Psychotherapie als Heilkunde
Markus R. PawelzikEOS-Klinik für Psychotherapie
Die Herausforderung
Eine Person hat „Sorgen / Probleme / Anliegen“.
Diese Sorgen werden von zwei verschiedenen Seiten betrachtet & „behandelt“.
oft in derselben Institution (z.B. Psychiatrischen Krankenhaus)
von zwei verschiedenen Berufsgruppen – pastoralen Seelsorgern & Psychotherapeutinnen
in unterschiedlicher Absicht
aufgrund unterschiedlicher Anschauungen & Begründungen
mittels unterschiedlicher Herangehens- & Vorgehensweisen
Systematische Unterschiede?
FRAGESTELLUNG PASTORALE SEELSORGE
PSYCHOTHERAPIE
Selbstverständnis? „Heilssorge“ Heilkunde
Gegenstand? Existenzielle Sorgen, spirituelle Bedürfnisse
Psychische Störung
Ziel? Trost Heilung
Anthropologie? „verirrte Seele“ Funktionsgestörter Organismus
Indoktrination? erlaubt, erwünscht verboten
Weltanschauung? christlich neutral
Vorgehen? Gespräch plus Gespräch plus
Rationale? Re-Orientierung („richtiger Weg“)
Korrektur der F-Störung („normales Verhalten“)
Verhältnis der Psychotherapie zur Religion/Spiritualität
Religionsfeindliche Anfänge im 19. Jh.: P. Janet, S. Freud Freud: „Die Neurose ist individuelle Religiosität, Religion eine
universelle Zwangsneurose.“
Psychotherapieforschung im 20 Jh.: Jerome Frank. 1961. Persuasion and Healing: A Comparative Study of
Psychotherapy
Psychotherapie steht in der Nachfolge religiöser Heilungsrituale; Erbin der Religion; mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede
Seel-Sorge jeder Art hat viel mit Sinngenerierung und –deutung zu tun. „In der Not frisst der Mensch Sinn!“
Programm
Die Herausforderung
Anthropologie der Sorge
Professionalisierung der Seel-Sorge als Psychotherapie im Zuge der Moderne
Alles eine Sache des Bewusstseins
Eine Grenzgängerin
Wie wollen wir mit den Unterschieden umgehen?
„tolerant“: zwei Arbeiter, zwei Baustellen
Vorsicht! Was, wenn es dieselbe Baustelle ist? Erkenntniskritisch: „spirituelle Krise“ Partnerschaftskonflikt
Depression Moralisch-politisch: Wenn Opposition zum Dogma zur
Verfolgung führt oder Teufel ausgetrieben werden
„intolerant“: zwei Arbeiter, eine Baustelle Konkurrenz Wissenschaft vs. Aberglauben bzw. „Volkstheorie“ Die meisten Volkstheorien – etwa in den Bereichen Botanik,
Zoologie, Meterologie, Medizin, Kosmologie u. ä. – haben heute ausgedient.
Mit einer Ausnahme.
Sonderfall „Seele“
Eine Volkstheorie ist unersetzbar („irreduzibel“, „ineliminierbar“): die Folks– oder Alltagspsychologie.
Wenn die Alltagspsychologie unersetzbar ist, dann sitzen Psychotherapie und pastorale Seelsorge im selben konzeptuellen Boot: Sie behandeln* mentale Zustände und Prozesse auf prinzipiell gleiche Weise.
*) behandeln bedeutet thematisieren & therapieren zugleich
Die verschiedenen Stämme der Seel-Sorger müssen nah verwandt sein, da sie auf dieselben kulturellen Bedeutungsressourcen zurück greifen.
Was ist Alltagspsychologie?
lebensweltlicher Diskurs über begründetes Handeln
erkennt mentale Zustände hinter dem Verhalten
Hauptfunktion: Zurechnen von Handlungen
unerschöpfliches Repertoire an phänomenalen & satzartigen Inhalten
Wir alle sind Alltagspsychologen: Wir verstehen uns selbst mit den Mitteln der Alltagspsychologie. „Der N. centralis meiner linken Amygdala ist heute überaktiv.“
Die Alltagspsychologie ist eine unhintergehbare soziale Institution („psychologische Grammatik“).
