Unverkäufliche Leseprobe aus:
Jennifer Niven
Stell dir vor, dass ich dich liebe
Untertitel
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L I BBY
Wenn meine Nachttischlampe funktionieren würde wie Aladins
Wunderlampe, würde ich mir diese drei Dinge wünschen: dass
meine Mutter noch am Leben wäre, dass nie wieder etwas Schlim
mes oder Trauriges passiert und dass ich ein Mitglied der Martin
vanBurenHighschoolDarlings wäre, dem besten Tanzteam in der
Region.
Aber was, wenn die Darlings dich nicht wollen?
Es ist 3 . 38 Uhr, und meine Gedanken flitzen so wild umher
wie mein Kater George, als er klein war. Plötzlich klettert mein Ge
hirn an den Vorhängen hoch und schwingt sich aufs Bücherregal.
Und dann sitzt es vorm Aquarium, die Pfoten auf dem Glasrand
und die Nase unter Wasser.
Ich liege auf dem Bett und starre in die Dunkelheit, und meine
Gedanken turnen durchs Zimmer.
Was, wenn du wieder in die Falle gerätst? Wenn sie die Tür der
Cafeteria oder die Wand im Waschraum einreißen müssen, um dich
zu befreien? Was, wenn dein Dad wieder heiratet und dann stirbt und
du bei seiner neuen Frau und den Stiefgeschwistern bleiben musst?
Was, wenn du selbst stirbst? Was, wenn es keinen Himmel gibt und
du deine Mom nie wiedersiehst?
Ich befehle mir zu schlafen.
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Ich schließe die Augen und liege ganz still.
Ganz still.
Minutenlang.
Ich lege meine Gedanken neben mich und sage zu ihnen:
Schlaft, schlaft, schlaft. Aber sie kommen nicht zur Ruhe. Was,
wenn du zur Schule gehst und merkst, dass alles anders ist, dass
deine Mitschüler anders sind, und, egal, wie sehr du dich anstrengst,
du nie so gut sein wirst wie sie?
Ich öffne die Augen.
Mein Name ist Libby Strout. Ihr habt wahrscheinlich schon
von mir gehört. Vielleicht habt ihr das Video gesehen, wie ich aus
meinem eigenen Haus befreit wurde. Als ich das letzte Mal nach
geschaut habe, hatten 6 345 981 Menschen das Video gesehen. Die
Chancen stehen also nicht schlecht, dass ihr dabei seid. Vor drei
Jahren war ich Amerikas fettester Teenager. Ich wog zu meinen
schwersten Zeiten 296 Kilo, mit anderen Worten: Ich hatte etwa
226 Kilo Übergewicht. Ich war nicht immer fett. Die Kurzfassung
der Geschichte ist: Meine Mutter starb, und ich wurde fett. Aber im
Gegensatz zu ihr bin ich immer noch da. Die Schuld meines Vaters
ist mein Gewicht jedenfalls nicht.
Zwei Monate, nachdem ich aus unserem Haus befreit wurde,
zogen wir in ein anderes Viertel auf der anderen Seite der Stadt.
Heute kann ich das Haus wieder allein verlassen. Ich habe 140 Kilo
abgenommen. Das Gewicht von zwei vollständigen Menschen.
Ich habe immer noch knapp 90 Kilo vor mir, aber das ist in Ord
nung. Ich mag, wer ich bin. Erstens kann ich jetzt rennen. Und
Auto fahren. Und Klamotten im Einkaufszentrum kaufen, statt sie
irgendwo bestellen zu müssen. Und ich kann mich schnell im Kreis
drehen. Abgesehen davon, dass ich keine Angst mehr vor Organ
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versagen haben muss, ist das vielleicht das Beste im Vergleich zu
damals.
Morgen ist mein erster Schultag seit der fünften Klasse. Mein
neuer Titel lautet Elftklässlerin, was wesentlich besser klingt als
Amerikas fettester Teenager. Aber es fällt mir schwer, irgendetwas
anderes zu sein als VOL L KOM M EN V ER Ä NGSTIGT.
Ich rechne schon mit der nächsten Panikattacke.
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JACK
Caroline Lushamp ruft mich auf dem Handy an, kurz bevor mein
Wecker klingelt, aber ich lasse die Mailbox antworten. Ich weiß,
was es auch ist, es ist nichts Gutes, und es ist meine Schuld.
Sie versucht es dreimal, hinterlässt aber nur eine Nachricht.
Ich bin drauf und dran, sie zu löschen, ohne sie mir anzuhören,
aber was ist, wenn sie eine Panne hatte und Hilfe braucht? Im
merhin haben wir seit vier Jahren eine On /OffBeziehung. (Die Art
Paar sind wir. So ein ZusammengetrenntzusammenPaar, von
dem alle sagen, dass es früher oder später vor dem Traualtar lan
den wird.)
