Zukunft der Arbeit. Neue Leitbilder für Arbeits- und Unternehmensorganisationen
Masterarbeit
Vorgelegt von: Andrea Flügel geb.am: 25.03.1960 Betreuer: Dr. Andreas Philipp Dr. Herbert Asselmeyer Weiterbildendes Studium Organization Studies Hildesheim 2004
Andrea Flügel 2
Inhaltsverzeichnis: 1. Einleitung 2. Paradoxien der zukünftigen Entwicklung der westlichen Indust-
riegesellschaft 2.1. Globalisierung, Individualisierung, Informatisierung und Virtualisierung
als Indikatoren für den gesellschaftlichen Wandel 2.2. Auswirkungen auf die Unternehmen 2.3. Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen –
Individualisierung, Vereinzelung oder neue Vergemeinschaftung 2.4. Wie wir arbeiten werden 2.5. Debatte über neue Arbeitsformen in der Europäischen Union 2.6. Erstes Zwischenfazit
3. Neue Arbeitsformen: Virtualisierte Unternehmens- und Arbeitsorganisation, als Lösung der Probleme 3.1. Virtuelle Unternehmensorganisation - Virtualitätskonzepte 3.2. Beispiele für erfolgreiche virtuelle Unternehmen 3.3. Umwandlung von traditioneller zu virtueller Arbeitsorganisation in
Klein- und Mittelunternehmen (KMU) 3.3.1. Technische Komponenten – Virtuelle Realität 3.3.2. Virtualisierung der Arbeitsbeziehungen
3.4. Gründe, Motivation und Voraussetzungen zur Veränderung der Ar-beits- und Unternehmensorganisation in der IT-Branche
3.4.1. Veränderung der Arbeitsformen in der Softwareindustrie aus Arbeitnehmersicht
3.5. Zweites Zwischenfazit
4. Ein Softwareunternehmen zwischen traditioneller und virtueller
Arbeits- und Unternehmensorganisation 4.1. Expertenbefragung und Informationsgespräch - die Methode 4.2. Die Firma
4.2.1. Ergebniszusammenfassung und Schlussfolgerungen aus dem Expertengespräch
4.3. Ausgewählte Virtualisierungsbestandteile 4.3.1. Telearbeit als virtueller Baustein 4.3.2. Entlohnung in virtuellen Unternehmen
4.4. Modellvorschlag 1: Interne Flexibilisierung als Virtuelles Netzwerk 4.5. Modellvorschlag 2: Die Firma bleibt hier und will expandieren und
neue Geschäftsfelder identifizieren 4.6. Modellvorschlag 3: Wechsel des Wohnsitzes des Geschäftsführers ins
Ausland
5. Schlussbetrachtungen - Fazit Dank Literaturverzeichnis
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1. Einleitung
Unter dem Titel Zukunft der „Arbeits- und Unternehmensorganisation“ verei-
nen sich viele Formen und Herangehensweisen sowohl in wissenschaftlicher
und politischer als auch in praktischer Hinsicht.
Dieses Thema ist ein weites Feld in den Sozialwissenschaften sowie in Volks-
und Betriebswirtschaft.
Arbeit bekommt in einer Welt der Globalisierung, Informatisierung, Individuali-
sierung, aber auch Automatisierung und Technisierung, sowie bei den Sozial-
partnern sehr unterschiedliche Bedeutungsfelder.
In dieser Arbeit wird im ersten Teil eine Literaturanalyse der sozialwissen-
schaftlichen Theorien zur Gegenwartsanalyse und zukünftigen Entwicklungen
der Gesellschaft vorgestellt, mit dem Ziel die Annahmen über die Veränderun-
gen der Arbeits- und Unternehmensgestaltung in der postmodernen Gesell-
schaft darzustellen. Hier wird die Diskussion um Globalisierung und der Wer-
tewandel im Mittelpunkt stehen.
Bei der Sichtung der Literatur wurden Paradoxien der Beschreibung der zu-
künftigen Entwicklung der Gesellschaften, der Arbeitswelt und der Organisa-
tionen sichtbar. Widerstreitende Theorien werden beschrieben.
Das Thema lässt sich aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten, z.B.
aus arbeitswissenschaftlicher oder betriebswirtschaftlicher Perspektive, aus
globaler Perspektive, aus der Sicht der westlichen Industrieländer, als gesell-
schaftlicher Wandel der Arbeitsbeziehungen, um nur einige zu nennen.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit ist dabei die Betrachtung der Virtualisierung
von Arbeits- und Unternehmensorganisation. Deshalb wird im 3. Kapitel die
Unternehmensebene als Beurteilungsraster gewählt.
Zum Schluss sollen die Ergebnisse der Betrachtung in die praktische Modell-
entwicklung zur Umwandlung traditioneller Arbeits- und Unternehmensorgani-
sation in einer Software- Firma einfließen.
Zentrale Fragestellung ist dabei, ob die Virtualisierungskonzepte für eine ver-
änderte Unternehmens- und Arbeitsorganisation neue Chancen erkennen las-
sen und sich daraus konkrete Modelle für die Weiterentwicklung eines Soft-
wareunternehmens ableiten lassen.
Dieses Unternehmen wurde von der Autorin für den empirischen Teil ausge-
wählt, weil gerade hier der Einsatz von Informations- und Kommunikations-
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technologien auch bei traditioneller Arbeitsorganisation Standard ist. Die
hochqualifizierten Mitarbeiter arbeiten weitgehend projektorientiert und eigen-
verantwortliches Arbeiten ist selbstverständliche Grundlage der Zusammenar-
beit.
Gleichzeitig ist in diesem speziellen Beispiel der Aufbau neuer Geschäftsfel-
der ohne Neueinstellungen und eine mögliche Veränderung des Arbeitsortes
des Managements geplant, so dass eine neue Arbeits- und Unternehmensor-
ganisation mitgedacht werden müsste.
Ziel ist die Veränderung der Arbeits- und Unternehmensorganisation einer
kleinen Firma der IT- Industrie, in den allgemeinen gesellschaftlichen Wandel
einzubetten. Meine These ist, dass die Zeit reif ist, konkreter und vermehrt
über die Umsetzung der vorhandenen virtuellen Möglichkeiten in die Arbeits-
welt nachzudenken. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen, hochqualifi-
zierte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die eine Lebensqualität erhö-
hende Verknüpfung von Arbeit und Leben anstreben, könnten davon profitie-
ren.
Eins scheint mir wichtig zu erwähnen. Die Motivation für dieses Thema ent-
springt der Hoffnung, die Qualität der Arbeit – hier verstanden als Lebenszeit -
zu verbessern. Arbeit wird dabei als die Zeit definiert, in der Kreativität und
Innovationen zum Alltag gehören und die lästigen Routinetätigkeiten in einen
sinnvollen Zeitbezug zu stellen sind. Weitere Stichworte sind:
Kollektives Lernen in der Arbeitszeit aus Erfahrungen und Wissen er-
möglichen und fördern
Partnerschaftliches, kooperatives, vertrauensvolles und interdisziplinä-
res Zusammenarbeiten durch eine sinnvolle Unternehmensstruktur zu
ermöglichen und zu unterstützen.
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2. Paradoxien der zukünftigen Entwicklung der westlichen Industrie-gesellschaft
In diesem Kapitel wird es um die Darstellung der zukünftigen Entwicklung von
Arbeit und Leben in der postmodernen Gesellschaft gehen. Dabei geht es um
Entwicklungen wie Globalisierung, Individualisierung, Virtualisierung Informa-
tionsgesellschaft, Multioptionsgesellschaft, Bürgergesellschaft, aber auch um
konkrete Entwicklungen, die zur Veränderung der Arbeitsgesellschaft führen,
wie z.B. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Nomaden der Arbeitswelt,
Auflösung bisheriger Arbeitsverhältnisse usw. Ziel dieses Kapitels ist es, zu
untersuchen, wie diese theoretischen Modelle die These unterstützen, dass
die Zeit reif ist, vermehrt über die Umsetzung virtueller Möglichkeiten in die
Arbeitswelt nachzudenken.
Diese Ausführungen sollen eine Klammer bilden für den Begründungszusam-
menhang zwischen gesellschaftlicher Neuorientierung, neuen Unternehmens-
konzepten und neuen Arbeitsformen.
2.1. Globalisierung, Individualisierung, Informatisierung und Virtualisierung als Indikatoren für den gesellschaftlichen Wandel
In der Diskussion seit Mitte der 90er Jahre über die moderne Gesellschaft
zeigt die Analyse der Literatur kein einheitliches Paradigma.
Richard Münch zufolge findet ein Wandel von der Industrie- zur Kommunikati-
onsgesellschaft statt. Dabei steht im Zentrum die Verdichtung, Beschleuni-
gung und Globalisierung der Kommunikation, die ihre Dynamik durch den
permanenten Vergleich des Wirklichen mit dem Möglichen gewinnt. Verände-
rung ist also das Grundprinzip der Moderne.1
Die Kommunikationsgesellschaft2 leistet dabei gleichzeitig durch das perma-
nente Streben zur Verwirklichung ihrer Ideale (Freiheit, Gleichheit,
Wohlstand…) einem Fundamentalismus der Enttäuschten Vorschub. Diese
1 Vgl.: Kron, Thomas: Explodierte Kommunikation, vernetzte Gesellschaft – Richard Münchs Analyse der Kommunikationsgesellschaft, in: Schimank, Uwe und Ute Volkmann (Hrsg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandaufnahme, Opladen 2000, S.41f 2 Der Kommunikationsbegriff ist nicht eindeutig fassbar. So stellt Münch fest, dass Kommunikation eine höchst zweischneidige Angelegenheit (sei). Sie eröffnet Chancen der Verständigung, birgt aber auch stets die Gefahr des Missverständnisses, der Störung und der Konfrontation bis hin zum totalen Zusammenbruch der Kommunikation im Schweigen und/oder in der Gewaltsamen Auseinandersetzung.“ (Münch 1995, 80)
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Paradoxien der Moderne sind nach Münch nicht aufzulösen, sondern nur zu
mildern, in dem wir „vor allem lernen, mit Widersprüchen zu leben, sie wohl
stets zu bearbeiten, allerdings ohne Aussicht, sie jemals vollständig aufheben
zu können. Moderne ist Widerspruch. Aus dem Widerspruch gewinnt sie ihre
ureigenste Kraft der unablässigen Erneuerung.“3
Auch Habermas (1995) spricht von der „Ambivalenz der Weltgesellschaft“.
Einerseits ist eine Expansion von weltweit verknüpften Netzwerken, Organisa-
tionen und Systemen zu beobachten und damit eine exponentiale Steigerung
der möglichen Informationen und Kontakte. Sie führen nach Habermas zu
zwei gleichzeitigen und gegenläufigen Tendenzen, der Erweiterung und der
Fragmentierung des Bewusstseins der Subjekte. Dies führt sowohl zur welt-
weiten Vernetzung, als auch zur Zunahme ethnischer Konflikte und Abschot-
tungsstrategien.4 Auf diesen Zusammenhang geht besonders Manuel Castells
(2001) in seiner „Netzwerkgesellschaft“ ein.
