759
Was ist Wahrheit?
760
761
Eigenschaften der Wahrheit
762
Objektivität„Wahr-Sein“ vs. „Für-Wahr-Halten“
763
ZeitlosigkeitWahrheit hat keine Geschichte, Glauben und Wissen
hingegen schon.
764
SpachunabhängigkeitÜbersetzung ändert die Wahrheit/Falschheit nicht
765
Transzendenz (Realismus)Es ist möglich, dass es Wahrheiten gibt, die wir
prinzipiell nicht erkennen können
766
Immanenz (Anti-Realismus)Wahrheit und Erkenntnis sind untrennbar
miteinander verbunden.
767
Wahrheitsträger
768
Sätze (abstrakte sprachliche Formen)Äußerungen (konkrete sprachliche Handlungen)
Wahrheit ist sprachübergreifend
769
Urteile (konkrete psychische Ereignisse)Überzeugungen (konkrete psychische Zustände)
Wahrheit ist objektiv und zeitlos.
770
Propositionen (abstrakte semantische Objekte)
Wie können wir Propositionen erfassen?
771
Wahrheitstheorien
772
Korrespondenztheorie (Realismus)Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt übereinstimmt.
773
Epistemische Theorie (Antirealismus)Wahr werden diejenigen Erkenntnisse genannt, die
„perfekt“ sind.
774
DeflationismusDas Prädikat „ist wahr“ hat keine Bedeutung und lässt
sich eliminieren.
775
Korrespondenztheorie
776
Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt im Einklang
steht.
Eine Satz ist wahr, wenn es eine Tatsache gibt, mit der
er übereinstimmt.
777
Wittgensteins Bildtheorie der
Wahrheit
778
Ein Satz ist ein Bild einer Tatsache.
779
Semantische BedingungDie Teile eines Satzes stehen für Teile von Tatsachen.
780
Bedingung der StrukturgleichheitDie Teile eines Satzes sind genauso angeordnet wie
die Teile der Tatsache.
781die Katze | sitzt auf | der Matte
782
Probleme der Bildtheorie
783
UniversalienproblemGibt es Eigenschaften oder Relationen?
784
Das Problem fehlender
korrespondierender Tatsachen
785
Die Katze sitzt nicht auf der Matte.
negative, wahre Sätze
786
Es gibt eine Katze, die auf der Matte sitzt.
Existenzsätze
787
Die Katze könnte auf der Matte sitzen.
kontrafaktische Sätze
788
Höchstwahrscheinlich sitzt die Katze auf der Matte.
probabilistische Sätze
789
Eine Katze ist eine Katze.
Tautologien und mathematische Sätze
790
Das Slingshot Argument
Frege, Church, Quine, Davidson
791
Alonzo Church (1903-1995)
Einflussreicher amerikanischer Mathematiker
und Logiker, der wichtige Grundlagen für die
mathematische Logik, wie das Lambda Kalkül
oder das Church-Turing Theorem, und die
Informatik gelegt hat.
“An Unsolvable Problem of Elementary Number Theory” (1936); Introduction to Mathematical Logic (1944/56); The Calculi of Lambda Conversion (1941)
792
SynonymieWenn zwei Sätze dasselbe bedeuten, dann
korrespondieren sie mit derselben Tatsache.
793
SubstitutionWenn man einen Teilausdruck eines Satzes durch
einen anderen ersetzt, der für dasselbe steht, dann
korrespondiert der Satz, der sich daraus ergibt, mit
derselben Tatsache wie der ursprüngliche Satz.
794
Scott ist der Autor von Waverly.
Scott ist der, der 29 Waverly-Novellen geschrieben hat.
Substitution
795
Scott ist der, der 29 Waverly-Novellen geschrieben hat.
Die Anzahl von Scotts Waverly-Novellen ist 29.
Synonymie
796
Die Anzahl von Scotts Waverly-Novellen ist 29.
Die Anzahl der Verwaltungsbezirke in Utah ist 29.
Substitution
797
Die Anzahl der Verwaltungsbezirke in Utah ist 29.
Utah hat 29 Verwaltungsbezirke.
Synonymie
798
Scott ist der Autor von Waverly.
Utah hat 29 Verwaltungsbezirke.
