Was ist Tierwohl?
…aus Sicht der Nutztierethologie Gekürzte PDF‐Version des Vortrages
Birger Puppe
Institut für Verhaltensphysiologie, Leibniz‐Institut für Nutztierbiologie, Dummerstorf
Professur für Verhaltenskunde, Agrar‐ und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Universität Rostock
DAF‐TagungNutztierhaltung:
Herausforderungen und Implikationen für die ForschungBerlin, 25.−26. Oktober 2016
DAF-Tagung 2016Nutztierhaltung: Herausforderungen und
Implikationen für die ForschungProf. Dr. rer. nat. habil. Birger Puppe
Berlin, 25.−26. Oktober 2016
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Erster Abschnitt: Grundsatz § 1
Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leidenoder Schäden zufügen.
Zweiter Abschnitt: Tierhaltung §2
1. ...das Tier nach Art und Bedürfnissen...angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen...
2. ...artgemäße Bewegung nicht einschränken...
3. ...erforderliche Kenntnisse und Fähigkeiten des Personals...
Grundgesetz seit 2002: Staatsziel Tierschutz BGBl I, S. 1207, 18. Mai 2006
Was ist Tierwohl? Zunächst: Ein rechtlich‐ethischer Ausgangspunkt − Tierschutzgesetzgebung (D)
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… aus Sicht der Nutztierethologie? Zunächst: Was ist überhaupt Verhalten …aus Sicht der Verhaltensbiologie (Ethologie)
Verhaltensbiologie (Ethologie), ist eine Disziplin der Biologie, die mit wissenschaftlichen Methoden das Verhalten von Tieren und Menschen untersucht
Verhalten = Organismische Interaktion mit der Umwelt auf der Grundlage eines Informationswechsels im Dienste der individuellen, ökologischen und reproduktiven Fitness... → Fitnessmaximierung
Günter Tembrock, Verhaltensbiologie, Fischer Verlag
Verhalten = Gesamtheit der intern verursachten Aktionen und der Reaktionen auf Umweltreize… → innere und äußere Auslöser des Verhaltens
Rolf Gattermann Wörterbücher der Biologie. Verhaltensbiologie, Fischer Verlag
Verhalten = Bewegungen, Lautäußerungen und Körperhaltungen eines Tieres, sowie diejenigen äußerlich erkennbaren Veränderungen, die der gegenseitigen Verständigung dienen und damit beim Partner ihrerseits Verhaltensweisen auslösen können…
Klaus Immelmann, Wörterbuch der Verhaltensforschung, Paul Parey
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DievierFragenvonNikolaasTinbergen (1963)
Wie desVerhaltens=proximat
1. Verursachung des Verhaltens → Mechanismen der Verhaltenssteuerung(intern und extern)
2. Ontogenese des Verhaltens → Mechanismen der Verhaltensentwicklung (Ontogenese)
Warum desVerhaltens=ultimat
3. Fitnesswert des Verhaltens → Konsequenzen des Verhaltens(adaptiver Wert, Überlebens‐ und Fortpflanzungserfolg)
4. Phylogenese des Verhaltens → Ursprung des Verhaltens(stammesgeschichtliche Entstehung)
Fragestellungen zum Verhalten? …aus Sicht der Verhaltensbiologie (Ethologie)
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ABER: Individuen treffen (auch) kognitiv‐emotionale Bewertungen über die sie betreffende Relevanz eines Ereignisses (z.B. angenehm vs. unangenehm, belohnend vs. bestrafend etc.), anhand derer sie über geeignete Reaktionen „entscheiden“.
Emotionen = sind intensive, reflektive Wahrnehmungen von Antriebs- und Bewertungszuständen mit (überwiegend) kurzfristigen affektiven Reaktionen.
