Prof. Dr. Frank Saliger
Übung im Strafrecht für Anfänger
Sommersemester 2015
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Einheit 222. April 2015
Rechtfertigungsgründe, Irrtümer, Unterlassen und Fahrlässigkeit
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Sachverhalt
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A verbringt mit seiner 7-jährigen Tochter T und deren 8-jährigen Cousin C den Urlaub an einem See. Obwohl den beiden Kindern, die nicht schwimmen konnten, dies streng verboten war, benutzen sie eines Nachmittags einen unbewachten Augenblick - A hatte bei seiner Lektüre Zeit und Raum vergessen - um auf einer Luftmatratze auf den See hinauszurudern. Weil sie dabei allerlei Unfug treiben, kippt die Luftmatratze jedoch um, wobei beide ins Wasser fallen. Sie geraten alsbald in große Bedrängnis und rufen deshalb verzweifelt um Hilfe. Erst dadurch wird A alarmiert. In höchster Eile läuft er zu dem an Land gezogenen Ruderboot des N (er selbst besaß ein solches nicht), um dieses zu Wasser zu bringen, weil darin die einzige Möglichkeit besteht, die Kinder zu retten. Ehe dies jedoch gelingt, erscheint auch N, der sich trotz der Bitten des A mit dem Ruf: „Das geht mich gar nichts an“ sofort auf diesen stürzt und mit Faustschlägen von seinem Vorhaben abzubringen versucht. Weil er damit keinen Erfolg hat, ergreift er schließlich einen zufällig am Boden liegenden schweren Prügel. Ein gegen den Kopf des A geführter wuchtiger Schlag kann erst im letzten Augenblick durch den dem A zu Hilfe geeilten X, der auf das Ganze aufmerksam geworden war, verhindert werden, indem er den N in den Arm fällt, dies mit der Folge, dass der Schlag auf die Schulter des A abgelenkt wird. Obwohl dieser dadurch nicht unerheblich verletzt wird, gelingt es ihm, N mit einem kräftigen Hieb niederzuschlagen. A und X bringen das Boot nunmehr gemeinsam zu Wasser, doch ist infolge der Intervention des N so viel Zeit vergangen, dass nur noch die Möglichkeit besteht, entweder T oder C zu retten. A entscheidet sich für die Rettung der T, die mit Hilfe des X auch gelingt. Bei C hingegen kommt jede Hilfe zu spät; er ertrinkt. Wie ist das Verhalten des A, N und X strafrechtlich zu beurteilen?
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Strafbarkeit des NA. Strafbarkeit des N gem. § 223 I wegen der Faustschläge gegen AI.Tatbestand1.Objektiver Tatbestanda.ErfolgKörperliche Misshandlung: Jede üble, unangemessene Behandlung, die das Opfer nicht nur unerheblich in seinem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt. (+)Gesundheitsschädigung: Das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen, d.h. negativ vom Normalen abweichenden, Zustands (-)
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b. Kausalität (+)c. Objektive Zurechnung (+)2. Subjektiver Tatbestand (+)II. Rechtswidrigkeit1. Notwehr gem. § 32?a. NotwehrlageGegenwärtiger rechtswidriger Angriff durch A auf das Eigentum des
N?
i. AngriffAngriff = von einem Menschen ausgehende unmittelbar
bevorstehende oder andauernde Verletzung rechtlich geschützter Güter und Interessen
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ii. GegenwärtigkeitGegenwärtig = unmittelbar bevorstehend, gerade statt-
findend oder noch andauernd
iii. RechtswidrigkeitRechtswidrig = nicht durch eine Erlaubnisnorm gedeckt
Keine Notwehr gegen Notwehr.
Rechtfertigung des A wegen Aggressivnot-stands gem. § 904 BGB?