„Unsere Welt und unser Leben werden durch die widerstreitenden Tendenzen
der Globalisierung und Identität geprägt. Die informationstechnologische Re-
volution und die Neustrukturierung des Kapitalismus habe die Entstehung
einer neuen Gesellschaftsform bewirkt, der Netzwerkgesellschaft.“5 Sie ist
durch die Netzwerkform der Organisationen und durch Flexibilität und Instabi-
lität der Arbeitsprozesse sowie die Individualisierung der Arbeitsverhältnisse
gekennzeichnet. Weitere Eigenschaften dieser Gesellschaft sind die Kultur der
realen Virtualität, die Transformation der materiellen Grundlagen des Lebens,
des Raumes und der Zeit durch die Entstehung der zeitlosen Zeit als Aus-
drucksformen der herrschenden Tätigkeiten und der Führungseliten.6 Gleich-
zeitig ist eine Tendenz des religiösen Fundamentalismus und des kulturellen
Nationalismus als defensive Reaktionen auf die Globalisierung zu erkennen.
Eine Bewegung gegen die Vernetzung und Flexibilität von Arbeit, Raum und
Zeit ist zu beobachten sowie gegen die Auflösung der Sicherheit von Arbeit,
Familie, Nation und Gesellschaft. Diese defensiven Reaktionen werden zu
Quellen von Sinn und Identität, denn „ewige Wahrheit lässt sich nicht virtuali-
sieren.“7
3 Münch, Richard: Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt am Main 1991, S.309, zit. nach: Kron, a.a.O., S.41- 56 4 Heming, Ralf: Systemdynamiken, Lebenswelt und Zivilgesellschaft – Zeitdiagnostische Aspekte der Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas, in: Schimank, Uwe und Ute Volkmann (Hrsg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandaufnahme, Opladen 2000, S.63f 5 Castells, Manuel: Die Macht der Identität. Das Informationszeitalter II, Opladen 2003, S.3 6 vgl.: Castells, Manuel, a.a.O. S.3 7 vgl.: Castells, Manuel, a.a.O. S.71f
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Auch Peter Gross’ „Multioptionsgesellschaft“ mit dem Motto „Alles ist möglich“
sieht vor allem Irreguläres und Unberechenbares in der modernen Gesell-
schaft und sieht die Gründe in der zunehmenden Deregulierung der Gesell-
schaft. Sein Lösungsvorschlag oder der Ausweg aus dieser Optionenvielfalt
heißt: „Die Akzeptanz von Differenzen, zwischen Menschen, Lebensstilen,
Gesellschaften, Kulturen, Kontinenten und – vor allem – Wirklichkeit und Mög-
lichkeit.8
Alle diese Modelle führen zu ambivalenten Vorstellungen über die Zukunft. Die
Gemeinsamkeit besteht in der Darstellung von Paradoxien der Entwicklungen.
Sicherheit versus Freiheit, Auflösung von bekannten Strukturen versus Optio-
nenvielfalt, Nationalismus und Fundamentalismus versus Globalisierung auf
der Grundlage der Informations- und Kommunikationstechnologien, die vielfäl-
tige neue Möglichkeiten der Vernetzung über die Grenzen von Zeit und Raum
ermöglichen.
Dieser Realität müssen sich Unternehmen als Teil des gesellschaftlichen
Wandels stellen, insbesondere wenn sie selbst Anbieter auf dem Markt der
Informationsverarbeitung und –bewältigung sind.
2.2. Auswirkungen auf die Unternehmen
Wenn etwas noch prognostizierbar ist, ist es die Unprognostizierbarkeit der
Zukunft. Ungewissheit wird von den Unternehmen mit Kopplungs- und Vernet-
zungsstrategien, mit strategischen Allianzen und mit Outsourcing beantwor-
tet. Gleichzeitig versuchen sie die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch die
Stärkung der Corporate identity zu schützen, um der zunehmenden Individua-
lisierung und Automatisierung in Privatleben und Erwerbsleben Festigkeit ent-
gegenzusetzen.9
Entscheidend ist laut Gross (2001), dass die Ausdifferenzierung der moder-
nen Gesellschaft als Ausdruck einer Dynamik gedeutet werden muss, deren
Verständnis für das Management und die Unternehmensführung unerlässlich
ist.
8 Abels, Heinz: Sich dem „Mehrgott“ verweigern – Zu Peter Gross’ „Multioptionsgesellschaft“, in: Schimank, Uwe und Ute Volkmann (Hrsg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandaufnahme, Opladen 2000, S.105 9 vgl.: Gross, Peter, a.a.O. S.28f
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„Es ist ein höchst betrüblicher Umstand, dass Unternehmerschaft und Mana-
gement, die Eliten der Globalisierung, zwar ihre Produkte und Konzepte,
Tools und Business Modelle erfolgreich in aller Welt verkaufen, aber sich we-
nig Zeit nehmen und entsprechend überfordert sind, die kulturellen Schlüssel-
konzepte zu benennen und zu legitimieren, die erst jenes Kraftfeld bilden, auf
deren Hintergrund dann Markt, Kommerz und Geschäft ermöglicht werden.“10
Peter Gross fordert daher, dass das Management Lesarten und Deutungen
der Innenwelt von Unternehmungen verbindet mit einer Deutung der unter-
nehmensrelevanten Entwicklungen der Umwelt, einer „luxurierenden Multiop-
tionsgesellschaft“, in der Existenzbedürfnisse gegenüber Sinnbedürfnissen in
den Hintergrund treten und Begriffe wie vertraut/ unvertraut, anschlussfähig/
nicht anschlussfähig Entscheidungen beeinflussen, wobei auseinandertrei-
bende Bereiche von organisierten Vernetzungen aufgefangen werden. Unter-
nehmen brauchen für die Turbulenzen der globalisierten Märkte das „Wissen
über die Welt draußen, die gesellschaftlichen und politischen Großwetterlagen
und Trends“11, und sie müssen Netzwerke und Regeln entwickeln, um die ver-
mehrte Ungewissheit zu meistern.
Gross zeigt auf, dass ein Wandel der Gesellschaft nicht wirkungslos an Unter-
nehmen, die Teil dieses Wandels sind, vorüber gehen kann. Das muss auch
Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben und soll im
Folgenden beleuchtet werden.
2.3. Auswirkungen auf die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen – Individualisierung, Vereinzelung oder neue Vergemeinschaftung
Ein weiterer Aspekt der Diskussion um die Modernisierung ist der Blick auf die
Auflösung traditioneller Erwerbs- und Lebensbiographien. Auf die Auflösung
des Normalarbeitsverhältnisses12 als Treiber biographischer Irritationen und
10 Gross, Peter: Globalisierung, kulturelle Dynamik und Kontingenzmanagement, in: Wüthrich, Hans A., Winter, Wolfgang B. und Andreas F. Philipp: Grenzen ökonomischen Denkens. Auf den Spuren einer dominanten Logik, Wiesbaden 2001, S.22f 11 Gross, Peter, a.a.O. S.30 12 Auf der Ebene der gesellschaftlichen Regulation von Arbeit, ist das „Normalarbeitsverhältnis“ definiert als normativ wie strukturell prägendes institutionelles Arrangement, das die Standardisierung der Arbeitszeit und die Abtrennung von Arbeitswelt und Lebenswelt einschließt. Dabei ist das Normalarbeitsverhältnis Kern eines übergreifenden Regulierungsmodus, der zunächst einmal die besondere „Ware Arbeitskraft“ vor den Wechselfällen des Marktes schützen sollte. Durch die verschiedenen sozialstaatlichen Arrangements werden Puffer zwischen Markt und Arbeitsverhältnis eingebaut, die verhindern, dass die Risiken des Marktes
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Brüche, der faktischen Entwertung von Bildungsabschlüssen und dem zu-
nehmenden „Anspruch und Zwang zum eigenen Leben“13. „Bastelexistenz
bzw. Existenzbasteln“ wird in diesem Zusammenhang als Grundsatzlösung für
die mit der Individualisierung einhergehende Handlungsproblematik und als
Hinweis auf die sich ihr Leben zusammenstückelnden individualisierten Men-
schen gedeutet.14
Dabei geht Hitzler (2001) davon aus, dass sich neuartige Vergemeinschaf-
tungsformen entwickeln, verstetigen und vermehren werden. „Vergemeinschaftungsformen, deren wesentlichstes Kennzeichen darin be-
steht, dass sie eben nicht mit den herkömmlichen Verbindlichkeitsansprüchen
einhergehen (…)“.15 „Nach dem Ende der soziokulturellen Normalität von Nor-
malerwerbsbiographien wird so etwas wie ‚Lebenserfolg’ vermutlich unab-
dingbar mit der individuellen Fähigkeit verbunden sein zum flexiblen Zusam-
menbasteln der je eigenen Existenz aus je (zufällig) zuhanden bzw. sich er-
öffnenden (Erwerbs-)Chancen.“
Es besteht eine Tendenz zur Auflösung der Trennung von Erwerbszeit und
Freizeit, dem Unterlaufen von Zeitordnungen. Pioniere einer anderen Moderne
werden nach Hitzler nicht Spezialisten, sondern „Träger von (und Spieler mit)
sogenannten Kernkompetenzen und Basisqualifikationen16 sein17.
Auch Beck und Beck-Gernsheim (1994) sehen die Individualisierung als radi-
kale Veränderung der individualisierten Gesellschaft in der reflexiven Mo-
derne. „Der Mensch wird (im radikalsten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglichkei-
ten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Re-
ligion, Ehe, Elternschaft, soziale Beziehungen – alles wird sozusagen bis ins
alleine von den Beschäftigten getragen werden (Sicherheit des Beschäftigungsverhältnisses) und über die Arbeitszeitstandardisierung vor Überlastung schützen und Planbarkeit des Privatlebens gewährleisten. (vgl. Nick Kratzer: Thesen zur Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes, 11.10.2002, Arbeitspapier: FlexARbeins1.pdf) 13 vgl. z.B.: Hitzler, Ronald: Pioniere einer anderen Moderne? Existenzbasteln als Innovationsmanagement, in: Wüthrich, Hans A., Winter, Wolfgang B. und Andreas F. Philipp: Grenzen ökonomischen Denkens. Auf den Spuren einer dominanten Logik, Wiesbaden 2001, S.37ff 14 vgl.: Hitzler, a.a.O., S.42 15 Hitzler a.a.O., S.47 16 Unter Kernkompetenzen und Basisqualifikationen ordnet Hitzler die Fähigkeit der Strukturerfassung, Kenntnisse abstrakter Verfahrenstechniken und soziale Kompetenz in verschiedenen Kontexten zu, deren Erwerb vor allem in den Freizeitszenen und ‚leisure jobbing’ erworben werden können. 17 vgl.: Hitzler, Ronald, a.a.O. S.51
Andrea Flügel 10
Kleingedruckte hinein entscheidbar, muss einmal zu Optionen zerschellt, ent-
schieden werden.“18
Das heißt aber auch, dass der Einzelne für sein Tun und die positiven oder
negativen Folgen verantwortlich ist. Die Frage nach dem Sinn von Erwerbs-
arbeit bekommt einen prägenderen Stellenwert. Wenn die Sinnfrage eine Ent-
scheidungsgrundlage bildet, werden die Gestaltung von Arbeitszeit, Arbeitsort
und Arbeitsorganisation zur Beurteilung wichtiger. Wege zur Orientierung
werden im nächsten Abschnitt dargestellt, um eine Bewertungsgrundlage für
konkrete Umsetzungen zu schaffen.