● Evolution: Emergenz mentalerErlebnisse=MittelzurIntegrationvielfältigerImpulseimGehirn● Anatomisch‐funktionell: limbisches System=befindlichkeitsrelevanteGehirnstrukturen
Verhalten als Tier−Umwelt−InteraktionDie emotionale Dimension des Verhaltens
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Selbstaufbau
Selbsterhalt
Bedarf HandlungsbereitschaftMotivation
StoffeReizeBedingungen
suchen
erkennen
nutzen
meiden
APPETENZVERHALTEN Erfahrungen/Bewertungen:
● angenehm / sicher
● unangenehm / unsicher
SCHADENSVERMEIDUNG
EMOTIONEN, WOHLBEFINDEN
‐ +
Individuum Verhalten Umwelt
BEDARFSDECKUNG
Verhalten als Tier−Umwelt−InteraktionDie emotionale Bewertungsebene im Verhalten
verändert, nach TSCHANZ et al (1997)
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Nutztierethologie Die (eher) proximate Betrachtungsebene des Verhaltens
Nutztierethologie = Zweig der Verhaltensbiologie (Ethologie), der das Verhalten von Nutz‐, Haus‐, Labor‐, Versuchs‐ und Zootieren erforscht.
→ Ziel in der Nutztierethologie ist es vor allem die Interaktionen von Tieren mit ihrer Umwelt besser zu verstehen und auf dieser Grundlage Ansätze zur Förderung von Wohlbefinden, Gesundheit und Leistung zu entwickeln.
Lexikon der Biologie, Spektrum Akademischer Verlag
ultimat„Warum“
Grundlagenethologie Nutztierethologie
?Evolution:Fitnessmaximierung(Ressourcenzugang,Räubervermeidung,
Fortpflanzung,Jungenaufzucht)
Zustand,Bewältigung,Bewertung(Coping,AnimalWelfare,
Gesundheit,Leistung)
proximat„Wie“
ultimat„Warum“
proximat„Wie“
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Tier
Umwelt
Anpassungsrepertoire (Evolution)
Herausforderungen(Haltungsumwelt)
Nutztierethologie und Animal WelfareCoping und kognitiv‐emotionale Bewertung
ANIMALANIMAL WELFAREWELFARE
Coping(Bewältigung)
++ -- +++
kognitiv‐emotionale Bewertung
proximate Faktoren „Wie“
ultimate Faktoren „Warum”
verhaltensphysiologische Reaktionen (physisches und psychisches Wohlergehen
FRASER et al (1997): Animal Welfare 6, 187-205PUPPE et al (2012): Züchtungskunde 84, 307-313
nicht erfolgreiches Coping(keine biologische Funktion)
nicht erfolgreiches Coping(keine adäquate Anpassung)
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1. Freiheit von Hunger und DurstWasser / Nahrung
2. Freiheit von Schmerzen, Verletzungen oder KrankheitenVorbeugung / Therapie / Behandlung
3. Freiheit von Diskomfortentsprechende Umweltgestaltung / Zuflucht / Rückzug / Ruhe
4. Freiheit das normale Verhalten auszuführen Platz / adäquate Sozialbedingungen / Beschäftigung
5. Freiheit von Furcht, Angst und DisstressHaltung, Management, Manipulationen ohne mentales Leiden
Umsetzung
+
–
Animal Welfare in der Nutztierethologie„Five Freedoms“ …aus anthropozentrischer Sicht
DiefünfFreiheitsgradedesFarmAnimalWelfareCouncil(FAWC,1979,1992)
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Gesundheit… a state of mental and physical health, where the animal is in harmony with its
environment (HUGHES 1976)
Kognition… is dependent on the cognitive needs of the animals concerned (DUNCAN & PETHERICK 1989)
Emotion… involves the subjective feelings of animals (DAWKINS 1990)… is the animal’s perspective on the net balance between positive (e.g. reward) and
negative (e.g. distress) experiences of affective states (SPRUIJT 2001)… involves the presence of positive experiences/emotions (BOISSY et al 2007)
Coping… is its states as regards its attempts to cope with its environment (BROOM 1986)… is a state which is indicative of an animal's ability to cope with and to adapt to the
environment and to make an emotional assessment of the result (PUPPE 1996)
Animal Welfare—Wohlbefinden Das Definitionsproblem !!!