… bringen dieselbe Tatsache zum Ausdruck
799
Fazit
Jeder wahre Satz korrespondiert mit
derselben Tatsache. Es gibt daher nur eine
„große“ Tatsache, die mit jedem wahren
Satz korrespondiert.
800
Tarskis semantische Theorie
der Wahrheit
801
Alfred Tarski (1901-1983)Tarski ist ein polnisch-amerikanischer Logiker.
Er gilt als der Begründer der formalen
Semantik („Modelltheorie“). Seine Arbeiten
zum Problem der Definition der Wahrheit
waren bahnbrechend und hatten einen
großen Einfluss auf die Philosophie.
„Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“ (1936); „The Semantic Conception of Truth and the Foundations of Semantics“ (1944)
802
Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt im Einklang
steht.
Eine Satz ist wahr, wenn es sich so verhält, wie er sagt.
„x“ ist wahr in L genau dann, wenn p.
803
T-Sätze„x“ ist wahr in L gdw. p
„Grass is green“ ist wahr im Englischen gdw. Gras grün ist.
„Neapel liegt südlich von Rom“ ist wahr im Deutschen gdw.
Neapel südlich von Rom liegt.
804
Wir können nur sagen, daß jede Äquivalenz der Form (T), die wir
nach Ersetzung von ‚p‘ durch eine partikuläre Aussage und von ‚x‘
durch den Namen dieser Aussage erhalten, als eine partielle
Definition der Wahrheit betrachtet werden kann, die erklärt, worin
die Wahrheit dieser einen individuellen Aussage besteht. …
Tarski, Die semantische Definition der Wahrheit und die Grundlagen der
Semantik
805
Die Konvention T
806
(T-1)
„Gras ist grün“ ist wahr im Deutschen gdw. Schnee
weiß ist.
807
Konvention T (Adäquatheitskriterium)
Eine Wahrheitsdefinition für eine Sprache L impliziert alle korrekten Sätze des Schemas
(T) „x“ ist wahr in L gdw. p
so dass x ein Satz der Objektsprache L und p eine Übersetzungvon x in die Theoriesprache ist.
808
(T-2)
„Gras ist grün“ ist wahr im Deutschen gdw. Gras grün
ist.
Dieser T-Satz stellt eine adäquate Definition der Wahrheit für den
deutschen Satz „Gras ist grün“ dar, denn „Gras ist grün“ (p) ist eine
Übersetzung von „‘Gras ist grün‘“ (x).
809
Das ist aber noch nicht das, was wir eigentlich haben
wollen: eine allgemeine Definition des
Wahrheitsbegriffs für alle Sätze der untersuchten
Sprache.
810
… Die allgemeine Definition muß in einem gewissen
Sinne die logische Konjunktion all dieser partiellen
Definitionen sein.
Tarski, Die semantische Definition der Wahrheit und die Grundlagen der
Semantik
811
Rekursive Definitionen
812
Atomare Sätze (Rekusionsanfang)Falls S ein Satz der Form „F(a)“ in L ist, dann ist S in L wahr gdw.
das Individuum, welches a denotiert, Element der Klasse von
Individuen ist, welche F denotieren.
813
Komplexe Sätze (Rekursionsschritt)Falls S ein Satz der Form „G und H“ in L ist, dann ist S in L wahr
gdw. G wahr ist und H wahr ist.
Falls S ein Satz der Form „G oder H“ in L ist, dann ist S in L wahr
gdw. G wahr ist oder H wahr ist.
Falls S ein Satz der Form „Für alle x, Fx“ in L ist, dann ist S in L
wahr gdw. F(i) für alle Belegungen i für die Variable x wahr ist.
814
Abschluss (Rekursionsabschluss)Nichts sonst ist wahr in L.
815
Zusammenfassung
816
Welche Form muss eine Theorie der Wahrheit haben?
Sie muss Sätze der Form T liefern.
817
Wann ist eine Definition von „ist wahr in L“ adäquat?
Wenn die Konvention T erfüllt ist.
818
Wie kann man eine allgemeine Definition dieser Art
aufstellen?
Durch eine induktive Definition, in der zuerst die
Wahrheitsbedingungen für die Basissätze einer Sprache und
danach aufbauend für alle anderen, komplexen Sätze formuliert
werden.
