziale Ungleichheit bezeichnet relative Schlechterstellungen, nicht absolut schlechte Lebenslagen – sozialer Gradient
Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den „wertvollen Gütern“ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.
Wertvolle Güter: Geld, Berufsposition, Bildungsabschlüsse, Lebens- und Arbeitsbedingungen, Macht, Netzwerke, Sozialkapital
Soziale Ungleichheit ist gegeben, wenn Vor- und Nachteile Einzelner sozialstrukturell verankert sind.
Sie kann aus Unterdrückung der einen durch die anderen, aber auch aus rechtmäßigen Verteilungsverhältnissen hervorgehen, z.B. überproportional hohes Wachstum von Manager-Gehältern und Boni.
Vgl.: Hradil 2001
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Erklärungsansätze zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit
ökonomisches Kapital Einkommen, Vermögen
psychopolitische Bedingungen Gleichheit, Gerechtigkeit,
Sicherheit Selbstbewusstsein, Ängste,
Verlierer Umweltbedingungen
environmental justice: Straßen, Flugrouten…
soziale Ressourcen Familie, Freunde, Netzwerke
Belastungen Wohnverhältnisse,
Arbeitsplatzbedingungen etc. Selektionsprozesse
(gilt nur für Erwachsene)
Unter Verwendung von: Jungbauer-Gans/Gross 2006/2009; vgl. Pickett/Wilkinson 2010
ökonomischesKapital
sozialeRessourcen
UmweltGerechtigkeit
Belastungen
GesundheitGleichheit
GerechtigkeitSicherheit
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Gesundheit und soziale Probleme durch Einkommensungleichheit Wilkinson & Pickett 2010
Mit zunehmender Ungleichheit steigt auch die Zahl der gesundheitlichen und sozialen Probleme eines Landes.
Gesundheit und soziale Probleme hängen in reichen Ländern nur schwach mit dem nationalen Durchschnittseinkommen pro Kopf zusammen.
…aber stark mit dem Gehaltsunterschieden
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Familienwohlstand und subjektive Gesundheit von SchülerInnen in Prozent
34,0%
40,6%
61,6%
52,2%
43,9%
30,5%
38,8%
48,1%45,8% 45,2%
7,9%9,0%10,9%11,3%
20,2%
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
70,0
gering eher gering mittel eher hoch hoch
Familienwohlstand
in %
Exzellent
Gut
Schlecht
n= 3785, p < 0,001Quelle: WHO-HBSC-Survey 2006
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Familienwohlstand und Lebenszufriedenheit 15 jähriger SchülerInnen in Prozent
Quelle: WHO-HBSC-Survey 2006 n = 1193, p < 0,001
2,0%1,0%
7,7%7,0%
15,1%
45,1%
31,3%
24,6%22,9%
18,2%
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
35,0
40,0
45,0
50,0
gering eher gering mittel eher hoch hoch
niedrigeLebenszufriedenheit
hoheLebenszufriedenheit
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Odds-Ratios 11-15 jähriger SchülerInnen auf die Chance eine exzellente Gesundheit / höhere Lebenszufriedenheit zu haben
OR (CI-95) subjektive Gesundheit
Lebenszufriedenheit
Familienwohlstand eher gering (gering)
1,984***(1,499-2,625)
2,221***(1,500-3,287)
Familienwohlstand mittel (gering)
2,070***(1,561-2,745)
1,988***(1,353-2,922)
Familienwohlstand eher hoch (gering)
2,565***(1,672-3,935)
3,803***(1,894-7,656)
Familienwohlstand hoch (gering)
2,950***(1,634-5,327)
2,641*(1,169-5,967)
*** p < 0,001, ** p < 0,01, * p < 0,05Quelle: WHO-HBSC-Survey 2006, eigene Berechnung
Die Wahrscheinlichkeit einer ausgezeichneten subjektiven Gesundheit steigt mit dem sozialen Gradienten kontinuierlich an: schon die zweit-niedrigste FAS-Stufe ist um den Faktor 1,9 gesünder als die unterste (Armutseffekt); für die mittlere Stufe gilt der Faktor 2,1, für die zweithöchste Stufe der Faktor 2,6; bei der höchsten FAS-Stufe steigert sich das auf den Faktor 3 (2,95).
!! !!