Die evidenzbasierte Psychotherapie hat mit der Alltagspsychologie nicht viel im Sinn
nachweislich wirksame Behandlungsprogramme Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Psychotherapeuten:
Wollen Sie die Behandlung, die die Therapeutin am liebsten macht, oder lieber eine, die in vergleichbaren Fällen zum Erfolg geführt hat?
Beispiel „exzessive Zwangsrituale“
wissenschaftlich anschlussfähige Konzepte & Theorien gute Idee, sich von der Tradition der Psycho-Mythologien
zu verabschieden und sich den Wissenschaften des Verhaltens zuzuwenden Analogie zur Medizin: immenser instrumenteller Fortschritt,
vormals unheilbare Krankheiten sind heute heilbar
Problem der wissenschaftlich begründeten Psychotherapie
Zwischen der alltagspsychologisch thematisierten Sphäre des Mentalen Bewusstsein: subjektives Erleben, selbstreflexives DenkenSoziale Diskurse: Bedeutung, Sinn, Inhalte ... NarrativitätKollektive Intentionalität: Normen, Rituale, Institutionen, ...
und den Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaften klafft eine unüberbrückbare „explanatorische Lücke“ (Levine).Die Verhaltenswissenschaft sind seelenlos. Die
Alltagspsychologie ist deshalb nicht anschlussfähig.
Menschliches Verhalten wird „bottom up“ & „top down“ generiert
EBENE DOMÄNE BEISPIEL
Gesellschaft Kultur Muttersprache, Normen, soziale Praktiken, ... Alltagspsychologie
Gruppe Familie, Nachbarschaft, ...
Gruppenzugehörigkeit
Dyade 2-Personen-Beziehungen Mutter-Kind, Lebenspartnerschaft
Organismus / Subjekt Mechanistisch / begründet
Verhalten / Handeln
Organ Gehirn als Verhaltensgenerator
Situierte Netzwerkaktivierungen, funktionelle Modellierungen
Gewebe Zellinteraktionen Rezeptorbindung
Zelle Zellstoffwechsel Gen-Expression
SUBJEKT
Akkulturation: „soziale Institutionen im Kopf“
Fazit I: Gemeinsame Wurzel
Beide Formen der Seel-Sorge arbeiten mit denselben konzeptuellen Ressourcen – der Alltagspsychologie.
Beide Formen der Seel-Sorge sind einander näher als den Verhaltenswissenschaften, insofern sie mentale Zustände thematisieren.
Allerdings zielt die einheitliche Art, wie das Mentale auf den Begriff gebracht wird, in unterschiedliche Richtungen: Psychotherapie: Alltagspsychologie als Vehikel
psychologischer Modelle AP-Diskurs Konditionierungsmodell Konfrontationstherapie
Pastorale Seelsorge: Alltagspsychologie als Vehikel pastoraler Modelle (?)
Programm
Die Herausforderung
Anthropologie der Sorge
Professionalisierung der Psychotherapie im Zuge der Moderne
Alles eine Sache des Bewusstseins
Eine Grenzgängerin
Doppeldeutigkeit von „Sorge“
Sorge als Gegenstand der Seel-Sorge: Der Sorgenvolle hat Kummer, fürchtet sich und sorgt sich vor Bedrohung & Gefahr.
Sich-Sorgen als Tätigkeit der Seel-Sorge: Der Seel-Sorger sorgt für sorgenbelastete Seelen.
Konstitutiver Zusammenhang zwischen Besorgt-Sein & Fürsorge bzw. Seel-Sorge
„Es gibt keine Seelen ohne Sorgen und ohne Umsorgtwerden“
Sorgen kann nur haben, wer zur bewussten Selbstreflexion befähigt ist.
Die Fähigkeit zur bewussten Selbstreflexion ist nicht angeboren. Sie wird dank sozialen Lernens erworben.
Die Seele („Selbst“) ist eine labile interpersonelle Ko-Konstruktion. Abhängig von Sozialisation Enttäuschungen, Kränkungen, Selbstzweifel, Grübeleien etc.
Stabilisator: lebenslange zwischenmenschlichen „Seel-Sorge“. Seel-Sorge ist ubiquitär: Eltern-Kinder, Partner, Freunde, Netzwerke, ... Spezialisten kommen nur bei schwerwiegenden Problemen ins Spiel.
„menschlicher Organismus x Kultur = Seele“
KULT
UR
Kultur als Ressource der Seel-Sorge
Fazit II: Wie wir für unsere Seelen sorgenJede Form der Seel-Sorge greift auf kulturelle
Ressourcen zurück.