2.4. Wie wir arbeiten werden
Bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte zum Wandel der Arbeit, ist die
übereinstimmende Konstante, dass „ein Umbruch des überkommenen Pro-
duktionsmodells zu konstatieren ist, der seinerseits ein zentrales Moment
eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels zu sein scheint. (…) Und in
diesen Wandel der Produktionsstrukturen, ist eine grundlegende Veränderung
der Organisation der Arbeit und ihrer Charakteristik selbst eingelagert.“19
Der Club of Rome schreibt dazu, „wie wir arbeiten werden":
„Im Zuge der Veränderungen im wirtschaftlichen Umfeld der Unternehmen, die
einen eindeutigen Trend in den nächsten Jahrzehnten hin zur Dienstleistung
erkennen lassen (Primärsektor 5%, Sekundärsektor 15%, Tertiärsektor ca.
80%), gewinnt die Kundenorientierung zunehmend an Bedeutung. Zusätzlich
führt die "Informatisierung", Virtualisierung und Automatisierung der Arbeits-
zeitbeziehungen zu einer Veränderung der Unternehmensstrukturen: Atmende
Organisationen, Netzwerke und virtuelle Unternehmen sind die Organisations-
strukturen der Zukunft. Es bestehen keine statischen Beziehungen mehr zwi-
schen Unternehmen, Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen und Kunden.
Diese Entwicklung führt zu einer Ablösung der zeitlohnorientierten Vollzeit
durch ergebnisorientierte Unternehmer und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
Die neuen Arbeitsverträge werden zielorientiert abgeschlossen, der erfolgrei-
18 Beck, Ulrich und Elisabeth Beck-Gernsheim: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: Beck, Ulrich und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt am Main 1994, S.16f 19 Boes, Andreas: Selbstbestimmung versus Mitbestimmung. Arbeitsbeziehungen in der IT-Industrie Arbeitspapier 2, ISF- München Februar 2003, S.3
Andrea Flügel 11
che Verkauf von Ergebnissen zählt stärker als der zeitbezogene Arbeitsauf-
wand.
So steigen einerseits die Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten,
während andererseits die Unternehmen in einen Wettbewerb um eben diese
qualifizierten Fachkräfte treten. Während die qualifizierten Fachkräfte gute
Beschäftigungs- und Aufstiegschancen haben, bestehen für einen signifikan-
ten Rückgang der Arbeitslosigkeit nur geringere Chancen. Insbesondere die
Langzeitarbeitslosen sind von der sog. "Halbwertszeit des Wissens" stark be-
troffen: EDV-Wissen bleibt nur ca. neun Monate aktuell, während die Bil-
dungsinformationen aus der Hochschule ca. zehn Jahre nachhaltig im Ge-
dächtnis bleiben.
Unter dem Gesichtspunkt des Fachkräftemangels und des zunehmenden An-
forderungsprofils für die Qualifikationen der Mitarbeiter/innen müssen neue
Formen der Arbeitsgestaltung erfunden werden.“20
Die Anzahl der Ansätze und Vorschläge wie in Zukunft mit der Arbeit verfah-
ren werden soll, erstreckt sich von kurz- bis mittelfristigen Lösungsvorschlä-
gen bis zu eher langfristig gesellschaftsverändernden Modellen. In der nach-
folgenden Tabelle sind einige Lösungsvorschläge aufgeführt.
Konkrete kurzfristig bis mittelfristig orientierte Lösungsvorschläge
Langfristig gesellschaftsverän-dernde Lösungsvorschläge
- Arbeitszeitverkürzung/ -verlängerung
- Staatliche
Arbeitsbeschaffungsmaß-nahmen
- 1 Euro- Jobs
- Virtualisierung
- Verstärkung des „Dritten Sektors“
- Bürgerarbeit
- „New Work“ – Modell
- usw.
Quelle: leicht modifiziert nach Osmetz, Dirk: Ansatz zu einem getrennten Miteinander, S.212, in: WÜTHRICH, Hans A., WINTER, Wolfgang B. und Andreas F. PHILIPP: Grenzen ökonomi-schen Denkens. Auf den Spuren einer dominanten Logik, Wiesbaden 2001, S. 207 - 220
Zu kurz- bis mittelfristigen Perspektiven wird in Kapitel 3 das Thema der Vir-
tualisierung ausführlich behandelt.
Unter den langfristig gesellschaftsverändernden Lösungsvorschlägen ist, um
nur einige zu nennen, die „Bürgerarbeit“ von Beck (1999), die Zukunft der 20 Zit.nach: Ernst Weidenbusch, Angela Fauth-Herkner: Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch sozial verantwortliche Innovation in den Betrieben, in: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. (Hrsg.): Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, München 2003, S.63
Andrea Flügel 12
Arbeit im „Dritten Sektor“ zu suchen, wie Jeremy Rifkin (1995) und der „New
Work- Ansatz“21 von Frithjof Bergmann (2004). 22
Exemplarisch wird hier der New Work Ansatz von Frithjof Bergmann genauer
vorgestellt.
Bergmann geht davon aus, dass das Lohnarbeitssystem nur eine Methode ist,
die Arbeit zu organisieren und zu strukturieren. Das Lohnarbeitssystem krankt
an vielfältigen und schweren Mängeln, und es ist dabei zu sterben. Deshalb ist
es an der Zeit, die Neue Arbeit aufzubauen.23 Frithjof Bergmann stellt den Sinn
von Arbeit für die menschliche Existenz in den Vordergrund. Dabei interpre-
tiert er das Schwinden der industriegesellschaftlichen Erwerbsarbeit als
Chance, selbstbestimmte Arbeit in ihrer befreienden und erfüllenden Funktion
(zurück)zugewinnen. 24
Das Prinzip des „New Work“ basiert auf drei Säulen:
Der regulären Teilzeitarbeit: Die klassische Erwerbsarbeit in Teilzeit zur
Sicherung der Basisversorgung, also die Arbeit die gemacht werden muss.
Paid Calling oder bezahlte Berufung (Beruf als Berufung), heißt die Dinge
tun, die ich tun will und durch die ich in zweiter Priorität auch Geld ver-
diene und
"High-Tech Self-Providing" (technologisch anspruchsvolle Selbstversor-
gungstätigkeiten): Für gewisse Dinge des täglichen Lebens wird der Ort
der Endfertigung auf den Konsumenten übertragen und verbilligt die Pro-
dukte.25
Die notwendige Teilung der Jobarbeit, also die Kürzung der Arbeitszeit, soll
bei jedem einzelnen Erwerbstätigen ansetzen und nicht zu Lasten großer Ver-
lierergruppen organisiert werden. Damit unterscheidet sich Bergmann von
21 Schon 1984 wurde das erste Zentrum für neue Arbeit in Flint/ Michigan gegründet. 22 vgl.: Osmetz, Dirk: Ansatz zu einem getrennten Miteinander, S.212f, in: WÜTHRICH, Hans A., WINTER, Wolfgang B. und Andreas F. PHILIPP: Grenzen ökonomischen Denkens. Auf den Spuren einer dominanten Logik, Wiesbaden 2001, S. 207 - 220 23 vgl.: Bergmann, Frithjof: Neue Arbeit – Neue Kultur, Auszüge aus dem Buch von Frithjof Bergmann, Freiamt im Schwarzwald 2004, S.3 24 vgl.: Wiedemeyer, Michael und Thomas Gesterkamp: Kein Königsweg zur "Neuen Arbeit", Frankfurter Rundschau vom 21.10.98, veröffentlicht im Internet 25 vgl.: Osmetz, Dirk: Ansatz zu einem getrennten Miteinander, S.213, in: WÜTHRICH, Hans A., WINTER, Wolfgang B. und Andreas F. PHILIPP: Grenzen ökonomischen Denkens. Auf den Spuren einer dominanten Logik, Wiesbaden 2001, S. 207 - 220
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Autoren, die einen sogenannten "Dritten Sektor" gemeinnütziger, aber ge-
ringfügig entlohnter Arbeit propagieren26
2.5. Debatte über neue Arbeitsformen in der Europäischen Union
Die Menschen und die Unternehmen werden in all dieser Vielfalt von Zu-
kunftserwartungen aufgefordert, die Veränderungen aktiv zu gestalten. Unter-
stützung gibt auch die Politik, angeregt durch reale Beispiele aus den USA,
mit ihren Institutionen auf nationaler und europäischer Ebene.
Schon im Jahr 1997 hat die Europäische Kommission das Grünbuch "Partner-
schaft für eine neue Organisation der Arbeit"27 zur Förderung von Beschäf-
tigung und Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit auf der Grundlage neuer Ar-
beitsorganisation herausgegeben. Es sollte eine Debatte über neue Arbeits-
formen anregen.
Die Kommission ging davon aus, dass die Unternehmens- und Arbeitsorgani-
sation sich radikal verändert, weg von rigiden Produktionssystemen der Mas-
senproduktion, hin zu einem flexiblen uneingeschränkten Prozess organisato-
rischer Entwicklung. Gemeint waren damit flexible Unternehmen mit flexiblen
Arbeitsplätzen, die auf den Konzepten starken Vertrauens und hoher Qualifi-
kation beruhen. Die daraus resultierenden Herausforderungen wurden mit der
Frage verbunden, wie sich die Sicherheitsbedürfnisse der Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen mit den Flexibilitätsansprüchen der Unternehmen sozial-
verträglich verbinden lassen. Welche Auswirkungen würden sich für die So-
zialpartner, die Sozial- und Bildungspolitik etc. ergeben. Und wie können Ent-
lohnungssystem, Arbeitszeitsystem und Organisationsstrukturen daran ange-
passt werden.28
Ende 1997 wurde das European Work Organisation Network (EWON) ge-
schaffen, um die Kommunikation zwischen den nationalen Bestrebungen zu
sichern und einige grundlegende Forschungsarbeiten in Angriff zu nehmen.
Es wurden daraufhin mehrere Arbeitspapiere und Forschungsprogramme zum
Thema vorgelegt. Alle gehen davon aus, dass die europäischen Nationen die
Entwicklungen neuer Arbeitsformen fördern müssen, um am globalen Markt 26 vgl.: Wiedemeyer, Michael und Thomas Gesterkamp: a.a.O. 21.10.98 27 Europäische Kommission: Eine Neue Arbeitsorganisation im Geiste der Partnerschaft - Grünbuch, Bulletin der Europäischen Union, 4/97, Luxemburg 1997, veröffentlicht im Internet: http://www.europa.eu.int 28 Europäische Kommission, a.a.O. S.5f
Andrea Flügel 14
wettbewerbsfähig zu bleiben, sowie die Balance zwischen Arbeits- und Fami-
lienleben zu verbessern29.
Im Jahr 2002 wurde ein Forschungsprogramm aufgelegt, dass die Annahmen
des Grünbuches und den Stand der Umsetzung anhand nationaler Förderpro-
gramme30 in der EU untersuchte.
Die Erwartungen, die mit dem Grünbuch verbunden waren konnten nur teil-
weise in nationale Programme überführt werden. Schon der Begriff Verände-
rung der Arbeitsorganisation wird dabei kontrovers diskutiert.
