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7/26/2019 Wilhelm Fl: Friedrich Julius Stahl (1988)
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WILHELM FSSL
PROFESSOR IN DER POLITIK:FRIEDRICH JULIUS STAHL (1802-1861)
DAS MONARCHISCHE PRINZIP UND SEINEUMSETZUNG IN DIE
PARLAMENTARISCHE PRAXIS
VANDENHOECK & RUPRECHTIN GTTINGEN
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BayerischeStaatsbibliothek
Mnchen
ClP-KurztiteUufnhme der Deutschen Bibliothek
Fssl, Wilhelm:
Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802- 1861) : d. monarch. Prinzip
u. seine Umsetzung in d. Parlamentr. Praxis / Wilhelm Fssl. - Gttingen :
Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988
(Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften; Bd. 33)
ISBN 3-525-35932-2
NF: Bayerische Akademie der Wissenschaften / Historischen Kom
mission: Schriftenreihe der Historischen ...
D 19
Gedruckt mit Untersttzung der Franz-Schnabel-Stiftung
1988, Vandenhoeck & Ruprecht in Gttingen. Printed in Germany. -
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INHALT
Vorwort 7
A. Einleitung 9
B. Grundzge der Theorie Stahls 13
I. Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei
Stahl 16
1.Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff 16
2. Stahls Methode von Idealitt und Realitt 21
3. Das sittlicheReich" 25
II. Die Staatsauffassung Stahls 31
1. Der Staat und seine Verfassung 31
2. Strukturelemente des monarchischen Prinzips bei Stahl 42
a) Aufri der Problematik 42
b) Stahls Monarchisches Princip" als Idealtypus 44
C. Stahls politischer Werdegang in Bayern 51
I. Stahl als Redakteur des Thron-und Volksfreunds" 52
1. Die Grndungsgeschichte des Blattes 52
2. Der Thron-und Volksfreund" und das Bayerische Volksblatt" 61
3. Ursachen fr das Scheitern des Blattes 64
II . Stahl als Reprsentant der protestantischen Professorenschaft in Er
langen 69
1. Das Verhltnis zur Erlanger Theologie" 69
2. Stahl als Abgeordneter im Bayerischen Landtag 1837 82
a) Die Zusammensetzung der Kammer der Abgeordneten 83
b) Thematische Schwerpunkte Stahls 86
c) Die protestantische Fraktionsbildung um Stahl 93
D. Stahl als konservativer Parteifhrer in Preuen 108
I. Stahls Stellung an der Universitt Berlin 110
II. Der Aufbau einer konservativen Parteiorganisation 121
1. Die Grndung der Neuen Preuischen Zeitung" 123
a) Das Berliner Politische Wochenblatt" und der Janus" 123
b) Die Neue Preuische Zeitung" als Kristallisationspunkt der Konservativen 127
c) Stahl als Mitarbeiter der Kreuzzeitung" 131
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6 Inhalt
2. Stahls Sicht des Verhltnisses von Kirche und Politik 137
3. Der Verein fr Knig und Vaterland" 142
4. Die Wahlen im Frhjahr 1849 152
a) Der Verfassungsoktroi 153
b) Der Wahlkampf der Konservativen 162
c) Die Bildung der Fraktion Stahl" 180
III. Die Auseinandersetzung um die deutsche Frage 192
1. Die Stellung Stahls zur Frankfurter Nationalversammlung 193
2. Die Opposition gegen die preuische Unionspolit ik 208
a) Das Dreiknigsbndnis" und seine Bewertung durch Stahl 208
b) Stahl und die Revision des Reichsgerichts 215
c) Die politische Diskussion um die En-bloc-Annahme 224
d) Das Erfurter Unionsparlament 238
e) Die Politik der Kreuzzeitungspartei" bis zur Reaktivierung des Deutschen
Bundes 255
IV. Stahl und die Umgestaltung der oktroyierten Verfassung 266
1.Der Artikel108der Verfassungsurkunde 267
2. Der Verfassungseid 275
3. Die Verantwortlichkeit der Minister 284
4. Die Umbildung der Ersten Kammer 298
a) Die Annahme der Kniglichen Propositionen . 299
b) Die parlamentarische Diskussion um die Oberhausfrage im Jahre 1852 315
c) Die endgltige Umgestaltung der Ersten Kammer 336
E. Der, politische Professor" Stahl 356
Tabellen 359
Quellen- und Literaturverzeichnis 363
A. Archivalische Quellen 363
B. Gedruckte Quellen 369C. Sekundrliteratur 376
Abkrzungsverzeichnis 393
Personenregister 394
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VORWORT
Die vorliegende Untersuchung ist die leicht berarbeitete Fassung der Dis
sertation, die im Wintersemester 1985/86 von der Philosophischen Fakultt
der Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen angenommen wurde. Der
Druck der Schrift bietet die Gelegenheit, all denen zu danken, die mit ihrer
Untersttzung und Hilfe ihr Entstehen gefrdert haben.
In besonderem Mae schulde ich Dank meinem geschtzten Doktorvater,
Herrn Professor Dr. Eberhard Weis, der mir stets freundlichen Beistand ge
whrt und die Dissertation bis zur Drucklegung begleitet hat. Fr ihre Mithilfe danke ich allen Mitarbeitern der von mir besuchten Archive und Biblio
theken, die mit viel Geduld meine Forschungen frderten, besonders der
Herzog August Bibliothek Wolfenbttel und dem Zentralen Staatsarchiv der
Deutschen Demokratischen Republik in Merseburg. Viel schulde ich mei
nem Freundeskreis, der mit Rat und Tat den Abschlu der Dissertation vor
angetrieben hat.
Mein Dank gilt nicht zuletzt der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., die
durch ein grozgiges Promotionsstipendium die Grundlage fr meine Forschungen geschaffen hat. Fr die Aufnahme der Arbeit in ihre Schriftenreihe
danke ich der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften ganz herzlich.
Widmen mchte ich die Schrift in aufrichtiger Dankbarkeit meinen Eltern,
ohne deren Untersttzung die vorliegende Untersuchung nicht entstanden
wre.
Mnchen, im Mai 1988 Wilhelm Fl
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A. EINLEITUNG
Der Beginn des 19. Jahrhunderts brachte fr die deutschen Universitten einen bedeutsamen Aufschwung, der den Ruf und den Ruhm der deutschenGeistesgeschichte mitbegrnden sollte. Verbunden mit den Namen Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel undFriedrich Wilhelm Joseph Schelling ragte dabei vor allem die Philosophiehervor, die im Geistesleben unbersehbare Akzente setzte. Viele Professorenbegngten sich jedoch nicht mit der theoretischen Reflexion, sondern nah
men teil an der sich verstrkenden Politisierung des Brgertums; einige vonihnen traten sogar in den Parlamenten der deutschen Einzelstaaten als Abgeordnete hervor. Diese Erscheinung, welche mit der Typisierung politischesProfessorentum" gekennzeichnet werden kann, hatte einen wesentlichenEinflu auf die konstitutionelle und nationale Bewegung. Die Gelehrtenwurden zum Sprachrohr des Brgertums mit seiner Forderung nach einemverfassungsmig verankerten Mitwirkungsrecht in den Kammern und seinem Wunsch nach einer deutschen Einigung. Seinen Hhepunkt erreichtedas politische Professorentum" und mit ihm die national-konstitutionellenBestrebungen in der Frankfurter Nationalversammlung.
Es wre aber eine unzulssige Einschrnkung, nur solche Hochschullehrerals politische Professoren" zu bezeichnen, die liberalen oder demokratischen Tendenzen nahestanden. Wenngleich ein Groteil der Gelehrten, wieKarl v. Rotteck, Robert v. Mohl, Friedrich Christoph Dahlmann, JohannGustav Droysen oder Friedrich List, liberal gesinnt war und somit diesenTypus prgte, kann das politische Professorentum" nicht allein mit einereinseitigen Parteienkennzeichnung erfat werden. Auch im konservativen
Lager gab es eine Reihe von Hochschullehrern, die sowohl durch wissenschaftliche und publizistische Arbeiten als auch in der praktischen Politikhervortraten. Zu nennen sind an erster Stelle Victor Aime Huber, HeinrichLeo, Friedrich Ludwig Keller v. Steinbock oder Ludwig Wilhelm AntonPernice, die in Preuen Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Spitzen der konservativen Partei gehrten, weiterhin Johann Joseph v. Grres, Ignazv.Dl-linger und Johann Nepomuk Ringseis, die sich im katholisch-konservativenGrreskreis in Mnchen zusammenfanden. Allein mit einer Parteizuord
nung kann das Phnomen des politischen Professors" also nicht erklrtwerden. ber das parteiliche Bekenntnis hinaus ist fr sein Erscheinungsbilddas publizistische und politische Wirken kennzeichnend; beide Komponenten sind gleichzeitig mit einer intensiven Ttigkeit an der Universitt verknpft. Erst die enge Verbindung von Lehre, theoretischer Reflexion, publizistischer Ttigkeit und parlamentarischem Engagement charakterisiert das
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10 Einleitung
politische Professorentum" des 19.Jahrhunderts und wirft ein Streiflichtauf sein Selbst- und Wissenschaftsverhltnis.
Mit Friedrich Julius Stahl soll in dieser Arbeit einer der bedeutendstenpolitischen Professoren" des letzten Jahrhunderts untersucht werden, derzugleich den Gegentypus zu den liberalen Professoren seiner Zeit verkr
pert. Stahl kann als Paradigma fr den Typus des politischen Professors"gelten, da er es verstand, sein Wirken an der Universitt mit verschiedenenpolitischen, kirchlichen und publizistischen Ttigkeiten zu verbinden. AlsLehrer wurde Stahl wegen seiner przisen Formulierungen und seines kmpferischen Eintretens fr das monarchische Prinzip geschtzt; seine ffentlichen Vorlesungen galten als gesellschaftliche Ereignisse, an denen Beamte,Generle und sogar Minister teilnahmen.
ber den Universittsbetrieb hinaus ergriff Stahl Partei innerhalb der
evangelischen Kirche, in der er unter anderem als Prsident des DeutschenEvangelischen Kirchentages hervortrat. Sein Engagement fr kirchliche Belange verweist auf die besondere Bedeutung der christlichen Religion frFriedrich Julius Stahl, was sowohl in seinen rechtsphilosophischen undstaatsrechtlichen Schriften als auch in seinen parlamentarischen Reden zumAusdruck kommt. Dieses explizite Bekenntnis zum Christentum gilt es ein-zubeziehen, wenn Stahls Wirken adquat beurteilt werden soll, da es zumFundament seiner Weltanschauung und seines gesamten theoretischen Werkes wurde. Mit seinem Selbstverstndnis als Christ war seine eigene politische Wirksamkeit vorgeprgt, da Stahl aus dem Glauben sittliche Inhalte ableitete, die zum Mastab seines Handelns in der Politik wurden. Diese engeKorrelation von Theorie und Praxis ist ein wesentlicher Grundzug der Persnlichkeit Stahls und mu bei einer Untersuchung seiner politischen Ttigkeit entsprechend verdeutlicht werden. Demzufolge ist es auch in der vorliegenden Arbeit notwendig, dieser Verbindung nachzugehen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Stahls methodischem Vorgehen innerhalb seinerTheorie liegen soll. Dabei wird zu zeigen sein, da seine Philosophie als
praktische Philosophie" konzipiert war, aus der unmittelbar Normen frdie Realitt abgeleitet werden konnten. Von der Annahme einer Einheit vonTheorie und Praxis ausgehend werden in einem einleitenden Kapitel der Arbeit vor allem die Thematiken angesprochen, die fr Stahls eigenes politischesWirken von Bedeutung waren, d. h. in erster Linie die Darstellung und Beurteilung seiner Sicht des monarchischen Prinzips.
Im Kern der Untersuchung steht allerdings die politische WirksamkeitStahls, die in der bisherigen Stahl-Forschung kaum Beachtung gefunden hat.
Im Gegensatz zu einer Reihe von Arbeiten ber Stahls philosophische undstaatsrechtliche Schriften* gibt es bisher keine umfassende Darstellung zu
* Auf einen ausfhrlichen Literaturbericht kann an dieser Stelle verzichtet werden. Verwiesen sei aufH.J. Wiegand, Vermchtnis, 3-36, undNabrings, Stahl, 15-39, die den Forschungsstand zu Stahl resmieren.