11YERKES & DODSON (1908): J Comp Neurol Psychol 18, 459-482
Erregungsniveau / Aktivierung (Arousal) / Anspannung / Herausforderung
Leistun
gsfähigkeit
optimaler Bereich
Leistungsfähigkeit vs. HerausforderungDas Yerkes Dodson Law …der Versuch einer (verhaltens)physiologischen Sicht
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Herausforderungen durch Haltungsumwelt
schlechtes
Woh
lbefinde
n
Hypostimulation Hyperstimulation
neutral
Allostatic Load„wear and tear“
Allostatic Load„use it or loose it“
gutes
Woh
lbefinde
n
Wohlbefinden und HerausforderungDas Konzept der Allostase − Erreichen von Stabilität durch Veränderung
optimaler Bereich
Regulations‐kapazität(Allostase)
Sollwert(Homöostase)
KORTE et al (2007): Physiology & Behavior 92, 422-428
13MEYER et al (2011): Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift 123, 446–456
Umweltherausforderung Umweltanreicherung Verbesserung der biologischen Relevanz von Haltungsbedingungen
Hanggi (2009) Anim Cogn Rekämper & Görlach (1998) J Dairy Sci Meyer et al (2012) Anim Cogn Puppe et al (2007) Appl Anim Behav Sci
Nutztiere
Zootiere
Kognitive Umweltanreicherung = Nachhaltige Verbesserung in Verhalten, durch kognitive Herausforderungen Umweltbewertung und Wohlbefinden
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erregt
erfreut
traurig
deprimiert
Wohlbefinden und UmweltDas Konzept der kognitiv‐emotionalen Umweltbewertung − Arousal und Valenz
furchtsam
ängstlich
entspannt
beruhigt
Arousalhoch
niedrig
positiv negativ Valenz
furchtsam
entspannt
ängstlich
beruhigt
erfreut
deprimiert
erregt
traurig
Belohnungs‐Erwerbssystem
Bestrafungs‐Vermeidungssystem
diskrete Zustände dimensionales Modell
MENDL et al (2010): Proceedings Royal Society B 277, 2895-2904ZEBUNKE et al (2011): Animal Behaviour 81, 481–489PUPPE B et al (2012): Züchtungskunde 84, 307–319
erregt
erfreut
traurig
deprimiert
KOGNITIVES EN
RICHMEN
T
Kognition
Haltung
+
+
mesolimbischesSystem
Amygdala, ventraler präfrontaler Cortex
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1.Orientierendes Verhalten (Appetenz)▪Exploration
2. Operantes Lernen▪KognitiverAdaptationsprozess
▪Belohnungserwerb
3. Gerichtetes Verhalten▪Kognitive Adaptation
Motivation ↑Mesolimbisches System ↑
Kognitiv‐emotionale Bewertung
+
+
Kognitive Psychologie
UmweltanreicherungVon der Konditionierung zur kognitiv‐emotionalen Umweltanreicherung
MANTEUFFEL et al (2009): Animal Welfare 18, 87–95MANTEUFFEL et al (2009): Applied Animal Behaviour Science 118, 191–198
Belohnung
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Kognitive UmweltanreicherungVerhaltensphysiologische Reaktionen
●gleiche Leistung, tendenziell verbesserte Fleischqualität(Dripverlust, oxidative Muskelfasern)
FIEDLER et al (2005):DTW 112, 363–386
●keine erhöhte Stressbelastung (Speichelcortisol),verbesserte Wundheilung (Biopsiewunde),verbesserte Immunreaktivität (IgG, T‐Zellenproliferation)
ERNST (2006): Physiol Behav 89, 448–456
● erhöhte Bewegungsaktivität, weniger Verhaltensanomalien (Bucht),verringerte Angst‐/Furchtreaktionen (Verhaltenstest)
PUPPE et al (2007):Appl Anim Behav Sci 105, 75–86
●Ansprechen des Belohnungssystems (Amygdala: Downregulation der Genexpression von к‐ und δ‐Opioidrezeptoren)
KALBE & PUPPE (2010):Genes Brain Behav 9, 75–83
●Autonome Balance (HF, HRV: Sympathikus/Parasymphatikus) indiziertemotional positive Bewertung (Aufrufreaktion, Futteraufnahme)