Ein Ansatz liegt in der Konzentration auf die Organisation der Arbeit auf Un-
ternehmensebene, in der Darlegung von Modellen guter Praxis, denen die
Unternehmen nacheifern sollten, gegründet auf Elementen wie Teamarbeit
und Teilhabe. Das Ziel heißt "Hochleistungs-Arbeitsorganisation" und gilt als
Höhepunkt eines linearen Entwicklungsprozesses. Die Aussage des Grün-
buchs “Partnerschaft für eine neue Organisation der Arbeit" von 1997 könnte
man reduzieren auf die Feststellung: "der Taylorismus ist tot, und Europa
muss neue Formen der Arbeitsorganisation finden, die den im neuen Jahr-
hundert anstehenden Herausforderungen genügen"31. In der Praxis ist der
Taylorismus allerdings noch lebendig, teils in neu belebter Form.32
Das Grünbuch wollte eine Debatte über neue Formen der Arbeitsorganisation
anregen, um eine neue Partnerschaft im Interesse einer produktiveren, parti-
zipativeren und lernfähigeren Arbeitsorganisation aufzubauen. Diese Zielset-
zung spiegelte eine Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse wider, wonach die
Unternehmen nicht nur Effizienz, Qualität und flexible Reaktionen beweisen,
sondern auch die immer häufigere und schnellere Einführung neuer Prozesse
und Produkte oder Dienstleistungen bewältigen müssen, die weitestgehend
29 vgl. hierzu auch: Savage, Pat: New forms of work organisation. The benefits and impact on performance. Thematic Paper Presented to DG Employment & Social Affairs By The European Work Organisation Network (EWON), April 2001 30 Beispielhaft zu nennen sind hier die Förderprogramme der Bundesrepublik Deutschland, wie: „Innovative Arbeitsgestaltung – Zukunft der Arbeit” vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, durchgeführt vom zuständigen Projektträger des BMBF, dem Verein Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen und “Forschung für die Produktion von morgen” ebenfalls Bundesministerium für Bildung und Forschung, durchgeführt vom zuständigen Projektträger des BMBF für Produktion und Fertigungstechnologien. Hierfür werden jährlich ca. 90 Mio. € bereitgestellt. (Vgl. dazu: Brödner, Peter und Erich Latniak: Moderne Arbeitsformen für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit: Nationale Förderprogramme zur Entwicklung neuer Formen der Arbeitsorganisation. Bericht für die GD (Gesundheits- und Verbraucherschutz) Beschäftigung und Soziales, Institut Arbeit und Technik, Gelsenkirchen Oktober 2002, S.23f 31 Brödner, Latniak, a.a.O., Oktober 2002, S.7) 32 vgl. u.a.: Brödner, Latniak, a.a.O., Oktober 2002 und Richard Ennals: Schwächen des bestehenden politischen Rahmens für die Förderung einer Modernisierung der Arbeitswelt Centre for Working Life Research, Kingston Business School, Kingston University, Oktober 2002
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von menschlichen Kompetenzen und Wissen abhängig sind. Die mensch-
lichen Ressourcen wurden folglich als entscheidender Faktor zur Erlangung
eines Wettbewerbsvorteil in einem dynamischen Wirtschaftsumfeld gesehen
und nicht als kostspieliger Produktionsfaktor. Die Entwicklung neuer Formen
der Arbeitsorganisation auf der Grundlage von menschlichen Kompetenzen,
Wissen und Lernprozessen versprach daher Vorteile sowohl für die wirtschaft-
liche Leistung als auch für die Qualität des Arbeitslebens33.
2.6. Erstes Zwischenfazit
Die Entwicklungen von Arbeit und Leben in unserer Gesellschaft werden in
der Literatur durch Gegenüberstellungen tendenziell widerstreitender Ent-
wicklungen dargestellt. Die wichtigsten Begriffe dazu sind Individualisierung
und Globalisierung. Die Schlussfolgerungen der einzelnen Autoren lassen
Voraussagen für die zukünftigen Formen der Verknüpfung von Arbeit und
Leben sehr unterschiedlich ausfallen. Dabei ist von der Erosion der Normalar-
beitsverhältnisse, vom homo optionis, von der Netzwerk- oder Informations-
gesellschaft bis zur Kultur der realen Virtualität die Rede.
Die Auflösung traditioneller Erwerbs- und Lebensbiographien führt auch zu
einer Auflösung der Trennung von Erwerbszeit und Freizeit.
Der erfolgreiche Mensch der westlichen Industriegesellschaften muss in Zu-
kunft nicht nur über eine hohe fachliche Qualifikation verfügen, sondern vor
allem Basisqualifikationen und soziale Kompetenz für sein Leben mitbringen
sowie die Verantwortung für die Auswirkungen positiver und negativer Ent-
scheidungen selbst tragen.
Die zeitlohnorientierte Vollzeitarbeit wird durch ergebnisorientierte Unterneh-
mer und Unternehmerinnen, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen abgelöst.
Hier steigen sowohl die Qualifikationsanforderungen als auch der Wettbewerb
um qualifizierte Fachkräfte.
Langfristige Konzepte zur Neugestaltung von Arbeit und Leben gehen davon
aus, dass die zunehmende Arbeitslosigkeit (im Lohnarbeitssystem) zu einer
neuen Verteilung der Erwerbsarbeit führen muss. Die zentrale Frage der Auto-
ren ist dabei eine gerechte Verteilung zwischen Lohnarbeit, gemeinnütziger
33 Brödner, Latniak: a.a.O., S.8
Andrea Flügel 16
Arbeit und Reproduktionsaufgaben34. Das Modell von Frithjof Bergmann stellt
dabei m.E. einen sehr weitgehenden Vorschlag zur Diskussion.
Parallel dazu werden in der neueren Literatur die Folgen einer solchen Verän-
derung von Arbeitsformen als Risiken beschrieben, die noch unüberschaubare
Nachteile bedeuten. Hier versucht die Politik sowohl auf europäischer wie auf
nationaler Ebene Konzepte und Programme anzubieten, diese Entwicklung zu
begünstigen, um der europäischen Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit zu
erhalten.
Zumindest als erstes Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass alle Paradigmen
von einer kommenden Veränderung der Arbeits- und Unternehmensorganisa-
tionen ausgehen. Stellt sich die anschließende Frage, ob Virtualisierungskon-
zepte zur Problemlösung beitragen können.
Im folgenden Kapitel werden die Bestrebungen eher kurz- oder mittelfristiger
Lösungen aus der Perspektive von Unternehmen und Arbeitnehmern vorge-
stellt. Dabei ist der Blickwinkel vor allem auf die Virtualisierungsdebatte ge-
legt. Es werden Virtualisierungskonzepte vorgestellt und die Chancen und
Risiken auf Arbeits- und Unternehmensorganisation vor allem in der IT-
Branche dargestellt. Bei der Modellentwicklung in einem konkreten Unterneh-
men (siehe Kapitel 4) sollen die Erkenntnisse aus vorhandenen Erfahrungen
und Modellen berücksichtigt werden.
34 Reproduktionsaufgaben und das Thema Vereinbarkeit von Familienarbeit und Beruf werden in dieser Arbeit nicht genauer betrachtet. Eine empirische Studie zur Vereinbarkeit von hochqualifizierten Berufen und Familie bietet dazu: Russel Hochschild, Arlie: Keine Zeit. Work- Live- Balance. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Opladen 2002
Andrea Flügel 17
3. Neue Arbeitsformen: Virtualisierte Unternehmens- und Arbeitsorgani-sation, als Lösung der Probleme
In der Frankfurter Rundschau im Juli 2004 stand ein Artikel mit der Über-
schrift: „Der Jobnomade, Kontinente wechselt er genauso schnell wie Auftrag-
geber und Kollegen“35. Folgende Fragen stellen sich hierbei: Wird Arbeit in
Zukunft nicht nur für Geologen von befristeter Zeitarbeit, Mobilität und Flexibi-
lität gekennzeichnet sein? Ist das eine Beschreibung von Berufstätigkeit, die
zum Normalzustand wird? „Ich lebe kein normales Leben. Kein Verein, kein
Volkshochschulkurs, kein Stammtisch. Freunde treffe ich virtuell. Ich vermisse
nichts“36. Flexibilität und Mobilität seien heute die Zauberwörter im Arbeitsle-
ben, so die Frankfurter Rundschau weiter. Hier stellt sich natürlich die Frage,
ob Menschen, die die Technik nicht so zum Freund haben und denen virtuelle
Treffen mit Freunden nur ein sehr unbefriedigender Ersatz für soziale Kon-
takte sind, damit vom Ausschluss aus dem „sozialen Leben“ bedroht sind.
Diese Frage kann hier leider nicht beantwortet werden, soll aber zumindest
indirekt, als Risiko der Virtualisierung, in die Modellentwicklung sozialverträgli-
cher Arbeitsformen einfließen.
Wie reagieren die Akteure auf die neuen Herausforderungen des globalisier-
ten Marktes, was tun die Unternehmer, wie handeln die Sozialpartner vor
allem in Deutschland, welche Technologieentwicklung ist damit verbunden
und wie drückt sich dieser Wandel der Gesellschaft und der Arbeitsformen auf
den verschiedenen Ebenen des Gemeinwesens aus?
Um das ganze System der Software Industrie beurteilen zu können, werden
im Folgenden mehrere Blickwinkel eingenommen. Die technologische Weiter-
entwicklung, die die Grundlage anderer organisatorischer Konzepte begüns-
tigt, die Kleinbetriebliche Struktur, die Vernetzungen sinnvoll erscheinen lässt
und die Auswirkungen auf die Arbeitsgestaltung und die Arbeitnehmern, die
sich diesen Veränderungen stellen müssen. Hier vor allem auch mit Blick auf
35 Böhm, Michaela: Der Jobnomade. Kontinente wechselt er genauso schnell wie Auftraggeber und Kollegen – das Arbeitsleben von Michael Klingler, in: Frankfurter Rundschau, Nr.169 vom 23. Juli 2004, S.27 36 Böhm 2004, ebenda, S.27
"Virtuelle Wettbewerber kommen aus dem Nichts, sie definieren Marktregeln neu und holen sich Marktanteile
über Nacht, besser noch Tag und Nacht, weil sie 24 Stunden „online“ sind!"
(Andreas F. Philipp)
Andrea Flügel 18
den Stellenwert von sinnvoller, vertrauensvoller und selbstverantwortlicher Ar-
beitsgestaltung und den Verknüpfungsmöglichkeiten von Erwerbsarbeit und
Freizeit.
Im Folgenden wird versucht diese verschiedenen Ebenen der Betrachtung zu
beleuchten.
3.1. Virtuelle Unternehmensorganisation - Virtualitätskonzepte
Der Begriff virtuell37 wurde im spätmittelalterlichen Europa von den Spätscho-
lastikern geprägt, die damit die Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklich-
keit vornahmen. Diese Trennung stammt von der aristotelischen Metaphysik in
der Materie und Form unterschieden werden. Die Materie hat allein gemäß
Aristoteles keine Wirklichkeit, kann jedoch durch die Form wirklich werden,
somit ist sie die Möglichkeit zu Wirklichem. Der Begriff virtuell nach dem Kon-
zept der Theorie der Realität des Spätscholastikers Duns Scotus (1270 –
1308) ist heute noch Grundlage der Bedeutung.38
„Übertragen auf die Erbringung betrieblicher Wertschöpfung – in Form virtu-
eller Netzwerke – geht es um die dynamische und flexible Zuordnung von
abstrakten Leistungsanforderungen zu Leistungsträgern und dem konkreten
Ort der Leistungserbringung. Für Kunden sind die Leistungen des virtuellen
Unternehmens transparent, d.h. sie erscheinen wie aus einer Hand, obwohl
sie faktisch Ergebnis eines auf viele unabhängige Leistungsträger verteilten
Wertschöpfungsprozesses sind“39.