Jede Form der Seel-Sorge operiert interpersonell.
Heilkundliche Seel-Sorge als „Nacherziehung“: „Holding“, „Containment“ Re-MoralisierungKlärung Re-OrientierungKontrolle automatischer Prozesse Re-KalibrierungFähigkeiten entwickeln Re-Sozialisation
Pastorale Seelsorge: grundsätzlich anders?
Programm
Die Herausforderung
Anthropologie der Sorge
Professionalisierung der Seel-Sorge als Psychotherapie im Zuge der Moderne
Alles eine Sache des Bewusstseins
Eine Grenzgängerin
Kulturelle Ausdifferenzierung: Warum?
Moderne Psychotherapie
Traditionen der Seel-Sorge
Kulturelle Evolution
(5000 Kulturen)
Moderne
Fortschritt Industrialisierung: Wohlstand Wissenschaft & Technik: instrumentelle Kontrolle Säkularisierung: „Entauratisierung“, „Gottlosigkeit“,
„Schicksalsvergessenheit“
Rationalität schlüssige Begründung aller Lebensbereiche moralische Rechtfertigung Reflexivität („Post-Moderne: Ende der großen Erzählungen“)
Individualismus Rechte, Freiheit, Pluralismus „individual pursuit of happiness“
Heilkundliche Moral – Vier-Prinzipien-Ansatz von Beauchamp & Childress (2009; 6. Aufl.)
-
Autonomie – Selbstbestimmungsrecht des Patienten „informierte, eigenständige Zustimmung“ Explizierbare Behandlungsoptionen
Non-Malefizienz – Nicht-Schadensgebot „gefährliche, schlechtere Interventionen vermeiden“ Auch die zweitbeste Behandlung ist ein Schaden
Benefizienz - Fürsorgegebot „lindern, heilen, aber auf keinen Fall schaden “ State-of-the-Art: z. Z. zuverlässigste Behandlung, keine
Experimente
Gerechtigkeit Keine Bevorzugung, keine Verschwendung Leitlinienkonforme Behandlung
Osheroff vs. Chestnut LodgeHat der Patient ein Recht auf eine „state-of-the-art“-
Behandlung?
Dr. Raphael J. Osheroff (1939 - 2012), Nephrologe, Betreiber von 11 Dialysezentren, 42, verh., 2 Ki. CL-Diagnose: „major narcissistic injuries due to a narcissistic
personality disorder and secondarily from a manic-depressive illness, depressed type“
CL-Therapie: „long term psychoanalytical psychotherapy“ Wiederholte CL-Reviews bestätigten Diagnose und Therapie CL-Ergebnis: nach 7 Monaten: „psychotic deterioration“
Verlegung ins Silver Hill Hospital: 3 Wochen Antidepressiva dramatische Besserung; nach 3 Monaten weitgehende Widerherstellung, Entlassung
Osheroff verlor seine Lebensgrundlage, das Sorgerecht für seine Kinder & wurde geschieden
Außergerichtlicher Vergleich mit Chestnut Lodge; später rehabilitiert
Evidenzbasierte Behandlungsstandards sind moralisch geboten
Psychotherapie = Seel-Sorge als Heilkunde
Definierte psychische Störung & Problemanalyse
Evidenzbasiertes therapeutisches Vorgehen
Ausreichende Qualifikation der Therapeutin
Einschlägige Sorgfaltspflichten
Moralische Forderung nach einer evidenzbasierten Psychotherapie
Möglichst eindeutiger Standard des therapeutisch Richtigen
schwer zu definieren & zu begründen; wachsweiche Leitlinien
Problem mit der Alltagspsychologie: Psychotherapie ist weniger Wissenschaft als lebensweltlich begründete, handwerkliche Praxis
Psychotherapie als ...
„Kunst“ Psychotherapie als singulärer, nicht verallgemeinerbarer
Prozess kognitiv intransparentes Geschehen
„Handwerk“ Psychotherapie als trainierbare Praxis Wesentlich durch praktisches Know How bestimmt
„Wissenschaft“ (Psychotherapie als transparenter, gesetzmäßiger Prozess???) Einsatz evidenzbasierter Interventionen („Kochrezept-
Modell“)
Professionalisierung der Psychotherapie: Ringen um „reflektiertes Gleichgewicht“ („reflective equilibrium“)
Fazit III: Professionalisierung macht intolerant
Psychotherapie ist ein wenig entwickelter Bereich der Heilkunde.400 bis 1200 verschiedene TherapieschulenDie Seele ist ein „Teig“ aus dem sich
Unterschiedlichstes formen lässt.