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Einleitung 11
diesem Komplex. Ansatzweise wurde Stahls parlamentarische Ttigkeit von
Voigt (1919), Masur (1930), Roos (1957) und Wiegand (1976) angesprochen,
wobei Roos lediglich Stahls politische Aktivitten in Preuen in die Betrach
tung einbezog, whrend sich die anderen Autoren auf seine bayerische Zeit
beschrnkten. Allerdings kam Roos ber eine Untersuchung der Stellung
nahmen Stahls in der I. Kammer nicht hinaus; daher blieb dessen auerparlamentarisches Wirken in der Publizistik und vor allem im Rahmen der kon
servativen Partei unklar.
Die vorliegende Arbeit versucht - anders als die bisherige Stahl-For
schung,die enge Verknpfung von theoretischer Aussage und politischem
Engagement bei Stahl einerseits und die Kontinuitt seines politischen Den
kens und Handelns in Bayern und Preuen andererseits aufzuzeigen. Aus der
bisher praktizierten, isolierten Untersuchung der Bereiche Theorie oder Pra
xis - bayerische oder preuische Zeit ergab sich die hufig wiederholte Thesevon Brchen" innerhalb Stahls theoretischem und praktischem Wirken, der
entgegenzutreten ist. Wenn dabei berwiegend Stahls politischer Werdegang
in Preuen behandelt wird, so geschieht dies aus dem Grund, da Stahl dort
den unbestrittenen Hhepunkt seiner Laufbahn als politischer Professor"
erreichte.
Eine Untersuchung der politischen Ttigkeit Stahls in Preuen mu in en
gem Zusammenhang mit der Genese der konservativen Partei sowie der
preuischen Parlamentarismusgeschichte erfolgen. Stahl war mit demAuf-
bau einer konservativen Parteiorganisation nach 1848 eng verknpft, ein
Aspekt, der in der bisherigen Forschung nur peripher angeklungen ist. Dabei
avancierte Stahl nicht nur zum Vordenker der nach ihm benannten Frak
tion Stahl", sondern hatte wesentlichen Anteil an der organisatorischen Ver
festigung der konservativen Partei, was an Hand der Frhjahrswahlen 1849
und den nachfolgenden Fraktionsgrndungen exemplarisch aufgezeigt wer
den soll.
Im Rahmen des Aufbaus der Partei kam der Programmatik eine besondere
Bedeutung zu, da nur durch sie breite Whlerschichten angesprochen werden
konnten. In diesem Zusammenhang war Stahls Konzeption des monarchi
schen Prinzips das entscheidende Bindeglied zwischen der traditionellen alt
stndischen Staatsdoktrin und dem liberalen Gedankengut, da Stahl es ver
stand, beide Positionen zu verbinden und diesem Kompromi innerhalb der
konservativen Partei Geltung zu verschaffen. Insofern war Stahl, das sei
vorweg thesenartig formuliert, im theoretischen Denken und in der prakti
schen Politik nicht der Verfechter einer starren Lehre, schon gar nicht einer
restaurativen oder reaktionren Politik, sondern Vermittlungsphilosoph undAusgleichspolitiker.
In den Anmerkungen wird hier wie im folgenden lediglich der Autor und ein Kurztitel zitiert.
Die genaue bibliographische Angabe findet sich im Quellen- und Literaturverzeichnis,
S. 363-392.
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12 Einleitung
Um der Bedeutung Stahls whrend seiner preuischen Jahre gerecht zuwerden, ist es notwendig, seinem Einflu nachzuspren. Gerade dieses Vorhaben erweist sich als sehr problematisch, da Einflunahme und nachweisbarer Erfolg nicht unbedingt zusammenhngende Gren sind. Nur in seltenenFllen lt sich Stahls Einwirken auf bestimmte Personen und deren Ent
scheidungen direkt erkennen, was seine Einflunahme in anderen Fllen jedoch nicht ausschliet. Aus Tagebchern, Memoiren, Briefen, Gesprchsprotokollen, Flugschriften, Zeitungsmeldungen und nicht zuletzt aus denMinisterialakten der preuischen Regierung lt sich ersehen, da FriedrichJulius Stahl ein geschtzter Ansprechpartner des Knigs, der Regierung, derKamarilla und der fhrenden Konservativen in Preuen war und da er durchdiese Beziehungen den Entscheidungstrgern seine persnlichen Vorstellungen nahebringen konnte. Stahls Einflumglichkeiten unterlagen dabei
durchaus Schwankungen; je nach der politischen Konstellation waren siestrker oder geringer. Gerade in den Jahren 1848 bis 1852 finden sich in denMinisterialakten auffllig viele Denkschriften und Entwrfe Stahls, eine Tatsache, die nicht zuletzt dahingehend gedeutet werden mu, da Stahl in diesen Jahren anerkanntermaen der Fhrer der konservativen Partei Preuenswar.
Mit dem Verweis auf die Einflunahme Stahls in Preuen wurde bereits dieQuellenlage angesprochen. Von Stahls Nachla (Herzog-August-Bibliothek
Wolfenbttel) existieren lediglich die wichtigsten Vorlesungsmanuskriptesowie eine Anzahl zum Teil fragmentarischer Denkschriften und Aufstze imKonzept; der Rest, darunter sein Briefwechsel, wurde auf Anordnung Stahlsvernichtet. Stahls eigene Briefe und politische Schriften sind in vielen Archiven und Bibliotheken verstreut. Whrend Stahls professorale Ttigkeit anHand der Akten in den Universittsarchiven von Mnchen, Nrnberg-Er-langen und Wrzburg sowie der Ministerialakten des Zentralen StaatsarchivsMerseburg erarbeitet werden konnte, waren fr sein politisches Wirken diestenographischen Berichte der Kammerverhandlungen und die Bestnde desZentralen Staatsarchivs Merseburg besonders wichtig. Gerade in den Merseburger Akten, in denen sich eine Vielzahl von Denkschriften und Gesetzentwrfen Stahls fanden, spiegelt sich das politische Gewicht Friedrich JuliusStahls deutlich wider. ber die Ministerialakten hinaus bieten verschiedeneNachlsse von Zeitgenossen und Freunden Stahls ein Spektrum seiner vielfltigen Aktivitten. Ein interessanter Aspekt, der sich bei der Durchsicht dieser Nachlsse ergab, ist die schwankende Einschtzung, die Stahl von denZeitgenossen erfuhr. Sie mu in Abhngigkeit von der vorgefaten politi
schen berzeugung des jeweiligen Autors gesehen und dementsprechendquellenkritisch interpretiert werden. Whrend Stahl zu Lebzeiten von denKonservativen nahezu enthusiastisch gefeiert und mit vielen Ehrungen bedacht worden war, setzte schon bald nach seinem Tod eine Distanzierungein, die bis zu einer vlligen Verleugnung Stahls reichte.
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B.GRUNDZGE DER THEORIE STAHLS
Um der schillernden und umstrittenen Person Friedrich Julius Stahls gerechtzu werden, ist es notwendig, den Zusammenhang zwischen seiner Theorieund seiner aktiven politischen Ttigkeit herzustellen. Theorie und Praxis gehrenwie zu zeigen sein wird - enger zusammen, als dies bisher in den Arbeiten ber Stahl gezeigt wurde. Es gengt nicht, seine Rechts- und Staatsphilosophie isoliert zu untersuchen1, da dadurch der Eindruck erwecktwird, als sei der Rechtsphilosoph Stahl unabhngig von den Zeitereignissen.
Wohl nur fr seine ersten Jahre als Privatdozent2
lt sich die Beurteilungseines Studienkollegen Lautenbacher3besttigen: ,,Es fehlt ihm durchaus anWelt- und Menschenkenntni, er ist ber seine vier Studierstube-Wndenicht hinausgekommen"4. Ab 18305nahm Stahl regen Anteil am politischenTagesgeschehen, was zu vielfltigen Rckwirkungen und nderungen in seinem Hauptwerk Die Philosophie des Rechts"6fhrte. Vor allem die Revolutionen von 1830 und 1848 zogen weitgehende Umgestaltungen des Buchesnach sich7. Sie waren ein Grund dafr, da sich Stahl in der Folge zunehmend
als politischer Philosoph verstand. Er selbst betonte im Jahr 1854, durch dieErfahrungen meiner parlamentarischen Wirksamkeit und durch die mchtigen Ereignisse der Zeit und ihre Lehren sowohl in wissenschaftlicher Begrndung und Auffassung, als in praktischer Einsicht gefrdert zu seyn" 8.
1 Vgl. die Arbeiten vonKaufmann, Studien;Meisner, Lehre;Stegmann, Knigtum;Poppel-baum, Weltanschauung;Arnim, Studien;Drucker, Stahl;A. Mller, Beitrge;Volz, Christentum;Heinrichs, Rechtslehre; ders ., Menschenbild; C. Wiegand, Stahl.
2 Stahl hatte sich 1827 in Mnchen mit der Arbeit ber das ltere rmische Klagenrecht"
habilitiert und im gleichen Jahr die knigliche Erlaubnis erhalten, als Privatdozent an derMnchner Universitt zu lehren; vgl. Ministerialreskript vom 9. 7.1827, BayHStA, MInn 23589(Auszug). Vgl. Voigt, Werdegang, 177;G.Masur, Stahl, 93;H.J. Wiegand, Frhwerk, 96f.
3 Ignatz Lautenbacher (1799-1833) hatte wie Stahl Jura studiert und war wie dieser Mitgliedder Burschenschaft; vgl.Hhne, Bubenreuther, 20f. Beide wurden deshalb 1824 gemaregelt;UA Erlangen, Th. III, Pos. 14, Nr. 26 (Abschrift). Seit 1829 arbeitete er an dem neugegrndetenBlatt Das Inland" mit. Er lste im Mrz Georg Friedrich Puchta als leitenden Redakteur derZeitung ab. Vgl.Steuer, Cotta, 41 ff.
4 Lautenbacher an Cotta vom 11.4. 1830; Cotta-Archiv Marbach, Cotta-Briefe, Lautenba-cher/Cotta, Nr. 31.
5
Ab Mai 1830 war Stahl verantwortlicher Redakteur des offizisen Blattes Der Thron- undVolksfreund"; vgl. Kapitel C. I.6 Bd .I : 1830; Bd. H/1: 1833; Bd .I I/ 2: 1837. Im folgenden wird nach der heute blichen
6. Auflage (Darmstadt 1963) zitiert (Phil. d. R.), die mit der dritten, von Stahl 1854-1856 nochselbst herausgegebenen Auflage identisch ist. Frhere Ausgaben werden durch in Klammern gesetzte Erscheinungsjahre gesondert angegeben.
7 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II /l , VIII.8 Ebd., VII.
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14 Grundzge der Theorie Stahls
Diese Selbsteinschtzung deutet das Ineinandergreifen von Theorie und Pra
xis bei Stahl an. Sie kann darber hinaus ein Hinweis darauf sein, da seine
Rechts- und Staatslehre mit der Erstausgabe der Philosophie des Rechts"
keineswegs ein geschlossenes System war, das fr Stahl unverrckbar blieb.
Trotzdem gibt es eine Grundkonzeption Stahls, welche die unvernderli
che Basis seines Denkens bildet. Sie zu kennen ist notwendig, um Stahls Fhig- oder Unfhigkeit zur Aufnahme neuer und weiterfhrender Gedanken
beurteilen zu knnen. Damit hngt auch Stahls Positionsbestimmung als
Konservativer" oder als Reaktionr" zusammen. .
Somit ist eine Untersuchung der politischen Ttigkeit Stahls nicht von sei
nem theoretischen Ansatz zu lsen. Schon Stahls Bild des christlichen Staates
ist geprgt von der Persnlichkeit Gottes"9, sein Eintreten fr das monar
chische Prinzip setzt seine christliche Weltanschauung voraus. Im Kern hatte
sich das System Stahls bereits in den dreiiger Jahren des 19.Jahrhundertsherausgebildet. Um die Grundp^sition Stahls herauskristallisieren zu kn
nen, ist es erforderlich, die verschiedenen Ausgaben der Philosophie des
Rechts" vergleichend nebeneinander zu stellen. Dabei kommt es im Rahmen
dieser Arbeit nicht darauf an, das philosophische System und die Rechtslehre
Stahls in ihren Einzelheiten zu errtern10
, sondern es soll an Hand einiger
entscheidender Prinzipien Stahls methodisches Vorgehen im theoretischen
Bereich aufgezeigt werden11 . Solche sind die Begriffe Persnlichkeit" und
sittliches Reich".Die Schrift Das monarchische Princip" bedeutet im Werk Stahls eine ent
scheidende Wende12
. Standen seine bisherigen Abhandlungen nahezu aus
schlielich im Zeichen theoretischer Errterungen, stellt sie ein Eingreifen in
die Auseinandersetzungen um die verfassungsmige Ausgestaltung Preu
ens, die in diesen Jahren diskutiert wurde, dar. Von dem Wissen getragen,
da eine bedeutende Vernderung in der Verfassung dieses Knigreiches
bevorstehe"13
, sah Stahl in seiner Schrift die Mglichkeit, in seinem Sinne auf
die preuische Verfassungsgebung einwirken zu knnen. Trotz des hohenAbstraktionsgrades, mittels dessen Stahl das monarchische" von dem par
lamentarischen" Prinzip schied, funktionalisierte Stahl seine Theorie in Hin
blick auf real Erreichenswertes" und stellte sie in den Dienst aktiver politi
scher Gestaltung. Wenn Stahl in den folgenden Jahren ffentlich das Wort
ergriff, wollte er auf das politische Geschehen Einflu nehmen. Daher kann
Vgl. ebd., 7 ff.10 Vgl. dazu die Arbeiten vonGrosser, Grundlagen;/ / . / . Wiegand, Frhwerk;C. Wiegand,
Stahl.11
Stahls eigener Methodik wurde trotz seiner Angaben dazu (vgl. Phil. d. R. H/1, 141 f.) in
der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt.'Nur Drucker, Stahl, 11,erwhnt die Polari
tt, wie wir seine Methode nennen mchten", ohne diesen Gedanken weiterzuverfolgen.12
Heidelberg 1845 (zitiert: Mo. Pr.).13
Stahl, Mo. Pr., III.
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Grundzge der Theorie Stahls 15
nicht mehr davon gesprochen werden, da Stahls theoretische Schriften aus-
schlielich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung dienten.
Diese politische Publizist ik14ist daher von den rein theoretischen Schriften
zu trennen, solange es darum geht, Stahls Grundberzeugung und seine wis-
senschaftliche Argumentation herauszuarbeiten. Sie wrde den Aussagen
Stahls eine Programmatik verleihen, die einer adquaten Bestimmung seinerPosition die Sicht versperren wrde.
14 Sie reicht von Stahls Artikeln in verschiedenen Zeitungen bis zu seinen posthum verffent-
lichten Vorlesungen ber Die gegenwrtigen Parteien in Staat und Kirche".
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I. Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die
Zentralbegriffe bei Stahl
1. Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff
Mit den Worten Jede philosophische Wissenschaft mu mit dem obersten
Princip der Dinge, dem ,Absoluten', beginnen"1 leitet Stahl seine Philoso
phie des Rechts" ein. Dabei ist sich Stahl bewut, da das, was als das oberste
Prinzip anzusehen ist, letztlich auf einer Glaubenshaltung beruht2. Fr Stahl
stellen sich dabei im Grunde nur zwei Alternativen: der absolute Weltgeist imSinne Hegels
3oder der persnliche Gott. Diese beiden Positionen beinhalten
nach Stahl das Bekenntnis entweder zum Rationalismus oder zum Theismus,
die als Extrempole mglicher Weltanschauung"4 gelten. Vom Einzelnen
verlangt Stahl eine Entscheidung zugunsten einer dieser Positionen; er selbst
spricht sich fr die christliche Offenbarung" aus5, wodurch der persnli
che, berweltliche, offenbarungsfhige Gott"6 das oberste Prinzip fr Stahl
wird.
Stahls Prmisse seiner wissenschaftstheoretischen Anschauung ist also eindezidiertes Bekenntnis zum Christentum. Stahl, ursprnglich mosaischen
Glaubens, war am 6. November 1819 zum Protestantismus bergetreten,
nachdem er durch Friedrich Wilhelm Thiersch und Friedrich Immanuel Niet
hammer whrend seiner Schulzeit in Mnchen dem Christentum nahege
bracht worden war7. Fr den in spteren Jahren engagierten Christen8wurde
1 Stahl, Phil. d. R. H/1 , 7.2 Vgl. ebd., 5.
3 Vgl. Hirschberger, Geschichte II, 407ff.4 Stahl, Phil. d. R. II / l , 4; vgl.C. Wiegand, Stahl, 191.5 Stahl, Phil. d. R. II / l , 5; hnlich Phil. d. R. II/ l (1833), X.6 Stahl, Phil. d. R. II / l , 7; ebenso Phil. d. R. II /l (1833), 18.7 Vgl.Voigt,Werdegang, 59; G.Masur,Stahl, 37. Stahl beschreibt in einem Brief an Thiersch
vom 20.1.1820 den Ablauf der Tauffeierlichkeiten; gedruckt beiKoglin, Briefe, 44-46. Die Da
tierung Koglins (20.1.1819) ist offensichtlich falsch.
Ober Stahls frheren Namen herrscht besonders in der lteren Forschung einige Verwirrung.
Fr die frher vorgebrachte These, Stahl habe ursprnglich Schlesinger" geheien (Tannen-
wald,Art. Stahl", Sp. 623) finden sich in den Akten keine Belege. Hier taucht der Name Jol-
son" oder Golson" auf. In den Judenmatrikeln von 1815 wurde Stahls Vater in Mnchen mitdem Namen Valentin Golson" als Nachfolger von Abraham Uhlfelder mit der Schutznummer
34 eingetragen; StA Mnchen, RA 33908; hnlich die Matrikel von 1819, StA Mnchen, RA
33909; vgl. auch den Bericht der Polizeidirektion Mnchen an das Generalkommissariat vom
6.12. 1816, StA Mnchen, RA 33891.
Andererseits finden sich zahlreiche Belege fr den Namen Jolson", so in einem Schreiben
von MarcusFelshof, Hofmeister bey Jolson Uhlfelder", datiert vom 29.3 . 1813; StA Mn-
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Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff 17
der Glaube zum Grundzug seiner Philosophie, der ihn zur Ablehnung allerrationalistisch-naturrechtlich geprgten Ideen bestimmte, durch welcheStahl die christliche Weltordnung in Frage gestellt glaubte.
So setzt am Begriff der Persnlichkeit", den Stahl zum Princip derWelt" erhebt9, seine Kritik am Pantheismus an, den er von Spinoza bis Hegel
in der Philosophie vertreten sieht10
. Stahl knpft mit diesem Begriff an Schel-ling an, der in seinen Philosophischen Untersuchungen ber das Wesen dermenschlichen Freiheit und die damit zusammenhngenden Gegenstnde"(1809) die Persnlichkeit Gottes besonders hervorgehoben hatte11. Stahl betont die Persnlichkeit, da in ihr allein die Einheit grnde, die der Mannigfaltigkeit der Schpfung einen umschlieenden Sinn gebe: Die Persnlichkeitaber ist absolute Einheit"12 , die Verbindung von Konkretem und Abstraktem, die Potenz aller Denkmglichkeiten. Schon Kaufmann hat die Bedeu
tung der Einheit hervorgehoben, die Stahl durch den Persnlichkeitsbegriffzur Geltung bringen wollte13. Durch diese Gleichsetzung von Einheit undPersnlichkeit versucht Stahl, die innere Widersprchlichkeit der Welt zuberwinden. Auch Geist und Materie sind demzufolge keine antagonistischen Begriffe, sondern in der Einheit der Person verschmolzen. AbsoluteEinheit kann nach Stahls christlichem Verstndnis letztlich nur in Gott begrndet sein. Aus einer empirischen Vielfalt induziert Stahl methodisch aufdie Notwendigkeit einer Ganzheit. Totalitt ist aber gleichbedeutend mitGott. Die umstndliche Argumentation Stahls, mit der er aus der Vielheit aufdie Einheit folgert, dient im wesentlichen dazu, einen mglichst zwingenden, vernunftmigen Beweis fr die Existenz eines frei waltenden, persnlichen Gottes" zu liefern14.
chcn, RA 33877. Auch in den Jahresberichten des Wilhelms-Gymnasiums, das Stahl besuchte,taucht immer der Name Julius Jolson" auf; vgl. Berichte von der Kniglichen Studien-Anstaltzu Mnchen, Jg. 1815-1818.
ber die Herkunft des Namens Stahl" ist nichts bekannt; vgl.Voigt,Werdegang,57;G. Ma-sur,Stahl, 37 Anm. 2. Denkbar wre die Wahl des Namens wegen seines metaphorischen Cha
rakters, hnlich der Namenswahl seines Onkels Mayer-Uhlfelder, der am28.11.1816 zum katholischen Glauben bergetreten war und den Namen Kraft" angenommen hatte; vgl. StAMnchen, RA 33908 und RA 33891.
8 1848 Berufung in das neugeschaffene Oberkonsistorium, 1852 Mitglied des EvangelischenOberkirchenrats; vgl. Ministerialreskript Raumers an Uechtritz, Berlin 10.3.1852, EZA Berlin,EOK Prs. 11, Bd. I. Seit 1848 war Stahl Vorsitzender der Berliner Pastoralkonferenz sowie Prsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags; vgl.Landsberg, Art. Stahl", ADB XXXV,397;H. ]. Wiegand, Bild, 47. Eine umfassende Darstellung von Stahls kirchenpolitischen Aktivitten bietetNabrings, Stahl, 120-148.
Stahl, Phil. d. R. II/l, 7.10 Vgl. ebd., 8.11 Abgedruckt in:Schelling, Werke IV, 223-308. Zum Einflu Schellings auf Stahl vgl.Gros
ser, Grundlagen, 30-37; C. Wiegand, Stahl, 93-104. DagegenNabrings, Stahl,47ff., der Stahlnur sehr eingeschrnkt als Schler Schellings" beurteilt; vgl. ebd., 54.
12 Stahl, Phil. d. R. II / l , 15; vgl. Phil. d. R. II/ l (1833), 18f.13 Vgl.Kaufmann, Studien, 71 ff.; hnlich C.Wiegand, Stahl, 201.14
Volz, Christentum, 42.
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18 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl
In Gott verbinden sich die mannigfaltigsten Krfte und Eigenschaften:
Selbstbewutseyn, Wille, Verstand, Macht, oder, wie wir die gttlichen Ei
genschaften bezeichnen, Allwissenheit, Allmacht, Unvernderlichkeit, Ge
rechtigkeit, Heiligkeit, Treue, Liebe, Barmherzigkeit, Seligkeit, Ewigkeit
[.. . ] "1 S
. Entscheidende und wichtigste Attribution der Persnlichkeit ist fr
Stahl der Wille, durch den eine Tat initiiert wird16
. Gottes Persnlichkeitzeigt sich dem Menschen in der Schpfung, die aus dem Willen zur Tat ent
sprungen ist. Die Begriffe Persnlichkeit", Wille" und Tat" gehren bei
Stahl eng zusammen und bedingen sich gegenseitig. Ohne den Willen gibt es
keine Persnlichkeit, ohne Tat ist der Wille ein Absurdum.
Etwas zu wollen setzt voraus, sich das Gewollte gedanklich vorstellen zu
knnen. Das Unvorstellbare kann der Mensch nicht in die Tat umsetzen.
Anders dagegen Gott. Fr ihn ist das menschlich Unvorstellbare mglich
und realisierbar.Stahl spricht mit diesem Gedanken die Freiheit Gottes an. Freiheit" all
gemein bedeutet in Stahls Vorstellung die Mglichkeit der Wahl, die Freiheit
Gottes ist - dementsprechend erhht - unendliche Wahl" oder Ur-
wahl"17
. Die unendliche Wahl" ist wie die Persnlichkeit" ein zentraler
Gedanke Stahls und taucht bereits in der Erstauflage der Philosophie des
Rechts"auf18.Freiheit meint in beiden Fllen eine schpferische Freiheit",
die ber die empirische Wahl, d.i. Auswahl aus Vorhandenem" 19 hinaus
geht. Vielmehr beinhaltet die schpferische Freiheit" die Mglichkeit,
Nichtexistentes zu schaffen, eine Richtung, ein telos", zu bestimmen20 .
