G. Meinert: Die Kunst das Chaos zu regieren E. Schmidt-Kallert: Pendeln zwischen Stadt und Land
M. Schütze/G. Robleto: Konflikte um Wasser
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politische ökologie114
MegacitysRisikolebensräume mit Zukunft
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Inhalt
Stadtgeflüster
6 Einstiege
Die Lichter der Großstadt
12 Riskiert die Megastadt sich selbst?
Herausforderung Mega-Urbanisierung
Von Günter Mertins
16 Die Heimat im Herzen
Beziehungen zwischen Stadt und Land
Von Einhard Schmidt-Kallert
19 Alles eine Frage der Kommunikation
Die Gestaltungsräume
städtischer Regierungskunst
Von Günter Meinert
Megacitys Risikolebensräume mit Zukunft
Solarpolis
42 „Die Slumbewohner in Dharavi
oder anderswo sind froh, wenn sie der
Staat in Ruhe lässt.“
Heimat und Arbeitsplatz Slum
Ein Interview mit Britta Petersen
44 Megacity mit Zukunft gesucht!
Aus der Forschungspraxis
Von Dirk Heinrichs
47 Nicht Fluch, sondern Segen
Die sozial und ökologisch gerechte Stadt
Von Bernhard Stratmann
50 Laboratorien der Zukunft?
Megastädte von morgen
Von Frauke Kraas und Harald Sterly
Urbane Hölle
24 Gib dem Monster Fläche!
Landverbrauch und -versiegelung
Von Trudy Maria Tertilt
28 Leuchtkraft in Gefahr
Städtische Energieversorgung
Von Heike Schroeder
31 Die Lebensader versiegt
Wasserversorgung in Megacitys
Von Manfred Schütze und Gloria Robleto
34 Nachhaltigkeit auf dem Standstreifen
Stadt- und Verkehrsentwicklung
Von Oliver Schöller-Schwedes
37 Armutsbekämpfung oder
Bekämpfung der Armen?
Leben im Slum
Von Almuth Schauber
politische ökologie 114 *Megacitys
5
Inhalt
Rubriken
3 Editorial
71 Erratum
72 Reaktionen
73 Vorschau/Impressum
Impulse
53 Projekte und Konzepte
Informell, aber nachhaltig –
privatisiert, aber katastrophal
Abfallwirtschaft in Kairo
Energie- und Klimastrategie für Gauteng
EnergKey
57 Medien
Spektrum Nachhaltigkeit
62 Multitasking
gegen die Leerverkäufe im Treibhaus
Finanzkrise
Von Günther Bachmann
64 Die Alternative fällt vom Himmel
Drogenanbau in Afghanistan
Von Helmut Burdorf und Dirk Reinecke
67 Wissenschaft, nein danke
Nachhaltigkeit in den österreichischen Medien
Von Martina Erlemann, Markus Arnold
und Karin Chladek
69 Es werde Schatten
Lichtverschmutzung
Von Peter Hettlich und Rüdiger Herzog
politische ökologie 114 *Megacitys
schaften in der Hochphase der europäi-schen Urbanisierung während der Jahr-hundertwende vom 19. zum 20. Jahrhun-dert als den Untergang des Abendlandes.Vor diesem historischen Erfahrungshin-tergrund überrascht es dann allerdings,wenn heute vor allem europäische Beob-achter(innen) Megastädte oftmals als völlig neue Form urbaner Entwicklungwahrnehmen. Dafür verantwortlich sindvor allem drei Aspekte. Erstens die un-glaubliche Geschwindigkeit, mit der sichzuvor oftmals ländliche Regionen in ur-bane Agglomerationsräume verwandeln.Während die europäische Stadtentwick-lung auf eine Jahrhunderte währende Tra-dition zurückblickt, entstehen in China, In-dien, aber auch in Afrika innerhalb weni-ger Jahrzehnte urbane Megazentrengleichsam aus dem Nichts. Zweitens voll-ziehen sich Entwicklungsprozesse, die inEuropa nacheinander folgten und aufei-nander aufbauten, nun zeitgleich. So gehtdie forcierte Urbanisierung der Städtenicht selten mit der Verstädterung undMobilisierung ländlicher Gebiete einher.Drittens schließlich sind die Dimensionender Entwicklung aus europäischer Sichtkaum vorstellbar. Die schiere Größe derheutigen Stadt- und Verkehrsprojekte inMegastädten ist in keinem europäischenLand zu keiner Zeit auch nur annähernderreicht worden. Dementsprechend ste-hen die Megastädte vor gewaltigen He-rausforderungen, die verglichen mit allemhistorisch Bekannten als überdimensio-niert zu bezeichnen sind. Eine genauereBetrachtung, die sich nicht von demdurch eine eurozentristische Perspektive
hervorgerufenen, exotischen Schein blen-den lässt, legt Entwicklungsmuster frei.Das lässt sich besonders gut an einer Me-tropole wie Kairo zeigen, die als orientali-sche Stadt einen dezidierten Gegenent-wurf zur europäischen Stadt darstellt.
