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Verwurzelung, Entfaltung und Erblühen – die Waldorfpädagogik im 21.
Jahrhundert.
Begleitendes Manuskript zum freien Vortrag am 20. März 2019, 19:00 Uhr,
Freie Waldorfschule Böblingen / Sindelfingen, Herdweg 163, 71032 Böblingen
Dr. Matthias Fechner, Nachwuchsgruppenleiter, DFG-Forschungsgruppe 2603, Fachbereich
II, Universität Trier
Prolog: Wissenschaft und Praxis
„Ja, sollte man sich als Erzieher nicht lieber auf den Standpunkt der gesunden Menschenempfindung
stellen, statt sich von einer abstrakten Wissenschaft her diktieren lassen zu müssen, was für die
Entwicklung des werdenden Kindes nötig ist? Und Sie haben recht mit einem solchen Einwand. …
Aber man kann auch nicht aus dem bloßen unentwickelten Menschenverstand und
Menschenempfinden heraus wirklich ein Erziehungskünstler werden. Man braucht etwas, was einem
Gesichtspunkte gibt.“
Rudolf Steiner, Aus welchem Geiste kann sich eine Erziehungskunst der Gegenwart entwickeln?
Stuttgart, 31. August 1919 (nachmittags), GA 297, S. 45
Wissenschaft und Praxis sind nicht identisch.
Dennoch gehen Vertreter der Erziehungswissenschaften in der Regel davon aus, dass an einer
Waldorfschule ausschließlich waldorfpädagogisch gearbeitet wird.1 Dazu wird vorausgesetzt, dass die
Waldorfpädagogik ein klar definiertes System darstellt, das sich seit 1919 kaum verändert hat. In
Wissenschaft und Alltag führt diese übernommene Perspektive bisweilen zu Frustrationen. Einerseits
decken sich – aus der kritischen Sicht von Erziehungswissenschaftlern wie Prange, Tenorth oder
Oelkers – die von ihnen wahrgenommenen Praxisausschnitte nicht mit einer Theorie, die sie darüber
hinaus noch als abstrus und teilweise manipulativ wahrnehmen.2 Zudem darf bezweifelt werden, ob
der Wissenschaftsbetrieb mit seinen sterilen Bedingungen – vor allem in der quantitativen
Sozialforschung – überhaupt in der Lage ist, differenzierte und konstruktive Aussagen über jegliche
1 Einen detaillierten Überblick auf diesen „schwierigen Dialog“ liefert Volker Frielingsdorf, Waldorfpädagogik in
der Erziehungswissenschaft, Weinheim und Basel, Beltz Juventa, 2012. Exemplarisch kann auch Konrad Fees‘ Geschichte der Pädagogik. Ein Kompaktkurs, Stuttgart, Kohlhammer, 2015 herangezogen werden. Obwohl Fees die Geschichte der Pädagogik tatsächlich durchnimmt, bleibt er an der Oberfläche und verrennt sich nicht nur im Kapitel über die Waldorfpädagogik in ideologischen Stereotypen. 2 Vgl. Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim und München, Juventa
Verlag, 2005, S. 331. Oelkers zählt die Waldorfpädagogik nur sehr bedingt zur Reformpädagogik. Diese Einschätzung begründet er vor allem mit dem – aus seiner Sicht – „starre(n) System“, der „Weltanschauung“ und der „Dogmatik, die auf einen charismatischen Stifter zurückgeführt wird.“ Gemeint ist mit dem „charismatischen Stifter“ vermutlich nicht der tatsächliche Stifter Emil Molt, sondern der Gründer Rudolf Steiner. Ansonsten bleibt unklar, auf welcher wissenschaftlichen Basis Oelkers‘ Einschätzung beruht, da seine Aussage ohne jegliche Quellenangabe gemacht wird. Zu erkennen ist dennoch deutlich, wie der – inzwischen emeritierte – Erziehungswissenschaftler in die Theoriefalle tappt. Alleine aus einer ungesicherten Annahme autoritativ abzuleiten, dass und wie Waldorfpädagogik in der Praxis der Steiner-Schulen unterrichtet wird, muss uns, wissenschaftlich betrachtet, als ein eher spekulatives Vorgehen erscheinen.
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Form von pädagogischer Praxis zu machen. „Die empirischen Studien“, argumentiert auch Siegfried
Däschler-Seiler, „entpuppen sich vielfach als selbstreferentielle Untersuchungen, für die es Geld und
Stellen gibt, die aber mit dem kommunikativen Geschehen, das wir Unterricht nennen, nichts oder
nur wenig zu tun haben.“3 Andererseits unterstellt eine Minderheit von Akteuren aus der
angewandten Pädagogik – Lehrer, Schüler, Eltern – der Praxis an Waldorfschulen gelegentlich
Fehlerhaftigkeit, wenn sie ihrer Auffassung der nun bald hundertjährigen Überlieferungen nicht
entsprechen sollte.
Selbstverständlich denken wir nicht auf allen Gebieten des Lebens derart fossil. Das Jubiläum der
Waldorfbewegung liefert immerhin einen Anlass, über Veränderungen im Bewusstsein der Menschen
nachzudenken. Die meisten von uns gehen davon aus, dass sich Schüler, Lehrer und Eltern heute
anders verhalten, als vor hundert oder noch vor knapp dreißig Jahren. Selbst im Gründungsjahr der
Böblinger Schule – 1990 – war die Welt eine andere, zehn Jahre vor der Jahrtausendwende. Damals
gab es noch zwei deutsche Staaten, umklammert von Warschauer Pakt und NATO. Die Menschen
benutzten Telefonzellen, warteten auf Luftpostbriefe, faxten Dokumente, überspielten die Musik
ihrer Schallplatten auf Audiokassetten. Im Mathematikunterricht wurde die Kalkulation mit dem
Rechenschieber gelehrt, und D-Züge hatten auch Nichtraucherwaggons. Zwei Jahre später
verkündete ein amerikanischer Historiker aus Harvard das wissenschaftlich gesicherte Ende der
Geschichte und den Endsieg der wirtschaftsliberalen Demokratie.4 Dennoch darf – ganz
unwissenschaftlich und recht allgemein – behauptet werden, dass sich die Welt in für uns relevanter
Weise wandelt, solange sie von Menschen bewohnt wird. Die Kommunikation, das Reisen, die
Annehmlichkeiten und Gefahren des Lebens, die gesamten Lebensverhältnisse ändern sich stetig.
Nachdenkliche Menschen haben vielleicht sogar die Gewissheit verloren, aus unseren gegenwärtigen
Lebensverhältnissen feste Regeln und Modelle ableiten zu können, die auch in hundert Jahren noch
Bestand haben werden. Warum sollten ausgerechnet Waldorfschulen, an denen sich viele
dynamische Lebenswege kreuzen, von diesen Veränderungen weniger berührt sein?
Teil I
Waldorfpädagogik: Ermunterung zum Einbringen eigener Erfahrungen
Betrachten wir vor diesem Hintergrund die – scheinbar klar definierte - Waldorfpädagogik etwas
näher. Nun verfüge ich nicht über die Zahlenkohorten der Empirie, die unschlagbare Phalanx der
modernen Wissenschaftlichkeit. Aber wir dürfen wenigstens annehmen, dass bereits in den Kollegien
vieler Waldorfschulen die verschiedensten biographischen Erfahrungen zusammenkommen,
selbstverständlich auch aus Ausbildung und Studium. Dort gibt es nicht nur reine Waldorflehrer, die
als Fachlehrer, Klassenlehrer oder Oberstufenlehrer selbst recht unterschiedliche pädagogische
Perspektiven vertreten dürften. Ebenso unterrichten an Waldorfschulen Gymnasial- und
Realschullehrer, Diplom- und Sozialpädagogen, Lehrer aus Russland und Deutschland, aus Japan und
Israel. Und vermutlich ist es unwahrscheinlich anzunehmen, dass diese Lehrer ihr gesamtes
Unterrichtsmaterial, ihre bisherige Methodik, ihre pädagogischen Erfahrungen mit dem
Unterzeichnen des Arbeitsvertrages entsorgt hätten.
3 Siegfried Däschler-Seiler, Von der pädagogischen Freiheit als Kern der Professionalität, in Unterrichtspraxis,
8/2018, S. 4. 4 Francis Fukuyama, The End of History or the Last Man, New York, Free Press, 1992.
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Das läge auch gar nicht im ursprünglichen Sinne der Waldorfpädagogik, die wiederum zu einem
organischen und konstruktiven Einbringen dieser Erfahrungen ermuntert, wie es bereits in den
Gründungsjahren der ersten Waldorfschule am Stuttgarter Kanonenweg geschehen ist. Tatsächlich
war die damalige Schule ein Laboratorium pädagogischer Ansätze, in dem auch widersprüchliche
Versuche gewagt, diskutiert und dann entweder umgesetzt oder verworfen wurden.
Alleine Rudolf Steiners eigene Erfahrungen waren dabei mannigfaltig. Selbstverständlich schöpfte er
aus den verschiedensten pädagogischen Quellen, sowohl in der Befürwortung als auch in der
Ablehnung pädagogischer Mittel, Maßnahmen und Ansätze. Um beispielhaft nur eine Quelle zu
nennen: Nachweisbar sind bereits direkte Einflüsse aus Steiners eigener Kindheit und Jugend in
Österreich-Ungarn, wie dies von Martina Maria Sam kürzlich in hervorragender Weise ausgearbeitet
wurde.5 Sein Befürworten eines lebendigen Geschichtsunterrichtes ist einerseits auf seinen
Geschichtslehrer Franz Kofler, einen „recht langweiligen Patron“6, zurückzuführen. Bei ihm lernte
Steiner, wie nicht unterrichtet werden sollte, nämlich einfach nur Tradiertes weiterzugeben und aus
Schulbüchern vorzulesen.7 Andererseits wurde Steiner in der letzten Schulklasse durch einen
vorbildlichen Geschichtslehrer inspiriert, Albert Löger, der einen starken „Anteil am (politischen,
M.F.) Leben“8 nahm und sehr lebendig lehrte.9 Zusätzlich befeuert wurde das Interesse des jungen
Steiner auch durch die Lektüre Carl Rottecks, durch Tacitus und Johannes von Müller.10
Auch die Ursprünge der Feldmessepoche und der Darstellenden Geometrie an Waldorfschulen
stammen vermutlich aus dem Schulwesen der Donaumonarchie. Indirekt könnten sie auf die
Reformen Ignaz von Felbigers (1724-88) zurückzuführen sein. Denn das Feldmessen und die
Darstellende Geometrie wurden 1774 durch den katholischen Schulreformer vereinheitlicht und
flächendeckend an allen Schulen Österreich-Ungarns eingeführt. Felbiger war es auch, der die
Zentralisierung und die Kontrolle des Schulwesens in Europa, nach Comenius‘ enzyklopädischem
Versuch, auf eine neue, eisige Spitze trieb. Der umtriebige Abt erließ nicht nur genaueste
Vorschriften zu Stoff und Methodik, sondern entwickelte darüber hinaus ein umfassendes
Berichtswesen. Vom Bodensee bis zur Bukowina konnten damit Leistungen, Verhalten und
Anwesenheit aller Schüler detailliert erfasst werden. Leider hat sich aus dieser Zeit nicht nur der
Begriff des „Schemas F“ erhalten, sondern auch die administrativ-statistische Kontrolle des
Schulwesens.11 Doch darf immerhin angenommen werden, dass Steiner genau jene Einflüsse
unbedingt vom Wesen der Waldorfschule fernhalten wollte.
