Friederike Lampert Tanzimprovisation
T an z S c r i p t e I hrsg. von Gabriele Brandsteuer und Gabriele Klein I Band 7
Friederike Lampert (Dr. phil.), Theaterwissenschaftlerirr und Choreographin, studierte Ballett an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Frankfurt a.M. sowie Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sie arbeitete zehn Jahre lang professionell als Tänzerin. 2002-2006 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Dr. Gabriele Klein am Fachbereich Bewegungswissenschaft, Performance Studies, an der Universität Harnburg und lehrte dort Theorie und Praxis von Tanz. Sie promovierte am Institut für Theaterwissenschaft an der FU Berlin (Prof. Dr. Gabriele Brandsteuer). Außerdem wurde sie ausgezeichnet mit dem Tanzwissenschaftspreis NRW 2oo6.
fRIEDERIKE LAMPERT
Tanzimprovisation
Geschichte- Theorie - Verfahren- Vermittlung
[transcript]
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:j fdnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung & Innenlayout Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Amanda Miller, >>Paralipomena« (2005);
© Joachim Hirschfeld, Freiburg Lektorat & Satz: Friederike Lampert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 978-3-89942-743-1
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de
Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Verortung der Tanzimprovisation
Fragestellung und Ziel
Stand der Forschung
Methode und Material
Choreographie und Improvisation: Begriffsbestimmung
1. Geschichten
1.1. Suche nach Authentizität und Ursprung: Improvisation im Ausdruckstanz
1.2. Cunningham, Halprin, Dunn:
9
13
13
16
17 24 29
45
45
Improvisation als Experiment und Bewegungsforschung 56
1.3. Spiel und Spontaneität: Improvisation als Live-Kunst 68
1.4. Eine andere Art von Geometrie freilegen: Improvisation im Ballett 76
1.5. Angeleitete kollektive Forschungsarbeit: Improvisation im Tanztheater 83
1.6. Konzept-Tanz und Baustelle ,Körper': Improvisation im reflexiven Postmodern Dance 86
1.7. Zusammenfassung 93
2. Theorie 97 2.1. Körper-Diskurs 98 2.2. Tanztechnische Körper 106
Ballett 108 Moderner Tanz 110 Postmodern Dance 115 Zeitgenössischer Tanz 117
2.3. Habitualisierte Körper 118 Tanz als Kunst-Feld 118 Habitus 120 Tänzerischer Habitus und Improvisation 122 Verschiebungen im mimetischen Prozess 125
2.4. Der Prozess der Erneuerung 127 Der Rest von Unbestimmbarkeit 128 Destabilisierung des Alten durch Zufall 130 Bewegungswechsel zwischen Ordnung und Chaos 133 Improvisation als ständiges Fallen 135 Ernergente Bewegungsabläufe 138
2.5. Zusammenfassung 142
3. Verfahren 145 3.1. Improvisation in der vorbestimmten Struktur:
Systematisierter Zufall bei Trisha Brown 145 3.2. Improvisation als politische Transformation:
Contact Improvisation 151 3.3. Live-Strukturierung durch Informationsfluss:
Echt-Zeit-Choreographie bei William Forsythe 158 3.4. Improvisation als Interpretation:
Schwebendes Gleichgewicht bei Amanda Miller 164 3.5. Improvisation, um zu verblassen:
Neue Verbindungen bei Jonathan Burrows 169 3.6. Zusammenfassung 174
4. Vermittlung 175 4.1. Die Kunst der Kombinatorik 179
The responsive body 180 Problemlösung 181 Schnelles Denken 182 Schnelles Tanzen 183 Imagination 183
4.2. Improvisationsgrade 184 Imitation 187 Interpretation 188 Verkettung 188 Geplante Improvisation 189 Ungeplante Improvisation 190
4.3. Unterrichtskonzept 191 Die Neun-Punkte-Technik 192 Der Unterricht 195
Schluss 199
Literatur 203
Filme/Videos 217
Abbildungen 219
Vorwort
Im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert steht die Improvisation im westlichen künstlerischen Tanz hoch im Kurs. Betrachtet man Workshop-Programme der renommierten zeitgenössischen Tanzfestivals, so begegnen einem Kursangebote wie instant instinct, contact improvisation,
Solo-Improvisation, Technique of Simplicity, The Art of Forgetting, Flying
Low und Improvisation for Performers. Dieses Angebot der Weiterbildung für professionelle Tänzer1 verdeutlicht, dass improvisatorische Verfahren schon längst im zeitgenössischen Choreographieren verwoben sind und neue improvisatorische Fähigkeiten und Kenntnisse der Tanzenden die Ästhetik des zeitgenössischen Tanzes auszeichnen.