Westlicher Städtebau als VorbildWie die meisten Megastädte fungiertauch die Hauptstadt Ägyptens als Motorfür die Entwicklung des gesamten Landes.Mit ihren offiziell 15 Millionen Menschenbeherbergt Kairo ein Fünftel der Gesamt-bevölkerung des Landes und rund dieHälfte der Stadtbevölkerung. Inoffiziell le-ben in der Agglomeration Kairos aller-dings schon heute schätzungsweise 25Millionen Menschen.Im Zuge der rasanten Bevölkerungsent-wicklung seit Beginn des 20. Jahrhun-derts ist die typisch orientalische Stadt, inder es kompakte, autarke Hofeinheitengab, von einem Urbanisierungsprozess er-griffen, der die traditionellen Stadtstruk-turen weitgehend überformt respektiveverdrängt hat. Ähnlich wie in vielen Städ-ten der westlichen Industrieländer be-wegten sich die Bewohner(innen) wäh-rend einer ersten Phase der Suburbanisie-rung mit der Straßenbahn fort. (1) Im Jahr1917 gab es bereits 30 Linien, die dazudienten neu errichtete, periphere Wohn-siedlungen an die Kernstadt anzubinden.Mit dem Aufkommen des Automobilssetzte eine zweite Phase der Suburbani-sierung ein, die dazu führte, dass sichMenschen zunehmend zwischen den Sied-lungsachsen entlang der Straßenbahnli-nien häuslich niederließen. Etwa seit
politische ökologie 114 *Megacitys34
Stadt- und Verkehrsentwicklung
Nachhaltigkeit auf dem Standstreifen
Urbane Hölle
Auch wenn manche Stadtpla-ner(innen) Stadt und Verkehr gerne als un-versöhnliche Gegensätze thematisieren:Historisch gingen Urbanisierung und Mo-bilisierung immer Hand in Hand – Städtesind ohne Verkehr nicht denkbar! Dabeihandelt es sich freilich um ein ambivalen-tes Verhältnis, das ständig neu zu regelnist. Während Stadtentwicklung grundsätz-lich auf Verkehrsentwicklung angewiesenist, hat sich der Verkehr in besonders dy-namischen Entwicklungsphasen oftmalsgegen die Stadt und ihre Bewohner(innen)gewandt. So interpretierten die Menschendie rasante Mobilisierung der Stadtgesell-
Von Oliver Schöller-Schwedes
Unfälle, Staus, ohrenbetäubender Lärm
und Smog sind typisch für die Verkehrs -
situation in Megastädten wie Kairo. Von
einer nachhaltigen Steuerung fehlt jede
Spur. Damit die Ampel für einen men-
schen- und umweltschonenden Verkehr
auf Grün schaltet, muss sich zunächst auf
sozialpolitischer Ebene einiges ändern.
35politische ökologie 114 *Megacitys
ausgelöst und die Großsiedlungen ihrer ei-gentlichen Bestimmung als Entlastungs-städte für das Stadtzentrum enthoben. Nach einer Phase der planvollen, an west-lichen Leitbildern orientierten Stadtge-staltung vollzieht sich die EntwicklungKairos seit den 1980er-Jahren weitgehendunreguliert. So gelang es weder die Sied-lungsexpansion auf bestimmte Zentren zukonzentrieren um einer ausufernden Ent-wicklung entgegenzuwirken noch war esmöglich sie auf die im Osten gelegenenWüstengebiete zu beschränken, um so diefruchtbare Agrarregion im Westen zuschützen. Die Folge: Die Stadt allein kannihre Bevölkerung nicht mehr ernähren.