Recht ähnliche, punktuelle Einflüsse lassen sich auf vielen weiteren Gebieten nachweisen. Der
Epochenplan ist eben keine Innovation Steiners, sondern wurde wahrscheinlich zuerst vom äußerst
5 Vgl. Martina Maria Sam, Rudolf Steiner. Kindheit und Jugend, Dornach, Verlag am Goetheanum, 2018.
6 Ibid., S. 136. Zitiert nach Rudolf Steiner, Autobiographischer Vortrag vom 4. Februar 1913, in Beiträge zur
Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 83/84, Dornach, 1984, S. 14. 7 Ibid., S. 136 f.
8 GA 28, S. 48 f.
9 Sam, S. 148.
10 Vgl. Sam, S. 147. Genannt werden bei Sam Carl Rottecks Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen
Kenntniß bis auf unsere Zeiten, Freiburg, 1826; außerdem Johannes von Müllers Vier und zwanzig Bücher allgemeiner Geschichten, besonders der europäischen Menschheit (Band IV), Stuttgart u. Tübingen, 1852
2 sowie
Tacitus‘ Germania, in zwei Reclam-Ausgaben von 1880. Alle genannten Werke befinden sich in der Bibliothek Rudolf Steiners (RSB G 604a; RSB G 873a u. 873b) 11
Vgl. Anton Weiss (Hrsg.), Die allgemeine Schulordnung der Kaiserin Maria Theresia und J. J. Felbigers Foderungen an Schulmeister und Lehrer, Leipzig, Richter, 1896.
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publikationsfreudigen Schulreformer Berthold Otto (1859-1933) an seiner Hauslehrerschule in Berlin-
Lichterfelde eingeführt. Natürlich stand damals schon der pädagogische Vorteil der Vertiefung im
Vordergrund; attraktiv war der Epochenunterricht aber genauso, weil er den Einsatz von Gastlehrern
an abgelegenen Schulstandorten ermöglichte.12 Und diese Gründe bewogen Otto Erdmann und
Mario Jona 1912, den Epochen- bzw. Kursunterricht an der Odenwaldschule auszuprobieren.13 Als
Methode der Unterrichtsorganisation war der Epochenunterricht unter innovativen Pädagogen
bereits vor dem 1. Weltkrieg kein Geheimnis. Gegenseitige Hospitationen und gemeinsame Tagungen
waren damals – wie heute – bei engagierten Pädagogen üblich. Steiner hospitierte beispielsweise im
Sommer 1905 in Haubinda bei Paul Geheeb, dem späteren Gründer der Odenwaldschule.14 Geheeb
leitete damals noch das dortige Landerziehungsheim, wo das schulische Leben nach der Pädagogik
von Hermann Lietz (1868-1919) organisiert war. Der Verzicht auf Noten, verbunden mit
Textzeugnissen und automatischer Versetzung; eine ganzheitliche Erziehung, die Kopf, Herz und
Hand gleichermaßen förderte, mit einem Schulgarten und einem Bauernhof – all das durfte Steiner
bereits 14 Jahre vor Gründung der ersten Waldorfschule im pädagogischen Alltag eines
Landerziehungsheimes erleben. Einerseits distanzierte er sich zwar später von seinem Konkurrenten
Lietz in recht polemischer Weise.15 Andererseits gewährte er einem ehemaligen Lehrer aus Haubinda
– Robert Killian – ab 1920 große Freiräume bei der Gestaltung des Aufbaus der ersten Waldorfschule.
Robert Killian, dem ich eine zentrale Rolle bei der Implementierung wichtiger waldorfpädagogischer
Elemente beimessen möchte, war jedoch nicht nur Reformpädagoge, sondern hatte davor noch ein
Gymnasialreferendariat im Elsass durchlaufen. In einem Gespräch bestätigte mir sein Sohn Christoph
(*1930) im Jahr 2014, dass sein Vater – wie übrigens viele andere Lehrerinnen und Lehrer damals
auch – vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit Steiner im Gründungskollegium durchaus
differenzierte und dezidierte Diskussionen zu führen wusste.16 Die später veröffentlichten und
kanonisierenden Transkriptionen geben diese Konstellation leider nur ansatzweise wieder, und legen
viele der damaligen Lehrerpersönlichkeiten auf einen eher fragenden und mitunter sogar passiven
Part fest. Eine Darstellung also, die einem produktiven Umgang mit dem geistigen Erbe dieser
Gründergeneration nicht unbedingt zuträglich war; und der der Waldorfpädagogik nicht intendierte
Beschränkungen auferlegte, die ihr inzwischen ganz sicher abträglich sind, im Zeitalter flacher
Hierarchien und der – wenigstens theoretischen – Neuerfindung von Organisationen.17
12
Vgl. auch Ellen Schwitalski, „Werde, die Du bist“: Pionierinnen der Reformpädagogik, Bielefeld, transcript Verlag, 2004, S. 39 Schwitalski erwähnt bei der Einführung des Epochensystems außerdem einen Bezug zur Arbeitsschule. 13
Vgl. den Brief von Mario Jona an Otto Erdmann vom 19. August 1912 aus Klosters-Platz: Marios Plan. Darin skizziert Jona u.a. Elemente des Epochenplans, der Rolle des Nachtschlafes und des Berichtsheftes, die Jahre später in der Waldorf- bzw. Jenaplan-Pädagogik umgesetzt werden sollten. Nachlass Otto Erdmann, Materialien zur Geschichte der Kursorganisation in der Odenwaldschule 1912-1920, Archiv der Odenwaldschule im Hauptstaatsarchiv Darmstadt. HStAD Bestand N 25 Nr. 10243. 14
Vgl. dazu auch Elijah Horn, Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918-1933, Bad Heilbrunn, Julius Klinkhardt, 2018, S. 47 f. Horn zieht über die gemeinsame Bekanntschaft des Ehepaares Brockdorff in Berlin eine weitere Verbindung zwischen Geheeb und Steiner. Näher ausgeführt wird dies in E. Witt, Erinnerungen einer alten Freundin, in Der neue Waldkauz 4/1930, S. 86. 15
Vgl. GA 293, S. 74. 16
Gespräch mit Christoph Kilian am 4. Mai 2015. 17
Aus Gründen der inhaltlichen Fokussierung sei an dieser Stelle lediglich das momentan wohl populärste Werk zur Organisationsentwicklung genannt, Frédéric Laloux‘ Reinventing Organisations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München, Franz Vahlen, 2015. Aus dem basisdemokratischen Profil der Waldorfschule ergibt es sich natürlich, dass die an einer Steiner-Schule tätigen Menschen über aktive und aktuelle Kenntnisse der Organisationsentwicklung verfügen müssten.
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Die pädagogischen Quellen, aus denen das Gründungskollegium der Waldorfschule und sein Direktor
in den frühen 1920er Jahren schöpfen konnten, sprudelten jedoch aus wesentlich größeren Tiefen.
Einerseits gibt es lokale Einflüsse, wie die Äthergeographie einer Region. In Böblingen könnte – in
geradezu homöopathischer Menge - die Pädagogik des Herrenberger Theologen und Rosenkreuzers
Johann Valentin Andreae noch einen gewissen Einfluss auf das Schulleben ausüben.18 Bezüglich der
Böblinger Schule halte ich jedoch andere Faktoren für ungleich bedeutsamer: die Lage der Schule auf
dem Gelände eines ehemaligen Lungensanatoriums neben einer Kaserne der US-Armee, zwischen
Schönbuch, Gäu und Schwarzwald, getragen von den sachlich-prosperierenden Industriestädten des
südlichen Stuttgarter Umlandes, und selbstverständlich auch die Historie des baden-
württembergischen Bildungssystems in seiner regionalen Konstellation. Was dies für die
Zusammensetzung der Schülerschaft und ihre biographischen Erfahrungen bedeutet, lässt sich
unschwer ermessen, kann aber hier, ob des Umfanges, leider nicht näher erläutert werden.
Andererseits lassen sich seit dem 18. Jahrhundert unabhängig vom Ort wenigstens zwei geistige
Strömungen identifizieren, die einen entscheidenden Einfluss auf unsere weitere Schul- und
Bildungspolitik ausgeübt haben: Eine breitere Strömung, die vor allem das öffentliche Schulwesen
geprägt hat, bis ins 21. Jahrhundert. Und eine wesentlich kleinere Strömung, die sich bewusst
abzusetzen versuchte, die ihren Weg in die Reform- und Waldorfpädagogik fand, wo ihre Ideen heute
noch die Menschen erfrischen.
Herbarts Erben oder Die Welt der Bildsamkeit
Die breitere Strömung beginnt, wenn wir hier einen Anfang setzen möchten, mit dem Philosophen
und Kant-Nachfolger Johann Friedrich Herbart (1776-1841). Um 1800 wurde die Pädagogik noch als
Teildisziplin der Philosophie betrachtet; Herbart war einer der ersten deutschsprachigen
Philosophen, der sie als eigenständiges Fach zur Allgemeinen Pädagogik entwickelte.19 In dieser Zeit
offenbarten die Erfolge des napoleonischen Heeres die Überlegenheit des neuen französischen
Bildungssystems und die Schwächen der preußischen Erziehung. Die Stein-Hardenbergschen
Reformen (1807) sollten hier Abhilfe schaffen. Zuvörderst mit einer hierarchischen Zentralisierung,
die im Hochschulbereich jedoch weitgehende Freiheiten vorsah, und deshalb heute noch verklärt
wird. Der Hauptverantwortliche, Wilhelm von Humboldt, vermochte in der Theorie zwar ein
fortschrittliches System zu entwerfen, das unter anderem die weitgehende Trennung von Staat und
Hochschule sowie die Freiheit von Lehre und Forschung postulierte. Die reaktionären Entwicklungen
der Zeit, vor allem als Folge der Karlsbader Beschlüsse (1819), machten Humboldts fortschrittliche
Bemühungen jedoch zunichte und lähmten das Hochschulsystem der deutschen Staaten noch über
Jahrzehnte hinweg. Die zahlreichen reformpädagogisch orientierten Schulen – erwähnt sei hier
exemplarisch nur die respektable Cauersche Anstalt (1818-1834) – hatten einem fortgesetzten
finanziellen und politischen Druck zu widerstehen, der viele von ihnen in den Ruin trieb. Selbst
Friedrich Fröbels Kindergarten in Blankenburg wurde – drei Jahre nach der gescheiterten Revolution
18
Vgl. die pädagogischen Ansätze in Andreaes 1619 erschienener Utopie Rei publicae Christianopolitanae descriptio, die goetheanistische Ansätze vorwegnimmt. 19
Der Theologe Ernst Christian Trapp (1745-1818) erhielt bereits 1778 an der Universität Halle einen Lehrstuhl für Pädagogik; vermutlich war er der erste Akademiker, der versuchte, eine frühe Form von Reformpädagogik auf wissenschaftlicher Grundlage zu vermitteln. Seine These, dass die Pädagogik sich den Umständen – und damit den Menschen – anzupassen habe, macht ihn eigentlich zum – weit entfernten – Vorläufer der Waldorfpädagogik. Zudem war er im Jahr vor seiner Berufung noch an Basedows Philantropinum in Dessau tätig gewesen.
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von 1848 – verboten. Denn die zuständigen Behörden erachteten es als subversiv, Kinder
ungezwungen in einem Garten spielen zu lassen.20 Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
hinein fanden pädagogische Innovationen eher im Ausland statt, beispielsweise bei Ignaz Paul Vital
Troxler in der Schweiz21 oder bei Leo Tolstoi in Russland.22
Noch gravierendere Folgen aber zeitigte die Vermittlung des Menschenbildes, das in Herbarts
Allgemeiner Pädagogik entworfen und durch Humboldt unwissentlich, aber nachhaltig gefördert
wurde. Denn Humboldt erkannte Herbarts Fähigkeiten und machte ihn zum Mitglied seiner
„Wissenschaftlichen Deputation“. Dieser oblag es, die Schulen des Königreiches Preußen zu
remedieren. Nicht nur dazu hatte Herbart seine eigene pädagogische Methodik entwickelt, die
Formalstufentheorie. Nach diesem System konnte der Lernerfolg, eigentlich: der Wissenserwerb des
bildsamen Schülers, in vier Stufen herbeigeführt werden: Klarheit, Assoziation, System und Methode.