Der Virtualitätsbegriff kann nach Wüthrich (1997) u.a. in drei Hauptströmun-
gen unterteilt werden:
37 Umgangssprachlich bedeutet virtuell (abgeleitet vom lateinischen „virtus“ Tüchtigkeit) nicht wirklich, scheinbar oder der Anlage nach vorhanden. Als virtuell wird damit generell die Eigenschaft einer Sache bezeichnet, die zwar nicht real, aber doch in der Möglichkeit existiert. (vgl.: Scholz, Christian: Strategische Organisation. Prinzipien zur Vitalisierung und Virtualisierung, Landsberg am Lech 1997, S.320f) 38 vgl.: Diemers, Daniel: Die virtuelle Triade. Cyberspace, Maschinenmensch und künstliche Intelligenz, Bern usw. 2002, S.27 39 Wüthrich, Hans A., Philipp, Andreas F. und Martin H. Frentz: Vorsprung durch Virtualisierung. Lernen von virtuellen Pionierunternehmen, Wiesbaden, Gabler 1997, S.45
Andrea Flügel 19
Quelle: Wüthrich, Philipp, Frentz, a.a.O., S.46
Virtualität im betriebswirtschaftlichen Sinne kann also einen interaktiven tem-
porären Netzwerkverbund zur Erbringung einer bestimmten wirtschaftlichen
Leistung bedeuten, der über sehr viel mehr Kapazität verfügt, als sie in ihrem
Kernbereich auf Grund der dort zur Verfügung stehenden Ressourcen besitzt.
Dies führt zu neuen Formen der Leistungserbringung von Unternehmen, die
unter Nutzung technischer Kommunikationsmöglichkeiten, zeitlich und räum-
lich flexibel, auf schnelle Änderung von Kundenwünschen und Markterforder-
nissen reagieren können.
Kerngedanke der virtuellen Kooperation ist die konzeptionelle Trennung zwi-
schen logischen und physischen Organisationsstrukturen. Hierbei kann es
sich um Aufbaustrukturen, aber auch um Ablauf- und Prozesstrukturen han-
deln.40
In der nachfolgenden Abbildung werden die verschiedenen Elemente virtueller
Unternehmensstrukturen dargestellt.
40 vgl.: Orlikowski, Borris: Management virtueller Teams. Der Einfluss der Führung auf den Erfolg, Dissertation Universität Kiel, 2002, Wiesbaden 2002, S.6
Verständnis von Virtualität
unmittelbar computertechnisch
mittelbar computertechnisch
Betriebswirtschaftlich (im übertragenen Sinne)
Virtuelle Netzwerke Virtuelle Produkte, Märkte
Virtuelle Organisation
Nutzung fortschrittlicher IuK-Vernetzungen als
Kommunikations- und Steuerungsinstrument
innerhalb von Unternehmen
(Intranet)
Nutzung des Internet als Basis der
Optimierung der realen Wertschöpfung
Temporäre Netzwerkverbünde, zur
Erbringung einer be-stimmten wirtschaft-
lichen Leistung, unter Nutzung informations-technischer Möglich-
keiten
Andrea Flügel 20
Quelle: Orlikowski, a.a.O., S.6
Während klassische Organisationsformen arbeitsteilige Aufgaben anhand von
räumlicher Nähe organisieren, impliziert das Prinzip der Entkopplung eine
erste Stufe der Virtualität, bei der die Wertschöpfung temporär oder auch dau-
erhaft an global verteilten Orten stattfinden kann. Moderne elektronische
Kommunikationsmedien führen zu Kommunikationsgeschwindigkeiten, die
eine nahezu simultane globale Kooperation (zeitliche Dimension) zulassen.
Gleichzeitig kommt es aufgrund der möglichen globalen Zusammenarbeit aber
im Rahmen der Integration verschiedener Zeitzonen auch zur Entkopplung
von synchroner Kommunikation auf der Arbeitsebene.
Geschwindigkeit und Komplexität der Prozesse in virtuellen Organisations-
strukturen (Institution) bewirken, dass traditionelle hierarchische Organisati-
onsformen für virtuelle Systeme weniger geeignet sind. Lange Entschei-
dungswege und –zeiträume würden die Zeit- und Flexibilitätsvorteile wieder
kompensieren.41
Das reibungslose Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren und Akteure
wird durch die Entwicklung neuer oder verbesserter Informations- und Kom-
munikationstechnologien ermöglicht.
Die nachfolgende Abbildung fasst noch einmal die verschiedenen Dimensio-
nen und Definitionsbausteine eines virtuellen Unternehmens schematisch zu-
sammen.
41 vgl.: Orlikowski, a.a.O., S.7
Elemente virtueller Unternehmensstrukturen
Raum
Raum Zeit
Raum Zeit Organisation
Virtueller Arbeitsplatz
Virtuelle Teams und
Unternehmen
Virtuelles Unternehmen
Telearbeit
Aufg.-/ Prozessbe-zogene Integration von Arbeitsplätzen
Auftritt am Markt als eigenständiger
Partner
Andrea Flügel 21
Quelle: Scholz, Christian: Virtualisierung als Wettbewerbsstrategie für den Mittelstand?, S.204, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZfB) Ergänzungsheft „Virtuelle Unternehmen“ 2/2002, S.201 - 222
Um zu zeigen, dass Virtualitätskonzepte als erfolgreiche Umsetzung im Un-
ternehmen heute schon vorkommen, werden im Folgenden einige Beispiele
erfolgreicher virtueller Unternehmen vorgestellt. Diese Beispiele beleuchten
zunächst nur die betriebswirtschaftliche Ebene des Unternehmens. Arbeitsor-
ganisation wird hier nur schemenhaft sichtbar.
3.2. Beispiele für erfolgreiche virtuelle Unternehmen
In der Elektroindustrie finden wir ein eindrucksvolles Beispiel für Effizienzstei-
gerung dank virtueller Strukturen. DUAL ist mit ca. 35 Millionen € Jahresum-
satz heute wieder ein prosperierendes Unternehmen. Dies wurde durch Fo-
kussierung auf Projektkoordination, Marketing und Qualitätssicherung mög-
lich. F&E, Konstruktion, Produktion, Marketing und Verkauf sowie Liefer- und
Beratungsleistungen werden von einem Netzwerk aus 25 ergebnisverantwort-
lichen Partnerfirmen übernommen. DUAL selbst hat nur noch vier Festange-
stellte.
Virtuelle Unternehmen sind…
…flexible Netzwerke aus unabhängigen Kernkompetenzträgern,
…die sich problemspezifisch bürokratie- minimierend zusammensetzen und gegen- über Kunden Einheitlichkeit repräsentieren
…wobei sie im Regelfall umfassend auf moderne Informationstechnologie zurückgreifen.
Kernkompetenzfokus
Soft Integration
Virtual Reality
Andrea Flügel 22
Quelle: WÜTHRICH, H. A./ PHILIPP, A. F./ FRENTZ, M. H. (1997): Vorsprung durch Virtualisie-rung - Lernen von virtuellen Pionierunternehmen. Wiesbaden 1997, S. 25.
Der ständig wachsende internationale Wettbewerbsdruck im Dreiländereck
Schweiz, Österreich, Deutschland motivierte die Unternehmen der Region
Bodensee Mitte der 90er Jahre, sich an einem Pilotprojekt „Virtuelle Fabrik
Euregio“, der Universität St.Gallen zu beteiligen. Der Euregio – Netzwerkver-
bund ist ein Netzwerk – Pool der auftragsorientiert arbeitet und auf langfristige
Zusammenarbeit ausgerichtet ist. Die Aufgaben der Netzwerk- Partner, die
aus autonomen Einzelunternehmen bestehen, sind klar geregelt. Es gibt
Spielregeln über kooperatives Verhalten und daraus abgeleitete Verhaltens-
richtlinien. Sie sind ein entscheidendes Steuerungsinstrument zum erfolgrei-
chen abwickeln der Aufträge.42
Heute hat die Euregio 29 Partnerunternehmen im virtuellen Netzwerk, deren
bisherige Erfolge vor allem Kostensenkung durch Zusatzgeschäfte, Erschlie-
ßung neuer Märkte und die Sicherung des Standortes Euregio Bodensee sind.
Die Idee wird auf Messen, Tagungen und Seminaren in Deutschland und der
Schweiz präsentiert und weiterentwickelt.43 „Jenseits des Atlantiks, in New Jersey, hat die ‚Drei-Frauen‘-Firma ‚The
Rickard Group‘ ihren Hauptsitz. Hierbei handelt es sich um ein 100% virtuelles 42 Vgl. Wüthrich, Philipp, Frentz, a.a.O., S. 148ff. 43 Philipp, Andreas: Seminar zur MOS- Veranstaltung: Virtuelle Organisation von Arbeitsprozessen, unveröffentlichtes Manuskript, Hildesheim 2004
DUAL – 4 MITARBEITER; 4 POWERBOOKS; 35 MIO. UMSATZ
Entwicklung von Technik und Design
- Frog Californien - Fusion Design
Gui + chip - Frog Altensteig - …
Lieferanten
- Daewoo (Korea) - Kasuga (China) - Grundig (Portugal) - Schneider (Deutschld.) - …
Verkauf
- Karstadt - Hertie - Neckermann - …
DUAL
1 Unternehmer 1 Marketingspe- zialist 1 Jurist 1 Sekretärin 25 ergebnis-verantwortliche Partnerfirmen 60 innovative Geräte + Komponenten ca. 35 Mio. Umsatz
Interne Beratung und Unterstützung
- Qualitätssicherung - Recht - Marketing - …
Andrea Flügel 23
Verlags-, Beratungs- und Marketing-Dienstleistungsunternehmen, welches die
gesamte Wertschöpfung – von der Produktidee bis zur Vermarktung – auf den
globalen Datennetzen erbringt. Mit über 25 variablen Freelance-Partnern stellt
Wendy Rickard pro Auftrag das jeweilige ‚best-in-class-Team‘ zusammen.
Jährliche Umsatzsteigerungsraten von über 20% bestätigen den Erfolg. Mehr
als zwei Festangestellte sind dazu nicht nötig.“44
Die Beispiele zeigen, dass erfolgreiche virtuelle Unternehmen mit traditioneller
Arbeitsorganisation nur noch wenig zu tun haben. Welche Gründe zur Über-
nahme virtueller Konzepte führen könnten, werden in den folgenden Ab-
schnitten näher erläutert. Chancen und Risiken werden betrachtet und die
gesellschaftlichen Akteure einbezogen.
