Bultmann - Neues Testament und Mythologie 1 23.04.2017
RUDOLF BULTMANN
NEUES TESTAMENT UND MYTHOLOGIE
Das Problem der Entmythologisierung
der neutestamentlichen Verkndigung
I
DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG DER
NEUTESTAMENTLICHEN VERKNDIGUNG
ALS AUFGABE
A. Das Problem
1. Das mythische Weltbild und das mythische Heils-
geschehen im Neuen Testament
Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. Die Welt gilt als in drei Stockwerke
gegliedert. In der Mitte befindet sich die Erde, ber ihr der Himmel, unter ihr die Unterwelt.
Der Himmel ist die Wohnung Gottes und der himmlischen Gestalten, der Engel; die Unterwelt
ist die Hlle, der Ort der Qual. Aber auch die Erde ist nicht nur die Sttte des natrlich-alltg-
lichen Geschehens, der Vorsorge und Arbeit, die mit Ordnung und Regel rechnet; sondern sie
ist auch der Schauplatz des Wirkens bernatrlicher Mchte, Gottes und seiner Engel, des
Satans und seiner Dmonen. In das natrliche Geschehen und in das Denken, Wollen und
Handeln des Menschen greifen die bernatrlichen Mchte ein; Wunder sind nichts Seltenes.
Der Mensch ist seiner selbst nicht mchtig; Dmonen knnen ihn besitzen; der Satan kann
ihm bse Gedanken eingeben; aber auch Gott kann sein Denken und Wollen lenken, kann ihn
himmlische Gesichte schauen lassen, ihn sein befehlendes oder trstendes Wort hren lassen,
kann ihm die bernatrliche Kraft seines Geistes schenken. Die Geschichte luft nicht ihren
stetigen, gesetzmigen Gang, sondern erhlt ihre Bewegung und Richtung durch die ber-
natrlichen Mchte. Dieser on steht unter der Macht des Satans, der Snde und des Todes
(die eben als Mchte gelten); er eilt seinem Ende zu, und zwar seinem baldigen Ende, das
sich in einer kosmischen Katastrophe vollziehen wird; es stehen nahe bevor die Wehen der
Endzeit, das Kommen des himmlischen Richters, die Auferstehung der Toten, das Gericht
zum Heil oder zum Verderben.
Dem mythischen Weltbild entspricht die Darstellung des Heilsgeschehens, das den eigentli-
chen Inhalt der neutestamentlichen Verkndigung bildet. In mythologischer Sprache redet die
Verkndigung: Jetzt ist die Endzeit gekommen; als die Zeit erfllt war, sandte Gott seinen
Sohn. Dieser, ein prexistentes Gotteswesen, erscheint auf Erden als ein Mensch1; sein Tod
am Kreuz, den er wie ein Snder erlei-[16]det2, schafft Shne fr die Snden der Menschen
3.
Seine Auferstehung ist der Beginn der kosmischen Katastrophe, durch die der Tod, der durch
Adam in die Welt gebracht wurde, zunichte gemacht wird4; die dmonischen Weltmchte
haben ihre Macht verloren5. Der Auferstandene ist zum Himmel erhht worden zur Rechten
1 Gal. 4,4; Phil. 2,6ff.; 2. Kor. 8,9; Joh. 1,14 usw.
2 2. Kor. 5,21; Rm. 8,3.
3 2 Rm. 3,23-26; 4,25; 8,3; 2. Kor 5,14; Joh 1,29; 1. Joh. 2,2 usw.
4 1. Kor. 15,21f.; Rm. 5,12ff.
5 1. Kor. 2,6; K1. 2,15; Apok. 12,7ff. usw.
Bultmann - Neues Testament und Mythologie 2 23.04.2017
Gottes6; er ist zum Herrn und Knig gemacht worden
7. Er wird wiederkommen auf den
Wolken des Himmels, um das Heilswerk zu vollenden; dann wird die Totenauferstehung und
das Gericht stattfinden8; dann werden Snde, Tod und alles Leid vernichtet sein
9. Und zwar
wird das in Blde geschehen; Paulus meint dieses Ereignis selbst noch zu erleben10
.
Wer zur Gemeinde Christi gehrt, ist durch Taufe und Herrenmahl mit dem Herrn verbunden
und ist, wenn er sich nicht unwrdig verhlt, seiner Auferstehung zum Heil sicher11
. Die
Glaubenden haben schon das Angeld, nmlich den Geist12
, der in ihnen wirkt und ihre
Gotteskindschaft bezeugt13
und ihre Auferstehung garantiert14
.
2. Die Unmglichkeit der Repristinierung des mythischen Weltbildes
Das alles ist mythologische Rede, und die einzelnen Motive lassen sich leicht auf die zeit-
geschichtliche Mythologie der jdischen Apokalyptik und des gnostischen Erlsungsmythos
zurckfhren. Sofern es nun mythologische Rede ist, ist es fr den Menschen von heute
unglaubhaft, weil fr ihn das mythische Weltbild vergangen ist. Die heutige christliche
Verkndigung steht also vor der Frage, ob sie, wenn sie vom Menschen Glauben fordert, ihm
zumutet, das vergangene mythische Weltbild anzuerkennen. Wenn das unmglich ist, so
entsteht fr sie die Frage, ob die Verkndigung des Neuen Testaments eine Wahrheit hat, die
vom mythischen Weltbild unabhngig ist; und es wre dann die Aufgabe der Theologie, die
christliche Verkndigung zu entmythologisieren.
