Wie werden wir, wer wir sind? Und was können wir im Laufe unseres Lebens
noch daran ändern?
GERHARD ROTH
G. Roth, 2019
Institut für Hirnforschung der Universität Bremen
© TS Holding GmbH
Welche Faktoren bestimmen unserePersönlichkeit und Psyche?
EINFLUSSFAKTOREN AUF DIE PSYCHISCHE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN
Die Entwicklung seelisch-psychische Zustände wird gesteuert durch eine Kombination von 5 Faktoren:
• Gene
• Epigenetische Kontrollmechanismen
• Vorgeburtliche Einflüsse des Gehirns und Körpers der werdenden Mutter auf das Gehirn des Fötus
• Früh-nachgeburtliche Einflüsse (erste 3-4 Jahre)
• Erlebnisse und Erfahrungen in späterer Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter.
Methylierung und De-Methylierung von Cytosin: Hemmung und Enthemmung der Gen-Expression
Methylierung und Acetylierung von Histonen: Hemmung und Enthemmung der Gen-Expression. Wird an Tochterzellen weiter-gegeben
EPIGENETISCHE REGULATION DER GEN-EXPRESSION
Geschehen diese Mechanismen in den Keim-zellen, so wird das veränderte Gen-Expressions-muster an die nächste Generation als genomi-sche Prägung ohne Veränderung der DNA weitergegeben .
Fötus im Mutterleib
Die Plazenta als „Treffpunkt“ des mütterlichen und fötalen Blutkreislaufs
Glucocorticoide und andere Hormone oder Stoffe können prinzipiell die Plazenta-Schranke überwinden, wobei unter normalen Umständen nur ein geringer Teil des mütterlichen Cortisol„durchgelassen“.
Das fötale Plasma-Cortisol beträgt entsprechend nur etwa ein Dreizehntel des mütterlichen. Dadurch werden auch akute Erhöhungen des Cortisolspiegels im mütterlichen Blut abgepuffert.
Dies ist notwendig für eine normale Entwicklung des fötalen Stressverarbeitungssystems, da dieses viel empfindlicher auf Cortisol reagiert als das der Mutter.
Seitenansicht des menschlichen Gehirns
Großhirnrinde
Kleinhirn
(nach Spektrum der Wissenschaft, verändert)
Längsschnittdurch das menschlicheGehirn
Blau: Limbisches System als Sitz der Persönlichkeit und Psyche
DIE VIER EBENEN DER PERSÖNLICHKEITIM GEHIRN
(aus Strüber und Roth, 2019)
ENTWICKLUNG DER VIER EBENEN(nach Strüber und Roth, 2019)
Untere limbische Ebene
Gehirn: Hypothalamus – zentrale Amygdala –vegetative Zentren des Hirnstamms
Ebene unbewusst wirkender angeborener Reaktionen und Antriebe: Schlafen-Wachen, Nahrungsaufnahme, Sexualität, Aggression –Verteidigung – Flucht, Dominanz, Wut usw.
Diese Ebene ist überwiegend genetisch-epigenetisch bzw. durch vorgeburtliche Einflüsse bedingt und macht unser Tem-perament aus. Sie ist durch Erfahrung und Erziehung kaum zu beeinflussen.
Hierzu gehören grundlegende Persön-lichkeitsmerkmale wie Offenheit-Verschlossenheit, Selbstvertrauen, Kreati-vität, Vertrauen-Misstrauen, Umgang mit Risiken, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Verantwor-tungsbewusstsein.
Mittlere limbische Ebene
Gehirn: basolaterale Amygdala, mesolimbisches System
Ebene der unbewussten bzw. nicht erinnerbaren emotionalen Konditionierung: Anbindung elementarer Emotionen (Furcht, Freude, Glück, Verachtung, Ekel, Neugierde, Hoffnung, Enttäu-schung und Erwartung) an individuelle Lebensumstände.
Die Amygdala ist auch der Ort unbewusster Wahrnehmung emotionaler kommunikati-ver Signale (Mimik, Gestik, Körperhaltung, Pheromone).
Diese Ebene macht zusammen mit der ersten Ebene (Temperament) den Kern unserer Persönlichkeit aus. Dieser Kern entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist im Jugend- und Erwachsenenalter nur über starke emotionale oder lang anhal-tende Einwirkungen veränderbar.