819
Epistemische Wahrheitstheorien
(Antirealismus)
820
Wahrheit gibt es nicht außerhalb unserer Erkenntnis.
Es gilt daher ein Kriterium für die Wahrheit unserer
Überzeugungen zu finden.
821
Rationale Akzeptierbarkeit
Eine Proposition ist wahr, wenn sie unter idealen
Bedingungen von einer vollständig rationalen Person
akzeptiert werden würde.
Charles Sanders Peirce
822
Wahr ist demzufolge das, was vollständig vernünftige
Menschen nach ausreichender Nachforschung für
wahr halten.
823
Wahrheit übersteigt die Perspektive rationaler
Personen grundsätzlich nicht.
824
Wahrheit ist eine immanente Eigenschaft unserer
Erkenntnispraxis.
825
Konsenstheorie
Eine Proposition ist wahr, wenn sie unter idealen
Bedingungen für alle Mitglieder einer
Sprechergemeinschaft rational akzeptierbar ist.
Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas
826
Wahrheit ist nicht nur eine immanente, sondern auch
eine soziale Eigenschaft unserer Erkenntnispraxis.
827
Probleme
828
IdealisierungenWir sind keine vollständig rationalen Personen. Auch
die Bedingungen sind niemals ideal.
829
AkzeptanzMan kann etwas aus unterschiedlichen Gründen
akzeptieren (Authentizität, Vernünftigkeit, Autorität).
Der relevante Begriff der Akzeptanz muss hier lauten:
Etwas als wahr akzeptieren.
830
RationalitätEine Person ist rational, wenn sie in ihrem Denken
und Handeln Prinzipien folgt, die Wahrheit erhalten
bzw. zur Wahrheit führen. Man kann also den Begriff
der Rationalität nicht explizieren, ohne dabei den
Begriff der Wahrheit zu verwenden.
831
KonsensBestätigt Konsens nicht bestenfalls manchmal (und
bestimmt nicht immer) eine Wahrheit, anstatt sie
allererst zu begründen?
832
Kohärenztheorie
Eine Überzeugung ist wahr, wenn sie ein Element in
einem kohärenten System von Überzeugungen ist.
Blanshard, Neurath, Davidson
833
Wenn wir uns fragen, ob ein Satz oder eine
Überzeugung wahr ist, haben wir dann nicht immer
nur andere Sätze oder Überzeugungen, auf die wir
uns dabei stützen können?
834
Kohärenz(1) Die Überzeugungen müssen zueinander logisch konsistent
sein und dürfen sich nicht widersprechen.
(2) Die Überzeugungen müssen untereinander in einem
Schlussfolgerungs-, Rechtfertigungs- und
Erklärungszusammenhang stehen.
835
Probleme
836
AlternativsystemeZu jedem kohärenten System von Überzeugungen
gibt es mindestens ein anderes, ebenfalls kohärentes
System von Überzeugungen derart, dass beide
Systeme sich gegenseitig logisch ausschließen.
837
Märchen und GeschichtenMan kann kohärente Märchen erzählen. Man kann
überhaupt irgendein beliebiges kohärentes System
von Überzeugungen konstruieren, das nichts mit
unserer Wirklichkeit gemein haben muss.
838
HolismusEine Überzeugung kann nur in Bezug auf ein System
von Überzeugungen auf ihre Wahrheit/Falschheit
beurteilt werden.
kontraintuitiv
839
ZirkelWie kann man erklären, was mit logischer Konsistenz,
Schlussfolgerung oder Erklärung gemeint ist, ohne
dabei schon den Begriff der Wahrheit in Anspruch zu
nehmen?
840
Wahrheitsdeflationismus
841
Das Wort „wahr“ liefert … durch seinen Sinn keinen wesentlichen
Beitrag zum Gedanken. Wenn ich behaupte „es ist wahr, daß das
Meerwasser salzig ist“, so behaupte ich dasselbe wie wenn ich
behaupte „das Meerwasser ist salzig“. Hierin ist zu erkennen,
daß die Behauptung nicht in dem Worte „wahr“ liegt, sondern in
der behauptenden Kraft, mit der der Satz ausgesprochen wird.