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Soziale Ressourcen – Welche Rolle spielen sie?
Dimensionen des Sozialkapitals:
Vertrauen Relation zwischen Anforderungen und Risiken: Inflation und
Deflation Geteilte Werte und Überzeugungen (beliefs) Zugehörigkeit (belonging) Autonomie und Kontrolle (empowerment) Soziale Beziehungen, Zusammenhalt (cohesion)
Anerkennung, Wertschätzung (esteem) Unterstützung (support) Identität und Bindung (identity)
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Soziale Ungleichheit, Schule, Familie, Selbstwirksamkeit und Gesundheit
,283,240
,533
,613
,214,147
,346
,398
,243,164
,202,222
Schule/Empowerment
Familie/Bonding
Selbst-wirksamkeit
Lebens-zufriedenheit
Gesundheit
4 I tems ?
(.73 - .73)(.69 - .72)
(.57 - .78)(.53 - .72)
(.71 - .78)(.64 - .70)
(.67 - .71)(.50 - .63)
(.51 - .64)(.65 - .73)
(.53 - .60)(.50 - .63)
r2 = 42%r2 = 31%
CMIN/DF 1,944 (< 2)1,593 (< 2)
GFI ,964 (> ,950),972 (> ,950)
AGFI ,956 (> ,950)969 (> ,950)
CFI ,965 (> ,950),980 (> ,950)
RMSEA ,028 (< ,050),020 (< ,050)
PCLOSE 1,000 (> ,950)1,000 (>, 950)
15-J ährige11-J ährige
,413,427
,427,412
,204,108
,56,69
,69,79
,75,73
,77,60
,78,72
,71,74Klassenklima
Lehrer-unterstützung
VaterBonding
MutterBonding
psychosomatischeBeschwerden
SubjektiveGesundheit
Schicht
Quelle: WHO-HBSC-Survey 2002; Dür 2008
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Was kann die Politik auf der Makroebene tun?
Maßnahmen gegen Armut Sozialleistungen können Extremlagen von Armut
kompensieren Man muss die die ärmsten der Armen erreichen
Maßnahmen gegen soziale Ungleichheit Steuergesetzgebung Obergrenzen für Banker-Boni!!!
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Was kann die Politik auf der Mesoebene tun?
Rahmenbedingungen für Schule setzen: Schulgesundheitspflege
Medizinische, psychologische, pflegerische, sozialarbeiterische Betreuung
Gesundheitserziehung Gesundheitsbildung (Health Literacy)
Erzieherische Effekte
Gesundheitsförderung Gestaltung der Lebenswelt Schule
Sozialisatorische Effekte Kompensation von intern erzeugten Störungen der Gesundheit durch Entwicklung von
Gesundheitspotenzialen Gestaltung des Kernprozesses Lehren und Lernen
Erzieherische Effekte Veränderung interner gesundheitsschädlicher Bedingungen
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Was bedeutet das für die Schule? Pausengestaltung
Autonomie bei der PausenregelungIm Rahmen der Ganztagsschule erweitern sich die Gestaltungsspielräume
Stundenplanabfolge Änderung der Unterrichtsformen; Montessori-Unterricht, Freinet-Unterricht Projektförmiger Unterricht, Experimente, Exkursionen Teamteaching
Unterricht und Didaktik Lernen durch Erleben – sachlich: Experiment Lernen durch Erleben – sozial: Gruppenerfahrung
Bewegen statt sitzen Integration adäquater Ausgleichsbewegung um einseitige Belastungen zu
vermeiden Bewegter Unterricht
Gesamtschule Gesundheitliche Ungleichheiten abbauen
Ganztagsschule Möglichkeit zur intensiven Betreuung der Kinder und Jugendlichen Nicht nur Beaufsichtigung, sondern an die Möglichkeiten angepasster Unterricht
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Was kann die Politik auf der Mesoebene tun?
Rahmenbedingungen für die Familie setzen:
Kinderbetreuungsplätze Mobilität für Mütter mit Kind Ganztagsschule
Förderunterricht Betreuungsunterstützung
Familienfreundliche Umwelt Angebote Kindgerechte Städte
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Dür, W. (2008): Gesundheitsförderung in der Schule,Hans Huber VerlagBern
http:\\lbihpr.lbg.ac.at/team/director