Amygdala(Mandelkern)
Amygdala:Zentrum für emotionale Konditionierung und das Erkennen emotionaler Signale
Ventrales TegmentalesAreal
MesolimbischesSystem:
Reaktion auf neuartige, überraschende Reize
Antrieb durch Versprechen von Belohnung (Dopamin)
Belohnungssystem (hirneigene Opioideund Cannabinoide)
Nucleusaccumbens
Obere limbische Ebene
Gehirn: Prä- und orbitofrontaler, cingulärer und insulärer Cortex.
Ebene des bewussten emotional-sozialen Lernens: Gewinn- und Erfolgsstreben, Anerkennung–Ruhm, Freundschaft, Liebe, soziale Nähe, Hilfsbereitschaft, Moral, Ethik.
Sie entwickelt sich in später Kindheit und Jugend. Sie wird wesentlich durch sozial-emotionale Erfahrungen beeinflusst. Sie ist entsprechend nur sozial-emotional veränderbar.
Hier werden zusammen mit den unteren Ebenen grundlegende sozial relevante Persönlichkeitsmerkmale festgelegt wie Machtstreben, Dominanz, Empathie, Verfolgung von Zielen und Kommuni-kationsbereitschaft.
INSULÄRERCORTEX
Selbst empfundener Schmerz und empathischer Schmerz.
Empathie bildet sich nur aufgrund einer hinreichenden frühkindlichen Bindungserfahrung aus.
ORBITOFRONTALER CORTEX
Kognitiv-sprachliche Ebene
Gehirn: Linke Großhirnrinde, bes. Sprachzentren und präfrontalerCortex.
Ebene der bewussten sprachlich-rationalen Kommunikation: Bewusste Handlungsplanung, Erklärung der Welt, Rechtfertigung des eigenen Verhaltens vor sich selbst und anderen.
Sie entsteht relativ spät und verändert sich ein Leben lang. Sie verändert sich im Wesentlichen aufgrund sprachlicher Interaktion.
Hier lernen wir, wie wir uns darstellen sollen, um voran zu kommen. Abweichungen zwischen dieser Ebene und den anderen Ebenen führen zur Diplomatie, zum Opportunismus oder zur Verstellung.
BEWEGUNGS-VORSTELLUNGEN
OBJEKTE GESICHTER SZENEN
ANALYSE PLANUNG ENTSCHEIDUNG
BEWERTUNG
KÖRPER RAUM SYMBOLE
DORSOLATERALER PRÄFRONTALER CORTEX
MOTORIK SOMATOSENSORIK
SEHEN
HÖREN/SPRACHEAUTOBIOGRAPHIE
SPRACHE
VIER-EBENEN-MODELL DER PERSÖNLICHKEIT
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Die untere limbische Ebene (Temperament) hat den stärksten Einfluss auf unser Verhalten, ist aber am wenigsten veränderbar.
Die mittlere limbische Ebene hat einen ebenfalls großen Einfluss auf unser Verhalten. Veränderungen auf dieser Ebene sind jedoch nur schwer zu erreichen, und zwar durch das Ansprechen individuell-emotionaler Motive und langes Einüben.
Die obere limbische, d.h. sozial-emotionale Ebene hat einen geringerenVerhaltenseinfluss. Sie ist im wesentlichen durch soziale Interaktion und Kommunikation veränderbar.
Die kognitiv-sprachlich-rationale Ebene hat von sich aus keinenEinfluss auf unser Verhalten, sondern immer nur in Verbindung mit den anderen Ebenen.
VERÄNDERBARKEIT UND VERHALTENSRELEVANZ DER VIER EBENEN
ANSATZPUNKTE FÜR PERSÖNLICHKEITSVERÄNDERUNGEN
• Stress-Verarbeitung, Umgang mit Belastungen
• Selbstberuhigung, emotionale Kontrolle
• Motivation, Zielsetzung, Selbstwirksamkeit
• Impulshemmung, Verhaltenskontrolle
• Soziale Bindung, Einfühlungsvermögen, Respekt
• Realitätssinn und Risikowahrnehmung
Diese Komponenten bestimmen das Verhältnis zu uns selbst und zu anderen. Sie können in Übereinstimmung und Konflikt zu einander stehen.