Danach könnte man meinen, das Wort „wahr“ habe überhaupt
keinen Sinn.
Frege: Nachgelassene Schriften
842
Wenn wir von einem Satz sagen, er sei „wahr“, dann
sprechen wir ihm nicht die Eigenschaft der Wahrheit
zu.
843
Redundanztheorie
Das Prädikat “ist wahr” ist überflüssig und trägt nichts
zur Satzbedeutung bei. Es lässt sich in allen Aussagen
eliminieren, ohne deren Inhalt zu verändern.
Frege, Ramsey, Ayer
844
Es ist wahr, dass Caesar ermordet wurde.
=Caesar wurde ermordet.
845
Es ist falsch, dass Caesar ermordet wurde.
=Caesar wurde nicht ermordet.
846
„Caesar wurde ermordet“ ist wahr.
=Caesar wurde ermordet.
847
„Caesar wurde ermordet“ ist falsch.
=Caesar wurde nicht ermordet.
848
Performative Theorie
Das Wahrheitsprädikat ist kein eigenständiges
Prädikat, sondern ein performativer Operator, mit
dem wir so etwas wie Zustimmung ausdrücken.
Strawson
849
Mit dem Satz „Caesar wurde ermordet“ ist wahr sagen
wir nicht mehr, als mit dem Satz Caesar wurde ermordet.
850
Darüber hinaus signalisieren wir unsere Zustimmung
zu diesem Satz.
Die Wahrheitszuschreibung ist ein performativer Akt.
851
Disquotationale Theorie
Das Prädikat “ist wahr” stellt den Realitätsbezug von
zitierten Sätzen wieder her.
Quine
852
Wenn wir in einer Theorie etwas über sprachliche
Ausdrucke (Sätze) sagen wollen, dann müssen wir sie
zitieren.
853
Caesar wurde ermordet.
Hier benutzen wir den Satz, um etwas über die Welt zu sagen.
854
„Caesar wurde ermordet.“ enthält 3 Worte.
Hier erwähnen wir den Satz und sprechen über eine
Eigenschaft, die er selbst besitzt.
855
Syntax„Caesar wurde ermordet.“ ist ein wohlgeformter Satz.
856
SemantikBesondere Schwierigkeit: Zwar sprechen wir auch hier
z.B. über einen Satz und dessen Eigenschaften, aber
dabei geht es nicht um Eigenschaften des Satzes
selbst, sondern um seine Bedeutung, d.h. seinen
Bezug zur Welt.
857
„Caesar wurde ermordet.“ ist wahr.
Hier erwähnen wir den Satz und sagen zugleich etwas darüber
aus, welchen Bezug er zur Welt hat. Wir müssen die
Anführungszeichen setzen und zugleich eliminieren.
858
Wir brauchen das Wahrheitsprädikat, um den
Realitätsbezug von zitierten Sätzen herzustellen.
semantischer Aufstieg
859
Minimalismus
Wenn man aus einem oder mehreren Sätzen
Nominalausdrücke macht, dient "ist wahr" einzig dazu,
daraus wieder ganze Sätze zu machen.
Paul Horwich
860
Caesar wurde ermordet.
Nominalausdruckdie Aussage, dass Caesar ermordet wurde
861
E = m x c2, Nichts ist schneller als das Licht., …
NominalausdruckEinsteins Theorie
862
Die Aussage, dass Caesar ermordet wurde, ist wahr.
Einsteins Theorie ist wahr.
863
Probleme
864
VerallgemeinerungenAlles, was der Papst sagt, ist wahr.
„ist wahr“ ist nicht redundant
865
SätzeDer Satz „Caesar wurde ermordet“ ist wahr.
=Caesar wurde ermordet.
Nicht wirklich korrekt wegen der Relativität auf eine Sprache.
866
PropositionenDie Proposition „Caesar wurde ermordet“ ist wahr.
=Caesar wurde ermordet.
Trivial, da die Wahrheit einer Proposition genau so definiert
wird.
867
Worin besteht
Rechtfertigung?
868
In aller Regel sind gerechtfertigte Überzeugungen
eher wahr als ungerechtfertigte.
869
Aber es gibt Überzeugungen, die gerechtfertigt und
trotzdem falsch sind.
870
Und es gibt Überzeugungen, die ungerechtfertigt und
trotzdem wahr sind!
871
Rechtfertigung ist ein geeignetes Mittel zur Erzielung
wahrer Überzeugungen.
fallibilistische Auffassung der Rechtfertigung
872
Eigenschaften der
Rechtfertigung
873
Eine gerechtfertigte Überzeugung kann durch den
Erwerb zusätzlicher Informationen zu einem späteren
Zeitpunkt aufgehoben werden.
Rechtfertigung ist zeitrelativ
874
Zwei Personen können zwar dieselbe Überzeugung
besitzen, es ist aber nicht (noch nicht einmal
meistens) so, dass beider Überzeugung
gleichermaßen gerechtfertigt ist!
Rechtfertigung ist personenrelativ
875
Gerechtfertigt ist jemand, wenn er gute Gründe für
seine Überzeugungen besitzt.
Rechtfertigung ist evaluativ
876
Eine Meinung kann mehr oder weniger gerechtfertigt
sein. Sie kann durch zusätzliche Belege verstärkt oder
abgeschwächt werden.
Rechtfertigung ist graduell
877
Definition der Rechtfertigung
878
(1) Die Rechtfertigung einer Überzeugung setzt
voraus, dass es „Rechtfertiger“ für diese Überzeugung,
d. h. Gründe für sie gibt.
879
(2) Überzeugungen und Gründe dürfen in keinem
beliebigen Verhältnis zueinander stehen, d.h. die
Gründe müssen die Überzeugung tatsächlich stützen.
880
(3) Gründe können eine Überzeugung nur dann
stützen, wenn es gute Gründe sind.
881
Eine Person S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p,
genau dann, wenn:
(1) S Gründe für seine Meinung hat;
(2) die Gründe seine Meinung stützen;
(3) diese Gründe adäquat sind.
882
Die Definition der
Rechtfertigung ist nicht
hinreichend.
883
Irene glaubt, dass es regnet.
884
Sie hört, wie der Regen auf das Vordach ihrer Veranda
tropft. Sie hätte damit einen exzellenten (adäquaten)
Grund für ihre Meinung.
885
Allerdings ist Irene
unaufmerksam. Sie
glaubt, dass es regnet,
weil sie es in der lokalen
Wettervorhersage gehört
hat, die in ihren Breiten
sehr unzuverlässig ist.
886
Irene hat einen Grund für ihre Überzeugung: sie hört,
wie die Regentropfen auf das Verandadach trommeln.
887
Der Grund ist adäquat und stützt auch ihre Meinung:
Das Hören von Regengeräuschen ist ein guter
Indikator für die betreffende Überzeugung.
888
Irene kommt jedoch nicht zu der Überzeugung, dass
es regnet, weil sie diesen guten Grund hat, sondern
weil sie die Wettervorhersage gehört hat, die ein
schlechter Grund für ihre Überzeugung ist.
889
Damit eine Meinung gerechtfertigt ist, reicht es nicht
aus, dass man für diese Meinung gute und stützende
Gründe hat. Die Gründe und die Meinung müssen
richtig aufeinander bezogen sein.
890
Eine Person S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p,
genau dann, wenn:
(1) S Gründe für seine Meinung hat;
(2) die Gründe seine Meinung stützen;
(3) die Gründe adäquat sind;und
(4) S gerechtfertigt ist zu glauben, dass die
Stützungsbeziehung besteht.
891
Die kausale Theorie der
Rechtfertigung
Alvin I. Goldman, William P. Alston
892
Eine Person S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p,
genau dann, wenn:
(1) S Gründe für seine Meinung hat;
(2) die Gründe seine Meinung stützen;
(3) die Gründe adäquat sind; und
(4) die Gründe die Überzeugung verursachen.
893
Externalismus Internalismus
Rechtfertigung muss einer Person selbst nicht kognitiv zugänglich sein.
Eine Überzeugung kann gerechtfertigt sein, ohne dass die Person die Überzeugung rechtfertigen bzw. begründen kann.
Epistemische Rechte ohne epistemische Pflichten sind möglich.
Rechtfertigung setzt kognitive Zugänglichkeit voraus.
Eine Überzeugung ist nur dann gerechtfertigt, wenn man sie tatsächlich rechtfertigen bzw. begründen kann.
Keine epistemischen Rechte ohne epistemische Pflichten.
894
Welche Gründe sind adäquat
(angemessen, gut)?
895
Ein Kommissar ist mit der Untersuchung
eines Mordfalls beschäftigt. Er glaubt, dass
der Gärtner den Grafen umgebracht hat. Er
begründet das so: Es gibt nur drei weitere
mögliche Täter: den Fahrer, den Butler und
den Koch. Alle drei haben handfeste Alibis
und es besteht kein Zweifel daran, dass der
Graf tatsächlich umgebracht worden ist und
nicht Selbstmord beging oder eines
natürlichen Todes starb.
896
Sind diese Gründe gute Gründe für die Überzeugung,
dass der Gärtner den Grafen umgebracht hat?
897
Ist die Annahme, dass es nur drei weitere mögliche
Täter gibt, gerechtfertigt?
898
Ist die Annahme, dass die Alibis der anderen
wasserdicht sind, selbst wasserdicht?
899
Sind die Annahmen, dass der Gärtner kein gutes Alibi
hat und der Graf tatsächlich umgebracht worden ist,
gut begründet?
900
Rechtfertigungstrilemma
901
Eine gerechtfertigte Überzeugung setzt voraus, dass
es für diese Überzeugung einen Grund G1 gibt.
Überzeugung Grund1
902
Ob dieser Grund G1 adäquat (gut) ist, hängt davon ab,
ob sich dieser selbst rechtfertigen lässt.
Grund1 Grund2
903
Welche Implikationen hat das?
904
Dogmatischer Abbruch
Ü G1 G2 G3
Es ist dogmatisch, an einer bestimmten Stelle mit dem
Begründen aufzuhören.
905
Circulus Vitiosus
Ü G1 G2 G3 Ü
Eine sich selbst begründende Meinung macht das Rechtfertigen
überflüssig.
906
Infiniter Regress
Ü G1 G2 G3
Menschen sind endliche Wesen und können keine unendliche
Anzahl von Überzeugungen haben.
907
Positionen
908
Fundamentalismus
Es gibt bestimmte Überzeugungen (Regress-Stopper),
die keiner weiteren Begründung bedürfen.
„Dogmen sind nicht immer schlecht.“
909
Kohärentismus
Ein Rechtfertigungszirkel kann vermieden werden,
wenn wir unsere Überzeugungen und ihre Gründe
vor dem Hintergrund eines ganzen Systems von
Überzeugungen – vor dem Hintergrund einer Theorie
– betrachten.
„Ein Rechtfertigungszirkel ist nicht immer schlecht.“
910
Kontextualismus
Es gibt keinen wirklichen infiniten Regress des
Rechtfertigens. In der Praxis hängt es vom Kontext
und unseren Konventionen ab, welche Gründe wir für
adäquat halten.
„Praktisch gibt es keinen infiniten Regress.“
911
Fundamentalismus
912
GewissheitsargumentWissen kann nur dann infallibel sein, wenn es auf
einer unfehlbaren Rechtfertigung beruht. Unfehlbare
Rechtfertigung ist jedoch nur möglich, wenn es
unfehlbare basale Meinungen gibt.
913
RegressargumentDa es Rechtfertigung wirklich gibt und diese weder
durch einen Zirkel, noch durch einen infiniten Regress
möglich wäre, muss es basale Meinungen geben.
914
IsolationsargumentWir besitzen empirisches Wissen. Nur wenn es
unmittelbar durch die Erfahrung gerechtfertigte,
basale Meinungen gibt, kann man dieses überhaupt
erlangen.
915
Typen des Fundamentalismus
916
Intuitionistischer FundamentalismusDie Basis der Rechtfertigung bilden selbstevidente
Meinungen, die unmittelbar einleuchtend und nicht
sinnvoll anzweifelbar sind.
Platon, Pythagoras, Euklid
917
Die Wissenschaftsgeschichte liefert jede Menge
Beispielmaterial dafür, dass auch scheinbar
selbstevidente Meinungen falsch sein können.