Der Lehrer hatte folglich, nach Herbart, zuerst festzustellen, über welches Vorwissen die Schüler
verfügten, unterstützte sie sodann durch Assoziation in der Aufnahme neuen Wissens, ordnete
dieses mit ihnen zu einem System, und übte es schließlich methodisch mit ihnen ein. Herbarts
Theorie schien dabei auf ausnahmslos alle – intellektuell begabten – Edukanden anwendbar, und
wurde von ihm im Laufe der Jahre und Vorlesungen weiter ausdifferenziert, bis sie in seinem Umriss
pädagogischer Vorlesungen (1841) auch kleinste Details und Möglichkeiten aufzunehmen vermochte.
Trotzdem der Herbartianismus mit seinem Glauben an die Bildsamkeit des menschlichen Geistes
durchaus diktatorische Züge trug, beschränkte sich Herbarts pädagogischer Ansatz ausschließlich auf
den Wissenserwerb in Klassenzimmer und Hörsaal, dem dort auch gewisse Freiräume der
Selbsttätigkeit zugestanden wurden. Im Positiven lässt sich daraus immerhin ableiten, dass die
Schüler in der Gestaltung ihres Privat- und späteren Berufslebens frei bleiben sollten; solange
natürlich die Berufsausübung der Gesellschaft diente. Und auch in Religions- und Glaubensfragen
argumentierte Herbart für die Freiheit des Individuums. Im Negativen aber bedeutete dies, dass
ausschließlich die Förderung der intellektuellen Entwicklung als ersprießlich galt. Die Frage nach der
psychischen Verfassung der Schüler und ihren materiellen Möglichkeiten zum Schulbesuche schien
den wohlbestallten Philosophie-Professor ebenfalls nicht zu tangieren. Dabei war es wohl auch die
politische Lage, die eine solche Haltung begünstigte, vielleicht sogar bedingte. Nachdem die
Göttinger Sieben 1837 offen gegen den Verfassungsbruch Ernst August I. protestierten, fiel ihnen
Herbart, als Dekan der Philosophischen Fakultät, mit einer royalen Ergebenheitsadresse in den
Rücken, was seine Position nicht unbedingt schwächte. Nach Herbarts Tod erweiterte Tuiskon Ziller
(1817-1882) den pädagogischen Ansatz seines akademischen Lehrers zur Herbart-Zillerschen
Formalstufentheorie. Damit verhalf Ziller der These von der im Klassenzimmer planbaren Bildsamkeit
des Menschen zu einem enormen Breitenerfolg. Die repressive und obrigkeitshörige Atmosphäre in
den deutschen Staaten begünstigte dabei die hierarchische Verbreitung eines pädagogischen
Ansatzes, der ganz sicher auch als etwas konkurrenzlos Neues wahrgenommen werden konnte.
Gleichzeitig prägte Herbarts Philosophie die herkömmliche Pädagogik und das damit verbundene
Menschenbild. Hugo Gaudig (1860-1923) lamentierte die „Tyrannei der Formalstufen“ noch 1909
und klagte: „Die Formalstufenzeit der deutschen Volksschule ist kein Ruhmesblatt ihrer Geschichte.
20
Weitergehende Informationen sind u.a. bei der Fröbel Forschungsstelle an der Universität Duisburg zu finden: https://www.uni-due.de/ibw/froebel.php 21
Vgl. dazu den aktuellen Sammelband von Brigitte Hilmer und Harald Schwaetzer (Hrsg.), Idee und Wesen der Universität. Der Universitätsgedanke I.P.V. Troxlers in seinem historischen Kontext und seiner Bedeutung für die Gegenwart. Coincidentia Beiheft 6. Kueser Akademie / Bernkastel-Kues, Münster, Aschendorff Verlag, 2018. 22
Gemeint ist Leo Tolstois kurzer, aber viel beachteter Schulversuch auf seinem Gut in Jasnaja Poljana.
https://www.uni-due.de/ibw/froebel.php
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Daß sich das Denken ungezählter Lehrer in diese Fesseln hat schlagen lassen, daß dies Schema die
schaffende Formkraft bei vielen gelähmt hat, ist eine traurige Wahrheit.“23 Streitbare Herbartianer,
wie Wilhelm Rein (1847-1929), meldeten sich noch während der Weimarer Republik zu Wort,
beispielsweise mit einer verspäteten Kritik an Rudolf Steiners Theosophie.24 Zu diesem Zeitpunkt aber
hatte sich Herbarts Menschenbild fast flächendeckend an weiterführenden Schulen und
Universitäten durchgesetzt, und musste nicht mehr explizit verteidigt werden. Der damit verbundene
pädagogische Ansatz wurde auch nicht mehr mit Herbarts Philosophie verbunden, verfügte er doch
über genug Selbständigkeit, Attraktivität und Anpassungspotential, um sogar während des Dritten
Reiches und der DDR überwintern zu können. Eine überwältigende Blüte aber erfuhr der
Herbartianismus in der Bundesrepublik Deutschland, in den kognitiven Treibhäusern des
dreigliedrigen Schulsystems. Diesmal aber in veränderter Form, immer stärker beeinflusst von
Methoden quantifizierbarer Messbarkeit.
Wo beginnt Waldorfpädagogik? Spurensuche im 18. und 19. Jahrhundert
Die zweite, kleinere Strömung, die ich eingangs erwähnte, kann seit Mitte des 18. Jahrhunderts in
Mitteleuropa identifiziert werden. Pointiert zeigte sie sich zuerst in Thüringen und Sachsen-Anhalt,
namentlich mit Basedows Philantropinum in Dessau (ab 1774) und etwas später mit der ähnlich
ausgerichteten Salzmannschule in Schnepfenthal (ab 1784). Beide Schulen integrierten ganzheitliche
Elemente, wie Gartenbau, Handwerk und zahlreiche Sportarten, in den gemeinsam gelebten
Tagesablauf. Denn dieser sollte nicht alleine vom stramm kognitiven Unterricht im Klassenzimmer
beherrscht werden. Beide Konzeptionen waren, wenigstens äußerlich, inspiriert von den
Franckeschen Stiftungen in Halle (ab 1698) und von der Ökonomisch-Mathematischen Realschule (ab
1747) Johann Julius Heckers (1707-1768) in Berlin. Angelehnt waren das Philantropinum und
Schnepfenthal zudem an Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) pädagogischen Idealen und Johann
Heinrich Pestalozzis (1746-1827) gewagteren Schulversuchen auf seinem Gut Neuhof. Dort hatten die
Schüler neben dem Unterricht noch ihren Lebensunterhalt durch Landbau selbst zu bestreiten. (Ein
ökonomisch und menschlich fragwürdiges Unternehmen, das leider scheitern musste.) Immerhin
erstreckte sich das pädagogische Wirken Pestalozzis über mehrere Jahrzehnte und zahlreiche höchst
populäre Publikationen,25 was wiederum die personelle Vernetzung dieser ganzheitlichen
pädagogischen Strömung begünstigte. Selbst der hyperaktive Schulversager und ewige Student
Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) turnte in diesem Netzwerk und besuchte 1807 Johann Christoph
Friedrich GutsMuths (1759-1839) in Schnepfenthal. Dort holte er sich weitere Anregungen für seine
Turnerbewegung, die einerseits nationalchauvinistisch agitierte und mit ihren Geräteübungen nichts
anderes als Wehrsport betrieb. Andererseits zeigte Jahns niedrigschwelliges Angebot in der
Hasenheide durchaus reformpädagogische Züge. Jeder Teilnehmer durfte sich willkommen fühlen,
alle Turner waren gleich, was sich auch in der schlichten, einheitlichen Trikotierung zeigte, die uns
23
Hugo Gaudig, Didaktische Präludien, Leipzig und Berlin, Teubner, 1909, S. 1. 24
Vgl. Rudolf Steiner, Das Wesen der Farben. Drei Vorträge gehalten in Dornach am 6., 7. und 8. Mai 1921 sowie neun Vorträgen als Ergänzungen aus dem Vortragswerk der Jahre 1914 bis 1924, GA 291, S. 140. Steiner bezieht sich dabei auf Wilhelm Reins Artikel „Ethische Irrlehren“ vom 23. November 1920 in Der Tag. 25
Das damals sehr beliebte Genre des Erziehungsromans, der für ein pädagogisches Konzept warb, wurde selbstverständlich auch von Pestalozzi bereichert, vor allem mit Lienhard und Gertrud, Berlin und Leipzig, Georg Jakob Decker, 1781. Der utopische Roman wurde bis 1787 in mehreren Fortsetzungen veröffentlicht. Bereits davor publizierte Johann Gottlieb Schummel einen Werberoman für das Philantropinum: Fritzens Reise nach Dessau, Leipzig, Crusius, 1776. Auch der Vielschreiber Christian Gotthilf Salzmann beteiligte sich später mit Konrad Kiefer oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Kinder, Schnepfenthal, Buchhandlung der Erziehungsanstalt, 1796 an der Welle pädagogischer Belletristik.
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fast neunzig Jahre später wieder beim Sportunterricht der Hermann-Lietz-Schulen begegnet. Und
gleichzeitig ergänzten Mut und Gewandtheit unter den idealistischen Turnern Herkunft und kognitive
Fähigkeiten.
1890-1914: Die erste Blüte der Reformpädagogik
Nach siebzig stickigen Jahren öffneten sich ab 1890 – befeuert durch den Rücktritt Bismarcks, die
gesellschaftlichen Umwälzungen der Gründerzeit und einer von Wilhelm II. einberufenen
Schulkonferenz26 - die ersten Fenster auf die Möglichkeiten einer gemischteren Bildungslandschaft.27
Der Theosoph Hugo Göring28 und der Entdecker Paul Güßfeldt29 kritisierten den Leistungsdruck, die
mangelhafte Charakterbildung und den Notenfetischismus der deutschen Schulen. Beide verharrten
aber noch in der Theorie und durchwoben diese, ganz im Stile der Zeit, mit nationalchauvinistischen
Akzenten. Das vielleicht typischste Werk für dieses Jahr aber ist vermutlich Julius Langbehns
Bestseller Rembrandt als Erzieher: Eine völkische Universalpädagogik, die nicht alleine vom
vermeintlichen Rembrandt ausgeht, um das deutsche Volk zu erziehen. Der Autor presst auch
Goethe, Luther (und weitere Geistesgrößen) auf seine pädagogische Wanderbühne und exklamiert:
„Goethe Rembrandt Luther – eine Bildung, welcher diese heiligen drei Könige ihre Huldigung
darbringen, ist der wahre Heiland für die Deutschen; liegt derselbe auch jetzt noch in der Krippe, so
wird er doch einmal groß werden.“30
Die Weichenstellung, die eine direkt wahrnehmbare Richtung für die Waldorfpädagogik erkennen
ließ, wurde von Hermann Lietz acht Jahre später bewerkstelligt. Nach einem begeisterten Besuch in
Abbotsholme31, der Schule des egozentrischen Reformers Cecil Reddie, entschloss sich der frustrierte
Rein-Schüler32 Lietz, eine Reihe von Landerziehungsheimen zu gründen, ausnahmslos Internate, fast
immer fernab von den Versuchungen der pädagogischen Metropolen. Alleine vor dem 1. Weltkrieg
waren dies: die Pulvermühle in Ilsenburg (1898), Stolpe am Wannsee (1900), Haubinda (1901),
Schloss Bieberstein (1904) und die Grovesmühle (1914). Allen gemeinsam war eine ganzheitliche
Pädagogik, die in vielen Elementen die Waldorfpädagogik antizipierte. In der ersten Blütezeit der
Reformpädagogik vor dem Ausbruch des Weltkrieges waren derartige Schulversuche keineswegs
ungewöhnlich. In Deutschland folgten die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (Gustav Wyneken), die
Odenwaldschule (Edith und Paul Geheeb), aber selbstverständlich auch der Barkenhoff (Heinrich
26
Vgl. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts: Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890; im Auftrage des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten, Berlin, Wilhelm Hertz, 1891. Hier sollte allerdings angemerkt werden, dass erst die Folgekonferenz unter dem gleichen Titel, vom 6. bis 8. Juni 1900, einen echten inhaltlichen Durchbruch ergab, der beispielsweise die Stärkung der Realschulen zur Folge hatte. 27
Die Bemühungen des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins, eine Einheitsschule für die deutschen Staaten zu implementieren, sollten hier nicht verschweigen werden. Allerdings beschränkten sich diese Bestrebungen auf die Theorie und scheiterten mit dem Revolutionsversuch von 1848. Engagierte Pädagogen wie Theodor Hegener oder Karl Mager, der Begründer der Social-Pädagogik und der Selbstverwaltung in Bildungseinrichtungen, fanden ihre pädagogische Arbeit in dieser Zeit noch stark beeinträchtigt. 28
Hugo Göring, Die neue deutsche Schule. Ein Weg zur Verwirklichung vaterländischer Erziehung, Leipzig, R. Voigtländer, 1890. 29
Paul Güßfeldt, Die Erziehung der deutschen Jugend, Leipzig, Paetel, 1890. 30
Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig, Hirschfeld, 1890, S. 169/70. 31
Vgl. dazu auch Lietz‘ enthusiastischen Roman, Emlohstobba. Roman oder Wirklichkeit? Berlin, Dümmler, 1897. 32
Bemerkenswert ist immerhin, dass Lietz die Hospitationsmöglichkeit an der New School of Abottsholme durch Wilhelm Rein vermittelt wurde. Vgl. Fritz Karsen, S. 62.
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Vogeler) oder die Eden-Schule (Thierfelder und Kohnert)33, die in Oranienburg direkt von
Lebensreform und Jugendbewegung beeinflusst war. International sei nur an die Schulen von
Francisco Ferrer34, František Bakulé35, Ervin Batthyány36, Maria Montessori37, Rabindranath Tagore38
oder – vielleicht heute noch am einflussreichsten – Alice und John Deweys Laboratory School in
Chicago (1896) erinnert. Gleichzeitig arbeiteten Reformer auch innerhalb des öffentlichen
Schulwesens bzw. im Hochschulbereich an einer Erneuerung der maroden Pädagogik, die ihre
Schützlinge in kognitiven Pressen zu Kanonenfutter stanzte. Georg Kerschensteiner (1854-1932)39,
Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966)40 und der prophetische Wilhelm Lamszus (1881-1965)41
trugen zur Schaffung geistiger Grundlagen bei, auf denen auch die erste Waldorfschule bauen durfte.
Der Weltkrieg stellte insofern keine Zäsur dar, sondern unterstrich dramatisch die Notwendigkeit
einer Pädagogik, die den Menschen nicht alleine zum Untertanen formte, sondern ihn befähigte, die
mörderische Kluft zwischen Völkern und Klassen auf individuell menschliche Weise zu überbrücken.
Vom Epochenjahr 1919 zum Nationalsozialismus: Waldorfschule - eine „Schule neuer Gesinnung“?
Die wilden Hoffnungen des Epochenjahres 1919 wurden von den Oberlehrern des deutschen
Regelschulsystems jedoch barsch in die Ecke gestellt. Paul Oestreich konstatierte darob aufgebracht:
„Hat die Revolution … viel geändert? Tobt sich nicht die reaktionäre Lehrermasse ungehemmt gegen
die kollegialen Befürworter des neuen – ach so alten! – pädagogischen Evangeliums von der
33
Vgl. Joachim J. Scholz, Erziehung als „Aufbauarbeit zur besseren Zukunft“. Zum Verhältnis von Reformpädagogik und Siedlungsbewegung am Beispiel der Lebensreformkolonie Eden bei Oranienburg, in Ehrenhard Skiera, András Nemeth, György Mikonya (Hrsg.), Reformpädagogik und Lebensreform in Mitteleuropa – Ursprünge, Ausprägung und Richtungen, länderspezifische Entwicklungstendenzen, Budapest, Gondolat Kiadó, 2006, S. 274-94. Scholz erwähnt darüber hinaus weitere Reformschulexperimente, sogar unter völkischen Siedlern, beispielsweise in Ernst und Margarete Hunkels Freiland-Siedlung Donnershag bei Sontra oder Theodor Fritschs Siedlungsgesellschaft Heimland bei Rheinsberg. 34
Die erste Escuela Moderna (1901) basierte auf anarchistischen Ideen und hatte bis 1906 sechzig weitere Gründungen in ganz Spanien hervorgebracht. Mit der Hinrichtung Ferrers (1909) endete jedoch der vorläufige Höhenflug der anarchistischen Pädagogik in Spanien bzw. Katalonien. 35
Adolphe Ferrière, Bakule et son œuvre educatrice, Paris, Flammarion, 1929. Im Vorjahr hatte Ferrière Bakule gemeinsam mit Hermann Lietz und dem faschistischen Reformpädagogen Giuseppe Lombardo-Radice (1879-1938) gewürdigt: Trois pionniers de l'éducation nouvelle: Hermann Lietz, Giuseppe Lombardo-Radice, František Bakule, Paris, Flammarion, 1928. 36
Vgl. György Mikonya, Tolstoi-Schule und Anarchisten in Ungarn, in Skiera u.a., Reformpädagogik, S. 304 ff. 37
Seit der Gründung ihrer Casa dei bambini (1907) entwickelte Maria Montessori auch ihr detailliertes pädagogisches Werk, beginnend 1907 mit Il Metodo della Pedagogia Scientifica applicato all'educazione infantile nelle Case dei Bambini, Rom, Opera Nazionale Montessori, 2000. 38
Die von Tagore gegründete Schule Shantiniketan (1901) wird heute noch im indischen Bundesstaat Bengalen betrieben. Der Nobelpreisträger Tagore vermochte seine bengalische Schulgründung dabei präzise in einem europäischen Kontext zu verorten, den er auf seinen Reisen immer wieder erfahren durfte. Vielschichtige Verbindungen gab es nicht nur zum Bauhaus, sondern auch zur damit verwandten Reformpädagogik. Vgl. Partha Mitter, Bauhaus in Kalkutta, in bauhaus global. Gesammelte Beiträge der Konferenz bauhaus global vom 21. bis 26. September 2009, Berlin, Gebrüder Mann, 2009, S. 149-158. 39
Georg Kerschensteiner gilt als der Begründer der Arbeitsschule, zeichnete sich darüber hinaus aber auch durch Veröffentlichungen zur Förderung der Charakterbildung aus. Vgl. Kerschensteiner, Charakterbegriff und Charaktererziehung, Leipzig und Berlin, B.G. Teubner, 1929. 40
Vgl. Foersters wahrscheinlich einflussreichstes Werk, Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik des Gehorsams und zur Reform der Schuldisziplin. Zürich, Schulthess, 1907 41
Obwohl Lamszus hauptsächlich als Reformpädagoge wirkte, hat er mit seinem prophetischen Roman Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg, Hamburg und Berlin, Alfred Jansen, 1912, den 1. Weltkrieg zwei Jahre vor seinem Ausbruch in dramatischer Weise beschrieben, und damit literaturgeschichtlich einen ebenso bedeutenden wie beharrlich ignorierten Beitrag geleistet.
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Erziehung zur Menschlichkeit aus?“42 Dem zahlenmäßigen Wachstum der Reform(hoch)schulen war
dies freilich nicht abträglich. Die Waldorfschule (1919) gehört dazu, ebenso wie Schloss Salem (1919),
das Staatliche Bauhaus (1919-1933) und die öffentliche Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln. Deren
Rektor, Fritz Karsen, war über aktuelle pädagogische Entwicklungen im Deutschen Reich
selbstverständlich bestens informiert, hospitierte bei dem „Führer der Anthroposophen“43 in
Stuttgart und lobte besonders die Eurythmie als „eindrucksvollstes“44 pädagogisches Element an
dieser „Schule neuer Gesinnung“.45 Gleichzeitig hatte Karsen auch andere Experimente und Anfänge
im Blick, wie beispielsweise die Entstehung revolutionärer Gemeinschaftsschulen in Berlin und
Hamburg, auch auf Initiative der Elternschaft.46 Seltsamerweise ist der umfassendste und kühnste
Reformversuch der damaligen Zeit fast vergessen. Otto Glöckels groß angelegte Wiener Schulreform,
basierend auf Alfred Adlers Individualpsychologie, wurde im weiteren Kontext einer
verteilungsgerechten Finanzpolitik, einer sozialistischen Stadtplanung und einer sozialen
Gesundheitspolitik vor allem an Wiener Volksschulen durchgeführt. Alleine der katholisch-autoritäre
Ständestaat des Engelbert Dollfuß setzte Glöckels – sehr erfolgreicher – Reform im eisigen Februar
1934 ein brutales Ende.47
Daneben existierten Organisationen wie der Bund entschiedener Schulreformer, oder die New
Education Fellowship auf deren internationalen Konferenzen zwischen 1923 und 1932 ebenfalls ein
reger Austausch gepflegt wurde. Maria Montessori, Peter Petersen, Adolphe Ferrière, A.S. Neill, Paul
Geheeb und sogar Martin Buber bildeten dort ein Netzwerk, dessen Tragfähigkeit als höchst
belastbar erschien. Die erste Waldorfschule schaukelte folglich nicht als buntlasiertes Schiff in einem
Ozean von schwarzer Pädagogik. Vielmehr ist sie Teil einer zweiten, international geprägten Phase
reformorientierter Schulgründungen, deren pädagogische Elemente einander ähnelten, und deren
Protagonisten in einem konstruktiven, gegenseitigen Austausch standen. Es ist bezeichnend, dass das
Bauhaus damals nicht nur aufgrund seiner innovativen Gestaltung geschätzt wurde, sondern auch
aufgrund seiner progressiven Pädagogik. Die unterschiedlichen Werkstätten – Weberei, Druckerei,
Buchbinderei, Steinbildhauerei, Malerei oder Architektur – wurden von einem Akademiker und
einem Handwerksmeister gleichberechtigt geleitet. Die Verwaltung wurde selbst organisiert, im
42
Paul Oestreich, Pestalozzi im Joch (1919), in Ders. (Hrsg.), Es reut mich nicht! Entschiedene Schulreform. Abhandlung zur Erneuerung der deutschen Erziehung, im Auftrage des Bundes entschiedener Schulreformer, Leipzig, Ernst Oldenburg Verlag, o.J., S. 131/32. 43
Fritz Karsen, Deutsche Versuchsschulen der Gegenwart und ihre Probleme, Leipzig, Dürrsche Buchhandlung, 1923, S. 89. 44
Ders., S. 99. 45
Ders., S. 57. 46
Fritz Karsen berichtet über derartige Schulversuche in Hamburg: „Mit der Revolution war die Zeit erfüllt. Die jungen Stürmer unter den Lehrern gewannen mit Hilfe des Arbeiterrats, gestützt auf die Macht der Geschütze die erste Schule ohne Lehrplan, ohne Stundenplan, ohne Schulordnung. Die Wendeschule in der Brütenfelderstraße trat unter der geistigen Führung von Joede, Tepp und Schlünz als fruchtbares Chaos ins Leben, mit ihr zugleich unter der Leitung von Götze und Lottich die Schulen Telemannstraße und Berliner Tor. Ein Jahr später wurde auf die Initiative der Barmbecker Elternschaft – das ist ungemein wichtig – die Gemeinschaftsschule am Tieloh gegründet. Ihr Leiter wurde Wilhelm Paulsen. Er begann die organisatorische Zusammenfassung der neuen Schulen, zu denen als erste höhere die Lichtwarkschule trat, und entwickelte in seinen scharf geprägten Leitsätzen ihre neue Idee.“ Für Berlin erwähnt Karsen u.a. August Heyns Gartenarbeitsschule in Neukölln, Oskar Seinigs Handarbeitsschule und Berthold Ottos Hauslehrerschule. Vgl. Fritz Karsen, Deutsche Versuchsschulen der Gegenwart und ihre Probleme, Leipzig, Dürrsche Buchhandlung, 1923, S. 114 f. 47
Zu den wenigen Übersichtsquellen gehört Otto Glöckels, Selbstbiographie, Zürich, Genossenschaftverlag, 1938.
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Meisterrat und im Senat. Titel waren irrelevant. Stattdessen gab es eine flache Hierarchie, die aus
Gesellen, Jungmeistern und Meistern bestand. Darüber hinaus lebten selbst am Bauhaus
unterschiedliche reformpädagogische Ansätze. Gropius‘ Bauhüttenprinzip konkurrierte mit Johannes
Ittens esoterisch unterlegtem Vorkurs, der eine recht bewusste Verwandtschaft mit Steiners
Pädagogik kultivierte. Ittens Tochter Anneliese erinnerte später: „Die Schüler hatten sehr
unterschiedliche Voraussetzungen … Darum war der Vorkurs und seine Orientierung auf die
menschlichen Probleme, auf das rein Menschliche, so ungeheuer wichtig. Ich glaube, da liegt ein
Hauptaspekt von Ittens Unterricht. Ihm lag vor allem der Mensch am Herzen. … Er hatte immer
dasselbe Prinzip, die Schüler so zu unterrichten, daß sie sich selbst finden konnten, ihre eigenen
Fähigkeiten entwickelten … So war der Unterricht immer vielseitig, konstruktiv und expressiv …“48
Und natürlich wünschte sich Itten, damals übrigens ein Mazdaznan-Jünger, auf der
Meisterratssitzung vom 9. Oktober 1920, dass Gropius Rudolf Steiner zu einem Bauhaus-Abend als
Gastredner nach Weimar einladen möge; was bereits am 24. Juli 1920 geschehen war, leider ohne
dokumentierte Antwort Steiners.49 Kandinsky besuchte Steiners Vorträge und Mondrian schrieb
ihm.50 Daneben entwuchs die Eurythmie aus dem Ausdruckstanz, wie Frederick Amrine erst kürzlich
an den Beispielen von Loie Fuller, Isadora Duncan und Ruth St. Dennis nachgewiesen hat.51 Und die
Jugendbewegung schlug eine Brücke auch in die Christengemeinschaft hinein. Bis zum Tode Steiners
waren Waldorfschule und Anthroposophie folglich Teil eines regen avantgardistischen Diskurses. 52
Erst die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 zwang reformpädagogische Einrichtungen zur
Anpassung (Odenwaldschule, Salem, Berthold-Otto-Schule) oder zur Schließung (Waldorfschule, die
Jüdischen Landschulheime). Die ungesunde Nähe alternativer Schulen zum Nationalsozialismus
erwies sich in den allermeisten Fällen nicht als Rettung, sondern als Infektion, welche die
Reformpädagogik innerhalb Deutschlands bis 1945 ins Koma fallen ließ. Noch geringere Beachtung
fand dagegen die vielfältige und weltweite Weiterentwicklung reformpädagogischer Ansätze im Exil.
In einem waldorfpädagogischen Kontext sind dabei besonders die Wynstones School und vor allem
Karl Koenigs Camphill Communities von größerer Bedeutung. Dennoch subsistierten die meisten
ähnlichen Versuche anfänglich an der Existenzgrenze oder fanden – wie die Moskauer
Liebknechtschule – in einem totalitären Raum statt, der als politisch kontaminiert eingeordnet
werden darf.53 Ein großes Experiment hinterließ jedoch – wie Camphill – tiefere Spuren, die in
48
Anneliese Itten, Itten und das frühe Bauhaus – ein Diskussionsbeitrag, in Rainer Wick (Hrsg.), Ist die Bauhaus-Pädagogik aktuell? Köln, König, 1985, S. 77. 49
Genauer rekonstruiert wurden die Umstände dieser Einladung in einem hervorragenden Beitrag von Anne Weise in die Drei 1/2 2018, S. 56-58. Der inhaltliche Kontext des Protokolls findet sich bei Volker Wahl, Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919 bis 1925, Weimar, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, 2001, S. 103. Neben Rudolf Steiner sollten auf Vorschlag Ittens Rudolf Blümner, Theodor Hecker und der Wiener Zwölftonkomponist Josef Matthias Hauer eingeladen werden. Aus den Protokollen ist übrigens zu erkennen, dass auch Schülerbesprechungen abgehalten wurden. 50
Vgl. https://www.welt.de/kultur/article12645921/Rudolf-Steiner-beeinflusst-wieder-die-Avantgarde.html 11. Dezember 2018. 51
Frederick Amrine, Eurythmy and the New Dance, Ann Arbor, Keryx, 2017 52
Der in Berliner Künstler- und Intellektuellenkreisen hoch geschätzte Pfarrer Friedrich Rittelmeyer hielt 1918 sogar den Trauergottesdienst für Hugo „Fidus“ Höppeners Tochter Drude (1900-1918), die an der Spanischen Grippe gestorben war. Vorher hatte sie die Odenwaldschule besucht; ihr Tagebuch aus dieser Zeit wurde von Gertrud Prellwitz umgeschrieben, in drei Bänden veröffentlicht und entwickelte sich binnen kürzester zur Kultliteratur der Jugendbewegung. Rittelmeyer gehörte zu den Gründern der Christengemeinschaft. 53
Aus pragmatischen Gründen verweise ich hier lediglich auf die übersichtliche Darstellung auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Schulen_im_Exil sowie die Darstellung bei Hildegard Feidel-Mertz, Die Pädagogik der Landerziehungsheime im Exil, in: Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.), Landerziehungsheim-Pädagogik,
https://www.welt.de/kultur/article12645921/Rudolf-Steiner-beeinflusst-wieder-die-Avantgarde.htmlhttps://de.wikipedia.org/wiki/Schulen_im_Exil
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prägender Weise wieder nach Deutschland zurückführten: das Black Mountain College.54 Dieses
Liberal Arts College wurde 1933 von John Andrew Rice in der Nähe von Asheville (North Carolina)
gegründet. Rice wollte den Ansatz seines akademischen Lehrers John Dewey, die ganzheitliche
Entwicklung vom individuellen Menschen ausgehen zu lassen, auch im Hochschulbereich umsetzen.
Dazu war es notwendig, ein größeres, Fächer übergreifendes Lehrangebot zu schaffen, das möglichst
wenige bürokratische Reglementierungen enthielt und möglichst stark auf die einzelnen
Studierenden einging. Unter diesen Voraussetzungen gab es natürlich keinen allgemeinen
Studienverlaufsplan, keine Prüfungen, keine Noten und keine Abschlüsse – es sei denn, die
Studierenden wünschten sich eine Leistungsüberprüfung. Stattdessen entwickelten die Studierenden
gemeinsam und auf Augenhöhe mit den Lehrenden individuelle Lehrpläne, die dann umgesetzt
werden konnten. Das radikale Konzept war pädagogisch erfolgreich, scheiterte jedoch 1957 aus
finanziellen Gründen. Viele - und durchaus leistungsorientierte – Emigranten aus Nazideutschland
zog es während der Dreißiger Jahre nach North Carolina; vor allem ehemalige Mitglieder des
Bauhauses nahmen dabei wichtige Funktionen wahr. Der Stellvertretende Leiter des Bauhauses,
Josef Albers, übernahm später sogar die Leitung des Colleges. Neben ihm wirkten – mehr oder
weniger lange – Anni Albers, Walter Gropius, Lyonel Feininger, Alexander Schawinsky, Stefan Wolpe,
Erwin Straus und sogar Albert Einstein vor dem Hintergrund der Bergwälder des Mount Mitchell.
Auch nach der Schließung pflanzte sich der Impuls des Black Mountain College fort, in direkter Weise
sogar an der inzwischen legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm. Als erste Hochschule wurde
die HfG zwischen 1945 und 1952 nach US-amerikanischem Vorbild konzipiert, mit einer Starthilfe von
einer Million Dollar, vermittelt durch den Alliierten Hochkommissar John McCloy. Der
Gründungsrektor, Max Bill, war Bauhaus-Schüler; gemeinsam mit ihm gehörten lediglich die
Bauhaus-Meister Walter Peterhans, Helene Nonné-Schmidt, Johannes Itten und – als gleichzeitiger
Leiter des Black Mountain College – Josef Albers zum überschaubaren Ulmer Gründungskollegium.
Neuausgabe, Reformpädagogische Schulkonzepte. Band 2, Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren, 2012, S. 183–206. 54
Eugen Blume, Black Mountain. Ein interdisziplinäres Experiment, Leipzig, Spector Books, 2015. Einen ähnlichen pädagogischen Ansatz vertritt übrigens das heute noch erfolgreich bestehende Warren Wilson College, das sich in direkter Nachbarschaft zum Gelände des Black Mountain Colleges befindet. Allerdings ist das WWC regional ausgerichtet und vermag daher keine internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
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TEIL II
Quantifizierbare Bildsamkeit oder Die Ökonomisierung des Herbartianismus
Die Reanimation der befreiten Pädagogik fand dann unter veränderten Bedingungen statt.
Tatsächlich hatte das Scheitern der Nationalsozialisten den Glauben der westdeutschen Lehrerschaft
an das dreigliedrige Schulsystem und die (unsichtbaren) Formalstufen fundamental gefestigt. Das NS-
System – mit Napolas und Adolf-Hitler-Schulen – war nun formal beseitigt, die pädagogische Schuld
damit scheinbar gesühnt. Allerdings klebten viele der pädagogischen Protagonisten des ebenfalls
schwer korrumpierten Regelschulsystems auf Beamtenstellen, wenigstens in den westlichen
Besatzungszonen. Und dort wurden ihre einschlägigen Erfahrungen und ihre Arbeitskraft dringender
denn je benötigt. So scheiterten die Amerikaner in ihrer Zone auch mit der Einführung einer
Gemeinschaftsschule, die sich am Konzept der amerikanischen High School orientieren sollte.55 Eine
Kommission unter dem Vorsitz des Dewey-Schülers George F. Zook (1885-1951) bereiste im Sommer
1946 Groß-Hessen, Württemberg-Baden und Bayern. Dort wurde einerseits der aktuelle Zustand im
Bildungswesen wahrgenommen. Übervolle Schulklassen, unterernährte Schüler, Flüchtlingsanteile
von bis zu 25 Prozent in vielen Klassen, geringe Unterrichtsversorgung, dezimierte und überalterte
Kollegien, unbrauchbares NS-Lehrmaterial und mitunter stark zerstörte Gebäude bildeten die
größten Herausforderungen im Bildungswesen dieser deutschen Länder. Bemerkt wurde auch, dass
gerade der hierarchische Aufbau des mehrgliedrigen Schulsystems den NS-Staat begünstigt hatte.56
Dagegen gaben die amerikanischen Bildungsexperten konkrete Empfehlungen, um möglichst
nachhaltig Abhilfe zu schaffen. Es sollten „alle Kinder mit allen zusammenkommen“57, bei
Abschaffung des Schulgeldes58 und der Einführung eines Ganztagesbetriebes mit Schulspeisung59.
Nach Vorstellung der Amerikaner würden in einer zwölfjährigen Gemeinschaftsschule folglich Kinder
und Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammen lernen. Diese Schule gliederte sich
in eine sechsjährige Elementarschulzeit, auf die nach einer inhaltlichen – aber nicht
leistungsorientierten – Differenzierung die Höhere Schule folgen sollte. In den oberen Klassen wären
die Schüler in der Lage gewesen, sich durch Fächerwahl vor Erlangung der Hochschulreife zu
spezialisieren60. Die sozialwissenschaftlichen Fächer sollten deutlich gestärkt werden. Explizit
genannt wurden dabei nicht etwa Volks- und Betriebswirtschaftslehre, sondern Geschichte,
55
Birgit Braun, Umerziehung in der amerikanischen Besatzungszone. Die Schul- und Bildungspolitik in Württemberg-Baden von 1945 bis 1949, Berlin, LIT Verlag, 2004, S. 33. Siehe dazu auch den programmatischen Bericht der Zook-Kommission: Der gegenwärtige Stand der Erziehung in Deutschland. Bericht der Amerikanischen Erziehungskommission, München, Die Neue Zeitung, 1946. 56
Vgl. Zook, S. 27: „Sehr früh, tatsächlich schon am Schluss des vierten Schuljahres, zerfiel die Schule bisher in zwei Teile: einen für die 5 oder 10% der geistig, sozial und wirtschaftlich Begünstigten, die zur höheren Schule, zur Hochschule und in die höheren Berufe übergingen; und einen anderen für die große Gruppe, die weitere vier Jahre die schulgeldfreie Grundschule und drei und mehr Jahre die Berufsschule besuchte. Schon im Alter von 10 Jahren sieht sich ein Kind eingruppiert oder klassifiziert durch Faktoren, auf die es keinen Einfluss hat, wobei diese Einstufung fast unvermeidlich seine Stellung für das ganze Leben bestimmt. Dieses System hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh.“ 57
Zook, S. 22. 58
Zook, S. 30. 59
Zook, S. 32. 60
Zook, S. 31.
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Geographie, Staats- und Heimatkunde.61 Methodisch sollte auf Gruppenarbeit und Diskussionen
großer Wert gelegt werden. Strukturell wurde eine Vielzahl von Gremien zur Pflege demokratischer
Mitbestimmung empfohlen. Vorgeschlagen wurden auch Austauschprojekte mit den neuen Schulen
für die Kinder der US-Militärangehörigen, Stipendien für Studienaufenthalte in den USA, die
Übernahme der Lehrerbildung durch die Universitäten62, eine finanzielle und hierarchische
Aufwertung der Volksschullehrer. Neben diesen vernünftigen Vorschlägen lassen sich jedoch
Vorstellungen erkennen, hinter denen sich ideologische und strukturelle Vorgaben verbergen. „Auf
wirtschaftlichem Gebiet fordert“, laut Bericht, „die demokratische Lebensform den Geist des
ehrlichen Spiels zwischen allen Wettbewerbern in der Erzeugung und der Verteilung der Güter.“63
Und die Kontrolle des Bildungswesens sollte zentral organisiert und in durchaus umfassender Weise
erfolgen, stärker als es dies im Deutschen Reich vor 1933 der Fall gewesen war: „Fragen der
Schulverwaltung, der Schulunterhaltung, Messungen und Tests der Schulgebäude und
Schulausstattung, der Lehrerbildung, der Lehrplangestaltung, selbst der pädagogischen und
Kinderpsychologie werden [in den Ländern der amerikanischen Besatzungszone, M.F.] arg
vernachlässigt. Pädagogische Bestandsaufnahmen sind praktisch unbekannt.“64
Der von der Zook-Kommission vorgeschlagene Weg wurde jedoch nicht begangen, vorerst. Die
konservativen deutschen Kultusbeamten unterliefen die auf Entwicklung, pädagogische
Chancengleichheit, Marktwirtschaft und evaluierende Kontrolle ausgerichteten Vorstellungen der
amerikanischen Besatzungsmacht. Die Gründe des Scheiterns - oder vielmehr Ignorierens - der
Reformen sind bestenfalls ansatzweise erforscht.65 Umgekehrt erwiesen sich die Arbeitsbedingungen
für deutsche Reformpolitiker in der unmittelbaren Aufbauphase nach dem Krieg natürlich als extrem
schwierig.66 Immerhin ließen die Amerikaner unter diesen Prämissen die Waldorfschulen wieder zu,
stellten sie schließlich eine echte Alternative zum öffentlichen Schulsystem mit seinen rassistisch
angefaulten Wurzeln dar.67
61
Zook, S. 30. 62
Zook, S. 39. 63
Zook, S. 21. 64
Zook, S. 55. 65
Bereits die Tatsache, dass in allen drei Ländern Kult- bzw. Kultusminister durch Verstrickungen mit dem NS-Staat belastet waren und ihre Ämter nach kurzer Zeit niederlegen mussten, lässt Aufschlüsse über die andauernde Wirkung der Vergangenheit zu. In Groß-Hessen wurde der Ordoliberale Franz Böhm als Kultusminister von den Amerikanern am 15. Februar 1946 entlassen, aufgrund seiner Unfähigkeit demokratische Reformen durchzuführen. Wilhelm Simpfendörfer wurde in Württemberg-Baden als NS-Hauptschuldiger entlarvt (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39344080.html). Auch dem bayerischen Kultusminister Otto Hipp wurde vorgeworfen, er habe die Entnazifizierungspolitik der Amerikaner nicht konsequent genug umgesetzt, sodass er bereits im September 1945 sein Amt niederlegen musste. Vgl. Winfried Müller, Schulpolitik in Bayern im Spannungsfeld von Kultusbürokratie und Besatzungsmacht 1945-1949, S. 27.
66 Theodor Heuss, der sich als Kultminister in Württemberg-Baden sehr für die christliche Gemeinschaftsschule
eingesetzt haben soll, klagte nach Aufgabe seines Amtes, er habe sich durch die Arbeitsbelastung im Ministerium noch nie „so ungebildet“, so gehindert am „Konsum von Wissenschaft und Bildung“ gefühlt. Zitiert in Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München, DVA, 2012, S. 386 f. 67
Selbstverständlich hat sich auch Rudolf Steiner in rassistischer Weise geäußert, was aus heutiger Perspektive mehr als verstörend wirken muss. Und nicht verschwiegen werden sollte, dass sich mit Friedrich Benesch sogar ein späterer Priester der Christengemeinschaft aktiv und gezielt in den Dunstkreis akademischer Rassenkundler hineinbewegte. Dennoch darf in diesem Kontext ebenso wenig verdrängt werden, dass an öffentlichen Schulen wesentlich aggressivere Formen von Rassismus und Nationalismus grundsätzlich akzeptiert und institutionalisiert waren. Besonders die flächendeckende Einführung von Rassenkunde und Vererbungslehre an öffentlichen Schulen während des Dritten Reiches leistete keinen geringen Beitrag zur Vorbereitung des 2.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39344080.html
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An diesem Punkte stellt sich eine vielleicht ketzerische Frage. Haben die Waldorfschulen
möglicherweise in den folgenden Jahrzehnten von dieser Konstellation profitiert? Mussten die
Waldorfschulen nicht zwangsläufig als attraktive Alternative erscheinen; neben einem staatlichen
System, das sich progressiven Veränderungen weitgehend entzog? Bis zur Eruption des Protestes, als
Studierende und Abiturienten 1968 gegen den „Muff aus tausend Jahren“ demonstrierten und dafür
von den Wasserwerfern und Schupoknüppeln der Großen Koalition abgestraft wurden?
Ein vergleichender Blick auf die Bildungspolitik in der SBZ und später in der DDR bestätigt diese
Perspektive allerdings nur eingeschränkt. Dort verlief die Entwicklung fast umgekehrt. Ein ähnlich
ambitioniertes Programm wurde mit dem Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule (1946)
anfangs konsequent umgesetzt, wobei der Gedanke der Gemeinschaftsschule hier tatsächlich aus
den Ideen der Reformpädagogik abgeleitet worden war. So wurden in der deutschen Einheitsschule
alle Schüler während der ersten acht Jahre gemeinsam unterrichtet, erst danach folgte die vierjährige
Erweiterte Oberstufe für die begabteren bzw. linientreueren Schüler. Ab 1959 wurde die
Polytechnische Oberschule für alle Schüler bis zur 10. Klasse geführt, die daran anschließende EOS
(Erweiterte Oberschule) mit gymnasialem Niveau wurde 1983 auf zwei Jahre verkürzt. Die dichten
Verbindungen zwischen der Reformpädagogik und den Bildungsfunktionären der frühen SED sind
dabei kaum zu übersehen.68 Die anfängliche Übernahme reformpädagogischer Grundlinien, deren
Spuren selbst im sowjetischen Schulsystem noch wahrgenommen werden konnten,69 führte jedoch
nicht zu einer Akzeptanz freier Schulen in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone). Im Gegenteil: Die
äußere Tatsache einer nun scheinbar reformierten Staatsschule machte, aus Sicht von Politbüro und
SMAD (Sowjetische Militäradministration), die Existenz freier Schulen überflüssig. Bereits 1949
wurden die meisten freien Schulen in der SBZ verboten, darunter die Waldorfschule in Dresden.70
Auch der eigentlich positive Ansatz, durch den Nationalsozialismus belastete Lehrer aus dem
Schuldienst zu entfernen, führte nicht zu einer größeren Demokratisierung des Schulwesens, sondern
zu stärkerer Kontrolle. Denn die Zwangsmaßnahmen ebneten zwar tausenden von sehr jungen
Neulehrern bereits nach einer Ausbildung von wenigen Monaten den Weg ins Klassenzimmer. Diese
Weltkrieges, der Euthanasie und des Holocausts. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die zahlreichen und höchst abstrusen Rassenkundelehrbücher des damals renommierten „Wissenschaftlers“ der Universität Berlin, Hans F.K. Günther, die in hoher Auflage auch im Schulunterricht Verwendung fanden. Selbst nach 1945 erfreute sich der als „Mitläufer“ eingestufte Ordinarius und unbelehrbare Rassist noch einer interessierten Leserschaft. Zwar wurde Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes nicht mehr an deutschen Gymnasien gelesen, erlebte aber in den amerikanischen Südstaaten ein begrenztes Revival. Vgl. https://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/118698923/biografie 68
Paul Wandel, der erste Volksbildungsminister der DDR, ließ sich nicht nur vom Reformpädagogen Karl Sothmann beraten. Der gebürtige Mannheimer dürfte seinen Nachfolger Klaus Gysi, begeisterter Absolvent der Heppenheimer Odenwaldschule, schon während der frühen dreißiger Jahre kennen gelernt haben. Noch 1955 gab Wandel gemeinsam mit Marcel Cachin, einem führenden Politiker der Kommunistischen Partei Frankreichs, einen Bildband über das Werk Max Lingners heraus. Auch Cachin hatte seine Kinder auf die Odenwaldschule geschickt. Der Reformpädagoge Paul Oestreich war sogar SED-Mitglied und wirkte als Dezernent für höhere Bildung im Magistrat von Groß-Berlin. Selbst ein Reformpädagoge wie Peter Petersen, dessen Nähe zum NS-Staat erwiesen war, konnte in der SBZ und der frühen DDR noch eine Professur für Pädagogik wahrnehmen. 69