3.3. Umwandlung von traditioneller zu virtueller Arbeitsorganisation in Klein- und Mittelunternehmen (KMU)
Klein- und Mittelunternehmen müssen neue Strategieoptionen gegenüber dem
zunehmenden nationalen und internationalen Konkurrenzdruck durch Kon-
zerne, den differenzierten Kundenbedürfnissen und der fortschreitenden Glo-
balisierung entwickeln. An den in Kapitel 3.2 aufgezeigten Beispielen lassen
sich die Vorteile virtueller Strukturen erkennen. Dabei wird deutlich, dass „Ko-
operationen und Konzentration auf Kernkompetenzen zwei komplementäre
Strategien sind, die als möglicher Ausweg aus Inflexibilität und Ineffektivität
gesehen werden.“45
Um sich den bestehenden Marktanforderungen zu stellen sind gerade Kleinst-
unternehmen auf Vernetzung und Kooperationen46 mit Partnerunternehmen
angewiesen. Hier wird versucht, den Größennachteil durch Bündelung von
Ressourcen, der Kombination von fachlichen, zeitlichen, finanziellen und
technischen Ressourcen, auszugleichen. 44 Vgl. Wüthrich, Philipp, Frentz, a.a.O., S. 28f. 45 Schräder, Andreas: Management virtueller Unternehmungen – Organisatorische Konzeption und informationstechnische Unterstützung flexibler Allianzen. Frankfurt/ Main u.a. 1996, S.23ff, zit. nach: Wüthrich, Philipp, Frentz, a.a.O. 1997, S.43 46 Unter Kooperation wird „jede Zusammenarbeit zwischen rechtlich und wirtschaftlich selbstständigen Unternehmen verstanden, die der Förderung eines gemeinsamen Zieles dient und durch wechselseitige Abstimmung (Koordination) oder gemeinsame Erfüllung von Teilaufgaben gekennzeichnet ist. Die Förderung des gemeinsamen Ziels muss auf freiwilliger Basis vertraglich vereinbart sein.“ (Vornhusen, Klaus: Die Organisation von Unternehmenskooperationen – Joint Ventures und strategische Allianzen in Chemie- und Elektroindustrie, Frankfurt am Main 1994, S.29f, zit. nach: Rautenstrauch, Thomas, Generotzky, Lars und Tim Bigalke: Kooperationen und Netzwerke. Grundlagen und empirische Ergebnisse, Köln 2003, S.5f
Andrea Flügel 24
Die zwischenbetriebliche Zusammenarbeit ist kein neues Thema. Seit den
60er Jahren ist sie empirisch mit steigenden Zahlen belegbar. 47 In Theorie und Praxis werden Unternehmensnetzwerke nicht eindeutig defi-
niert und teilweise synonym verwendet. Begriffe zu diesem Thema sind
- Verbundnetzwerke (z.B.: Speditionen, Paketdienste),
- Regionale Netzwerke (z.B. Silicon Valley48, Emilia Romagna49,),
- virtuelle Unternehmen50 (z.B. Euregio Bodensee),
- Projektnetzwerke (häufig in der Baubranche),
- strategische Netzwerke (z.B.: Franchisenetzwerke, Wertschöpfungs-
partnerschaften, Einkaufsnetzwerke)51
Prinzipiell lassen sich Netzwerke aus folgenden Perspektiven betrachten:
Technische Verknüpfung (z.B. Internet), wirtschaftliche Zusammenarbeit (z.B.
Netzwerkunternehmen), politikfeldbezogene Verhandlungssysteme (z.B. Po-
licy-Netzwerke) oder soziale Beziehungsgepflechte (z.B. soziale Unterstüt-
zungsnetze). Siehe auch nachfolgende Abbildung52.
N e t z w e r k eN e t z w e r k eN e t z w e r k e
P o l i c yP o l i c yP o l i c y
S o z i a l eS o z i a l eS o z i a l e
U n t e r n e h m e n sU n t e r n e h m e n sU n t e r n e h m e n sT e c h n i s c h eT e c h n i s c h eT e c h n i s c h e
R e g i o n a l eR e g i o n a l eR e g i o n a l e
W i s s e n s c h a f t sW i s s e n s c h a f t sW i s s e n s c h a f t s
S t r a t e g i s c h eS t r a t e g i s c h eS t r a t e g i s c h e
W i s s e n s -W i s s e n sW i s s e n s --
P r o d u k t i o n s -P r o d u k t i o n sP r o d u k t i o n s --L i e f e r a n t e n -L i e f e r a n t e nL i e f e r a n t e n --
V i r t u e l l e U n t e r n e h m e n
V i r t u e l l e V i r t u e l l e U n t e r n e h m e nU n t e r n e h m e n
I n n o v a t i o n s -I n n o v a t i o n sI n n o v a t i o n s --
P e r s ö n l i c h eP e r s ö n l i c h eP e r s ö n l i c h e
U n t e r s t ü t z u n g s -U n t e r s t ü t z u n g sU n t e r s t ü t z u n g s --
C l i q u e nC l i q u e nC l i q u e n
S e l b s t h i l f eS e l b s t h i l f eS e l b s t h i l f e
N e t z w e r k p e r s p e k t i v e nN e t z w e r k p e r s p e k t i v e n
Quelle: Veröffentlicht im Internet: www.tu-chemnitz.de/wirtschaft/bw19/sfb457a4/dokumente/ bericht_2002.pdf, a.a.O., S.5
Virtuelle Konzepte unterscheiden sich einerseits durch eine konsequente Nut-
zung der IuK- Technologien und durch eine neue Form der Zusammenarbeit.
47 vgl.: Rautenstrauch, Thomas, Generotzky, Lars und Tim Bigalke: Kooperationen und Netzwerke. Grundlagen und empirische Ergebnisse, Köln 2003, S.3f 48 In Silicon Valley befinden sich die bedeutendsten Halbleiterhersteller der Welt (Intel, AMD, Cyrix). 49 In der Emilia Romagna (Textilnetzwerk) hat z.B. Bennetton seinen Sitz. 50 Siehe auch Kapitel 3.2 51 vgl.: Rautenstrauch, Thomas, Generotzky, Lars und Tim Bigalke, a.a.O. S.25ff 52 vgl.: Lang, Rainhart, Moldaschl, Manfred, Hörtzsch, Manuela und Karin Albuschat: Arbeits- und Ergebnisbericht des Teilprojektes A4. Titel: Genese und Steuerung von Netzwerken aus organisationstheoretischer, humanzentrierter Perspektive, veröffentlicht im Internet: www.tu-chemnitz.de/wirtschaft/bw19/sfb 457a4/dokumente/bericht2002.pdf, S.5
Andrea Flügel 25
Beispielhaft werden im folgenden Abschnitt einige neue Technologien vorge-
stellt bevor im Anschluss die Arbeitsbeziehungen unter Virtualitätsbedingun-
gen vertieft werden.
3.3.1. Technische Komponenten – Virtuelle Realität
Voraussetzung für eine virtuelle Organisation ist die informationstechnische
Vernetzung ihrer Mitglieder. Hierfür stehen inzwischen optimale technische
Möglichkeiten zur Verfügung. Leistungsfähige Mobilfunk- und Datenübertra-
gungsnetze, die Kommunikation über Mobiltelefon und Internet sowie die
Verfügbarkeit von Notebook und Software sind in der IT- Branche Standard.
Ständig vereinfachen neue technologische Entwicklungen die Kommunikation
über weite Distanzen.
Ein Blick auf die Entwicklung der IuK-Technologie veranschaulicht die Dyna-
mik mit den daraus resultierenden Chancen für virtuelle Unternehmen. Unter
der Überschrift Kommunikation Total haben Wüthrich u.a. (1998) in der nach-
folgenden Grafik die rasante und imposante Entwicklung der Informations-
und Kommunikationstechnologien zusammengefasst und implizieren damit die
totale Virtualisierung der Kommunikation.
Quelle: Wüthrich, H.A. / Philipp, A.F.: Grenzenlose Chancen durch Virtualisierung!? – Was wir von virtuellen Pionierunternehmen lernen können, in: Zeitschrift Führung und Organisation (ZfO), 4/1998, S. 201-206, veröffentlicht im Internet: www.phil-os.de
"The goal is to give to the computer those tasks which it can best do and leave to man that which
requires (or seems to require) his judgement." (Joseph Weizenbaum)
Andrea Flügel 26
Die Fraunhofer Gesellschaft ist bei der Entwicklung neuer Technologien und
virtueller Systeme eines der führenden Forschungseinrichtungen. In ihrer In-
novationsoffensive zum „Jahr der Technik 2004“ wurden wichtige Zukunftsfel-
der definiert. Beispiele wie Digitale Medizin, Intuitive Mensch- Maschine Ko-
operation, Integrative Produktion - schneller zum Produkt Erfolgsfaktor
Logistik, Maßgeschneiderte Energieversorgung machen die Möglichkeiten der
digitalen Technologien deutlich53.
Bei der Entwicklung neuer virtueller Systeme geht es um dreidimensionales
Modellieren am PC. Der PC soll einfach und intuitiv bedienbar sein und die
Zusammenarbeit am gleichen Objekt von mehreren Personen an verschiede-
nen Orten ermöglichen. Hier werden fortschrittliche Schnittstellen zur Kommu-
nikation und Interaktion zwischen Mensch und Maschine entwickelt. Dabei
verknüpfen "Mixed realities“ reale und virtuelle Welten und die Interaktion da-
zwischen. Anwendungsbereiche finden sich zurzeit in der Auto-, Luft- und
Raumfahrt, bei virtuellen Operationen, im Büro, der Stadtplanung, bei Kunst-,
Theater-, Musikveranstaltungen, Messen etc.54
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die Weiterentwicklung von IuK- Tech-
nologien, die die Zusammenarbeit durch neue Systeme der Kooperation er-
leichtern und bei z.B. Videokonferenzen das Gefühl vermitteln an einem Tisch
zu sitzen. Die Datensicherheit wird durch neuartige Breitbandnetze gewähr-
leistet und vorhandene PC- Technik wird verknüpft. Die nötige aufwendigere
Hardware wird durch Einsparungen bei Reisekosten und schneller direkter
Informationsübermittlung und Kommunikation, sowie Kooperationsmöglich-
keiten schnell ausgeglichen55.
Virtuelle Tools sind gefordert. Der moderne Arbeitsplatz besteht bereits heute
aus einem mobilen Telefon, vernetztem PC, Lap- oder Palmtop, Fax, Internet-
anschluss, E-Mail und Videokonferenz. Diese Geräte garantieren ein integ-
riertes Arbeits- und Informationssystem und versprechen die Steigerung der
Produktivität.
Ohne Informationstechnologie würde heute niemand von Virtualität sprechen.
Darüber hinaus verlangt sie neue Arbeits- und Führungsformen.