„Materielle Belohnungen“ wie Einkommen, Boni und Privilegien verlieren ihre Wirkung bei jeder Wiederholung meist um die Hälfte oder gar schneller . Hinzu kommt ein Enttäuschungseffekt bei Eintritt einer Belohnung in erwarteter Höhe.
Deshalb wird die materielle Belohnung meist ständig gesteigert, bis ein „Deckeneffekt“ eintritt und noch höhere Belohnungen keinen weiteren positiven Effekt mehr haben.
Materielle Belohnungen haben jedoch einen starken negativenEffekt, wenn sie z.B. als „Sonderanreize“ wieder rückgängig gemacht werden: Verlust wird im allgemeinen doppelt so stark empfunden wie Gewinn!
BESONDERHEITEN DER MATERIELLEN MOTIVATION
Soziale Belohnungen (Lob, Anerkennung durch Vorgesetze, Kollegen und Mitarbeiter, Titel, soziale Privilegien) lassen in ihrer Wirkung langsamer, jedoch stetig nach. Je häufiger belobigt und ausgezeichnet wird, insbesondere nach demselben Ritual, desto schneller verlieren diese Maßnahmen ihre Wirkung.
Auszeichnungen „verdienter“ Mitarbeiter sind ein probates, aber problematisches Mittel, weil sie fast automatisch Neid und Missgunst hervorrufen. Hier muss besonders auf Transparenz und Gerechtigkeit der Kriterien und des Bewertungsprozesses geachtet werden.
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BESONDERHEITEN DER SOZIALEN MOTIVATION
Intrinsische Belohnung ist die einzige Belohnung, die nicht in „Sättigung“ geht. Sie besteht in:
• der Freude am Gelingen • der Selbstbestätigung• dem Gefühl der Verwirklichung eigener Fähigkeiten und Wünsche
(Selbstwirksamkeit) • dem Gefühl, besser zu sein als andere• der Überzeugung, an einer wichtigen Sache mitzuarbeiten.
Die meisten Menschen streben nach diesen intrinsischen Beloh-nungen, die individuell sehr unterschiedlich ausfallen können.
BESONDERHEITEN DER INTRINSISCHEN MOTIVATION
RESILIENZ UND VULNERABILITÄT
„Gute“ genetische und epigenetische Faktoren und eine unproble-matische Schwangerschaft erzeugen eine hohe Widerstandskraft („Resilienz“) gegen nachgeburtliche negative Erfahrungen des Kindes. Diese kann durch eine positive Bindungserfahrung noch verstärkt werden. Entsprechend können solche Kinder auch starke spätere Belastungen gut verarbeiten.
Umgekehrt bilden „schlechte“ genetische und epigenetische Faktoren sowie Schwangerschaftskomplikationen (Traumatisierung der werdenden Mutter) eine starke Vorbelastung („Vulnerabilität“) dar, die durch eine negative Bindungserfahrung („unsicher“ oder „desorganisiert) und andere frühkindliche traumatische Erfahrungen noch verstärkt wird. Solche Kinder können mit Belastungen schlecht umgehen.
INTERAKTION VON VIER HAUPTFAKTOREN BEI DER ENTWICKLUNG DER PERSÖNLICHKEIT
ZUSAMMENFASSUNG
• Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ist von vielen Faktoren abhängig, die positiv oder negativ miteinander wechsel-wirken.
• Gene spielen dabei eine sehr unspezifische Rolle, wichtiger sind sogenannte epigenetische, d.h. gen-regulatorische Mechanis-men, die teilweise umweltabhängig sind und schon vor der Geburt wirksam sein können.
• Darüber hinaus spielen die frühkindlichen Entwicklungsbedin-gungen eine entscheidende Rolle, insbesondere die frühe Bindungserfahrung.
• Je früher die Einwirkungen, desto stärker wirken sie und desto schwerer sind sie veränderbar. Es ist jedoch nie zu spät für Hilfemaßnahmen, nur müssen sie immer spezifischer und länger anhaltend sein!
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 14. Aufl. 2019
VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT!