Sartre vs. Heidegger
– Überlegungen zum Verhältnis zweier Philosophen –
Leicht überarbeitete und ergänzte Textversion eines des Einleitungsvortrags zum
gleichnamigen Lektüreworkshop am 14.10. ’10. Von Thiel Schweiger (La vache qui rit.)
In diesem Lektüreworkshop wollen wir gemeinsam zuerst Sartres Ist der Existenzialismus ein
Humanismus? lesen, dann Heideggers wirkmächtigen Brief über den Humanismus, der als
Antwort auf jenen konzipiert war. Im Folgenden sei der historische und philosophische
Hintergrund dieser beiden Texte und des Verhältnisses zwischen Sartre und Heidegger
einführend erläutert.
Sowohl Sartre als auch Heidegger bedienen sich auf jeweils unterschiedliche Art der
Phänomenologie Husserls und versuchen – Heidegger in Sein und Zeit, Sartre in Das Sein und
das Nichts – auf dieser Grundlage eine umfassende Ontologie (d.h. eine Lehre von den
Seinsverhältnissen) der menschlichen Existenz zu entwickeln. Doch bereits auf den ersten
Blick unterscheiden sich die beiden Philosophen erheblich: während Heidegger nicht nur
programmatisch, sondern auch durch seine theoretisch-sprachliche Herangehensweise, einen
Sturz der Herrschaft der Logik vollzieht, um zu einem „ursprünglicheren“ Denken
zurückzufinden, dass in Jahrtausenden der metaphysischen Verirrung verloren gegangen sei1,
stellt sich Sartre ganz klar in die Tradition der rationalistischen westlichen Philosophie. Er
will kein neues Denken begründen, stellt sich nicht jenseits der bestehenden Philosophie und
Wissenschaft. Insofern ist Heidegger, wenn man so will, „radikaler“ als Sartre, obwohl zu
fragen ist, ob diese „Radikalität“ nicht in einem religiösen Irrationalismus mündet, der dem
Nationalsozialismus in der Tat philosophisch nahe steht. Denn die Rückkehr zum
„eigentlichen“, „wahren“, dass in einer historisch verloren gegangenen Epoche vermutet wird,
1 Wörtlich etwa in seinem berühmten Vortrag Was ist Metaphysik?: „Wenn so die Macht des Verstandes im Felde der Fragen nach dem Nichts und dem Sein gebrochen wird, dann entscheidet sich damit auch das Schicksal der Herrschaft der ‚Logik’ innerhalb der Philosophie. Die Idee der ‚Logik’ selbst löst sich auf im Wirbel ursprünglicheren Fragens.“ (Heidegger 1992, S. 37) Seine Logik-Kritik, die er im Nachwort weiter expliziert (ebd., S. 48 ff.) erinnert nur oberflächlich an die Positivismuskritik der Frankfurter Schule. Er kritisiert zwar, wie sie, dass die „Logik“ das Denken auf Formalismen reduziert und die Welt berechenbar zu machen trachtet, verharrt aber in einem idealistischen Denken, das mit der Ideologiekritik Marcuse, Adornos und Horkheimers nicht viel zu tun hat. Gerade seine Kritik an der Berechenbar-Machung der Welt erinnert eher an einen romantischen Antikapitalismus als an eine fundierte Kapitalismuskritik.
deren Restauration paradoxerweise in einen hybriden Modernismus mündet, ist sicherlich ein
Element, dass Heideggers Philosophie mit den Nazis verbindet.
In Das Sein und das Nichts knüpft Sartre nichtsdestotrotz immer wieder explizit an
Heideggers Ontologie an und entnimmt ihr zentrale Begriffe wie den des Da-Seins, des
„Anderen“, der „Utensitilität“ (bei Heidegger: Zuhandenheit). Dennoch ist dieses Anknüpfen
keine philosophische Parteinahme. Sartre knüpft genauso an Husserl, Hegel, Descartes und
Freud an – stets kritisch, im Sinne einer konkreten Analyse der menschlichen Existenz auf
rationale Weise. Insbesondere Heidegger wird von ihm an entscheidenden Stellen scharf
kritisiert.2 So verwirft er Heideggers Konzept eines welt-transzendenten „Nichts“, das die
Grundlage jeder Negation wäre. Das „Nichts nichtet“ (so Heideggers berühmte Wendung) bei
Sartre nicht, sondern das Bewusstsein nichtet – es ist das Nichts, das nicht ist keine ominöse,
religiös wirkende Realität jenseits des Bewusstseins.3
Auch Heideggers Begriff des „Anderen“ wird von Sartre scharf zurückgewiesen.4 Nach
Heidegger ist – so Sartre - der Andere mir selbst primär – ich existiere durch ihn. Sartre
erscheint das als willkürliche Setzung5, die ihren eigenen epistemologischen Standpunkt nicht
klärt: das Bewusstsein von dem Anderen verweist mich doch stets auf mein Bewusstsein von
mir als erstes unreduzierbares Faktum zurück. Das „cogito“ (vgl. Descartes’ berühmte
Intuition „cogito ergo sum“ – „Ich denke also bin ich“) ist daher für Sartre der nicht
hintergehbare Ausgangspunkt der Philosophie – Heideggers Versuch, den „Anderen“ zum
Ausgangspunkt zu machen, ergibt keinen Sinn. Die Existenz des Anderen ist für Sartre
kontingent, nicht aus der (selbst-evidenten) des Für-Sich logisch ableitbar. Zudem wäre so
ohnehin nur die abstrakte Existenz des Anderen gezeigt – die Existenz des konkreten Anderen
kann Heidegger nicht beweisen.6
Fast schon an Adornos Jargon der Eigentlichkeit erinnernd spießt er dann die fragwürdigen
Konsequenzen der antisubjektivistischen Philosophie Heideggers auf:
2 Die Passagen zum „Nichts“ und zum „Anderen“ sind auch im Reader zur Veranstaltungsreihe enthalten. Allerdings aus anderen Ausgaben als den hier zitierten.3 Vgl. das Kapitel Die phänomenologische Auffassung des Nichts (Sartre 2009, S. 71 ff.)4 Vgl. der Abschnitt über Heidegger im Kapitel Husserl, Hegel, Heidegger (ebd., S. 443 ff.)5 „In seiner schroffen und etwas barbarischen Art, den gordischen Knoten lieber zu durchschlagen, als zu versuchen, ihn zu lösen, antwortet er [Heidegger] auf die gestellte Frage [die Frage nach der Existenz des Anderen] mit einer bloßen Definition.“ (ebd., S. 443; Herv. im Original)6 Hierzu sei – um Missverständnissen vorzubeugen – angemerkt, dass Sartre überhaupt nicht davon ausgeht, dass man die Existenz des Anderen irgendwie logisch beweisen und den Solipsismus damit widerlegen könnte. Im auf dieses Kapitel folgende Blick-Kapitel zeigt er auf, dass die Existenz des Anderen je evident ist – genauso evident wie meine eigene. In Verhaltensweisen wie der Scham tritt dies deutlich zu tage – der Solipsismus ist nichts weiter als ein unaufrichtiger (und damit letztlich zum Scheitern verurteilter) Versuch, die Existenz des Anderen und die damit verbundenen Probleme für meine eigene Subjektivität zu leugnen.
Das Problem auf der Ebene der Unkommunizierbarkeit individueller Subjekte stellen, hieße ein
Hysteron-Proteron begehen [d.h. das zu Beweisende im Beweis selbst voraussetzen]; die Welt
auf den Kopf stellen: Eigentlichkeit und Individualität muß man sich verdienen: ich meine
eigene Eigentlichkeit nur, wenn ich mich unter dem Einfluß des „Ruf des Gewissens“ [sic!] mit
Entschlossenheit auf den Tod hin entwerfe als meine eigenste Möglichkeit. In diesem Moment
enthülle ich mich mir selbst in der Eigentlichkeit und hebe auch die anderen mit mir zum
Eigentlichen empor. Das empirische Bild, das die Heideggersche Intuition am besten
symbolisieren würde, ist nicht das des Kampfes [wie bei Hegels „Kampf um Anerkennung bis
zum Tod“], sondern das der Mannschaft. Der ursprüngliche Bezug des andern zu meinem
Bewußtsein ist nicht das Du und Ich, sondern das Wir, und das Heideggersche „Mitsein“ ist
nicht die klare und deutliche Position eines Individuums gegenüber einem andern Individuum,
ist nicht die Erkenntnis, sondern die dumpfe Gemeinschaftsexistenz des Mitspielers und seiner
Mannschaft, diese Existenz, die der Rhythmus der Ruder oder die regelmäßigen Bewegungen
des Steuermanns den Ruderern spürbar machen und die ihnen das gemeinsame Ziel, die zu
überholende Barke oder Jolle oder die ganze Welt (Zuschauer, sportliche Leistungen usw.), die
sich am Horizont abzeichnet, manifestiert. Auf dem gemeinsamen Hintergrund dieser
Koexistenz löst mich die schroffe Enthüllung meines „Seins-zum-Tode“ in ein absolutes
„gemeinsames Alleinsein“ heraus und erhebt zugleich die anderen bis zu diesem Alleinsein
empor. […] Sicher ist es verlockend, mich als einen zu verstehen, der sich durch den Elan seiner
Freiheit, durch die Wahl seiner einmaligen Möglichkeiten von dem undifferenzierten
Hintergrund des möglichen abhebt – und vielleicht enthält diese Konzeption einen wichtigen
Teil an Wahrheit. Aber sie ruft, wenigstens in dieser Form, beträchtliche Einwände hervor.