Die Sonne bewegt sich um die Erde.
Euklidische Geometrie
918
Doxastischer FundamentalismusDie Basis der Rechtfertigung bilden Meinungen über
die eigenen mentalen Zustände.
Descartes
919
Lernen wir nicht zuerst, über die Welt zu urteilen, und
dann erst über unser Erleben der Welt?
Überzeugungen über die eigenen mentalen Zustände
allein können keine Überzeugungen über etwas
anderes (die Welt) rechtfertigen. Es entsteht ein
„Außenwelt-Problem“.
920
Empiristischer FundamentalimusDie Rechtfertigung hat ihr Fundament im
„Gegebenen“, d.h. den unmittelbaren Erfahrungen,
die wir machen.
Klassischer und Logischer Empirismus
921
Das „Gegebene“ ist keine Überzeugung, sondern eine
Art unmittelbares Erlebnis. Ein Erlebnis als solches
aber kann nichts rechtfertigen. Nur die
Überzeugungen, die ich mir aufgrund eines
Erlebnisses bilde, können Gründe für Meinungen sein.
922
Kohärentismus
923
„Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf
offener See umbauen müssen, ohne
es jemals in einem Dock zerlegen und
aus besten Bestandteilen neu
errichten zu können.“
(Otto Neurath, 1932/33)
924
Eigenschaften der KohärenzLogische Konsistenz (Widerspruchsfreiheit)
Inferentielle Beziehungen (Prämissen – Konklusionen)
Explanatorische Beziehungen (Annahmen –
Begründungen)
925
Probleme
926
Relativismuseinwand„Wer es ernst meint mit der Kohärenz als alleiniges
Kriterium der Wahrheit, muss beliebig erdichtete
Märchen für ebenso wahr halten wie einen
historischen Bericht oder Sätze in einem Lehrbuch
der Chemie, wenn nur die Märchen so gut erfunden
sind, dass nirgends ein Widerspruch auftritt.“
Moritz Schlick, 1934
927
Isolationseinwand„Die anderen können ... nicht etwa einwenden, dass
dieses Verfahren den Beobachtungen widerstreite,
denn nach der Kohärenzlehre kommt es auf
irgendwelche ‚Beobachtungen‘ gar nicht an, sondern
allein auf die Verträglichkeit der Aussagen.“
Moritz Schlick, 1934
928
Konsistenz zu starkIn der Regel sind die meisten realen und reichhaltigen
Wissenssysteme oder Datenbanken an irgendeiner
Stelle inkonsistent.
929
KomplexitätDie Kohärenz eines umfangreichen Meinungssystems
ist eine so komplexe Eigenschaft, dass wir sie in der
Regel gar nicht erfassen, geschweige denn beweisen
können.
930
Kontextualismus
931
Kurt ist Hobby-Archäologe und findet einen alten
Krug. Mehrere Anzeichen sprechen dafür, dass es sich
um einen spätmittelalterlichen Krug handelt und
Kurts Handbuch bestätigt diesen Eindruck. Kurt hat
gute Gründe für die Annahme, dass es sich um einen
spätmittelalterlichen Krug handelt. In seiner Situation
gibt es keine besseren Gründe.
932
Maria ist professionelle Archäologin. Für sie sind Kurts
Gründe allenfalls Indizien. Um zu einer begründeten
Meinung zu gelangen, muss sie einige raffinierte
Methoden anwenden. Kurts Indizien zählen für sie
nicht. Sie sind inadäquat. Ihre Standards der
Begründung sind in dieser Situation viel höher.
933
Ob ein Grund eine Überzeugung rechtfertigt und wie
stark diese Rechtfertigung ist, hängt vom Kontext ab
und variiert mit dem Kontext.
934
Wer von einem Kontext in einen anderen wechselt,
kann plötzlich Rechtfertigung erwerben oder
verlieren.
935
Gegen die Kugelform der Erde spricht, dass die
Antipoden auf der jeweils anderen Seite des Globus
mit dem Kopf nach unten hängen würden.
936
Dies ist nur solange ein gutes Argument, wie es die
von uns heute akzeptierte Gravitationstheorie und
Astronomie nicht gibt.
937
Gründe sind nicht absolut gut oder
schlecht.