53 Vgl.: Miller Franz: Leit-Innovationen. Interview mit Prof. Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer Gesellschaft, in: Fraunhofer Magazin 1/2004, S.22-27 54 Vgl.: Miller, Franz: Das Vordringen des Virtuellen, in: Fraunhofer Magazin1/2003, S.8-12 55 Vgl.: Niesing, Birgit: Let's work together Fraunhofer Magazin 2/2004, S.16-17
Andrea Flügel 27
3.3.2. Virtualisierung der Arbeitsbeziehungen
Der Begriff Virtualisierung der Arbeitsbeziehungen steht für einen flexiblen
Verbund organisatorischer Einheiten, die sich zur Erbringen von Einzel- oder
Teilleistungen zusammengeschlossen haben. Das können Abteilungen inner-
halb eines Unternehmens sein, aber auch einzelne Abteilungen verschiedener
Unternehmungen oder Konzernen. Dabei ist eine weitere Eigenschaft die
Auflösung des räumlichen Zusammenhaltes von Arbeitsplätzen und Standor-
ten. Ausschlaggebend ist die Sicherstellung einer reibungslosen Kommunika-
tion zwischen den einzelnen Akteuren. Dabei ist natürlich möglich, dass inner-
halb eines Projektes Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen unterschiedlicher
Unternehmen sowie freie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zusammenarbeiten
ohne dass die verschiedenen arbeitsrechtlichen Grundlagen ins Gewicht
fallen.56
Die Virtualisierung der Belegschaft hat zwei miteinander verknüpfte Prozesse
zur Folge. Einerseits entsteht durch eine zunehmende Dezentralisierung von
Unternehmen, die durch einen gemeinsamen Produkt- oder Dienstleistungs-
zusammenhang, eine virtuelle Gesamtbelegschaft bilden, eine räumliche und
funktionale Desintegration.
Andererseits kommt es auf der Ebene des einzelnen Betriebes zu einer Virtu-
alisierung der (betrieblichen) Belegschaft. Sie ist durch relativ verkleinerte
Kernbelegschaften, mit „normalen“ Beschäftigungsverhältnisse und den Be-
trieb als mindestens überwiegendem Arbeitsort gekennzeichnet. Virtualisie-
rung meint hier die Zunahme flexibler Beschäftigung und die Erosion des Be-
triebs als Arbeitsort sowie die Externalisierung57 und weitergehende Segmen-
tation58 der unterschiedlichen Flexibilitätserfordernisse.
Die Virtualisierung der Belegschaft stellt auf jeder der beiden Ebenen einen
tendenziellen Bruch mit fordistisch-tayloristischen Flexibilisierungsmustern59
dar. Die virtuelle Belegschaft ist in dieser Perspektive die strategisch genutzte
Erosion der Grenzen zwischen Betrieb und Arbeitsmarkt und der tendenziellen
56 Vgl.: Wedde, Peter: Die Virtualisierung der Arbeitsbeziehungen, S. 18f, in: Lorenz, Frank und Günter Schneider (Hrsg.): Der flexible Betriebsrat. Flexibilität und Virtualität in betrieblichen Arbeitsbeziehungen, Hamburg 2002, S.17-39 57 Vergabe der Aufgaben an Zulieferer oder Partnerunternehmen, outsourcing etc. 58 hier sind z.B. befristete Arbeitsverhältnisse, Zeitarbeit, Freiberufler gemeint 59 dazu zählen: Überstunden, Schichtmodelle, Arbeitszeitverkürzung oder –verlängerung etc.
Andrea Flügel 28
Verschränkung interner und externer Arbeitsmärkte, also der Verlagerung der
Arbeitsmarktrisiken auf die „Randbelegschaften“. 60
Ein weiterer Aspekt der Virtualisierung und Flexibilisierung sind neue Arbeits-
zeitmodelle, wie z.B. Vertrauensarbeitszeit61. Dies hat ein Mehr an Autonomie
und Optionen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zur Folge. Damit verbindet
sich ein Bild von Arbeitsrealität, das einerseits durch dezentrale, beteiligungs-
intensive Entscheidungsstrukturen, hohe Freiheitsgrade und lockere Arbeits-
atmosphäre, andererseits durch einen „short terminism“ mit hoher Innovati-
onsgeschwindigkeit, häufigem Beschäftigungswechsel und raschem Wissens-
verschleiß charakterisiert ist .62
Der Arbeitsschutz durch den Gesetzgeber setzt zwar Rahmenrichtlinien für die
Arbeitszeit und den Gesundheitsschutz, allerdings werden sie nur teilweise
von den Unternehmen eingehalten. Gleichzeitig gibt es gerade im IT-Bereich
einen sehr niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Beschäftigten.
Damit sind die Gewerkschaften als gesellschaftliche Kraft aufgefordert, gerade
diesen Tendenzen entgegenzuwirken und durch neue Ideen die Akzeptanz in
der Branche bei hochqualifizierten Mitarbeitern zu erhöhen.
Die Gewerkschaften entwickeln z.Zt. Strategien die Vereinzelung der Arbeit-
nehmer zu durchbrechen63.
Hier ist ein weiterer Grund sich in der IT- Branche nach neuen Entwicklungen
bei der Arbeitsgestaltung umzusehen, da sie eine Vorreiterrolle einnehmen.
Dies wird im Folgenden dargestellt. Erfahrungen aus diesem Bereich lassen
mögliche Fehlentwicklungen erkennen und vielleicht begrenzen.
60 vgl. Kratzer, Nick: Thesen zur Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes, 11.10.2002, Arbeitspapier: FlexARbeins1.pdf, S.5ff 61 Bei eingeführter Vertrauensarbeitszeit gibt es keine Zeiterfassung und Kernarbeitszeiten sind abgeschafft. Die Arbeitszeit liegt im Ermessen des Arbeitnehmers und wird in Absprache mit dem Team gestaltet oder den Projekterfordernissen angepasst. Die Unternehmen gehen davon aus, dass mehr Eigenverantwortung die Leistung steigert und Arbeitnehmer haben mehr Spielraum bei der Verteilung der Arbeitszeit. (vgl. Böhm, Michaela: Arbeit ohne Ende. Unternehmen wie SAP setzen auf das autonome Handeln ihrer Beschäftigten, S.31, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 199 Wirtschafts- Thema vom 27.08.2004, S.30-31) 62 Vgl.: Wolf, Harald und Nicole Mayer-Ahuja: Grenzen der Entgrenzung von Arbeit - Perspektiven der Arbeitsforschung, in: SOFI- Mitteilungen Nr. 30, 6/2002 63 Die IG- Metall hat eine bundesweite Arbeitszeitinitiative gestartet mit dem Titel: „Arbeiten ohne Ende? Meine Zeit ist mein Leben!“.
Andrea Flügel 29
3.4. Gründe, Motivation und Voraussetzungen zur Veränderung der Arbeits- und Unternehmensorganisation in der IT-Branche
Seit den 90er Jahren hat sich die Client-Server-Architektur gegenüber den
Großrechnern für die komplexen Informationssysteme in den Unternehmen
durchgesetzt. In dieser Architektur ließen sich die Vorteile der anwendernahen
Informationsverarbeitung durch den PC mit den Erfordernissen eines kom-
plexen Gesamtsystems eines Unternehmens verknüpfen. Das neue Leitbild
einer vernetzten offenen Informationsarchitektur entstand.
Seit Mitte der 90er Jahre wird diese Netzwerkstruktur über das Internet als
globaler Basisinfrastruktur erweitert, und verknüpft sowohl den Endverbrau-
cher, als auch andere Unternehmen in einer offenen Informationsinfrastruktur.
Diese neuen Konzepte64 gelten als Schlüssel zur Umgestaltung der Produk-
tions- und Arbeitsprozesse in den Unternehmen und ihrer Beziehung nach
außen. 65
Eine weitere Motivation zur Veränderung von Arbeits- und Unternehmensor-
ganisation ist neben der oben beschriebenen Globalisierung und dem Werte-
wandel, die Kooperation in Netzwerken. Dabei ist die Tatsache, dass die IT-
Branche in der Breite klein- und kleinstbetrieblich organisiert ist von großer
Bedeutung.
Bei der Kooperation in Netzwerken geht es vor allem um die langfristig zu er-
wartenden Kostensenkungen und eine Erweiterung der Produktpalette. Ein
weiterer Aspekt ist der Zugang zu neuen Märkten sowie Wissenstransfer. Zeit
spielt dabei eine entscheidende Rolle66. Die Wahrung der rechtlichen und wirt-
schaftlichen Selbständigkeit sowie ein niedriges Integrationsniveau zur Erhö-
64 Mit der Orientierung auf offene Informationsinfrastrukturen sind die Erweiterung des Leistungsspektrums in der IT-Branche um die Bereiche Beratung, kundennahe Softwareentwicklung und Systemintegration verbunden. Hier wird die Bedeutung hochqualifizierter Beschäftigtengruppen aktuell. 65 vgl.: Boes, Andreas und Andrea Baukrowitz: Arbeitsbeziehungen in der IT- Industrie. Erosion oder Innovation der Mitbestimmung, Berlin 2002, S.44ff 66 „Kooperationsbeziehungen bekommen vor allem dann ein hohes strategisches Gewicht, wenn die Unternehmen Technologien, Produkte oder Leistungen nicht mehr mit eigenen Kapazitäten entwickeln, herstellen oder erbringen können, obgleich dies von großer Bedeutung für den Erhalt ihrer Wettbewerbsfähigkeit ist.“ (Belzer 1993, S.11, zit. nach: Rautenstrauch, Thomas, Generotzky, Lars und Tim Bigalke: Kooperationen und Netzwerke. Grundlagen und empirische Ergebnisse, Köln 2003, S.80)
„Kann es sich ein Unternehmen im Informationszeitalternoch leisten, eine ganz normale Firma zu sein?“
Wüthrich, Hans.A. / Philipp, Andreas.F.
Andrea Flügel 30
hung der Flexibilität stellen Hauptkriterien von Kooperationen und Netzwerk-
bildung dar.
Als größtes Risiko und als wichtigster Erfolgsfaktor wird dabei eine vertrau-
ensbasierte Zusammenarbeit67 betrachtet.
Mindestens genauso wichtig ist die Anzahl qualifizierter Mitarbeiter und Mitar-
beiterinnen in der IT-Branche68. Die Greencard- Diskussion hat deutlich ge-
zeigt, dass die Entwicklungsfähigkeit der Branche von vorhandenen Fach-
kräften abhängig ist. Hier wird ein wichtiges Beispiel zukünftiger Hochquali-
fizierter Dienstleistungsarbeit unter Einbindung moderner Kommunikations-
und Informationstechnik vorexerziert. Dabei übernimmt sie eine Vorreiterrolle
bei dem Aufbau neuer Produktionsstrukturen und Arbeitsbeziehungen.69
3.4.1. Veränderung der Arbeitsformen in der Softwareindustrie aus Arbeitnehmersicht
Im Segment Softwareindustrie existierte 1995 kein eigenständiger Arbeitge-
berverband. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten lag
bei weniger als 3%.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass die meisten Beschäftigten individu-
alistisch denken und handeln. Die relativ kurzen Firmengeschichten, die klein-
betrieblichen Strukturen und die homogene Belegschaft von Hochqualifizierten
prägen das betriebliche Sozialgefüge. Dies begünstigt flache Hierarchien und
eine hohe Kundenorientierung.