Nun sind die Dinge aber nicht planlos. Sie sind nach Zweck und Absicht
geschaffen"21, d.h. sie besitzen eine Providenz"22, einen innersten Zu
sammenhang, der fr den Menschen empirisch nicht mehr erfahrbar ist. Da
die Schpfung nicht ziellos und zufllig ist, liegt in der Persnlichkeit Gottes
begrndet. Daher ist nach Stahl auch die Weltgeschichte auf ein Ziel ausge
richtet, das in einem ewigen Zustand sittlicher und natrlicher Vollendung"
besteht23. Die Aufgabe der Geschichte liegt in einem vorbereitenden Charak
ter, in der Entfaltung auf dieses Ziel hin24. Der Mensch kann aber von sichaus den Zustand hchster Vollendung nicht erreichen, dazu bentigt er das
15 Stahl, Phil. d. R. II/l, 15.
16 Vgl. ebd., 16: Das Seyn der Persnlichkeit ist aber That, unausgesetzt innere That, denn
nur als Wille ist sie [...]."17
Ebd. , 27; vgl. Phil. d. R. II /l (1833). 21.18 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/ l (1833), 26f.19
Stahl, Phil. d. R. II / l , 28. Stahl wehrt sich hiergegen eine Besprechung der Erstauflage der
Phil. d. R., Bd. II/l durchLudwig Feuerbach, Jahrbcher fr wissenschaftliche Kritik 1835, Bd.II, Sp. 1-20, besonders 3ff.
20 Vgl. Grosser, Grundlagen, 47.
21 Stahl, Phil. d. R. II /l , 40.
" Ebd.
" Ebd. , 48; vgl. ebd., 45.24
Vgl. ebd., 51 und 151; ebenso Phil. d. R. II /l (1833), 101.
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Die Deduktion der Theorie Stahls aus dem Persnlichkeitsbegriff 19
ttige Eingreifen Gottes in die Welt. Da Stahl aber im Rahmen seiner christli
chen Geschichtsphilosophie die aktive Lenkung der Welt durch Gott ab
lehnt, kann die Geschichte letztlich nur in einer Annherung an das telos"
bestehen25.
In der Schpfung Gottes nimmt der Mensch einen besonderen Rang ein, da
er Ebenbild Gottes ist26. Als solches hat der Mensch ebenfalls Personhaftig-keit, d. h. er ist mit Freiheit und Willen ausgestattet27. Allerdings besteht fr
Stahl ein essentieller Unterschied zwischen der Persnlichkeit Gottes und des
Menschen. Fr Gott gibt es keinerlei Schranken; er allein hat die Mglichkeit
der Urwahl, er ist es auch, der den Menschen geschaffen hat. Fr den Men
schen bedeutet seine kreatrliche Stellung", wie Stahl es nennt28
, da er
trotz einer gewissen Selbstndigkeit einer zweifachen Bedingtheit unterliegt.
Zum einen ist er Teil im gttlichen Weltplane"29
und hat damit als Einzel
wesen oder in der Gemeinschaft bewut oder unbewut die Aufgabe, GottesWeltordnung auszufllen. Dies geschieht im Rahmen von Religion und Sitt
lichkeit: Sittlichkeit ist die Vollendung des Menschen in ihm selbst [...] Re
ligion dagegen ist das Band des Menschen zu Gott, da er sich immer nur in
Gott wisse und wolle, sich berall auf ihn beziehe - also die vllige Hinge
bung, die persnliche Einigung mit Gott"30. Dieser Doppelung von Religion
und Sittlichkeit auf ethischem Gebiet entspricht die Duplizitt der organisa
torischen Einbindung des Menschen einmal in die Gottesgemeinde", zum
anderen in die sittliche Welt"
31
, wie sie durch die Kirche bzw. durch diebrgerliche Ordnung"32 verwirklicht ist.
Die zweite strukturelle Bedingtheit liegt in der Sndhaftigkeit des Men
schen. Durch den Sndenfall Adams wurde die Persnlichkeit des Men
schen, die ursprnglich in der engen Verbindung zu Gott bestand33
, defor
miert und in ihrem Wesensgehalt - dem Willen zum Guten - zerstrt. Seither
hat der Mensch das Doppelvermgen des Guten und Bsen"34
. Gerade das
hindert ihn, seine frhere sittliche Qualitt wiederzuerlangen. Sein Bemhen
nach Vollkommenheit ist daher von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Das Streben nach Sittlichkeit stellt in der christlichen Philosophie Stahls
ein wesentliches Kennzeichen dar, das mit seinem Persnlichkeitsbegriff
korrespondiert. Wie bei der Persnlichkeit trennt Stahl auf sittlichem Gebiet
25 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I I / l , 151; Phil. d. R. II /l (1833), 104.
26 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I I / l , 71 und 313; Phil. d. R. II/ l (1833), 57.
27 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/l, 92ff. und 114.
28 Ebd., 92.
29 Ebd., 76; vgl. Phil. d. R. II/ l (1833), 98.
30 Stahl, Phil. d. R. I I/ l , 71.
31 Ebd., 79.
32 Ebd., 82.
33 Vgl. ebd., 123f. Die einschneidende Bedeutung des Sndenfalls wird von Stahl in der ersten
Auflage strker betont als in spteren Ausgaben; vgl. Phil. d. R. II/l (1833), 61-68.
Sj* Stahl, Phil. d. R. II / l , 119; Phil. d. R. II /l (1833), 68.
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20 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl
zwischen der hchsten innerlichen Sphre" und der niedrigem uerli
chen Sphre"35
. Erstere ist eine Emanation Gottes, whrend die zweite der
brgerlichen Ordnung zugeschrieben wird. Prinzipiell gehren beide Sph
ren zusammen: [...] die sittliche Welt aber besteht darin, da in den eignen
Lebensverhltnissen der menschlichen Gemeinschaft die gttlichen (sittli
chen) Ideen sich realisiren, und diese in Gestaltung derselben ihren eignensittlich verstndigen Willen offenbare [.. . ] " 3 6 .Aus diesem Zitat lt sich ab
lesen, da Stahl Sittlichkeit" im Grunde als ein Prinzip Gottes und seiner
Personalitt versteht37
, die in ihrer hchsten Form fr den Menschen nicht
erreichbar ist. Er hat lediglich Gestaltungsmglichkeiten innerhalb dieses
ideellen Rahmens, der vereinfacht durch die Gleichung Sittlichkeit = das
Gute" ausgedrckt werden kann38. Wrde man das Verhltnis des Menschen
zu der Forderung bzw. Verpflichtung nach Sittlichkeit weiterverfolgen,
mte man eine starke Diskrepanz zwischen Sollen und Wollen, zwischenVerpflichtung und Verhalten, zwischen Idee und Wirklichkeit konstatieren.
Das System Stahls birgt hier die Gefahr in sich, in zwei Extreme- das Prinzip
des Guten einerseits und das Prinzip des Bsen andererseits - auseinanderzu-
driften, zwischen denen es keine Vermittlung zu geben scheint. Stahl hat
diese Gefahr fraglos erkannt und als das verbindende Glied zwischen Idee
und Wirklichkeit die Persnlichkeit des Menschen gesetzt39
. Durch sie wird
das Verhltnis Gott - Mensch zu einer Beziehung zwischen zwei Persnlich
keiten. Durch seine eigene Persnlichkeit kann sich der Mensch an die Idee
Gottes annhern, da er aber gleichzeitig mit der Erbsnde belastet ist, wird
die Annherung nicht endgltig gelingen. Dabei hat der Mensch potentiell
die Mglichkeit, sich an der Sittlichkeit Gottes zu orientieren. Ob er sie in
Anspruch nimmt, ist seiner menschlichen Freiheit berlassen. Diese Kon
struktion Stahls versucht also, einen Ausgleich zwischen zwei Polen zu
schaffen, die sich ansonsten zunehmend voneinander isolieren wrden.
Das gleiche Vorgehen wendet Stahl in dem Bereich seiner Philosophie an,
in dem es um die Freiheit und Selbstndigkeit des Menschen geht. Es wurde
bereits angesprochen, da der Mensch als ein Teil der Schpfung mehrfachen
Bedingtheiten unterliegt. Die Frage ist aber, wo die Freiheit des Menschen in
der Schpfung, vor allem wo seine Willensfreiheit bleibt. Stahl versucht, die
ses Problem zu neutralisieren, indem er hchste Freiheit nur dann gegeben
sieht, sobald Willensfreiheit und Sittlichkeit zusammenfallen40. Indem der
Mensch die Mglichkeit hat, auch Bses, Unsittliches zu wollen, erfllt er
den Freiheitsbegriff Stahls nicht mehr. Es ist nicht Freiheit, argumentiert
Stahl, was der Mensch zu haben glaubt, sondern lediglich sittliche Will-
35 Stab!, Phil. d. R. II/l, 161
36 Ebd., 79.
37 Vgl. ebd., 83f.38
Vgl. ebd., 84.39
Vgl. ebd.40
Vgl. ebd., 117f.
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Stahls Methode von Idealitt und Realitt 21
kr"41 . Durch die Kanalisation des Freiheitsbegriffes zur Sittlichkeit wendetsich Stahl gegen eine rationalistische Interpretation des Terminus, die aufFreiheit von etwas" hinausluft. Vielmehr versteht Stahl den Begriff imSinne von Freiheit fr etwas". Willensfreiheit meint dann die Kraft, auchbei allen entgegengesetzten Antrieben sich zum Guten zu entscheiden"42,
d. h. sittlich vollkommen im Sinne Gottes zu handeln. Unklar bleibt, ob dieFreiheit im Sinne Stahls berhaupt noch als solche bezeichnet werden kannoder ob sie im Grunde nur im Rahmen einer gttlichen Prdestination derWelt abluft. Gerade die Verbindung der Sittlichkeit als eines Attributs Gottes und der Freiheit erzeugt diese Frage. Auch Stahl kann dieses Problemnicht klren; sehr oberflchlich merkt er an: Wir mssen nun des scheinbaren Widerspruchs ungeachtet an beiden festhalten, der Einheit des Weltplanes und der menschlichen Freiheit. Wir knnen nicht annehmen, da die
Weltgeschichte blo Folge der menschlichen Entschlsse, aber auch nichtumgekehrt, da die menschlichen Entschlsse blo Folge der Konceptionder Weltgeschichte seyen"43 . Erklrbar ist dieser Widerspruch nur dann,wenn gem dem Verstndnis Stahls die Freiheit des Menschen als idealerWert interpretiert wird, der anstrebbar, aber nicht erreichbar ist. Freiheit hatso einen Soll-Charakter. Der Mensch soll versuchen, in bereinstimmungmit dem gttlichen Weltplan zu handeln, auch wenn er das Bewutsein hat,die Zielorientierung nur andeutungsweise - aus dem Glauben heraus - zu
kennen. Erkenntnistheoretisch
44
greift Stahl hier auf den Glauben als Lsungder Diskrepanz von Idealitt und Realitt zurck. Nur der Glaube an die Existenz eines persnlichen Gottes, d.h. auch an einen gttlichen Weltplan,kann der Realitt einen Sinn geben.
2. Stahls Methode von Idealitt und Realitt
In der Geschichte steht der Mensch nicht als Einzelner, sondern er hatgemeinschaftlich mit anderen den Plan Gottes fr das menschlicheGeschlecht" zu erfllen45. Daher ist fr Stahl die Untersuchung dermenschlichen Ordnung wesentlicher als die subjektive Form der Sittlichkeitdes Individuums. Bevor jedoch auf die damit zusammenhngenden Begriffe
41 Ebd., 119; Phil. d. R. 11/1 (1833), 70.42
Stahl, Phil. d. R. H/1, 122.43 Ebd., 126f.; hnlich Stahl, Protestantismus, 9. Grosser, Grundlagen, 50f., stellt diesen
Zwiespalt ebenfalls dar und untersucht damit zusammenhngend das schwierige Problem, inwieweit Stahl mit der Rechtfertigungslehre Luthers noch bereinstimmt.Heinrichs, Rechtslehre,12-19, ist zu sehr der Darstellung Stahls verhaftet, um der Problematik von Freiheit und Pro-videnz gerecht werden zu knnen.
44 Zur Erkenntnistheorie Stahls vgl. Volz, Christentum, 27-41;Poppelhaum, Weltanschauung, 70 ff.
45 Stahl, Phil. d. R. U/1, 76.
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22 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl
sittliche Welt" und sittliches Reich" eingegangen wird, erscheint es
notwendig, das methodische Vorgehen Stahls zu erlutern, das seine gesamte
Philosophie durchzieht und sich schon in der Untersuchung des Persnlich
keitsbegriffes gezeigt hat.