Tänzerische Improvisation als Aufführungspraxis ist in den 1980er und 1990er Jahren mehr und mehr Bestandteil von Tanzaufführungen und choreographischen Systemen. Es werden nicht mehr nur fest einstudierte Choreographien den Zuschauern präsentiert, sondern mitunter stellt sich live improvisierter Tanz als künstlerisches Ereignis dar. Was sich dabei als neuartig für die Arbeit des Choreographen herausgestellt hat, ist nicht etwa das Improvisieren als kreatives Mittel zum Choreographieren zu nutzen - dies ist selbstverständlich immer Bestandteil des choreographischen Prozesses und des Tanzens an sich -sondern der systematische Umgang mit Improvisation, sei es im Rahmen der Live-Aufführung oder im analytischen Erforschen und Erweitern der Bewegungsquellen. Improvisatorische Verfahren kennzeich-
1 In dieser Arbeit wird aus pragmatischen Gründen durchgehend die männliche Form verwendet.
9
TANZIMPROVISATION
nen die Arbeiten von zeitgenössischen Choreographen, die die Ästhetik
des Tanzesam Anfang des 21. Jahrhunderts entscheidend prägen, wie etwa William Forsythe, Boris Charmatz, Amanda Miller, Xavier le Roy, Meg Stuart, Jonathan Burrows, um nur wenige zu nennen. Sie alle be
ziehen sich und profitieren von den Choreographen des Postmodern Dance, wie etwa Steve Paxton und Trisha Brown, die in den 1960er und
1970er Jahren das Verständnis von Choreographie durch neue Verfahren, insbesondere der Improvisation und des systematisierten Zufalls, erweiterten.
Das Thema des vorliegenden Buches stellte sich aus der Praxis heraus. Während meiner Arbeit als Tänzerin (u.a. mit der Choreographin Amanda Miller) wurde ich immer wieder mit der Improvisationspraxis
konfrontiert. Dabei erfuhr ich das kreative Potenzial der Improvisation als choreographisches Verfahren und insbesondere die Wichtigkeit der
"Kunst des Improvisierens" sowie den systematischen Umgang mit Improvisation im Rahmen der Aufführung. Mit dem Thema der hier vorliegenden Dissertation, die Improvisationspraxis im Tanz in einen wissenschaftlichen Kontext zu setzen, wollte ich vor allem deutlich machen,
dass künstlerische Improvisation ein Handwerk ist, welches dazu befähigt spontan nach choreographischen Prinzipien zu komponieren. Die weitere Aus
einandersetzung forderte den Wandel der Bedeutung von Improvisation im Tanz anhand der jüngeren Geschichte des Tanzes auszuarbeiten und die Formenentstehung der Improvisation mit theoretischen As
pekten zu verbinden. Zudem kommen exemplarisch verschiedene improvisatorische Verfahren und die Vermittlung von Tanzimprovisation
in den Blick. Durch diese Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte der Improvisation im Tanz habe ich versucht ein komplexes Geflecht über Improvisation entstehen zu lassen und durch diese Herangehensweise
dem Begriff der Tanzimprovisation gerecht zu werden. So ist es mein Anliegen mit diesem Buch den Begriff der ,Tanzimprovisation' neu zu verhandeln und einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich zu ma
chen. Mein Dank gilt insbesondere meinen Betreuerinnen Prof. Dr. Ga
briete BrandsteUer und Prof. Dr. Gabriele Klein, die mir immer motivierend zur Seite standen, Prof. Dr. Ursula Renner-Henke, die mir dazu
verhalf mit der Dissertation zu beginnen, der Förderung für Nach
wuchswissenschaftlerinnen von der Albert-Ludwig-Universität Freiburg durch ein Stipendium (HSP 3), Amanda Miller und meinen Kollegen der Pretty U gly Dancecompany durch die ich so wertvolle Praxis
erfahrung gesammelt habe, Tänzer und Choreographen, mit denen ich
10
VORWORT
intensive Gespräche über Improvisation geführt habe: Pim Boonprakob, Jonathan Burrows, Anouk van Dijk, Vitor Garcia, Rick Kam, Jennifer Grisette, Jenny Haak, Nik Haffner, Deborah Jones, Michael Schumacher und Martin Sonderkamp. Ebenso gilt mein Dank Imke Schmincke und Malte Friedrich für ihre aufmunternde Kritik und nicht zuletzt Melanie Haller, die mich in der Endphase durch Korrekturlesen sehr unterstützte.