(1) NotstandslageGegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut des Handelnden
oder eines Dritten
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Gefahr = Sachlage, bei der ein Schaden an einem geschützten Rechtsgut zu erwarten istGegenwärtigkeit = Gefahr muss sofortige Abhilfe verlangen, auch Dauergefahr genügtHier: Gefahr für das Leben der T und des C, die nur durch das Herausfahren mit dem Boot gebannt werden kann
(2)Notstandshandlunga)Einwirkung auf eine fremde „ungefährliche“ Sache zur Abwehr Verwenden des Bootes des N zur Rettung der Kinder
b)Erforderlichkeit Geeignet + relativ mildestes Mittel (+)
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c) VerhältnismäßigkeitGüterabwägung: drohender Schaden muss gegenüber dem
durch die Abwendung desselben entstehenden Schadens unverhältnismäßig groß sein
Leben der Kinder weitaus wertvoller als kurze Sachentziehung am Boot
(2) ErgebnisAs Angriff auf Ns Eigentum ist gerechtfertigt Notwehrlage (-)
Rechtswidrigkeit (+)2. Erlaubnistatumstandsirrtum?
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ExkursExkurs: Der Erlaubnistatumstandsirrtum: Der ErlaubnistatumstandsirrtumDer Täter irrt sich über das Vorliegen der tatsächlichen Der Täter irrt sich über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds.Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds.
Prüfung:Prüfung:1.1.Hypothetische RechtfertigungslageHypothetische RechtfertigungslageLiegt nach der Vorstellung des Täters eine Liegt nach der Vorstellung des Täters eine Rechtfertigungslage vor?Rechtfertigungslage vor?2. Hypothetische Rechtfertigungshandlung2. Hypothetische Rechtfertigungshandlung3. Subjektives Rechtfertigungselement3. Subjektives Rechtfertigungselement4. Rechtsfolge4. Rechtsfolge•Lehre von den neg. TatbestandsmerkmalenLehre von den neg. Tatbestandsmerkmalen: Der Vorsatz entfällt : Der Vorsatz entfällt gem. § 16 I 1gem. § 16 I 1
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• Eingeschränkte SchuldtheorieEingeschränkte Schuldtheorie: Der Vorsatz entfällt gem. § 16 : Der Vorsatz entfällt gem. § 16 I 1 analogI 1 analog
• Rechtsfolgenverweisende SchuldtheorieRechtsfolgenverweisende Schuldtheorie: Die Vorsatzschuld : Die Vorsatzschuld entfällt gem. § 16 I 1 analog (Teilnahmestrafbarkeit bleibt entfällt gem. § 16 I 1 analog (Teilnahmestrafbarkeit bleibt möglich)möglich)
• Strenge SchuldtheorieStrenge Schuldtheorie: Anwendbarkeit des § 17 S. 1 : Anwendbarkeit des § 17 S. 1 nur nur bei Unvermeidbarkeit entfällt die Schuldbei Unvermeidbarkeit entfällt die Schuld
a.Hypothetische NotwehrlageP: Irrtum des N „das geht mich gar nichts an“ als Irrtum
über das Vorliegen eines rechtswidri-gen Angriffs des A?
hier: N erkennt tatsächliche Situation und irrt sich lediglich über rechtliche Bewertung
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Keine ErlaubnistatumstandsirrtumIII.Schuld§ 17 S. 1: VerbotsirrtumVermeidbarkeit (+) Schuld (+)IV.Ergebnis
B. Strafbarkeit des A gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 wegen des Schlags mit dem PrügelI.Tatbestand1.Objektiver Tatbestand
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a. Körperliche Misshandlung oder Gesund-heitsschädigung
b. Qualifikation: Gefährliches WerkzeugGefährliches Werkzeug: Jeder Gegenstand, der nach seiner Art und
nach der konkreten Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen.