Jack, ich bin’s. Ich weiß, wir machen gerade Pause, aber sie
ist meine Cousine. Meine COUSIN E. Also echt, sie ist M EIN E
COUSINE, JACK! Wenn du dich an mir rächen wolltest, weil ich
Schluss gemacht habe, dann herzlichen Glückwunsch, du Pisser, du
hast es geschafft. Wenn du mich heute auf dem Gang oder in der Cafe-
teria oder IRGENDWO SONST AUF DER WELT siehst, sprich mich
bloß nicht an! Weißt du was, tu mir den Gefallen und fahr zur Hölle.
Drei Minuten später ist eine Nachricht von besagter Cousine
auf der Mailbox, und erst denke ich, sie weint, aber dann ist Caro
line im Hintergrund zu hören, und die Cousine fängt an zu krei
schen, und Caroline kreischt zurück. Ich lösche die Nachricht.
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Zwei Minuten später schreibt Dave Kaminski, um mich zu
warnen, dass Reed Young mir die Fresse polieren will, weil ich mit
seiner Freundin rumgemacht habe. Ich antworte: Du hast was bei
mir gut, Mann. Und das meine ich auch so. Ich zähle den Punkte
stand: Dave hat mir weit öfter geholfen als ich ihm.
So ein Aufstand wegen eines Mädchens, das Caroline ehrlich
gesagt so ähnlich sieht, dass ich – wenigstens anfangs – dachte, sie
sei es. Und das heißt doch auf irgendeine seltsame Art, dass Caro
line sich geschmeichelt fühlen sollte. Es war wie ein Geständnis an
die Welt, dass ich wieder mit ihr zusammen sein will, obwohl sie
mich in der ersten Ferienwoche abserviert hat, um was mit Zach
Higgins anzufangen.
Ich überlege, ob ich ihr das schreiben soll, aber dann schalte
ich mein Handy aus und schließe die Augen und versuche, mich in
die Zeit Anfang Juli zurückzuversetzen. Als ich nichts anderes zu
tun hatte, als meine Arbeit bei Masselins Spielwaren zu machen,
auf dem Schrottplatz herumzustöbern, an (umwerfenden) Projek
ten in meiner (grandiosen) Werkstatt zu basteln und mit meinen
Brüdern abzuhängen. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn es
nur Jack + Schrottplatz + grandiose Werkstatt + umwerfende Pro
jekte gäbe.
Du hättest niemals auf diese Party gehen dürfen. Du hättest
niemals etwas trinken dürfen. Du weißt, dass du dir nicht vertrauen
kannst. Meide Alkohol. Meide Menschenmengen. Meide Menschen.
Am Ende bringst du sie doch nur gegen dich auf.
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L I BBY
Es ist 6 . 33 Uhr, ich bin gerade aufgestanden und stehe vor dem
Spiegel. Es gab eine Zeit, vor etwas mehr als zwei Jahren, als ich
mich selbst nicht ansehen konnte oder wollte. Ich sah nur das ver
kniffene Gesicht von Moses Hunt, der mir über den Schulhof hin
weg zubrüllte: »Dich wird nie einer lieben, weil du fett bist!« Und
die Gesichter der anderen Fünftklässler, als sie zu lachen anfingen.
»Du verdeckst den Mond mit deinem Fett, Fetti Plauz, bleib doch
im Bett …«
Heute sehe ich hauptsächlich mich selbst – hübsches dun
kelblaues Kleid, Turnschuhe, halblange braune Haare, deren Farbe
meine liebe, aber leicht demente Großmutter einmal als »genau
wie das Fell von Hochlandrindern« beschrieben hat. Und das Spie
gelbild eines riesigen struppigen Wattebauschs von einer Katze.
George starrt mich mit seinen weisen goldenen Augen an, und
ich versuche mir vorzustellen, was er zu mir sagen würde. Vor vier
Jahren wurde bei ihm ein Herzfehler diagnostiziert, und man gab
ihm noch sechs Monate. Aber ich kenne ihn gut genug, um zu wis
sen, dass George ganz allein entscheiden wird, wann es Zeit für
seinen Abgang ist. Er blinzelt mich an.
Ich glaube, jetzt würde er mir befehlen zu atmen.
Ich bin richtig gut im Atmen geworden.
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Ich schaue auf meine Hände. Die Fingernägel sind zwar bis
zur Nagelhaut abgekaut, aber meine Hände sind ruhig. So erstaun
lich das auch ist, ich bin tatsächlich ziemlich ruhig, in Anbetracht
der Umstände. Ich stelle fest: Die Panikattacke ist nicht gekom
men. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Ich lege eine der alten
Platten meiner Mom auf und fange an zu tanzen. Tanzen liebe ich
mehr als alles andere, und Tanzen ist das, was ich in meinem Le
ben machen will. Ich hatte keinen Unterricht mehr, seit ich zehn
war, aber Tanzen liegt mir im Blut, und kein Trainingsrückstand
kann etwas daran ändern.
Ich sage mir: Vielleicht kannst du dieses Jahr bei der Aufnahme-
prüfung für die Darlings mitmachen.