Stahl geht von einer grundstzlichen Gegenberstellung von Vollkom
menheit und Unvollkommenheit aus. Diese Trennung erklrt sich aus seinerchristlichen Weltanschauung, in der Gott axiomatisch der Erhabene, Wr
dige und Vollkommene ist. Dieses Axiom steht am Anfang und im Kern sei
ner Betrachtung. Da seine Anerkennung letztlich Glaubenssache ist, mu es
nach Stahl nicht bewiesen werden46. Gegenber dieser Absolutheit kann
nichts Ebenbrtiges existieren; alles ist ihr gegenber unvollkommen und
mangelhaft. Diese Schematik kann mit dem Gegensatzpaar Idee und Realitt
beschrieben werden.
Zwischen die Pole Idee und Realitt schaltet Stahl in seinem methodischenVorgehen einen dritten Bereich, der die Funktion hat, zwischen beiden zu
vermitteln. Dieser Vermittlungsfaktor" orientiert sich an der Idee, indem
aus der Idee Prinzipien abgeleitet werden, die dazu dienen sollen, da sich die
Realitt positiv an die Idee annhern kann47 . Dabei trgt der Vermittlungs
faktor selbst hohe Idealzge, die allerdings nicht so fremd und unerreichbar
wirken wie die Idee selbst.
Die Schwierigkeit besteht bei Stahl darin, da dem Vermittlungsbereich
des Idealen" zwei verschiedene philosophische Vorstellungen zugeordnetwerden, die Stahl in seinem Werk nicht klar getrennt hat: der Inhalt des Ideals
und der Inhalt der Idee.
Zum einen verbindet Stahl mit dem Ideal etwas Erstrebenswertes, Voll
kommenes und Vorbildliches. Diesem vorphilosophisch-umgangssprach
lichen Verstndnis"48geht der Gedanke voraus, da dem Ideal die Wirklich
keit fundamental gegenbersteht. Es meint aber auch, da Idealitt und Rea
litt divergieren, d. h. es wird, je angestrengter die Realisierung des Idealen
angestrebt wird, desto deutlicher, da sich die gelebte Wirklichkeit nicht dem
Bilde fgen will, welches die Vorstellung dem Handeln zum Mastab
setzt"49. Gerade dieses Auseinanderbrechen will Stahl verhindern. Er betont
den Gedanken der Einheit besonders50. Sein immanenter Ideal"-Begriff ist
daher auf einer Verflechtung der beiden Termini Idealitt" und Realitt"
aufgebaut. Nimmt man dagegen einen unpersnlichen Weltgeist an, wie He
gel das tut51, trennen sich beide Bereiche, da sie lediglich in einer rationalen
Vorstellung knstlich vereint sind. Das Ideal wird dann unerreichbar, weil es
46 Trotzdem versucht Stahl, Gott auch mittels der Vernunft zu beweisen. Vgl. ebd., 14ff.47 Ein ahnlicher Ansatz - die Vermittlung" zwischen zwei Polen - findet sich auch bei He
gel; vgl.Hirschberger, Geschichte II, 414.48 Malter, Art. Ideal", 701.
49 Ebd., 702.
50 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I, 493, 496 und 519, sowie II / l , 12 und 15.
51 Vgl.Hirschberger, Geschichte II, 407ff.
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Stahls Methode von Idealitt und Realitt 23
nicht mehr fabar ist. Die Konsequenz wre fr Stahl, da im menschlichen
Zusammenleben keine wirklichen ethischen Mastbe mehr gefunden wer
den knnten, die von den Menschen als Verpflichtung angenommen wrden.
Daher ist fr Stahl der Rationalismus eine Auflsung auf religisem, sittli
chem und politischem Gebiet52, weswegen er ihn in der Folge energisch be
kmpft.Mit seinem ,,Ideal"-Verstndnis steht Stahl ganz in der Tradition des
,,Ideal-Realismus"53
, wie sie sich seit der Antike bei Piaton, Aristoteles, Au
gustinus, Anselm, Bonaventura, Thomas und nicht zuletzt bei Schelling aus
gebildet hatte54
. Vor allem Schelling mit seiner Identittsphilosophie hatte
groen Einflu auf Stahl. Von Schelling bernimmt Stahl den Gedanken der
Identitt von Objekt und Subjekt, von Natur und Geist, von Realitt und
Idealitt, ebenso den dahinterstehenden Gedanken, da diese Unterschei
dungsgren durch ein Absolutes eben zu dieser Einheit verbunden sind55
.Da also Ideal und Realitt nicht nebeneinander existieren, sondern in einer
hheren Einheit - der Idee Gottes - verknpft sind, mu aus dem Ideal eine
praktische Relevanz gefolgert werden; sonst wrde das Ideal seinen hohen
Anspruch verlieren. Die Relation von Idealitt und Realitt ist daher von ei
nem Soll-Charakter geprgt; dieser meint, da sich die Realitt an dem Ma
stab des Ideals zu orientieren habe. Das Ideal" erhlt dadurch einen prag
matisch-regulativen Charakter. Dies zeigt sich beispielsweise an Hand der
angesprochenen Funktion der Sittlichkeit, die - in ihrer hchsten Form inGott verwirklicht- die Vollendung des Menschen" beinhalten soll56. De
mentsprechend ist das Ideal geformt; es ist dem inneren und ueren An
schauen so weit voraus, da es selbst nie real werden kann"57. Dieser Ge
danke findet sich bei Stahl in der Erwartung, da erst durch das Eingreifen
Gottes die Vollkommenheit der Schpfung erreicht werden wird58.
Whrend Stahl mit dieser Interpretation des Real-Ideal-Denkens ganz in
der Tradition des ethischen Idealismus steht, verkompliziert sich sein Ideal-
Begriff, indem er hufig die Nuance von Idee" hat. Stahl verwendet die
Vorstellung des Idealen" auch dann, wenn definitorisch eigentlich von
Idee" gesprochen werden mte. Idee" im philosophischen Sinne heit
der im Geist gefate und festgehaltene Umri eines Sachgehaltes in seiner
52 Vgl. Stahl, Phil. d. R. H/1, XVII. Wenn Stahl den Prototyp des Rationalisten in Hegel ver
krpert sieht, beruht dies auf einer Verkennung von Hegels Subjekt-Objekt-Identitt", die
Stahl ganz unter dem Aspekt seiner eigenen Prmisse Persnlichkeit" untersucht. Zu der pro
blematischen Hegelinterpretation Stahls vgl.Eswein, Stellung;C. Wiegand, Stahl, 104 ff.; He-
gel, Vorlesungen I, 561 f.; Nabrings, Einflu, 53-87.53 Hirschberger, Geschichte II, 387.54
Vgl. ebd.55
Vgl.Stahl, Phil. d. R. I (1830), VI und 242-269; Phil. d. R. I, XVII; Grosser, Grundlagen,
30-37.56
Stahl, Phil. d. R. H/1., 71.57
Malter, Art. Ideal", 708.58
Vgl. oben S.18f.
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24 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl
Allgemeinheit, d.h. in seiner Reinheit von empirisch-materiellen Besonde-rungen"59. Der Idee-Begriff ist bei Stahl in seiner deutlichsten Form in derIdee des persnlichen Gottes vorhanden60 . Die Idee der Persnlichkeit Gottes galt fr Stahl als der entscheidende Beitrag der christlichen Kultur zurabendlndischen Philosophie.
Indem die Persnlichkeit Gottes empirisch nicht erfahrbar ist, trotzdemaber gedanklich notwendig erscheint (sonst wrde die Schpfung nicht ausdem Willen, der Attribution Gottes, ableitbar sein), ist sie keiner zeitlichenEinschrnkung unterworfen. Die Idee umfat also die Dinge und gibt ihnenihren innersten Zusammenhang.
Schematisiert wrde Idealitt" bei Stahl bedeuten, da hinter dem Be-griffspaar Ideal" und Realitt" die hhere Einheit der Idee" steckt, wobei das Ideal" ein Ausflu der Idee" ist. Idee" und Ideal" sind bei Stahl
somit nicht identisch, wenngleich sie des fteren vermischt werden. Ideal"meint die Vorstellung von etwas Vollkommenen, die Idee" selbst ist nichtmehr vorstellbar. Auch wenn die Idee" gedanklich nicht mehr fabar ist,heit das nicht, da sie nicht vorhanden ist. Sie uert sich im Ideal. Idealittund Realitt wrden auseinanderbrechen, wenn sie keinen Bezug zur Idee"htten. Also mu es ein vermittelndes Glied geben, das sie miteinander verbindet. Auf das Beispiel des Verhltnisses von Gott zum Menschen bertragen ist der Vermittlungsfaktor die Persnlichkeit, die sowohl ein Attribut
Gottes wie des Menschen ist. Wenngleich die Persnlichkeit des Menschenund Gottes nur analog (in der Fhigkeit zu Wille und Tat), nicht jedoch identisch sind, werden Idealitt" und Realitt" auf einer hheren Ebene verbunden61.
Bei Stahl steht der Bereich Idealitt - Realitt" im Vordergrund seinesphilosophischen Denkens. Die Idee an sich wird nur knapp behandelt. Auchan dem Bezugspaar der beiden Begriffe interessiert Stahl primr das Machbare", d.h. der Bereich zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das Machbare"trgt selbst ideale Zge, ist aber nicht identisch mit dem Ideal62. Vielmehr istes eine aus dem Ideal abgeleitete Stufe. Es ist fr Stahl das - erreichbare - Ziel,das er den Menschen setzt. So verstanden ist seine Philosophie eine Philosophie der Vermittlung, die trotz hoher Normierung durch idealhnliche Zgeeinen ausgesprochen pragmatischen Charakter hat.
Resmierend zu dem Komplex Idealitt und Realitt" mu auf die teilweise offensichtliche Parallelitt zwischen Stahl und Hegel hingewiesen werden. Die hnlichkeit wurde in der bisherigen Stahlforschung durchaus gese-
59 Hirsch, Art. Idee", 709.60 So spricht Stahl von der Idee der vollendeten Persnlichkeit"-.Stahl, Phil. d. R. II/l, 92
und 94.61 Die Verwandtschaft Stahls zu Thomas von Aquin ist unverkennbar. Den Einflu Thomas'
hatHeinrichs, Menschenbild, herausgearbeitet; vgl.Nahrings, Stahl,24ff. Zum Einflu Thomas' auf die Staatslehre des 19. Jahrhunderts vgl.Raab, Wiederentdeckung.
Vgl.Stahl, Phil. d. R. H/1 , 141.
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Das sittliche Reich" 25
hen, wenngleich man sich nicht klar darber war, welchen Stellenwert sie
einnahm. Fast durchgngig wurden die Differenzen zwischen beiden Den
kern hervorgehoben, sei es hinsichtlich verschiedener Begrifflichkeit63 oder
sachlicher Unterschiede64. Mit Drucker und Mller wurde Stahl in die Nhe
Hegels gerckt65
. Trotz der vielfltigen Anstze, das Verhltnis von Stahl zu
Hegel zu klren, konnte bisher kein allgemeiner Konsens gefunden werden;auch Grossers berechtigter Hinweis auf die Nhe zu Schelling
66 hat daran
bisher wenig ndern knnen. Nabrings hat in seiner jngst erschienenen Dis
sertation das Problem erneut aufgegriffen67
und eine neue Variante angebo
ten, indem er Stahl als unglcklichen Hegelianer" interpretiert68
. Demzu
folge sei Stahls Philosophie hinsichtlich ihrer Intention und ihrer Leistung
auf der Folie von Hegels Anschauungen zu interpretieren69. Nabrings' These
bleibt jedoch problematisch, da er der Methodik beider Denker nur sekun
dre Bedeutung beimit und bei der Deutung des Persnlichkeitsbegriffesihre gemeinsame Wurzel im deutschen Idealismus bersieht. Nur durch die
Betonung beider Faktoren kann ein adquates Bild der Korrelation zwischen
Stahl und Hegel gezeichnet werden. Wie Hegel dachte Stahl in methodisch
streng abgetrennten Gegenstzen, die beide in einer Synthese zu verbinden
suchten. Bei Stahl war dies der dialektisch begrndete Vermittlungsbereich,
der fr ihn besondere Bedeutung hatte. Wesentlich fr die Beurteilung des
Verhltnisses von Stahl und Hegel drfte Esweins These von Stahls Intention
einer praktischen Rechts- und Staatsphilosophie sein70
, die Stahls Antipo
denschaft zu Hegel in der Akzentuierung der Tat" gegenber dem Hegel-
schen Denken" sowie die Autonomie der Persnlichkeit" gegenber He
gels Universalismus geistiger Prozesse betont71.
Der von Stahl entwickelten Philosophie der Vermittlung" gilt es auch in
anderen Bereichen nachzuspren. Exemplarisch wird im folgenden daher
noch ein zweiter wesentlicher Begriff Stahls, der des sittlichen Reiches",
untersucht.
3. Das ,,sittliche Reich"
In der Ethik unterscheidet Stahl zwei Sphren, die Moral (= Sittlichkeit) und
die Religion72, die sich gegenseitig durchdringen und die an sich untrennbar
63 Vgl. Landsberg, Geschichte, 371 f.
64 Vgl.Kaufmann, Stahl, 32f.; G.Masur, Stahl, 123.
65 Vgl.Drucker, Stahl, bi.; A. Mller, Beitrge, 20f.
66 Vgl. Grosser, Grundlagen (besonders 30ff.).67 Vgl.Nabrings, Stahl, 55-90; hnlich ders., Einflu.68 Nabrings, Stahl, 15.69 Vgl. ebd., 55.70 Vgl.Eswetn, Stellung, 2.71 Vgl. ebd., 8.72 Vgl.Stahl, Phil. d. R. H/1, 71; Phil. d. R. II/ l (1833), 57-61.
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26 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl
sind. Religion wird verstanden als das Band des Menschen zu Gott. Als Ein
zelner hat der Mensch sein Urbild an der Idee der vollendeten Persnlich
keit"73
, d. h. er besitzt unabhngig von anderen ein subjektives Ethos, das er
in einer besonderen Beziehung zu Gott durch seinen Glauben zu vervoll
kommnen sucht. Mit anderen Glubigen zusammen bildet er die Gottesge
meinde74 , deren institutionalisierte Form die Kirche ist.Auer im Glaubensbereich steht der Mensch als Gemeinschaftswesen in
einer anderen sittlichen Sphre, die einen spezifischen sittlichen Gedanken
verwirklichen will. Stahl nennt sie das Ethos der menschlichen Gemeinexi
stenz"75
. Als Gemeinschaft kann die Menschheit einmal Gottesgemeinde76
sein, zu anderen ist sie die sittliche Welt", die darin besteht, da in den
eignen Lebensverhltnissen der menschlichen Gemeinschaft die gttlichen
(sittlichen) Ideen sich realisiren, und diese in Gestaltung derselben ihren eig
nen sittlich verstndigen Willen offenbare"77
. Die sittliche Welt" findetihre Organisation in der brgerlichen Ordnung, die eine Verbindung von
Recht und Staat beinhaltet78
.
In seiner Philosophie des Rechts" behandelt Stahl vorwiegend die br
gerliche Ordnung, whrend er in seiner Schrift Die Kirchenverfassung nach
Lehre und Recht der Protestanten"79
und in dem Buch Der Protestantismus
als politisches Prinzip"80
primr den Menschen im Rahmen der kirchlichen
Gemeinschaft untersucht. Fr die brgerliche Ordnung" oder die sittli
che Welt", wie Stahl sie auch bezeichnet, konstatiert er eine Inkongruenzzwischen ihrem ideellen Gehalt und den tatschlich herrschenden Bedingun
gen81
.
Auch im Bereich der sittlichen Welt lt sich Stahls Trennung von Idee und
Wirklichkeit deutlich beobachten. Whrend im Verhltnis Gott-Mensch die
Persnlichkeit das vermittelnde Glied ist, ist ein solches im Rahmen einer
Weltordnung an der Oberflche nicht oder nur bedingt vorhanden: Dage
gen fr den Gemeinzustand der Menschen - die sittliche Welt - besitzen wir
schon kein vollstndiges und sicheres Ideal, und auch soweit wir es besitzen,
ist es nicht unbedingte, ja nicht unmittelbare Norm des Handelns"82 . So be
findet sich die Welt in einem Zwischenzustand von Regellosigkeit und natur
haftem Verhalten auf der einen und dem Reich Gottes auf der anderen Seite83
.
73 Stahl, Phil. d. R. II / l , 92.
74 Vgl. ebd., 79.75 Ebd., 78.76
Die Gemeinschaftsform der Gottesgemeinde mu im Rahmen dieser Arbeit nicht nher
untersucht werden. Vgl. dazu Srocka, Kirchenbegriff; Fagerberg, Bekenntnis, 179-225.77 Stahl, Phil. d. R. II / l , 79.
78 Vgl. ebd., 82.79
Erlangen 1840; M862.80 Berlin 1853.
81 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/l, 141.
82 Ebd.83 Vgl. ebd., 148; Phil. d. R. II/2 (1837), 12.
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Das sittliche Reich" 27
Mit diesem Zustand kann sich Stahl als Christ nicht zufrieden geben. Falls die
Welt durch die Existenz Gottes das Ideal der Vollkommenheit in sich trgt,
mu sie immanent nach einem mglichen idealen Zustand streben, damit die
Idee Gottes nicht ad absurdum gefhrt wird. Fr Stahl mu daher das
Christentum die Funktion einer Normierung der sittlichen Welt berneh
men, d. h. Werte vorgeben, die der Annherung an das Ideal einer mglichstsittlichen Welt frderlich sind. Das Christentum wird also von Stahl nicht
nur als Religion, sondern als gestaltende Weltanschauung gesehen84
. Diese
Forderung nach Gestaltung setzt ein aktives Verhltnis des Christen zur
sittlichen Welt", eben zu Staat und Recht, voraus; im Sinne Stahls mu der
Christ Anteil nehmen an der weltlichen Ordnung, um gegen das Bse eine
positive Richtung zu stellen. Das Christentum wird so zum Vermittlungsfak
tor zwischen Gott und der Schpfung, zwischen Idee und Wirklichkeit.
Die Norm des menschlichen Handelns ist die Sittlichkeit. So wie das sittliche Handeln das Ziel des einzelnen Menschen ist, mu auch der Inhalt der
Sittlichkeit das bestimmende Element der menschlichen Gemeinschaft sein.
Ihre politische Organisation findet die weltliche Ordnung im Staat, der schon
in der ersten Auflage des Werkes Die Philosophie des Rechts" als Trger
der menschlichen Sittlichkeit"85
gesehen wird. Sein Inhalt ist die Gerechtig
keit86. In derselben Auflage wird auch das Verhltnis Gott - Staat strker be
tont als in den spteren Ausgaben: Darum hat Gott auf wunderbare Weise
diese Anstalt (d. h. den Staat; Anm. d. Verf.) ber die Menschen gesetzt- ausihnen selbst gebildet aber mit Seinem Ansehen bekleidet und Seinem Ein
flsse zugnglich - da sie in Seinem Namen ihren ganzen ussern Zustand
beherrsche durch ussere Macht und Gewalt". Und weiter: So ist der Staat
der Leiter der gttlichen Einflsse auf den ussern Zustand der Menschen. Er
soll ihn an Gottes Statt ordnen, frdern, Verletzung der Ordnung strafen,
eben damit aber auch den sittlich vernnftigen Willen der menschlichen Ge
meinschaft bewhren, d.i. ihren Gehorsam, Gottes Ordnung aufzurichten
und zu handhaben"87
. Diese extrem starke Begrndung des Staates in Gott
hat Stahl in spteren Ausgaben zwar nicht zurckgenommen, aber doch et
was in den Hintergrund gedrngt. Die metaphysische Grundlage des Staates
beruht dann lediglich auf einer ideellen Vorgabe durch die Personalitt Got
tes88
. Durch eine Kongruenz des Persnlichkeitsbegriffes, der neben Gott
und dem Menschen nun auch dem Staat zugeordnet wird, erhlt der Staat eine
84 Vgl.Stahl, Phil. d. R. H/1, 151.
85 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 4.
86 Vgl.StaM, Phil. d. R. II/ l (1833), 81. In spteren Auflagen konkretisierte Stahl diesen Be
griff nher: Die Gerechtigkeit ist die Idee der sittlichen Welt als solcher, d. i. die Idee, auf der
ihr Bestand und ihre Erhaltung beruhen. Sie bezeichnet das Verhalten der sittlichen Macht und
Autoritt (Gottes und bez. des Staates) selbst zu den freien Persnlichkeiten (Menschen), die un
ter ihrem Gebote stehen." Stahl, Phil. d. R. II/2, 160.87 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 2f.
88 Vgl.A.Mller, Beitrge, 22.
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28 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl
ethische Begrndung und Funktion. So gelangt Stahl zu seiner oft zitierten
Definition des Staates: Dieser ist bewute in sich einige Herrschaft nach
sittlich-intellektuellen Motiven ber bewute frei gehorchende Wesen, da
mit auch diese geistig einigend - er ist demnach Herrschaft von persnlichem
Charakter nach jeder Beziehung, ein Reich der Persnlichkeit"89. Damit ist
der Staat als sittliches Reich"90 charakterisiert. Diese Festlegung verdeutlicht die Parallelisierung von Staat und Individuum im Sinne Stahls: Sowohl
der Mensch als auch der Staat besitzen Persnlichkeit und damit per defini-
tionem die Tendenz zum sittlichen Handeln. Persnlichkeit" meint in die
sem Zusammenhang vorwiegend die Fhigkeit, etwas zu wollen und tun zu
knnen91. Da Personalitt immer von Gott stammt, liegt die Konsequenz
nahe, da die Herrschaft im sittlichen Reich/Staat von Gott gegeben sein
mu. Dies beinhaltet eine Annherung an die traditionelle Lehre des Got-
tesgnadentums" hinsichtlich der monarchischen Stellung. Stahl vollzieht diesen Schritt, indem er den Staat und die Monarchie als gttliche Institutionen
legitimiert92. Im Anschlu an den Rmerbrief 13,1 - Jedermann sey vnter-
than der Oberkeit / die gewalt vber jn hat. Denn es ist keine Oberkeit / als von
Gott. / Wo aber Oberkeit ist / die ist von Gott verordnet"93
, - und an Lu
thers Sicht von Obrigkeit94
leugnet Stahl jede andere Mglichkeit staatsbe
grndender Theorie. Stahl wendet sich explizit gegen Jean-Jacques Rousseau
und dessen Vertragstheorie, nach der die Menschen von sich aus befhigt
sind, durch Vertrag herrschaftliche Gewalt zu schaffen
95
.Der Gedanke des sittlichen Reiches bedeutet eine klare Absetzung zu dem
Organismus-Gedanken der romantischen Staatslehre, wie er sich am ausge
prgtesten bei Adam Mller findet96. Zwar trifft sich Stahl mit den Romanti
kern in der Ablehnung des Rationalismus und der Aussage, da der Staat ein
durchkonstruierter Mechanismus sei, wie sie betont er den Staat als perso
nale Gemeinschaft"97
, doch sieht er in dem Organismus-Gedanken der Ro
mantiker die Selbstndigkeit der Einzelpersnlichkeiten nicht gewahrt. In
einem Organismus sind die einzelnen Teile aufeinander bezogen und wirken
aufeinander. Die Funktionsuntchtigkeit eines Teils fhrt zu einem Fehlver
halten des gesamten Organismus. Gegen diese Ansicht stellt Stahl den Staat
als sittliches Reich" dar und setzt ihn in Analogie zum Pflanzenreich, in
89 Stahl, Phil. d. R. H/2, 1.
90 Vgl. ebd.
91 Zu der Thematik Wille" und Tat " siehe oben S. 18.
92 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 , 196.93 Luther, Heilige Schrift III , 2290.
94 Zur Rezeption Luthers bei Stahl nach wie vor am prgnantesten: Grosser, Grundlagen,
37-45 und 55.95 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I, 299-316; II/2, 176 und 216.96 Vgl.Kluckhohn, Ideengut, 81 ff.; Grosser,Grundlagen, 5ff.; C.Schmitt, Romantik, lehnt
die These einer eigenen politischen Theorie der Romantik ab; dagegenScheuner,Beitrag, 18, mit
weiteren Literaturhinweisen. Zum Organismusgedanken bei Adam Mller vgl. Busse, Lehre.97 Scheuner, Beitrag, 30.
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Das sittliche Reich" 29
dem ebenfalls eine Vielzahl selbstndiger Existenzen vorhanden sind, ohnesich aber gegenseitig zu bedingen; selbst wenn ein Glied oder mehrere Teilefehlen, bleibt die Substanz erhalten. In hnlicher Weise sieht Stahl das Funktionieren des Staates98.
Die scharfe Trennung des Organismus-Gedankens von der Vorstellung
des Staates als eines sittlichen Reiches findet sich in der ersten Auflage derPhilosophie des Rechts" noch nicht, auch fehlt die explizite Formulierungdes sittlichen Reiches", wenngleich schon 1837 das Wesen des Staates in einem hnlichen Sinn beschrieben wurde". Der Staat wird in dieser Auflagenoch mehrfach als organische Anstalt bezeichnet100. Hier zeigt sich der Einflu Schellings, dem Stahl damals noch nahezu unkritisch gegenberstand101.Fr den frhen Schelling waren die Dinge also nicht Principien des Organismus, sondern umgekehrt, der Organismus ist das Principuum der Din
ge"102
.In dieser organischen Auffassung aber konnte die Persnlichkeit undihre Selbstndigkeit keinen Platz finden; daher verwundert es nicht, da sichStahl zunehmend von Schelling entfernte, ohne dessen positive Philosophieaufzugeben103. Bereits in der Ausgabe der Philosophie des Rechts" von1845 trennt Stahl exakt zwischen sittlichem Reich und sittlichem Organismus104, in der dritten Auflage schlielich werden beide Gedanken scharf einander gegenbergesetzt105. Allerdings ist auch Stahls Ansicht des sittlichenReiches nicht in sich geschlossen. Einmal bezeichnet er die brgerlicheOrdnung" als sittliches Reich", wodurch die Vermutung naheliegt, da erstaatliche und rechtliche Institutionen darunter versteht106. Einige Seitenweiter verwendet er den Terminus nur fr den Staat allein107.
Eigentlich transzendiert das sittliche Reich mit seinen Ansprchen das reinReale, da es eine ethische Forderung an die Mitglieder dieses Reiches beinhaltet10 8. hnlich dem Persnlichkeitsbegriff ist das sittliche Reich ein Zwi-
98 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2, 9f. Zur Auseinandersetzung Stahls mit dem Organismus-Gedanken vgl.Kaufmann, Begriff, 10ff.; Grosser,Grundlagen, 60 ff. Zum Organismus-Begriff allgemein:Scheuner, Beitrag,69ff.;Busse,Lehre, 13ff.;Kluckhohn, Ideengut, 81 ff.; Brinkmann,Romantik (v. a. die Aufstze von Birtsch, Faber, Scheuner, Stanslowski).
99 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 2ff.; II /l (1833), 96.10 0 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 17, 19 und 40. Hier spricht Stahl noch strker den Ge
danken des Organismus an.101 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I (1830), Vif.102
Schelling, Werke I, 568. Zu Schelling vgl.Grosser,Grundlagen (besonders 30ff.);Stans-lowski, Gesellschaft; Zu Schellings Wirksamkeit in Bayern vgl.H. Thiersch, Leben I, 346 und349;Kantzenhach, Schelling; ders., Rezeption; Bosl, Schelling;Rall, Knig.
103 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I, XVIIff. und Anm.;Grosser, Grundlagen, 5-8.104 Vgl.Stahl, Phil. d. R., Bd. I: 1847, Bd. I I / l : 1845, Bd. 11/2: 1846.105 Vgl.Stahl, Phil. d. R. I I/2, 9 f.106 Vgl. ebd., 2 und 8;Grosser, Grundlagen, 54 Anm. 345 mit weiteren Textbelegen.107 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II /2, 12.108 Vgl. C.Wiegand, Stahl, 244.
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30 Persnlichkeit" und sittliches Reich" als die Zentralbegriffe bei Stahl
schenglied zwischen der Idee und der Wirklichkeit109
, das selbst einen eige-
nen hohen Idealwert hat. Ein Staat kann nach Stahls Vorstellung nur dann de
Funktion ethischer Normierung besitzen und beanspruchen, wenn er eh
christlicher Staat" ist, der sich im Gegensatz zum aufklrerischen Staat zun
christlichen Glauben bekennt.
109 Vgl.Ellwein, Erbe, 82. Ellwein sieht das sittliche Reich als eine Art Mittelstufe zwiscien
dem Reiche der Natur und dem Reiche Gottes". Vgl.Heinrichs, Rechtslehre, 172, der von eirerr.
Kombinationsbegriff" spricht.
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II. Die Staatsauffassung Stahls
/ . Der Staat und seine Verfassung
Ein richtiges Verstndnis des Stahlschen Gedankens vom sittlichen Reich
setzt voraus, da es nicht identifiziert wird mit bestehenden politischen, ge
sellschaftlichen oder sozialen Verhltnissen. Es ist keine Zustandsbeschrei-
bung, sondern vielmehr Mastab der Wirklichkeit. Stahl will mit diesem
Begriff des sittlichen Reiches bewut ein Idealbild menschlichen Zu
sammenschlusses projizieren, um so dessen Entwicklung positiv zubeeinflussen1. Diese Intention wird bereits aus der Begriffsbestimmung des
sittlichen Reiches erkennbar 2 :
Dieser Begriff des sittlichen Reiches gibt die tiefere (philosophische) Grundlage und
Brgschaft politischer Ordnung und politischer Freiheit. Denn er enthlt als diese
seine Charaktere die Notwendigkeit einer ber den Menschen schlechthin erhabe
nen Autoritt, d. i. eines Anspruchs auf Gehorsam und Ehrfurcht, welche nicht blo
dem Gesetze, sondern einer realen Macht auer ihnen, der Obrigkeit (Staatsgewalt)
zukommt (Princip der Legitimitt im Gegensatze zur Volkssouvernitt), und zu
gleich die Nothwendigkeit eines sittlich verstndigen Inhaltes, welcher das unwan
delbare Wollen, daher auch die Schranke der Autoritt ist, d. i. die Nothwendigkeit
des Gesetzes des Staates, das durch die Geschichte berkommen ber Frst und Volk
steht und nur nach seinen eignen Bedingungen abgendert werden kann (konstitutio
nelles Princip im wahrhaften Sinn), und endlich die Anerkennung der Nation (der
Gehorchenden) als einer sittlichen Gemeinschaft, dehalb selbstndig, frei gehor
chend, dem Gesetze nur als Ausdruck und Forderung ihres eignen sittlichen Wesens
unterworfen [...], aus dem es ursprnglich durch Sitte und Herkommen hervorgeht,
und an dem es bei spterer Fortbildung mittels der Zustimmung der Landesvertretung
erprobt wird (Reprsentativprincip im wahrhaften Sinn)."
Aus diesem umfangreichen Zitat wird deutlich, worauf es Stahl in seiner
Staatslehre ankommt: Es geht um eine Legitimierung der Staatsgewalt aus ei
ner sittlichen Idee heraus, um das Problem einer Konstitution und schlielich
um die Frage nach den Kompetenzen der Kammern. Die genannten Kriterien
sind nicht nur in der Philosophie Stahls anzutreffen, sondern stellen im
staatsrechtliche n De nk en des Vo rm r z die entsc heide nden Kristallisations
punkte dar3 .
1 Auf diesem Hintergrund wird die Kritik Heinrichs', Rechtslehre, 174, hinfllig, der die
Verbindung von Realem und Idealem im sittlichen Reich als widersinnige Konsequenz" be
zeichnet.2 Stahl, Phil. d. R. 11/2 ,3 f.
3 Zur Staatslehre des Vormrz gibt es eine Flle von Arbeiten. In diesem Zusammenhang sei
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32 Die Staatsauffassung Stahls
Fr Stahl ist der Staat nach Art und Form seines Bestandes der Verband
eines Volkes unter einer Herrschaft (Obrigkeit). Nach Gehalt und Bedeu
tung ist er ein sittliches Reich"4. Diese Formulierung zeigt, da Stahl zwi
schen dem formalen Charakter, d.h. der Herrschaftsorganisation, einerseits
und der hheren Aufgabe, der Realisierung sittlicher Werte, andererseitsdif-
ferenziert. Rechtliche und ideale Werte gehren unter dem Aspekt derWeltordnung Gottes" zusammen5und bedingen sich dadurch gegenseitig,
doch kann der Staat erst dann fr sich in Anspruch nehmen, ein sittliches
Reich zu sein, wenn er sittliche Inhalte durch materielles Recht zu konkreti
sieren versucht6. Der Staat hat demzufolge fr den Einzelnen wie fr die Ge
meinschaft rechtliche Bedingungen zu schaffen, die einem solchen Ziel die
nen. Dazu gehren fr Stahl die Erhaltung der individuellen Existenz" 7als
Sammelbegriff fr Integritt der Person, persnliche Freiheit und Eigen
tumsschutz, der Schutz der Familie, die staatliche Gliederung in Gemeinden,Stnde und Korporationen sowie die Klrung der rechtlichen Beziehungen
zwischen Staat und Kirche8. Die rechtliche Fixierung der genannten Punkte,
die genau in dieser Form bereits in der Erstauf lge der Philosophie des
Rechts" erscheinen9, bilden einen wichtigen Bestandteil im Denken Stahls.
Der Staat mu seinem Wesen nach primr Rechtsstaat sein, das sei die
Losung" und der Entwickelungstrieb der neueren Zeit"10 . Nur durch die
Gewhrleistung des Rechtsstaatsprinzips knne die Persnlichkeit des Ein
zelnen in ihrem Kern gewahrt werden. Am Rechtsstaatsdenken Stahls wird
erneut deutlich, welch tiefe Auswirkungen seine Philosophie der Persnlich
keit auch auf die Staatstheorie hat.
Auf der anderen Seite meint Stahls Bekenntnis zum Rechtsstaat eine klare
Absetzung zum Absolutismus, dem bloen Polizey-Staate", wie er ihn
nennt11
. Schon mit seinem Rechtsbegriff lst sich Stahl in einer fr die Zeit
vor 1848 nahezu einzigartiger Weise von der traditionellen Staatslehre, indem
er die liberale Forderung nach Rechtsgarantien in sein System integriert.
Damit ist Stahl neben Karl Theodor Welcker und Robert von Mohl einer
der Begrnder der modernen deutschen Rechtsstaatsidee"12. Allerdings mu
kritisch angemerkt werden, da Stahl die rechtliche Verankerung nur auf die
v. a. auf die Untersuchungen von Boldt, Staatslehre,Brandt, Reprsentation, und Hartmann,
Reprsentation, verwiesen, die fr die vorliegende Arbeit eine wesentliche Grundlage bildeten.4 Stahl, Phil. d. R. II/2,131.
5 Ebd., 132.6 Vgl. ebd., 135.7 Ebd. II/l, 197.
8 Vgl. ebd., 197f.9 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/l (1833), 110 f.10 Stahl, Phil. d. R. II/2, 137; hnlich Phil. d. R. II/2 (1837), 37.
11 Stahl, Phil. d. R. II/2 , 138. Stahl trennt zwischen dem Absolutismus des Staates und dem
Absolutismus des Frsten; vgl. ebd., 157. Im obigen Zusammenhang ist der Begriff im letzteren
Sinne gebraucht.12 Crosser, Grundlagen, 83.
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Der Staat und seine Verfassung 33
uere Ordnung des Staates bezieht. Dadurch bleibt sein Rechtsbegriff uerlich13und formal. ,,In der starken Betonung der uerlichkeit des Rechtsliegt somit eine der bedeutsamsten Wurzeln des Stahl'schen Rechtspositivismus"14.Sittliche Inhalte oder positive Vorstellungen impliziert Stahl mit seinem Rechtsgedanken nicht; sie sind nur das Ziel, aber nicht die Grundlage
des Rechts. So neu Stahls rechtsphilosophischer Ansatz um 1830/35 war, sonachteilig wirkte sich die rein formale Rechtsansicht im Kaiserreich undselbst bis 1945 aus. Mit dem formalen Charakter des Rechts bestand immerdie Mglichkeit, da Recht und Gerechtigkeit auseinanderfielen.