2. Subjektiver TatbestandII. RechtswidrigkeitRechtfertigung gem. § 32 (-)III. Schuld§ 17 S. 1? vermeidbar
IV. Ergebnis
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C. Strafbarkeit des N gem. §§ 212 I, 22, 23 I wegen des Schlags auf den KopfVorprüfungNichtvollendung: Der Tod des A (-)Strafbarkeit des Versuchs: Versuch des Verbrechens, §§ 12 I, gem. 23 I immer strafbar
I.Tatentschluss= Vorsatz bzgl. aller objektiver TatbestandsmerkmaleP: Tötungsvorsatz des N?Eher (-), da keine bzw. zu wenig Anhaltspunkte im SV.Gefährlichkeit der Gewalthandlung allein genügt nicht.II. Ergebnis
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D. Strafbarkeit des N gem. §§ 240 I, III, 22, 23 IVorprüfungNichtvollendung (A hat Boot verwendet) + Strafbarkeit des Versuchs gem. § 240 III
I.Tatentschlussa.bzgl. NötigungserfolgHandeln, Dulden, UnterlassenHier: N will A dazu zwingen, die Benutzung des bootes zu unterlassen
b. bzgl. NötigungsmittelGewalt: Einsatz körperlicher Kraft + körperliche Zwangswirkung beim Opfer
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Beachte: Der Gewaltbegriff ist umstritten (Stichpunkt: vergeistigter Gewaltbegriff) hier: engster (und einzig verfassungsmäßiger) Begriff erfülltDrohung mit einem empfindlichen Übel: Inaussicht-stellen eines Nachteils, dem ein besonnener Mensch nicht standhalten würde, auf den der Täter Einfluss zu haben vorgibtHier: Gewalt durch Faustschläge, Schlag mit Knüppel, Schlag gegen den Kopf
II.Unmittelbares Ansetzen= wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht‘s los“ überschritten hat und sein Handeln nach seiner Vorstellung ohne wesentliche Zwischenschritte in die Tatbestandsausführung münden wird
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Hier: N hat Gewaltanwendung schon vorgenommen
III.RechtswidrigkeitOffener Tatbestand: Rechtswidrigkeit muss positiv festgestellt werden!Tat muss verwerflich sein, § 240 IIMittel, Zweck bzw. Zweck-Mittel-RelationHier: Gewaltanwendung ist verwerflichZiel (P: unmittelbares Ziel = Verhinderung der Nutzung des eigenen Eigentums oder Fernziel = Verhinderung der Rettung der Kinder)
IV.Schuld (vgl.o.)V.Ergebnis
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E. Strafbarkeit des N gem. § 212 I wegen des Todes des CI.Tatbestand1.Objektiver Tatbestand: a. HandlungP: Abgrenzung von Handlung und UnterlassenEnergiekriterium: Es kommt darauf an, ob der Täter aktiv, also durch Energieeinsatz einen Kausalverlauf in Richtung des Rechtsguts des Opfers in Gang setztSchwerpunkt der Vorwerbarkeit (h.M.): Es kommt darauf an, wo der Schwerpunkt dessen liegt, was dem Täter vorgeworfen werden kann.Hier: Fallgruppe des Abbruchs eines rettenden Kausalverlaufs positives Tun = Handlung (+)
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b. Erfolg = Tod des C
c. Kausalität + objektive Zurechnungd. VorsatzII. RechtswidrigkeitIII. Schuld§ 17 S. 1 vermeidbar
IV. ErgebnisF. Strafbarkeit des N gem. §§ 212 I, 22, 23 I im
Hinblick auf die T
G. Strafbarkeit des N gem. § 323c tritt hinter § 212 I zurück
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Strafbarkeit des AA. Strafbarkeit des A gem. § 223 I wegen Niederschlages des NI.Tatbestand1.Objektiver Tatbestand2.Subjektiver TatbestandII.RechtswidrigkeitRechtfertigung des A gem. § 32?1.Notwehrlage= gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff des N
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Hier: Angriff auf Leben und körperliche Unversehrtheit des A und indirekt auf das Leben von T und CGegenwärtigkeit: findet gerade stattRechtswidrig: A ist seinerseits gem. § 904 BGB gerechtfertigt (s.o.) (+)
2.Notwehrlagea.Gegen Rechtsgüter des Angreifers (+)b.Erforderlichkeit = Geeignetheit + relativ mildestes Mittel
c.GebotenheitKeine normativen Einschränkungen
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3. Subjektives RechtfertigungselementIII. Ergebnis
B. Strafbarkeit des A gem. § 212 I, 13 I wegen Nichtrettens des C
I. Tatbestand1. Objektiver Tatbestanda. Erfolgb. Nichtvornahme der gebotenen Rettungs-handlungUnterlassen trotz physisch realer HandlungsmöglichkeitA hätte den C mit dem Boot retten können
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c. Quasi-KausalitätEin Unterlassen ist quasi-kausal, wenn die gebotene
Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-keit entfiele.