11
Einleitung
Verortung der Tanzimprovisation
Der Terminus ,Improvisation' kommt von dem lateinischen Wort ,improvisus' und bedeutet: nicht vorhergesehen, unvermutet. Die Wörter
,improvvisare' (ital.), aus dem Stehgreif dichten, und ,improviser' (frz.) ,reden' gehen auf das Wort ,improvisation' (seit 1807) zurück. Der Be
griff ,Improvisation' wurde im 19. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche übernommen und verdrängte dann zunehmend den Begriff der ,Stehgreifdarbietung'.l Die Hauptgebiete der Improvisation sind Musik, Malerei, Theater und Tanz.
In der Musik sind verschiedene Formen der Improvisation zu finden. Sie wird in einer festgefügten Form praktiziert, wie etwa in Variation, Fuge, Kadenz und Choralbearbeitung, wie auch in ,freieren' For
men wie in der Zufallsmusik, Aleatorik und der Indetermination. Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit
dem Begriff der Improvisation im Hinblick auf die Entstehung ,offener Kunstwerke'. Komponisten wie John Cage, Boulez und Stockhausen ex
perimentierten mit neuen Kompositionsformen und fanden jeweils ver-
1 Vgl. Heide Eilert: Improvisation, in: Harald Fricke/u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II. Berlin/ u.a.: de Gruyter 2000, S. 140-142, hier S. 140.
13
TANZIMPROVISATION
schiedene kompositionstheoretische Ansätze im Umgang mit Improvisation.2
Im Theater wird die Improvisation als das spontane, freie Spiel ohne oder mit wenig Vorgaben charakterisiert. Sie erscheint in Theaterformen wie den Volkskomödien der Antike, in den Zwischenspielen des mittelalterlichen Dramas, der Commedia dell' Arte und im StehgreifspieL Durch das fixierte Literaturtheater und der auftretenden Tendenz zur Texttreue im 18. und 19. Jahrhundert trat die Improvisation in den Hintergrund und wurde erst wieder durch die bildende Kunst der Avantgarde im 20. Jahrhundert als Stilmittel für offenere Theaterformen interessant} Die Künstler des Dadaismus und Surrealismus entfalteten in ihren Experimenten die Improvisation und den Zufall als Kunstform. Man denke hier beispielsweise an die spontanen Lautgedichte und improvisierten Maskentänze der Dadaisten im Cafe Voltaire oder die von Andre Breton entwickelte surrealistische Technik der ecriture automatique.4 Dieser künstlerische Umgang mit dem Zufall mündete in der Performance-Kunst der 1960er und 1970er Jahre, bei der die Grenzen der verschiedenen Künste - sei es Malerei, Musik, Schauspiel, Tanz -überschritten wurden. Für die Abstrakten Expressionisten, Action-Painting-Künstler (z.B. Jackson Pollock) oder die FluxusBewegung (z.B. Joseph Beuys) war improvisatorisches Arbeiten unverzichtbar, welches nicht die Kunst, sondern den künstlerischen Vollzug dieser - den Prozess als Kunst- herausstellte.
Während im traditionellen Schauspieltheater die Improvisation vor allem ein grundlegendes Mittel für die Rollenerarbeitung und somit wichtiger Bestandteil der Schauspielausbildung ist, haben sich auch auf Live-Improvisation spezialisierte Improvisationstheater gebildet. Keith Johnstone prägt für eine besondere Form der Theaterimprovisation den Begriff , Theatersport' .s Improvisationstheater geht auf die Prinzipien
2 Vgl. Sabine Feist: Der Begriff ,Improvisation' in der neuen Musik, Sinzig: Schewe 1997. In dieser Studie veranschaulicht Sabine Feist den Facettenreichtum und die verschiedenen Bedeutungszumessungen des Begriffes der Improvisation in der neuen Musik.
3 Vgl. H. Eilert: Improvisation, S. 141. 4 Eine ausführliche Arbeit über die Künste des Zufalls im 20. Jahrhundert
liefert Holger Schulze mit seiner Dissertation: Das aleatorische Spiel: Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München: Fink 2000.
5 Die Schauspieltheorien von Konstantin S. Stanislawski sind grundlegend für improvisatorische Trainingsmethoden, welche später durch Lee Stras-
14