„Fliegende Särge“ und zum Schneiden dicke Luft Seitdem sich der Staat immer mehr ausdem Wohnungsbau zurückgezogen hat,sind in den letzten Jahrzehnten riesige in-formelle Siedlungsgebiete entstanden, indenen mittlerweile mehr als die Hälfte derBevölkerung Kairos lebt. Und ebenso plan-los wie die Stadtentwicklung vollzieht sichauch die einseitig auf dem motorisierten
Individualverkehr fußende Verkehrsent-wicklung. Im Zeitraum von 1982 bis 2004ist die Zahl der zugelassenen Pkws von330.000 auf 1,6 Millionen angewachsen.Insgesamt machen Pkws, Taxis und Sam-meltaxis rund 57 Prozent des gesamtenVerkehrsaufkommens aus; woraufhin sichdie verkehrsbedingte Luftverschmutzungin den letzten 25 Jahren verdreifacht hatund gemessen an den Standards der Welt-gesundheitsorganisation fast alle kriti-schen Schwellenwerte überschreitet. Dieexorbitant hohen toxischen Werte insbe-sondere der Feinstäube finden ihren Nie-derschlag auch in ständig zunehmendenAtemwegserkrankungen der Hauptstädte -r(innen) und Fällen von Lungenkrebs.Die quantitative Überlastung des Ver-kehrssystems führt nicht nur zu Luftver-schmutzung und Lärm. Aufgrund der allzurasanten Entwicklung herrschen verhee-rende Verhältnisse auf den Straßen. Sosind etwa die Kairoer Taxifahrer für ihrerücksichtslose Fahrweise berüchtigt, die zuzahlreichen schweren Unfällen führt, wes-halb der Volksmund Taxis auch als „flie-gende Särge“ bezeichnet. Am Beispiel der
1950 wuchs der motorisierte Individual-verkehr schließlich schneller als die Be-völkerung, während Kairos Stadtverwal-tung den Ausbau des öffentlichen Ver-kehrs zunehmend vernachlässigte. Um zu einer Entlastung der Innenstadtbeizutragen, die weder die Wohnungs-nachfrage befriedigen konnte noch daswachsende Verkehrsaufkommen zu be-wältigen vermochte, orientierte man sichin den 1960er- und 70er-Jahren am mo-dernen westlichen Städtebau und errich-tete im Stile des industriell gefertigtenMassenwohnungsbaus Satellitenstädtevor den Toren Kairos. Doch ebenso wie inden Industrieländern zogen die Angehö-rigen der Mittelschicht, sobald sie es sichleisten konnten, in Eigenheimsiedlungenin der Peripherie. Die wachsende Auto-mobilisierung unterstützte diese Entwick-lung und führte zudem dazu, dass dieGroßsiedlungen nicht, wie ursprünglichgeplant, durch den Schienenverkehr mitdem Zentrum verbunden wurden, weil diePendler täglich mit ihrem privaten Pkwzur Arbeit fuhren. Dies hat eine nicht-nachhaltige Verkehrsentwicklung in Kairo
Urbane Hölle
_ Trotz Plausch auf der Stadtautobahn: Kairos Straßen gehören dem motorisierten Individualverkehr.
politische ökologie 114 *Megacitys36
Urbane Hölle
Wie überleben Sie im Mega -
stadtdschungel?
Gar nicht! Da mir seine Gesetze
weitgehend fremd sind, würde
ich wohl zur Beute.
Zum Autor
Oliver Schöller-Schwedes, geb. 1967, arbeitet seit
2008 als Hochschulassistent am Fachgebiet In-
tegrierte Verkehrsplanung der TU Berlin mit den
Forschungsschwerpunkten Stadt- und Verkehrs-
politik. Davor promovierte er zum Westdeutschen
Großsiedlungsbau der 1960er- und 70er-Jahre
und war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Pro-
jektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum
Berlin für Sozialforschung.