Auf dieser formalrechtlichen Basis baut Stahl seine Staatsauffassung auf.Im Gegensatz zum Recht und dessen uerlichen Charakter ist der Staatmehr von einem Idealbild geprgt: Er ist ein Reich realisirter und zu realisi-render sittlicher Ideen und verstndiger Zwecke [. . .] "15 . Der Staat kann aber
nicht von sich aus allein sittliche Inhalte schaffen; sie mssen in der Persnlichkeit Gottes vorgebildet sein. Auch dadurch entsteht eine enge Verbindung des Staates zu Gott in dem Sinne, da der Staat seine Wurzel in Gotthabe. Er ruht auf der Verordnung (Ermchtigung, Einsetzung), Gottes[...] Seine ganze legitime Ordnung - Gesetz, Verfassung, Obrigkeit - hatdaraus ihre bindende Macht"16. Mit dieser christlichen Begrndung des Staates wird der Gedanke der Vertragstheoretiker zurckgewiesen, nach derenAnsicht durch einen Konstitutionsakt ein Staat entstehen knne. Vielmehr
bedrfe der Staat eines organischen Wachstums
17
.Unter diesem Aspekt ist auch Stahls Stellung zur Verfassung zu sehen.Stahl versteht Verfassung" nicht im Sinne einer Staatsurkunde, sondern als,,Gliederung der menschlichen Gemeinschaft, durch welche der Staat als Anstalt besteht - also der Einrichtungen, die Austheilung der Berufstellung[. . . ] " 1 8 . Verfassung" meint die Beschreibung eines politisch-rechtlichenZustandes, der sich im Laufe der historischen Entwicklung herausgebildethat. Anscheinend hat Stahl hier die Verfassungswirklichkeit Englands vorAugen19 , wo keine geschriebene Verfassung existiert. Jeder Staat habe seine
13 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2, 136. Stahl sieht die Nhe zu Kant, setzt sich jedoch bewut vonihm ab; vgl. ebd., 152.
14 Heinrichs, Rechtslehre, 220.
15 Stahl, Phil. d. R. II/2, 140f. An dieser Stelle findet sich erneut die Doppelschichtigkeit des
,,Idee"-Begriffs bei Stahl.16 Ebd., 176. Der gleiche Gedanke taucht bereits in der 1. Auflage auf; Phil. d. R. II/2 (1837),
67.17 Vgl.Stahl, Phil. d. R. 11/2 (1837), 67. Organisch" wird hier im Sinne von kontinuier
lich" verstanden.18 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 30.
19 Seit der dritten Auflage der Philosophie des Rechts" von 1856, also nach dem Erscheinender Schrift Das monarchische Princip" von 1845, die von einer tiefgreifenden Analyse der englischen Verfassungswirklichkeit geprgt ist, finden sich auch in seinem Hauptwerk Hinweise aufEngland. Vgl. Phil. d. R. II/2, 267, 270, 287, 297 etc. Inwieweit sich Stahl schon vor 1837 aufEngland sttzte, ist unklar; vgl.Klenk, Beurteilung,86ff. Wahrscheinlich war Stahl vor 1837 in
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34 Die Staatsauffassung Stahls
eigentmlichen Bedingungen"20 und seine eigene Individualitt; daherknne es keine einheitliche, fr alle Staaten gltige Verfassungsform geben.Es sei lediglich mglich, da sich die Verfassungen an einem Idealbild orientierten. Diese vollkommene Verfassung"21bestehe darin, da sie einen sittlich vollkommenen Zustand eines Volkes in sich trage. In Stahls christliches
Staatsverstndnis umgesetzt heit das, da die vollkommene Verfassung anGottes Ordnung"22 geknpft ist. Erneut findet sich hier eine metaphysische Transzendierung realer Zustnde in einen nur vage erfabaren Bereichdes Guten" und Sittlichen". Indem die Verfassung realpolitische undreligis-sittliche Elemente verbinden soll, erhlt sie einen normativenCharakter, der ber Rekrutierungsverfahren, Struktur und Zustndigkeitder Staatsorgane hinausgeht. Der formale Charakter der Verfassung -Regierungsform, Thronfolge, Rechte des Regenten und der Stnde sowie der
Staatsbrger23
- wird ergnzt durch eine irrationale Zielsetzung.Auch wenn Stahl Verfassung" als ungeschriebenes Staatsgrundgesetz
versteht, schliet er die Mglichkeit einer Kodifikation nicht aus. Die Verfassung wird dann zur Konstitution. Voraussetzung fr eine Kodifikation sindschriftliche Rechtsaufzeichnung und die Existenz einer Vertretung aus demVolke24 . Allerdings will Stahl die Funktion der Volksvertretung auf dieberwachung der erlassenen Konstitution beschrnken; wie weit dieseKompetenz reichen soll, lt Stahl offen. Weiterhin fordert Stahl, da die
Konstitution vom Knig oktroyiert werde; eine Mitwirkung der Stnde inForm einer zwischen dem Knig und der Volksvertretung vereinbarten Konstitution oder gar eine von der Volksvertretung allein beschlossene Verfassung schliet Stahl ausdrcklich aus25 .
Nach Stahl gibt es historische" und reflektirte" Verfassungen26. Whrend die historischen Verfassungen kontinuierlich im Laufe der Geschichteentstanden sind und sich unter Umstnden an die gewandelten politischrechtlichen Gegebenheiten angepat haben, bilden sich reflektierte Verfassungen dort, wo trotz vieler uerer Wandlungen die Verfassung ber einelange Zeit unverndert geblieben ist. Als Folge davon werde der Staat durch
der Beurteilung parlamentarischer Formen mehr an der Regierungsform Frankreichs orientiert.Der Brief Stahls an Linck, Berlin, 19.3.1842, zeigt die wachsende Beschftigung mit den englischen Verhltnissen; abgedruckt in:Koglin, Briefe, 264. Zum Einflu Englands auf die politische Theorie in Deutschland vgl.Eyck, Influences; Wilhelm, Verfassung;Scheuner, Volksherrschaft. Ein kurzes Resmee findet sich beiHartmann, Reprsentation, 33 f.
20 Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 62; vgl. Phil. d. R. U/2, 221.21 Stahl, Phil. d. R. U/2 (1837), 62.
22 Ebd., 66.23 Vgl.Stahl, Phil. d. R. U/2, 101.24 Vgl.Stahl, Phil. d. R. U/2 (1837), 102.25 Vgl. ebd., 107. Interessant ist, da Stahl diese Bemerkungen niederschrieb, als er 1837 Ab
geordneter am Bayerischen Landtag war.26 Ebd., 105f.; in spteren Jahren fgte Stahl noch die Kategorie der revolutionren" Ver
fassung hinzu; vgl.Stahl, Phil. d. R. U/2, 275.
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Der Staat und seine Verfassung 35
eine Konstitution auf eine neue Grundlage gestellt, ohne da dabei die Struktur des Staates als Ganzes verndert werde. Diese reflektierten Verfassungensind dann nur umfassendere tiefer greifende Reformen"27 .
Inhaltlich deduziert Stahl vier Bereiche, welche durch eine Verfassung geregelt werden mssen: den herrschaftlichen, den individuellen, den korpora
tiven und den religisen Aspekt28 . Die Herrschaft soll im allgemeinen diestaatliche Gemeinschaft als solche konstituieren, d. h. es mssen Regelungenber die Regierungsform, das Staatsgebiet, Gericht und Behrden getroffensein. Der individuelle Bereich soll das Verhltnis des Einzelnen zum Staatklren, soweit es das Staatsbrgerrecht, die Garantien persnlicher Freiheiten und Rechte oder das Auswanderungsrecht betrifft. Das korporative oderstndische Element schafft Bedingungen ber die Bildung der Gemeindenund Korporationen und ihre Stellung zum Staate, ber Adel, Brger-, Bau
ernstand"29
. In einem letzten Punkt wird schlielich das Verhltnis der Religionsgemeinschaften zum Staat festgesetzt (z.B. Staatsreligion, Anerkennung der Kirchen durch die Verfassung).
Der religise und der individuelle Bereich mssen in unserem Zusammenhang nur kurz gestreift werden, da sie fr Stahls Staatsrecht von sekundrerBedeutung sind. Mit seinen Forderungen auf diesem Gebiet bewegt sich Stahldurchaus im Rahmen der Verfassungsbestrebungen in der ersten Hlfte des19. Jahrhunderts. Die grundstzliche Bereitschaft Stahls, neben der christli
chen Religion auch andere Religionsgemeinschaften wie das Judentum anzuerkennen30 , ist wohl auf seine prinzipielle Konzilianz in dieser Frage zurckzufhren. Immerhin war Stahl selbst konvertierter Jude und daher mit denProblemen vertraut, mit denen die Angehrigen des mosaischen Glaubenskonfrontiert waren31.
Gleich der Religionsfreiheit tritt Stahl fr die persnliche Freiheit ein. DieVerfassung soll sich seiner Meinung nach darauf beschrnken, die Bedingungen festzulegen, unter denen der Mensch sittlich handeln knne. Stahls Freiheitsbegriff zielt also nicht auf einen modernen Grundrechtskatalog ab, auchnicht auf die Freiheit des Individuums vom Staat; es geht ihm nicht um einepositive Auflistung von Freiheitsrechten, sondern um eine Beschrnkung desStaates in seiner Einflunahme auf das Individuum. Persnliche Freiheitmeint im Sinne von Stahl nur die private Sphre des Individuums. Wirkliche
27 Stahl, Phil. d. R. 11/2 (1837), 106.
28 Zum folgenden vgl. ebd., 30ff. und Phil. d. R. H/2, 205ff.29
Stahl, Phil. d. R. II /2, 206 und Phil. d. R. 11/2 (1837), 31.30 Vgl.Stahl, Phil. d. R. II/2 (1837), 283 ff.31 Die Behauptung von Hermann Seligsohn (abgedruckt in:Richarz, Leben, 150), Stahl habe
die Juden gehat, geht vollstndig an der Wirklichkeit vorbei. SchonStahls Buch Der christliche Staat und sein Verhltnis zu Deismus und Judentum" beweist die offene und zugleich kritische Haltung Stahls zu seinen frheren Glaubensgenossen.Vg\. Arnsberg, Stahl, 515. Trotz seines bertritts zum evangelischen Glauben blieb Stahl tief in der jdischen Tradition verwurzelt;vgl. Brief von Bertha Held, abgedruckt beiArnsberg, Notizen, 2. Zur AuseinandersetzungStahls mit dem Judentum vgl. Kapitel D.I.I., S. 114-117.
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36 Die Staatsauffassung Stahls
Freiheit sei die Realisierung eines subjektiven Ethos, der Moral, whrend der
Staat die Aufgabe habe, das objektive Ethos, das Recht, zu gewhrleisten32.
Entscheidend ist fr Stahl der herrschaftliche und korporative Bereich der
Verfassung. Es wurde bereits angefhrt, da die brgerliche Ordnung, d.h.
der Staat und das Recht, ein sittliches Reich" bilde. Da die Staatsgewalt den
Charakter persnlicher Herrschaft" habe33, mu sie ihrem Wesen nach unteilbar sein, das heit, sie kann nicht in voneinander unabhngige Bereiche
wie Exekutive, Legislative und Jurisdiktion zerlegt werden. Nur die Einheit
der Gewalten verleiht der Staatsgewalt Souvernitt"34
im Sinne einer
Staatshoheit und Machtvollkommenheit. Je nach der Art des Souvernitts
trgers unterscheidet Stahl die Monarchie, die Aristokratie und die Demo
kratie als unterschiedliche Verfassungsformen35. Allein in der Monarchie ist
fr Stahl die persnliche Herrschaft am natrlichsten gegeben, da in ihr die
Staatsgewalt ungeteilt sei.Legitimittsprobleme und die Frage nach einem Konstitutionalismus ste
hen bei Stahl in einem engen Zusammenhang. Durch die Ablehnung des ra
tionalistischen Vertragsmodells und seiner eigenen Begrndung des Staates in
Gott sieht sich Stahl in Gefahr, einen theokratischen Staat zu errichten. Wh
rend Stahl in der Erstauflage seines Werkes Die Philosophie des Rechts"
diesem Problem nicht weiter nachgegangen ist, betont er in spteren Aufla
gen ausdrcklich, da sich die gttliche Institution des Staates auf Gottes
Gebot und Ordnung, nicht aber auf Gottes unmittelbare (d