Vgl. Anton Makarenko, Der Weg ins Leben, Berlin, Aufbau Verlag, 1950. 70
Der ehemalige Dresdner Waldorfschüler Volkmar Lindner schreibt dazu in einer autobiographischen Skizze: „1949 mit Gründung der DDR wurde die Waldorfschule in eine 1. Grundschule der Deutschen Demokratischen Republik umgewandelt und alle bisherigen Lehrer ausgewechselt. Die Fächer Englisch und Handarbeit wurden abgesetzt und bis zur 8. Klasse nicht mehr vermittelt. In den anderen 12 Fächern einschließlich Musik (!) haben wir eine sehr gute und gründliche Ausbildung erhalten.“ Vgl. https://senak.inf.tu-dresden.de/wordpress/wp-content/uploads/2018/01/2.6-Volkmar-Lindner-Meine-Schulzeit-von-1946-bis-1955.pdf
https://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/118698923/biografiehttps://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/118698923/biografiehttps://senak.inf.tu-dresden.de/wordpress/wp-content/uploads/2018/01/2.6-Volkmar-Lindner-Meine-Schulzeit-von-1946-bis-1955.pdfhttps://senak.inf.tu-dresden.de/wordpress/wp-content/uploads/2018/01/2.6-Volkmar-Lindner-Meine-Schulzeit-von-1946-bis-1955.pdf
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Neulehrer gerieten durch das Privileg, das ihnen die SED zugestanden hatte, jedoch in eine stärkere
Abhängigkeit von Partei und Volksbildungsministerium.71
Wie kommt die Ökonomisierung in die Schulen? Exkursion durch Neuere Geschichte und
Volkswirtschaftslehre
Massiv unterstützt wurde diese Entwicklung durch den unheimlichen Siegeszug der Sowjetunion in
Mittel- und Osteuropa, sowie die überwältigen Wahlerfolge der kommunistischen Parteien in
Westeuropa.72 Selbst in den deutschen Westzonen konnten die Kommunisten bereits Ende 1945 auf
130.000 Mitglieder verweisen, mit steigender Tendenz.73 Griechenland wurde sogar von einem
dreijährigen Bürgerkrieg (1946-1949) zwischen einer linken Volksfront und seiner
rechtskonservativen, monarchistischen Regierung zerrissen. Einzig die Schweiz, Irland, Portugal und
Spanien durften, letztere mit ihren reaktionären Diktatoren Franco und Salazar, in Europa als wirklich
stabile und strategisch relevante Verbündete betrachtet werden. Gleichzeitig begannen weltweit
weitere große Antipoden der Kommunisten in kürzester Zeit zu scheitern. Die Kolonialreiche der
Franzosen, Briten und Niederländer zeigten bereits dramatische Verwerfungen, in China war die
kommunistische Volksbefreiungsarmee unter der Führung Mao Zedongs nicht mehr aufzuhalten. Aus
amerikanischer Perspektive konnte damals mit dem drohenden Implodieren der europäischen
Kolonialherrschaft ein Machtvakuum entstehen, das Kommunisten aller Länder sofort für ihre
Zwecke nutzen würden. Der Bestand der freien Welt außerhalb der Vereinigten Staaten war folglich
unmittelbar bedroht. Die weitere Entwicklung kennen wir: Nur zwei Wochen nach George F. Kennans
Long Telegram aus Kiew74 hält Winston Churchill seine berühmte Sinews-of-Peace-Rede auf dem
eisigen Campus des Westminster College in Missouri. Dabei bekennt er sich zum Recht auf Eigentum
und zur freien Marktwirtschaft, und spricht vom Eisernen Vorhang, der die freie von der unfreien
Welt trennte.75 Allerdings klaffte eine ideologische Lücke in Churchills Rede. Denn der Marxismus war
vor allem deshalb erfolgreich, weil er über eine ökonomisch attraktive und sehr differenzierte
71
Knapp die Hälfte aller Neulehrer gehörte der SED an - eine Zahl, von der die damals auf Bundesebene regierende CDU bei westdeutschen Referendaren weit entfernt war. Bei den Schulräten der SBZ / DDR war sogar die überwiegende Mehrheit in der SED organisiert. Eine nachweisbare Erhöhung der Chancengleichheit bei den Schülern führte also auch in der DDR, wie an dieser Entwicklung unschwer zu erkennen ist, nicht zwangsläufig zu einer stärkeren Demokratisierung des Schulwesens, geschweige denn zu einem vielfältigeren und damit auch besseren Bildungsangebot. Erschwerend kam in den Anfangsjahren der DDR hinzu, dass durch das Entfernen älterer und erfahrener Pädagogen ein Lehrermangel herrschte, der direkte Auswirkungen auf Unterrichtsqualität und Bildung hatte. Vgl. Die nächsten Aufgaben der allgemeinbildenden Schulen. Entschließung der 4. Tagung des ZK der SED. Vom 19. Januar 1951, in Gottfried Uhlig, Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik. Teil 1: 1945-55, Berlin, Volk und Wissen, 1970, S. 384. 72
In Frankreich erhielt die PCF im November 1946 bei den Wahlen zur Nationalversammlung 182 Sitze, wurde in die Regierung gewählt und durfte fünf Minister stellen. Die Kommunistische Partei Italiens wurde zwar bereits 1947 aus der Regierung in Rom ausgeschlossen, verfügte aber über 1.8 Millionen Mitglieder, eine schlagkräftige paramilitärische Organisation und beherrschte politische Gremien auf regionaler und lokaler Ebene – beispielsweise in der Emilia Romagna. 73
https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Deutschlands#1945.E2.80.931956:_Reorganisierung.2C_KPD_im_Westen.2C_SED_im_Osten. 74
Der Originaltext befindet sich auf: http://nsarchive.gwu.edu/coldwar/documents/episode-1/kennan.htm 75
„But we must never cease to proclaim in fearless tones the great principles of freedom and the rights of man which are the joint inheritance of the English-speaking world and which through Magna Carta, the Bill of Rights, the Habeas Corpus, trial by jury, and the English common law find their most famous expression in the American Declaration of Independence.“ Vgl. Winston Churchill, Sinews of Peace, Westminster College, Fulton (MI), 5. März 1946.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Deutschlands#1945.E2.80.931956:_Reorganisierung.2C_KPD_im_Westen.2C_SED_im_Ostenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Deutschlands#1945.E2.80.931956:_Reorganisierung.2C_KPD_im_Westen.2C_SED_im_Osten
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Weltanschauung verfügte, die – wenigstens in Westeuropa und den Kolonien – auch ganz ohne
Zwang Millionen von Menschen zu überzeugen vermochte; trotzdem die höchst effiziente
Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten den wichtigsten materiellen Beitrag zum Sieg über
Nazideutschland geliefert hatte. Der Kapitalismus hatte dagegen lediglich ein vages
Glücksversprechen zu bieten, das noch in der Weltwirtschaftskrise auf beschämende Weise
gebrochen worden war. Eine klar definierte, einheitliche und attraktive Ideologie existierte nicht.
Für die Amerikaner bedeutete diese – hier bestenfalls rudimentär dargestellte – Lage, dass
Gegenmaßnahmen auf fast allen Gebieten eingeleitet und verstärkt werden mussten; manchmal
auch – wie in der McCarthy-Ära - mit einem Eifer, der pathologische Züge trug.
Charakteristischerweise übernahm auf wirtschaftlichem Gebiet dabei nicht der Staat, sondern der
Markt die Funktion des Multiplikators. Das wirtschaftstheoretische Roll-Back war anfangs keine von
oben dirigierte Maßnahme der Regierung Truman, sondern erwuchs aus der Graswurzelebene, in der
akademischen Lehre.
Samuelsons Economics versus Marx‘ Kapital
Associate Professor Paul Samuelson durfte ab Oktober 1945 zwei Kurse am MIT (Massachusetts
Institute of Technology) halten: Introductory Economics und Economics and Engineering. Ein Großteil
seiner Studenten bestand aus ehemaligen Soldaten, denen es der GI Bill ermöglichte, ein Studium der
Ingenieurwissenschaften aufzunehmen. Die Mischung aus Ingenieurwissenschaften und
Volkswirtschaftslehre war damals gewagt und neuartig. Da es kein passendes Lehrbuch für dieses
Spezialgebiet gab, empfahl Lehrstuhlinhaber Ralph Freeman seinem Kollegen Samuelson, doch
einfach ein neues zu schreiben. Samuelson entwickelte also für seinen Kurs Introductory Economics
(Ec11) Lehrmaterial, das mimeographiert im Unterricht zum Einsatz kam. Das Skript war nicht nur
flüssig geschrieben und mit anschaulichen Beispielen garniert, es ging inhaltlich auch auf die
Neigungen und Bedürfnisse von Studenten der Ingenieurwissenschaften an. Für sein Manuskript fand
Samuelson schnell einen Verlag: McGrawHill hatte bereits während des Krieges Handbücher der US
Armee in hoher Auflage publiziert; auf wirtschaftswissenschaftlichem Feld wurde immerhin der
Nobelpreisträger Joseph Schumpeter verlegt. Inhaltlich orientierte sich Samuelson am
Keynesianismus, also einer Variante der Marktwirtschaft, die Interventionen des Staates in
maßvollem Rahmen befürwortet. Dies entsprach der damaligen – nach New Deal und
Kriegswirtschaft – vorherrschenden, wirtschaftspolitischen Tendenz der Vereinigten Staaten. Vor
diesem Hintergrund überrascht der wirtschaftliche Erfolg des Werkes etwas weniger. 1948 waren
bereits 48.000 Exemplare verkauft. Economics wurde nicht nur am MIT verwendet, sondern auch in
den Hörsälen von Yale, Princeton, Harvard, Duke, Columbia, Purdue und vielen weiteren,
renommierten Universitäten. Vielmehr überrascht beim frühen – und noch vergleichsweise
moderaten - Siegeszug von Economics, dass negative Kritik vorwiegend von rechtskonservativer und
marktliberaler Seite artikuliert wurde. 76 Dabei bezogen sich die Kritiker nur teilweise auf Samuelsons
keynesianischen Ansatz77, den sie in die Nähe des Kommunismus rückten. Negativ bewertet wurde
auch, dass Samuelson zwar Weltgeschehen und -geschichte interpretierte, gleichzeitig aber andere
ökonomischen Denkschulen fast komplett ignorierte. Und schließlich wurde ihm der Vorwurf
76
Im Folgenden beziehe ich mich bei der Beschreibung der Genese von Economics vor allem auf den Artikel von Yann Giraud, The Political Economy of Textbook Writing: Paul Samuelson and the Making of the First Ten Editions of Economics (1945-1976) (August 21, 2011), in History of Political Economy, Vol. 46, No. 5. Ibid., S. 10. 77
Vgl. Giraud, S. 8. Zu nennen wäre hier vor allem Walter J. Beadle, Vorstandsmitglied des MIT und Manager der DuPont Corporation in Boston.