Mein Gehirn zischt die Wand hoch, wo es zitternd hängen
bleibt. Was, wenn es nie dazu kommt? Was, wenn du stirbst, bevor du
irgendetwas Gutes oder Wundervolles oder Aufregendes erlebt hast?
In den letzten zweieinhalb Jahren habe ich mich einzig und
allein um mein Überleben gekümmert. Der Fokus jedes Menschen
in meinem Leben, einschließlich mir selbst, war: Wir müssen dafür
sorgen, dass es dir bessergeht. Und jetzt geht es mir besser. Also
was, wenn ich jetzt alle enttäusche, nachdem sie so viel Zeit und Ener-
gie in mich gesteckt haben?
Ich tanze wilder, um diese Gedanken zu verdrängen, bis mein
Dad an die Tür klopft. Sein Kopf erscheint im Türspalt.
»Du weißt ja, dass ich Pat Benatar bei voller Lautstärke so früh
am Morgen liebe, aber die Frage ist: Wie sehen das die Nachbarn?«
Ich stelle die Musik etwas leiser, aber ich tanze weiter. Als der
Song vorbei ist, krame ich einen Edding hervor und verziere einen
meiner Schuhe mit einem Zitat.
»Irgendwas kommt doch immer auf einen zu. Und selbst wenn
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es was Schlimmes ist, und du weißt, dass es was Schlimmes ist,
was willst du machen? Man kann nicht einfach aufhören zu
leben.« Truman Capote, »Kaltblütig«
Dann nehme ich den knallroten Lippenstift, den meine Großmutter
mir zum Geburtstag geschenkt hat, beuge mich näher zum Spiegel
und schminke mir die Lippen.
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JACK
Ich höre das Rauschen der Dusche und Stimmen im Erdgeschoss.
Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf, aber es ist zu spät – ich
bin wach.
Ich stelle mein Handy an und schreibe erst Caroline, dann
Kam, dann Reed Young. Ich sage, dass ich sehr betrunken war
(eine Übertreibung), dass es sehr dunkel war (war es) und dass
ich mich an nichts mehr erinnere, weil ich nicht nur betrunken,
sondern auch total fertig war. Bei mir zu Hause ist gerade die Kacke
am Dampfen, ich kann jetzt nicht drüber reden, aber wenn ihr großzü-
gig sein und mir vergeben könnt, werde ich euch das nie vergessen.
Der Teil mit der Kacke bei mir zu Hause ist jedenfalls nicht gelo
gen.
Für Caroline werfe ich ein paar Komplimente dazu und bitte
sie, sich bei ihrer Cousine für mich zu entschuldigen. Ich sage, ich
will es nicht selber tun, weil ich schon so ein Chaos angerichtet
habe und zwischen Caroline und mir nicht alles noch schlimmer
machen will. Auch wenn es Caroline war, die mich verlassen hat,
und auch wenn wir gerade gar nicht zusammen sind und auch
wenn ich sie seit Juni nicht mal mehr gesehen habe, krieche ich zu
Kreuze. Das ist der Preis, den ich dafür zahle, dass ich alle glück
lich machen will.
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Ich schleppe mich über den Flur ins Bad. Was ich mehr brau
che als alles andere, ist eine lange heiße Dusche, doch ich bekomme
nur ein warmes Rinnsal, gefolgt von isländischer Kälte. Sechzig
Sekunden später – länger halte ich es nicht aus – verlasse ich die
Dusche, trockne mich ab und stehe vor dem Spiegel.
Das also bin ich.
Das denke ich jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild sehe.
Nicht im Sinne von Wow, das bin ich, sondern eher Aha. Okay. Wen
haben wir denn da? Ich beuge mich vor und versuche, die Einzel
heiten meines Gesichts zusammenzusetzen.
Der Typ im Spiegel sieht nicht schlecht aus – hohe Wangen
knochen, kräftiger Kiefer, ein hochgezogener Mundwinkel, als
hätte er gerade einen Witz erzählt. Vielleicht fast irgendwie attrak
tiv. So, wie er den Kopf zurücklegt und durch halbgeöffnete Lider
in die Welt schaut, wirkt er, als sei er es gewohnt, auf andere he
rabzusehen, als wäre er schlau und wüsste das auch, und dann
geht mir auf, dass er in Wahrheit aussieht wie ein Arschloch. Abge
sehen von den Augen. Sie sind zu ernst, und es sind Ringe darun
ter, als hätte er nicht geschlafen. Er trägt dasselbe SupermanShirt,
das ich den ganzen Sommer lang anhatte.
Was bedeutet dieser Mund (die Leute sagen, den hätte ich von
Mom) zusammen mit dieser Nase (auch von Mom) und diesen Au
gen (eine Mischung aus Mom und Dad)? Meine Augenbrauen sind
dunkler als meine Haare, aber nicht so dunkel wie die von Dad.
Meine Haut ist mittelbraun, nicht so dunkel wie Moms und nicht
so hell wie Dads.
[…]