ZEBUNKE et al (2011):Anim Behav 81, 481–489
●verringertes Aggressions‐ (Bucht), erhöhtes Explorationsverhalten(Verhaltenstest), Autonome Balance emotional positive Bewertung
ZEBUNKE et al (2013):Physiol Behav 118, 70–79
Institut für Verhaltensphysiologie, FBN Dummerstorf> 80% Lernerfolg: ca. 4-6 Tage bei > 20 Aufrufe/Tag (Mastläufer)
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Emotionale Zustände beeinflussen kognitive Entscheidungen Der Cognitive Bias Ansatz
Optimisten
Pessimistennegativ
positiv
positiv
negativ
Spatial Judgment Task (DÜPJAN et al (2013): Journal of Veterinary Behavior 8: 485−489)
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negativ TeststimuliAm
ygda
la
Hippo
campu
s
Hypop
hyse
Stria
tum
Cingulärer
Cortex
basalerH
irnstam
m
Präfrontaler
Cortex
Kontrollepara-Chlorophenylalanin
Emotionale Zustände beeinflussen kognitive Entscheidungen Der Cognitive Bias Ansatz
StTRACKE et al Applied ethology 2016 (Proceedings ISAE)STRACKE et al Psychoneuroendocrinology, submitted
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Wohlbefinden aus Sicht der Nutztierethologie……ist ein Zustand physischer und psychischer Gesundheit, der sich
– vor dem Hintergrund individueller, auch kognitiver Ansprüche und Fähigkeiten –aus dem Prozess der ethologischen und physiologischen Adaptation
bei der Bewältigung von Herausforderungen durch die Umwelt und den dabei gemachten subjektiven Erfahrungen und emotionalen Bewertungen ergibt.
Animal Welfare −Wohlbefinden Eine Arbeitsdefinition… (Puppe et al 2012)
Tiere sind fühlende Wesen („sentient beings“), deren Wohlergehen in vollem Umfang Rechnung zu tragen ist EU-Verträge von Lissabon/Amsterdam, 1997
Leben und Wohlbefinden der Tiere ist zu schützen, verhaltensgerechte Unterbringung (seit 2002 Staatsziel Tierschutz, Grundgesetz) Tierschutzgesetz
Tier Umwelt/Haltung
(Bewertungen) (Herausforderungen)
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Tierwohl ?… der Versuch einer Begriffsverortung
Schwerin M, Langbein J, Puppe B (2014)Symposium „Forschung zum Tierwohl“, Bonn
Tierwohl: komplexer − im politisch‐gesellschaftlichen Dialog verwendeter −bisher aber weitgehend undefinierter und unterschiedlich betrachteter Sammel‐ bzw. Überbegriff….…scheinbar eher gemeint als ein marketingorientiertes Konzept derumfassenden Prozess‐ und Qualitätskennzeichnung sowie ‐optimierung auf allen Stufen der Wertschöpfungskette ‚Lebensmittel tierischer Herkunft‘…
Ziel: durch Sicherung von hohen Tierschutzstandards, von tiergerechter Haltung und von hohen Prozess‐ und Produktqualitäten letztlich eine hohe Transparenz und Verbraucherakzeptanz zu erreichen.
In Hinsicht auf das Nutztier sollte (ist?) dieses Konzept dementsprechend auf die Sicherung einer tiergerechten Haltung und auf das Wohlbefinden der Tiere (§ 1 Tierschutzgesetz) ausgerichtet sein (naturwissenschaftliche Basis?)
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Wohlergehen Wohlbefinden Tierwohl
Gesundheitphysisch+psychisch
Bewertungkognitiv+emotional
„Prozessqualität“KritischeKontrollpunkteAdaptation/Coping
physiologisch+ethologisch
Tierwohl ?Anstelle eines Fazits
Puppe B (2015): Innovationsforum Tierwohl, Dummerstorf
Leibniz‐Institut für Nutztierbiologie FBN
Wilhelm‐Stahl‐Allee 218196 Dummerstorf
KONTAKT
Kontakt
Prof. Dr. Birger PuppeTelefon: +49 38208 68 800Telefax: +49 38208 68 802E‐Mail: puppe@fbn‐dummerstorf.deInternet: www.fbn‐dummerstorf.de