Professionalisierungsdynamik: Forderung nach Entwicklung, Verbesserung & Validierung der Psychotherapie ist moralisch begründet.
Professionalisierung der Psychotherapie führt von der breiten Tradition der Seele-Sorge weg bzw. vergrößert die Intoleranz.
Programm
Die Herausforderung
Anthropologie der Sorge
Professionalisierung der Seel-Sorge als Psychotherapie im Zuge der Moderne
Alles eine Sache des Bewusstseins
Eine Grenzgängerin
Was ist der größte gemeinsame Nenner des Spektrums seelsorgerischer Bemühungen?
Das BewusstseinGespräch mit bewusstem, reflektionsfähigen
Klienten/PatientenGemeinsame Sprache/Alltagspsychologie
Aufmerksamkeitslenkung Problemfokus Lösungsversuche
Worauf fokussiert das Bewusstsein?
VERGANGENHEIT: Nachgedanken ZUKUNFT: Vorgedanken
GEGENWART:- Hier-und-Jetzt
- Erleben- Handeln
Uralte Tradition der Bewusstseinskultivierung
Achtsamkeitsmeditation: Fokussierung des Bewusstseins auf die unmittelbare GegenwartUrsprung: Buddhismus (zw. 6. und 4 Jh. v. Chr.)
Prähistorie (250‘ bis 5‘ v. Chr.): rhythmisches Tanzen, Singen
Findet sich in unterschiedlichen Varianten in (fast) allen spirituellen Traditionen
Achtsamkeit ist in kürzester Zeit zum Standardverfahren der evidenzbasierten Psychotherapie avanciert. Zeigt gute bis sehr gute Behandlungserfolge
Vier verschiedene Personen erhalten eine Kündigung – Achtsamkeit macht den Unterschied
I II III IV
Zeit
Arousal
Fazit IV: Bewusstsein - eine Baustelle, eine Arbeit, ein Ziel?
In puncto Achtsamkeitsförderung würden traditionelle Seelsorge und evidenzbasierte Psychotherapie vollständig übereinstimmen, wenn sie diese denn praktizieren.
A propos Fortschrittsbegeisterung: Manchmal sind die alten Methoden besser als die neuen.Es lassen sich sicher noch mehr alte Methoden
finden-
Programm
Die Herausforderung
Anthropologie der Sorge
Professionalisierung der Psychotherapie im Zuge der Moderne
Alles eine Sache des Bewusstseins
Eine Grenzgängerin
Marsha Linehan
eine der weltweit bekanntesten Vertreterinnen der evidenzbasierten Psychotherapie
(1) Suizidforschung, (2) Dialektisch-Behaviorale Psychotherapie schwerer Persönlichkeitsstörungen, (3) „spirituelle Psychotherapie“
machte 2011 öffentlich, dass sie als junge Frau wiederholt wegen einer „Psychose“ psychiatrisch hospitalisiert & zwangsbehandelt worden war
berichtet freimütig von ihrer „Heilung“
Video
Fazit V: Die Grenze zwischen verschiedenen Formen der Seel-Sorge ist im Einzelfall sehr fließend
Bei schwerwiegenden psychischen Störungen ist jedes heilsame Mittel recht.
Beispiel „Linehan“: Warum sollte ich meine lebensgeschichtlich begründete Selbstentfremdung, die durch ein „fremdes Selbst“ bestimmt wird, aufgeben? Wie soll ich eine liebevolle, fürsorgliche Beziehung zu mir selbst entwickeln? Durch eine religiöses Erweckungserlebnis oder durch eine
individuelle therapeutische Beziehung? Jede spirituelle Gemeinschaft ist potentiell viel einflussreicher!
„Spirituelle Bedürfnisse“ sind ein potentiell sehr starker Motivator, den die evidenzbasierte Psychotherapie aus ideologischen Gründen bislang nicht nutzt.
Gesamtfazit
Die evidenzbasierte Psychotherapie kommt auf Dauer am Thema „Spiritualität“ nicht vorbei.
Allerdings bedarf es einer theoretischen Neubesinnung, um evidenzbasierte Anleihen an den großen Traditionen der Seelsorge nehmen zu können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!