A.A.: Risikoverminderungslehre: Es ist ausreichend, wenn die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts durch die Rettungshandlung verringert worden wäre.
d. Objektive Zurechnunge. Garantenstellung= rechtliches Einstehenmüssen für den Erfolg
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ExkursExkurs: Garantenstellungen: Garantenstellungen1. Quellen für Garantenstellungen:1. Quellen für Garantenstellungen:
• Gesetz, z.B. Ehegatten, § 1353 BGBGesetz, z.B. Ehegatten, § 1353 BGB• Herrschaft über eine GefahrenquelleHerrschaft über eine Gefahrenquelle• Ingerenz = pflichtwidriges VorverhaltenIngerenz = pflichtwidriges Vorverhalten• Tatsächliche ÜbernahmeTatsächliche Übernahme
2. Unterscheidung nach Beschützer- und 2. Unterscheidung nach Beschützer- und ÜberwachergarantenÜberwachergaranten
Hier: Garantenstellung aus tatsächlicher Übernahme
d. Entsprechungsklausel= Unrecht des Unterlassens muss dem Unrecht des Begehens entsprechen
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Bei Erfolgsdelikten grundsätzlich (+)
2. Subjektiver Tatbestand= Vorsatz
II. RechtswidrigkeitRechtfertigung wegen rechtfertigender Pflich-tenkollision?– Ungeschriebener Rechtfertigungsgrund– Voraussetzungen:• Kollision zweier gleichwertiger Rettungspflichten bzw. Kollision der geprüften Pflicht mit einer höherwertigen Rettungspflicht• Täter muss eine gleichwertige bzw. die höherwertige Rettungspflicht erfüllen
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Hier:• A hatte für das Leben der T eine Garantenstellung aus § 1626 BGB (elterliche Sorge)• A konnte nur entweder T oder C retten = Kollision der Rettungspflichten• A rettete die T
Rechtswidrigkeit (-)III.Ergebnis
C. Strafbarkeit des A gem. § 323c wegen Nichtrettens des CI.Tatbestand
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1. Objektiver Tatbestanda. UnglücksfallUnglücksfall = ein plötzlich eintretendes Ereignis, das
eine erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut herbeiführt
b. Unterlassen von Hilfec. Zumutbarkeit(-), wenn Hilfe nur unter Verletzung anderer wichtiger
Pflichten möglich
II. Ergebnis
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D. Strafbarkeit des A gem. § 222, 13 I wegen mangelnder Beaufsichtigung der KinderI. Tatbestand1. Erfolg2. Nichtvornahme der gebotenen Rettungs-handlung3. Quasi-Kausalität4. Objektive ZurechnungP: Eigenverantwortliches Dazwischentreten des vorsätzlich handelnden N?
5. Objektive SorgfaltswidrigkeitMangelnde Beaufsichtigung der Kinder
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6. Objektive VorhersehbarkeitII. RechtswidrigkeitIII. Schuld1. Keine Schuldausschließungs- oder Entschuldi-gungsgründe2. Subjektive Vorwerfbarkeit der Pflichtverletzung
IV. ErgebnisStrafbarkeit des XA. Strafbarkeit des X gem. § 223 I wegen Ablenkens
des Schlags auf die SchulterI. Tatbestand
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1. Objektiver Tatbestanda. Erfolgb. Handlungc. Kausalität Hätte X nicht eingegriffen, hätte der Schlag den Kopf des A
getroffen, d.h. der Erfolg in seiner konkreten Gestalt, der Schulterverletzung, wäre nicht eingetreten
d. Objektive ZurechnungP: Risikoverringerung (-)II. Ergebnis
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