Kann die christliche Verkndigung dem Menschen heute zumuten, das mythische Weltbild als
wahr anzuerkennen? Das ist sinnlos und unmglich. Sinnlos; denn das mythische Weltbild ist
als solches gar nichts spezifisch Christliches, sondern es ist einfach das Weltbild einer vergan-
genen Zeit, das noch nicht durch wissenschaftliches Denken geformt ist. Unmglich; denn ein
Weltbild kann man sich nicht durch einen [17] Entschlu aneignen, sondern es ist dem Men-
schen mit seiner geschichtlichen Situation je schon gegeben. Natrlich ist es nicht unvernder-
lich, und auch der Einzelne kann an seiner Umgestaltung arbeiten. Aber er kann es doch nur
so, da er auf Grund irgend welcher Tatsachen, die sich ihm als wirklich aufdrngen, der
Unmglichkeit des hergebrachten Weltbildes inne wird und auf Grund jener Tatsachen das
Weltbild modifiziert oder ein neues entwirft. So kann sich das Weltbild ndern etwa infolge
der kopernikanischen Entdeckung oder infolge der Atomtheorie; oder auch indem die Roman-
tik entdeckt, da das menschliche Subjekt komplizierter und reicher ist, als da es durch die
Weltanschauung der Aufklrung und des Idealismus verstanden werden knnte; oder dadurch,
da die Bedeutung von Geschichte und Volkstum neu zum Bewutsein kommt.
Es ist nun durchaus mglich, da in einem vergangenen mythischen Weltbild Wahrheiten
wieder neu entdeckt werden, die in einer Zeit der Aufklrung verloren gegangen waren, und
die Theologie hat allen Anla, diese Frage auch in Bezug auf das Weltbild des Neuen Testa-
ments zu stellen. Aber es ist unmglich, ein vergangenes Weltbild durch einfachen Entschlu
zu repristinieren, und vor allem ist es unmglich, das mythische Weltbild zu repristinieren,
nachdem unser aller Denken unwiderruflich durch die Wissenschaft geformt worden ist. Ein
6 Act. 1,6ff.; 2,33; Rm. 8,34 usw.
7 Phil. 2,9-11; 1. Kor, 15,25.
8 1. Kor. 15,23f. 50ff. usw.
9 Apok. 21,4 usw.
10 1. Thess. 4,15ff.; 1. Kor. 15,51f., vgl. Mark. 9,1.
11 Rm. 5,12ff.; 1. Kor. 15,21ff, 44bff.
12 Aparch: Rm. 8,23; arrabn: 2. Kor. 1,22; 5,5.
13 Rm. 8,15; Gal. 4,6.
14 Rm. 8,11.
Bultmann - Neues Testament und Mythologie 3 23.04.2017
blindes Akzeptieren der neutestamentlichen Mythologie wre Willkr; und solche Forderung
als Glaubensforderung erheben, wrde bedeuten, den Glauben zum Werk erniedrigen, wie
Wilhelm Herrmann man sollte meinen, ein fr allemal deutlich gemacht hat. Die Erfllung
der Forderung wre ein abgezwungenes sacrificium intellectus, und wer es brchte, wre
eigentmlich gespalten und unwahrhaftig. Denn er wrde fr seinen Glauben, seine Religion,
ein Weltbild bejahen, das er sonst in seinem Leben verneint. Mit dem modernen Denken, wie
es uns durch unsere Geschichte berkommen ist, ist die Kritik am neutestamentlichen Welt-
bild gegeben.
Welterfahrung und Weltbemchtigung sind in Wissenschaft und Technik so weit entwickelt,
da kein Mensch im Ernst am neutestamentlichen Weltbild festhalten kann und festhlt.
Welchen Sinn hat es, heute zu bekennen: niedergefahren zur Hlle oder aufgefahren gen
Himmel, wenn der Bekennende das diesen Formulierungen zugrunde liegende mythische
Weltbild von den drei Stockwerken nicht teilt? Ehrlich bekannt werden knnen solche Stze
nur, wenn es mglich ist, ihre Wahrheit von der mythologischen Vorstellung, in die sie gefat
ist, zu entkleiden, falls es eine solche Wahrheit gibt. Denn das eben ist theologisch zu fra-
gen. Kein erwachsener Mensch stellt sich Gott als ein oben im Himmel vorhandenes Wesen
vor; ja, den Himmel im alten Sinne gibt es fr uns gar nicht mehr. Und ebensowenig gibt es
die Hlle, die mythische Unterwelt unterhalb des Bodens, auf dem unsere Fe stehen. Erle-
digt sind damit die Geschichten von der Himmel- und Hllenfahrt Christi; erledigt ist die
Erwartung des mit den Wolken des Himmels kommenden Menschensohnes und des
Entrafftwerdens der Glubigen in die Luft, ihm entgegen (1. Thess. 4,15ff.).
Erledigt ist durch die Kenntnis der Krfte und Gesetze der Natur der Geister- und Dmonen-
glaube. Die Gestirne gelten uns als Weltkrper, deren Bewegung eine [18] kosmische Gesetz-
lichkeit regiert; sie sind fr uns keine dmonischen Wesen, die den Menschen in ihren Dienst
versklaven. Haben sie Einflu auf das menschliche Leben, so vollzieht sich dieser nach ver-
stndlicher Ordnung und ist nicht die Folge ihrer Bosheit. Krankheiten und ihre Heilungen
haben ihre natrlichen Ursachen und beruhen nicht auf dem Wirken von Dmonen bzw. auf
deren Bannung15
. Die Wunder des Neuen Testaments sind damit als Wunder erledigt, und wer
ihre Historizitt durch Rekurs auf Nervenstrungen, auf hypnotische Einflsse, auf Sugge-
stion und dergl. retten will, der besttigt das nur. Und sofern wir im krperlichen