Kontakt
Dr. Oliver Schöller-Schwedes
Technische Universität Berlin
Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung
Salzufer 17-19
D-10587 Berlin
Fon ++49/(0)30/314 -787 67
Fax ++49/(0)30/314 -278 75
E-Mail [email protected]
www.verkehrsplanung.tu-berlin.de
meist aus ärmeren Bevölkerungsteilenstammenden Taxifahrern zeigt sich einweiteres Dilemma: Noch können sichauch Ärmere ein Taxi leisten, weil die Fah-rer meist weder ausgebildet sind nochsich neuere abgasärmere Autos kaufenkönnen. Doch mittlerweile drängen priva-te Taxiunternehmen mit gut ausgebilde-ten Fahrern und klimatisierten Autos fürWohlhabende auf den Markt. Ohne Ein-fluss der öffentlichen Hand wird es zu ei-nem Verdrängungswettbewerb kommen,der die arme Bevölkerung in noch stärke-rem Maße als bisher zur Immobilität ver-dammt und damit vom städtischen Lebenausschließt.
Ungleichheit und VerkehrskollapsDer wesentliche Grund für Kairos größ-tenteils planlose und chaotische Stadt-und Verkehrsentwicklung ist freilich dieungelöste soziale Frage. Indem es den po-litisch Verantwortlichen bis heute nichtgelungen ist, die Armen ins städtische Ge-samtgefüge zu integrieren, verhalten sichdiese notgedrungen als Fremdkörper. Ihreinformelle Siedlungs- und Verkehrsent-wicklung ist einer planvollen Steuerungnicht zugänglich und macht jedes städte-bauliche Gestaltungskonzept von vorn -herein zur Makulatur. Staatliche Regulie-rungsmaßnahmen im Sinne einer nach-haltigen Stadt- und Verkehrsentwicklungwurden in der Vergangenheit immer wie-der durch das unkontrollierbare Siedlungs-und Mobilitätsverhalten der Bevölkerungkonterkariert. Von Kairos Bevölkerung einanderes Verhalten zu erwarten, erscheintsolange als unrealistisch wie die täglichenGrundbedürfnisse nicht befriedigt werdenkönnen. Auch diesbezüglich offenbartsich mithin eine Parallele zur Stadt- undVerkehrsentwicklung in den westlichen In-dustrieländern – Umweltschutz muss mansich leisten können wollen (vgl. S. 19 ff.).Die prekäre Verkehrssituation in Kairosteht exemplarisch für die Megastädte inden aufstrebenden Entwicklungsländern.Stau, Luftverschmutzung und hohe Un-fallrisiken resultieren nicht aus techni-schem Unvermögen, sondern sind das Er-gebnis sozialer Disparitäten. Diese Ent-
wicklungsblockade ist daher auch nichtmit den klassischen verkehrsplanerischenInstrumenten aufzulösen. (2) Vielmehr be-darf es zunächst einer politischen Lösung,die auf eine gerechte Verteilung der Res-sourcen zielt. Damit der Verkehr eine so-zial integrative Funktion erfüllen kann,muss der Bevölkerung die Möglichkeit ge-sellschaftlicher Teilhabe eröffnet werden.Das Leben von Menschen auf engstemRaum gelingt nur auf der Basis eines Min-destmaßes demokratischer Partizipation.Daran aber scheint das autoritäre Regimein Ägypten kaum interessiert zu sein. Eshat bis heute nicht verstanden, dass die(nachhaltige) Planung von Stadt- und Ver-kehrsentwicklung erst dann möglich ist,wenn man den Großteil der Bevölkerung,der heute aus der Stadtgesellschaft aus-geschlossen ist, einbezieht und ausgewo-gene sozialpolitische Verhältnisse her-stellt. Diese können heute allerdings nichtmehr allein auf nationalstaatlicher Ebeneerreicht werden. Dafür sind diese Städteviel zu sehr an die internationalen Ent-wicklungstrends gekoppelt. Die notwen-dige soziale und politische Integration derMegastädte muss heute global gedachtwerden. Hier beginnt die politische Ver-antwortung der entwickelten kapitalisti-schen Gesellschaften.
Anmerkungen(1) Unter Suburbanisierung versteht man die Aus-dehnung der Großstädte durch eigenständige Vor-orte und Trabantenstädte. (2) Als Beispiel für diese seit Jahrzehnten immergleiche und gleichermaßen erfolglose Planerpers -pektive vgl. Newman, Peter/Beatley, Timothy/Boy-er, Heather (2008): Resilent Cities. Responding toPeak Oil and Climate Change. Washington.