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gemacht, die Mathematik extensiv einzusetzen, um die Leser zu verwirren, damit sie unbewiesenen
Argumenten für die Planwirtschaft leichter Glauben schenken sollten. 78 Doch waren derartige
Einwände sicher nicht geeignet, die Verkaufszahlen von Economics stagnieren zu lassen. Denn
Samuelson hatte sich entschlossen, flexibel auf Kritik zu reagieren, diese in neue Auflagen zu
integrieren, um eine „middle-of-the-road position“ zu finden, die möglichst viele Leser erreichen
sollte. Sein Werk blieb damit nicht nur durch 19 Auflagen hinweg aktuell, sondern erhielt eine
außergewöhnlich hybride Qualität; gleich einem geistigen Klon, mit dem Potential zur
Unsterblichkeit, dessen Einzelteile auch von anderen Menschen erneuert werden konnten, wie dies
ab 1985 durch Samuelsons Nachfolger William Nordhaus geschah. So vermochte Samuelsons Werk
auch jeder Wendung der Weltgeschichte zu folgen, ohne jemals in einer Sackgasse oder auf einem
entlegenen Trampelpfad zu enden. Die erste deutsche Auflage von 1952 glich dabei noch einer
voluminösen Kampfschrift, die in ein ideologisches Vakuum der Sozialen Marktwirtschaft im Kalten
Krieg platziert wurde. Sie war schlecht übersetzt, damit auch krude formuliert, schwankte zwischen
einer umfangreichen, aber mitunter tendenziösen Darstellung der amerikanischen Volkswirtschaft –
und stellenweise recht schablonenhafter Argumentation, die den kommunistischen
Schulungshandbüchern der DDR in nichts nachstand.79 Das bereits erwähnte, eindimensionale
Feindbild, die scheinbar isolierte politische Lage der Vereinigten Staaten wurde selbstverständlich
auch von Samuelson reproduziert.80
Seine umfassende Erklärung der Welt, der scheinbar wissenschaftlichen Darstellung innerer
Mechanismen wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge war eine enorme Nachfrage
beschieden. In sechzig Jahren wurden mehr als vier Millionen Exemplare von Economics verkauft,
weltweit wurde das Werk in über 40 Sprachen übersetzt. In 19 Auflagen wurde es überarbeitet,
gedruckt, ausgeliefert, gelesen: Während des Korea-Krieges und beim Bau der Mauer, während der
Studentenunruhen von 1968, in den Jahren der sozialliberalen Koalition ebenso wie unter dem
Wende-Kanzler Kohl. Zur 13. Auflage fiel die Mauer, danach kollabierte die Sowjetunion, in Russland
wucherte die Marktwirtschaft, über deren Entstehung ein Zeitzeuge in Swetlana Alexijewitschs
Secondhand-Zeit später sagte: „Die Entdeckung des Geldes war wie die Explosion einer
78 ”Mathematical treatment of economic theory based upon data that are mere assumption, is used at length … and it is extremely doubtful that the student without considerable mathematical training can understand this objectionable method of presenting economic theory … The text is also the latest, and perhaps the best exposition of the theories of the larger number of “econometricians” who have taken over the economics departments of many of our universities. These believe that economic laws can be expressed in exact mathematical formulae as can be done in algebra and physical science. They try to prove their formulae in order to justify their national planning control.“ Vgl. Charles L. Kraemer, Review of Economics: An Introductory Analysis, The Educational Reviewer, Vol. 1 (2), October 15, 1949. Zitiert nach Giraud, S. 17.
79 Das äußerst umfangreiche Handbuch des Pionierleiters, Berlin, Verlag Neues Leben, 1952, ähnelt Samuelsons
Volkswirtschaftslehre in vielen Aspekten. Die erste Ausgabe wurde direkt aus dem Russischen übersetzt, eine Anpassung an deutsche Verhältnisse fand nicht statt. Das Werk selbst hat dabei einen umfassenden Welterklärungsanspruch, der von seiner Leserschaft aus Multiplikatoren normativ vermittelt werden sollte. Schließlich ähneln sich die beiden Formate in der Größe, der Seitenzahl und sogar der Farbe des Umschlags. 80 Beispielhaft sei nur dieser Auszug zitiert: „Sozialistische Regierungen sind in England, Frankreich, in ganz Skandinavien, in Italien, auf dem ganzen Balkan und in Osteuropa an der Macht. Russland mit seiner kommunistischen Regierung scheint auf dem Marsche zu sein. Auf dem amerikanischen Kontinent sind in zahlreichen lateinischen Ländern Diktaturen zu finden. Nur die Vereinigten Staaten bleiben eine Insel des Kapitalismus in unserer zunehmend totalitären und kollektivierten Welt. ... Die kapitalistische Lebensführung wird auf die Probe gestellt. Sie muss sie nicht nur bestehen, sie muss sie überlegen bestehen.“ Vgl. Paul A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Köln, Bund-Verlag, 1952, S. 672.
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Atombombe.“81 Economics aber war, wie die Baupläne der Atombombe, schon vorher in der
Sowjetunion angekommen. Mit einigen Kürzungen hatte das Werk bereits in den Sechziger Jahren
seinen Weg in die Universitätsbibliotheken gemacht, wo es von Graduierten der
Wirtschaftswissenschaften gelesen werden durfte.82 Ebenso überraschend war die Einführung von
Economics in der Bundesrepublik Deutschland. Dort wurden die ersten Auflagen über den
gewerkschaftseigenen Bund-Verlag vertrieben, der 1947 in Köln von Hans Böckler mitgegründet
wurde. Denn Samuelson war Keynesianer, akzeptierte Gewerkschaften und lieferte damit ein
passendes wirtschaftspolitisches Weltbild – gegen die Bedrohung aus der Sowjetischen
Besatzungszone, wo der FDGB (Freie Deutsche Gewerkschaftsbund) massiv unter die Kontrolle der
SMAD geraten war. Darüber hinaus vermochte Samuelson mit einem wahrnehmbar anderen Stil und
einer scheinbar wissenschaftlichen Methodik zu überzeugen. Während die meisten
deutschsprachigen Lehrbücher der Nationalökonomie noch weitgehend auf Statistiken, Diagramme
und Gleichungen verzichteten, sich also lediglich auf das Wort stützten, um den Leser zu überzeugen,
präsentierte Samuelson bereits in der ersten Auflage von Economics eine größere Anzahl von
Schaubildern und Tabellen, die sich bis zur jüngsten Auflage von 2016 noch kontinuierlich in Umfang
und Abstraktionsgrad erhöht haben. Diese scheinbar progressive, aber nicht diskutierbare Form von
Wissenschaftlichkeit wurde im Text gleichzeitig durch „einen sehr viel lebendigeren und auch
fröhlicheren Ton“ vermittelt „als wir das von deutschen Lehrbüchern gewohnt sind.“83 Denn
Samuelson spickte seine Texte nicht nur mit kurzweiligen Metaphern und kuriosen Beispielen.84 Sein
auktorialer und durchaus allwissender Erzähler gab auch durch verbale Signale zu verstehen, dass er
auf der Seite des Fortschritts und der Freiheit stünde.85
Im Gegensatz zu vielen anderen Schriften wurde und wird Samuelsons Lehrbuch tatsächlich gelesen,
häufig im radikal normativen Kontext eines wirtschaftswissenschaftlichen Bachelor-Studiums, das
zumeist eine unkritische inhaltliche Reproduktion voraussetzt, Widerspruch nicht akzeptiert, sondern
mit schlechten Bewertungen, möglicherweise sogar dem Abbruch von Studien- und Berufslaufbahn
ahndet.86 Diese – scheinbar freiwillige - Konditionierung des Denkens trug sicher dazu bei, dass
Fortschritt, Freiheit und Gleichheit fortan wesentlich leichter mit neoliberalen Methoden der
Ökonomisierung in Verbindung gebracht werden konnten. Denn der Erzähler argumentierte in
Economics nicht mit ostentativem Druck und Zwang, sondern stellte seine Behauptungen und
81
Swetlana Alexijewitsch, Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, München, Hanser Verlag, 2015, S. 26. 82
Vgl. Alexander Gerschenkron, Samuelson in Soviet Russia: A Report, in Journal of Economic Literature, Vol. 16, No. 2 (Jun., 1978), S. 560-573. 83
Vorwort zu Economics, S. V. 84
So vergleicht Samuelson beispielsweise die Arbeitslosigkeit mit Blinddarm und Weisheitszahn: „Der Wurmfortsatz am Blinddarm ist nicht das wichtigste Organ im Körper, noch ist der Weisheitszahn etwas Bedeutungsvolles. Dennoch erfordert jedes von diesen Dingen eine gewisse Aufmerksamkeit.“ Samuelson, Economics, S. 17. 85
Schon die Überschrift des 1. Kapitels setzt mit einem literarischen Zitat einen klaren Akzent: „Wem die Stunde schlägt“ ist der Titel eines bekannten Romans von Ernest Hemingway, der auch in Hollywood verfilmt wurde und den meisten der damaligen Studenten bekannt gewesen sein musste. Darin führt Hemingway seine Leser mit der Hauptfigur Robert Jordan, einem amerikanischen Studenten, in den Spanischen Bürgerkrieg, auf die Seite republikanischer Guerrilleros, die gegen das Militärbündnis des klerikalfaschistischen Reaktionärs Francisco Franco kämpften. 86
Besonders das Netzwerk Plurale Ökonomik thematisiert diesen Sachverhalt immer wieder: https://www.plurale-oekonomik.de/netzwerk-plurale-oekonomik/
https://www.plurale-oekonomik.de/netzwerk-plurale-oekonomik/
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(zumeist unbelegten) Fallbeispiele im Plauderton als objektive Tatsachen dar, die am Ende eines
Kapitels anhand von Fragen zu rekapitulieren waren.87
Welche Wirkung aber zeitigte Samuelsons Weltsicht? Wo und wie verbreiteten sich seine
keynesianischen Erklärungsmuster wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge, auch als
gemäßigte Antworten auf die Bedrohung des Marxismus? Die Mathematisierung der
Volkswirtschaftslehre versprach eine größere Wissenschaftlichkeit, mithin auch eine numerale
Verdichtung von Objektivität, die nicht nur dazu genutzt wurde, eine stärkere Chancengleichheit
einzufordern, sondern auch - über das Wirtschaftswachstum - mehr Ressourcen für den
Wirtschaftsfaktor Bevölkerung anzumahnen. Während der Dekade des Wirtschaftswunders war
diese Sicht noch nachvollziehbar. Die wirtschaftliche Infrastruktur musste wieder aufgebaut,
Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene sollten integriert werden; der Bedarf an Arbeitsplätzen,
Wohnraum, Konsumgütern in den drei deutschen Staaten war exorbitant. Allerdings wurde auch die
Bevölkerung in diesem Denken lediglich abstrahiert: Zur stetig optimierbaren und wachsenden
Quantität, der in diesem Denken lediglich die Funktion des “Humankapitals“ zugewiesen wurde. Die
turbulente Entwicklung der deutschen und letztlich der westeuropäischen Wirtschaft trug auch zur
Etablierung gemeinsamer supranationaler Organe bei, wie der OECD, die auf dem Feld der
Bildungspolitik wahrscheinlich die einflussreichste Organisation ist, veranlasste sie doch viele und
groß konzipierte Studien mit normativem Charakter – die wichtigste davon die Bildungsstudie PISA
(ab 1997).
Die OEEC, eine Vorläuferorganisation der OECD, wurde 1947 gegründet, um die Durchführung des
Marshall-Plans bzw. des European Recovery Programs (ERP) zu unterstützen. Damit konnte der
wirtschaftliche Wiederaufbau Westeuropas vollzogen werden; in der Praxis direkt am Keynesianimus
orientiert. Anfang der Sechziger Jahre trat das stürmische Wachstum in eine Konsolidierungsphase,
die auch vor dem Hintergrund der Entkolonialisierung andere Erfordernisse und Schwerpunkte mit
sich brachte. Die OECD koordinierte ab 1961 Handelsabkommen, erweiterte die Entwicklungspolitik,
dehnte ihren Wirkungsbereich auf die Landwirtschafts-, Umwelt- und Energiepolitik, die
Korruptionsbekämpfung, den konstruktiven Umgang mit Migration und schließlich auch die
Bildungspolitik aus.
In den Sechziger Jahren wirkten gerade die Bildungssysteme vieler europäischer Staaten sklerotisiert:
Lehrer und Hochschullehrer, die bereits nach dem Zweiten Weltkrieg eine fatale Kontinuität
reaktionärer gesellschaftlicher Werte und Strukturen sichergestellt hatten, dozierten noch immer vor
jungen Menschen. Deren Horizont hatte sich – nicht zuletzt durch westlichen Einfluss – dagegen
deutlich erweitert. Eine neue Generation forderte nun vehement Mitspracherecht,
Chancengleichheit und damit auch die geistige Öffnung von Schulen und Universitäten. Ziele also, die
87 Als Beispiel mag an dieser