(ebd., S. 447 f.; Herv. im Original)
Hier macht Sartre recht deutlich die Nähe Heideggers zu einem faschistischen Menschenbild
und Gesellschaftsverständnis, aber auch zu einer protestantischen Innerlichkeitskonzeption,
wie sie Heidegger wohl von Kierkegaard übernahm, klar. Auch der berühmte Heideggersche
Begriff des „Seins zum Tode“ erregt seinen Widerspruch. Es ist für Sarte nichts weiter als ein
– in einer klar christlichen Tradition stehender – elaborierter Versuch, den Tod als meine
Möglichkeit zu verinnerlichen und ihm so seinen absurden Schrecken zu nehmen. Dabei steht
der Tod nach Sartre radikal außerhalb meines Lebens und ist die absolute Grenze, eben der
Tod, meiner Möglichkeiten. Wieder einmal vertauscht Heidegger meinen Tod – auf den mich
hin zu entwerfen zwecklos ist – mit dem Tod an sich. Zu dem Tod kann ich mich irgendwie
verhalten, doch nicht zu meinem wirklichen Tod, da er eben die absolute Grenze meiner
Subjektivität markiert.7
Es wäre angesichts dieser Passagen völlig verfehlt, Sartre auf eine Ebene mit Heidegger zu
stellen, so sehr er Heidegger auch für eine wissenschaftliche, rational verfahrende Analyse der
7 Vgl. das sehr lesenswerte Kapitel Mein Tod (ebd., S. 914 ff.)
menschlichen Existenz, die jener nur mit Geraune verklärt, fruchtbar gemacht hat. Freilich
bleibt ein Restverdacht bestehen. Sicherlich wird uns unsere Lektüre näheren Aufschluss über
die Beziehungen von Heidegger zu Sartre geben.
Heidegger zumindest erhoffte sich nach 1945 mit Hilfe Sartres als Philosoph rehabilitiert zu
werden. Er war als Nazi-Kollaborateur mit einem Lehrverbot belegt worden, war – zumindest
für wenige Jahre – in Deutschland öffentlich diskreditiert. „Am 28. Oktober bot er ihm
[Sartre] brieflich eine philosophische Zusammenarbeit an, um gemeinsam ‚das Denken
wieder auf einen Punkt zu bringen, von dem her es selbst als ein Grundgeschehen der
Geschichte erfahrbar wird und den heutigen Menschen in einen ursprünglichen Bezug zum
Sein bringt.’“ (Geier 2005, S. 124) Am 29. Oktober hielt Sartre den viel besuchten und
begeistert rezipierten Vortrag Der Existenzialismus ist ein Humanismus in Paris, auf dem der
Text basiert.
Zu dieser Kooperation kam es jedoch nicht, die Antwort Sartres ist nicht bekannt. Zu tief
greifend sind eben die philosophischen Differenzen zwischen beiden Existenzphilosophen.
Sicherlich ging es auch Sartre um eine Revision vieler unserer Ansichten über unsere eigene
Existenz – doch davon, „den heutigen Menschen in einen ursprünglichen Bezug zum Sein“ zu
bringen, ein an vielen Heidegger-Stellen sehr deutlich als religiös ausgewiesenes
Unterfangen8, kann bei Sartre keine Rede sein. Sartre erzählt keine Geschichte Jahrtausende
währender Entfremdung von irgendwelchen „Ureinsichten“, sondern sein Ausgangspunkt ist
der – in der Aufklärung vollendete – „Tod Gottes“ als Chance, ein neues Menschenbild und –
damit verbunden – eine neue Ethik der Freiheit zu begründen. Auch die These, dass das
Denken das „Grundgeschehen der Geschichte“ sei, ist mit einer materialistischen
Geschichtsauffassung, wie sie Sartre auf seine eigene Art durchaus vertrat, unvereinbar.
Am 23.11. 1946 schrieb Heidegger schließlich an den französischen Philosophen Jean
Beaufret den später veröffentlichten Brief über den Humanismus, in dem er seine eigene
Philosophie darlegt, sich aber auch klar von Sartres – und speziell der Heidegger-Rezeption
Sartres – distanziert.
8 So etwa das Fazit von Was ist Metaphysik?: „Die Philosophie kommt nur in Gang durch einen eigentümlichen Einsprung der eigenen Existenz in die Grundmöglichkeiten des Daseins im Ganzen. Für diesen Einsprung ist entscheidend: einmal das Raumgeben für das Seiende im Ganzen; sodann das Sichloslassen in das Nichts, d.h. das Freiwerden von den Götzen [sic!], die jeder hat und zu denen er sich wegzuschleichen pflegt; zuletzt das Ausschwingenlassen dieses Schwebens, auf daß es ständig zurückschwinge in die Grundfrage der Metaphysik, die das Nichts erzwingt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ (Heidegger 1992, S. 42)
Heute scheint Heidegger Recht bekommen zu haben: seine Ontologie hat Sartres
Existenzialismus bei weitem an Einfluss übertroffen. Die Frage ist, ob diese Entwicklung
berechtigt ist, oder ob sie genau in den fragwürdigen Implikationen gründet, die bereits Sartre
an Heidegger erahnte.
Literatur:
- Geier, Manfred: Martin Heidegger. Hamburg 2005.
- Heidegger, Martin: Was ist Metaphysik? Frankfurt a. M. 1992.
- Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Hamburg 2009.