Die IT- Beschäftigten legen großen Wert auf Selbstbestimmung sowie eine
Kultur der „offenen Türen“ und der Transparenz im Unternehmen. Selbstbe-
67 Das Thema Vertrauen im Kontext von Unternehmensnetzwerken und Kooperationen, wurde in einer empirischen Untersuchung ostdeutscher und osteuropäischer IT- Unternehmen untersucht. Dabei konnten 3 Idealtypen von Vertrauensbeziehungen differenziert werden: „kalkulierte Vertrauensbeziehungen, beruhend auf einer Risiko-Nutzen Abwägung, mit Bedacht über gezielte Kontaktanbahnung und –pflege gemachte Vertrauensbeziehungen, über lange Zeit bzw. in dauerhaften Bekanntschaften gewachsene Vertrauensbeziehungen“ (Nuissl, Henning, Schwarz, Anna und Michael Thomas: Vertrauen – Kooperation – Netzwerkbildung. Unternehmerische Handlungsressourcen in prekären regionalen Kontexten, Wiesbaden 2002, S.82f) 68 Diesem Sektor werden in der Literatur sehr unterschiedliche wirtschaftliche Bereiche zugerechnet. Heute werden überwiegend Informationstechnikhardware, Telekommunikationshardware, Telekommunikationsnetze und - dienste, Softwareprodukte und –dienste sowie IT- Dienstleistungen gezählt. (Boes, Baukrowitz, a.a.O., 2002, S.31) 69 vgl.: Boes, Andreas und Andrea Baukrowitz: Arbeitsbeziehungen in der IT- Industrie. Erosion oder Innovation der Mitbestimmung, Berlin 2002, S.15ff
Andrea Flügel 31
stimmung in der Arbeit ist als zentrales Moment des Selbstverständnisses der
IT- Beschäftigten anzusehen70.
In der aktuellen Diskussion häufig genannte Ziele der Beschäftigten, wie
Selbstbestimmung, Spaß und Selbstverwirklichung in der Arbeit sind ganz
oben in der Wunschliste zu finden. Auch das Interesse an einer individuellen
Gestaltung der Arbeitszeit gehört hier hinzu. Ein hohes Gewicht kommt dem
Interesse an einer kollegialen Arbeitsatmosphäre zu. Entgegen der allgemein
verbreiteten Annahme, hier handele es sich um ausgeprägte Individualisten
ohne Sinn für soziale Bindungen, hat dieses Interesse die höchste Priorität
und liegt sogar noch über dem Interesse „dass die Arbeit nicht die Gesundheit
beeinträchtigt“ (siehe auch nachfolgende Abbildung)71.
Quelle: Boes 2004, a.a.O. S.7, http://www.ARBIT2.de
Das Thema Qualifizierung ist in der IT-Industrie von großer Bedeutung für die
Erhaltung des Marktwerts der Beschäftigten. In den Interviews des ISF- Mün-
chen (2004) wird immer wieder darauf verwiesen, dass regelmäßige Weiter-
bildungsmaßnahmen unverzichtbar sind, um beruflich mithalten zu können.72
70 Boes, Andreas: Arbeitspapier 6 des Projekts ARB-IT2 des ISF München, März 2004, a.a.O., S.13, http://www.ARBIT2.de 71 Boes, Andreas: Arbeitspapier 6 des Projekts ARB-IT2 des ISF München, März 2004, INTERESSEN UND INTERESSENHANDELN VON IT-BESCHÄFTIGTEN. FOKUS ENTWICKLER. Beitrag zum Workshop: Individuelles Interessenhandeln kontra kollektive Interessenvertretung? Ingenieure und Informatiker als Herausforderung an Betriebsräte am 04. März 2004 im Internationalen Begegnungszentrum (Lichtenberghaus)der Technischen Universität, Darmstadt, S.7, http://www.ARBIT2.de 72 Boes, Andreas: Arbeitspapier 6 des Projekts ARB-IT2 des ISF München, März 2004, a.a.O., S.12, http://www.ARBIT2.de
Andrea Flügel 32
3.5. Zweites Zwischenfazit Merkmale virtueller Wertschöpfung lassen sich folgendermaßen zusammen-
fassen:
- Konsequente Nutzung moderner Informations- und Kommunikations-
technologie
- Dynamische Kompetenzbündelung und Vernetzung unabhängiger
Partner
- Zeit- und Standortunabhängigkeit der arbeitsteiligen Aufgabenbewälti-
gung
- Offenheit und Flexibilität
- Win-win Orientierung73
Deutlich wird bei aller positiven Betrachtung der Entwicklung, dass die Ar-
beitsbeziehung, die auf Vertrauen, Selbstverantwortung und hoher Qualifika-
tion beruhen mit der Entwicklung nicht schritt halten. Einerseits haben wir er-
folgreiche Pionierunternehmen, die zeigen wie erfolgreiche Virtualisierung
umgesetzt wird. Parallel haben wir hochqualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeite-
rinnen, die autonom und selbstverantwortlich arbeiten wollen und gleichzeitig
Risiken bei der Gestaltung der Arbeitsformen, die sich vor allem durch Selbst-
ausbeutung, durch überlange Arbeitszeiten und Arbeitsverdichtung auszeich-
nen.
Noch einmal zur Erinnerung werden die Erfolgskriterien virtueller Zusammen-
arbeit konkretisiert:
- Virtualität bedeutet intern eine gleichberechtigte nicht hierarchische
Zusammenarbeit mit starker räumlich unabhängiger Beziehungsgestal-
tung, und Vertrauen in die eigene Leistungserstellung, keine Standort-
und Zeitbindung sowie die Integration durch Moderatoren. Eigenverant-
wortlichkeit und Selbsteinschätzung sind wichtige Merkmale der Mitar-
beiter und Mitarbeiterinnen
- nach außen bildet es für den Kunden eine transparente Hierarchie.
Gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Flexibilität, Variabilität,
Schnelligkeit und breite Kommunikation.
73 vgl.: Wüthrich, H.A. / Philipp, A.F.: Grenzenlose Chancen durch Virtualisierung!? – Was wir von virtuellen Pionierunternehmen lernen können, S.7f, in: Zeitschrift Führung und Organisation (ZfO), 4/1998, S. 201-206
Andrea Flügel 33
Soziale Konsequenzen vermehrter Virtualisierungsprozesse und damit ver-
bundenen virtueller Kommunikation können zu einer geringeren Face- to Face
Kommunikation führen, die zu Vereinsamung und Einschränkung von Kom-
munikation im Alltag führen kann. Ironie, das Schmunzeln beim Reden oder
das hochziehen einer Augenbraue lässt sich virtuell schwer vermitteln. Auch
informelle Gespräch oder Smalltalk werden erschwert.
Soziale Interaktion und Integration ist aber für ein funktionierendes demokrati-
sches Gemeinwesen überlebenswichtig. Bei der Gestaltung solcher Formen
der Kommunikation müssen also diese fundamentalen Formen des Austau-
sches berücksichtigt werden.
Die Auswirkungen auf das Gemeinwesen sind vielleicht schon sichtbar. Eh-
renamtliches Engagement in der Kommune, in Vereinen und Verbänden wird
von der mittleren Generation nur noch selten geleistet. Ob das an der ver-
mehrten subjektiv empfundenen Überbelastung durch Arbeit liegt ist nicht un-
tersucht, aber es könnte bei weiterem Anstieg der „Managerkrankheit“ auf
Hochqualifizierte eine Ursachen finden.
Hier könnten die weitreichenden Konzepte von Beck, Bergmann oder Rifkin
ansetzen (vgl. Kap.2).
Für die Gestaltung virtueller Arbeitsplätze in der IT-Branche, wie im nachfol-
genden konkreten Beispiel versucht, müssen die Chancen und Risiken be-
dacht werden. Auch hier ist das Ziel eine win-win Orientierung für Arbeitneh-
mer und Arbeitgeber zu Grunde zu legen.
Andrea Flügel 34
4. Ein Softwareunternehmen zwischen traditioneller und virtueller Arbeits- und Unternehmensorganisation
Welche Chancen eröffnen Virtualisierungskonzepte für eine veränderte Ar-
beits- und Unternehmensorganisation in einem konkreten Betrieb? Und ist die
Zeit auch hier reif für eine Veränderung. Wie sieht jetzt die Situation in einem
ausgewählten Softwarebetrieb aus, dessen Arbeits- und Unternehmensorga-
nisation bisher eher traditionell organisiert ist und wie könnte es aussehen,
wenn Virtualisierungsbestandteile hinzukommen. Im Folgenden wird die Me-
thode zur Erfassung der Ist- Situation dargestellt, um dann die Ergebnisse
vorzustellen. Am Ende sollen Modelle entwickelt werden, die eine Umsetzbar-
keit in die Praxis ermöglichen.
4.1. Expertenbefragung und Informationsgespräch - die Methode
Experteninterviews74 werden in den verschiedensten Forschungsfeldern
eingesetzt - als eigenständiges Verfahren oder im Rahmen eines Methoden-
mix. Als Experte wird interviewt, wer in irgendeiner Weise Verantwortung trägt
für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung
und wer über privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen
oder Entscheidungsprozesse verfügt.75
Das Experteninterview als Informationsgespräch bietet sich in diesem Fall an,
weil das Ziel eines praktikablen Modells zur erfolgreichen Umsetzung virtueller
Elemente in den Arbeits- und Dienstleistungsprozess in dieser kleinen Soft-
ware Firma stark von den Interessen aller Beteiligten abhängt. Zur ökonomi-
schen Umsetzung des Vorhabens bieten sich der Geschäftsführer als Ge-
sprächspartner und ein Mitarbeiter, der vorwiegend als Projektleiter handelt
an, da zu erwarten ist, dass sie über privilegierte Informationen und im Fall
des Geschäftsführers auch über Entscheidungsprozesse Auskünfte aus erster
Hand erteilen können. Die Gespräche wurden mittels offener Interviews ge-
führt. Den theoretischen Unterbau hat die Autorin vorab recherchiert und den
74 zur Methodik siehe Schmid, Josef: Expertenbefragung und Informationsgespräch in der Parteienforschung: Wie föderalistisch ist die CDU?, in: Alemann, Ulrich: Politikwissenschaftliche Methoden. Grundriss für Studium und Forschung, Opladen 1995, S.293 -326 75 Schmid, Josef: Expertenbefragung und Informationsgespräch in der Parteienforschung: Wie föderalistisch ist die CDU?, in: Alemann, Ulrich: Politikwissenschaftliche Methoden. Grundriss für Studium und Forschung, Opladen 1995, S.294f
Andrea Flügel 35
Gesprächspartnern vorher zur Kenntnis geben, so dass sich das Gespräch
auch auf die schon vorhandenen Modelle erstrecken konnte und sich eine
möglichst an die Struktur und Organisation der Unternehmung angepasste
Lösungsmöglichkeit eröffnen konnte.
Der Gesprächsleitfaden orientierte sich an folgenden Themenfeldern76: - Brancheneignung
- Virtualisierungsprofil:
o Charakteristika eigener Wertvorstellung: Kooperationsbereitschaft
(mental), Netzwerksteuerung machtorientiert - wertorientiert),
Führungskultur (vertragsorientiert - vertrauensorientiert)
o Charakteristika der eigenen Position: Marktposition (Marktanteil –
Marktmacht), „Netzwerkeinfluss“ intern (Finanzkraft – know how)
o Charakteristika der Gesamtleistung: Investitionsintensität (intern:
z.B. Einrichtung der Arbeitsplätze vor Ort, Risikostreuung, (Ar-
beitsverträge, Gehaltsbedingungen, Beteiligung am Gewinn, oder
an der Firma, ermöglicht die Zusammenarbeit mit Partnerfirmen
eine Aufteilung der Risiken?), Digitalisierungsgrad der zu erbrin-
genden Leistungen (Aquise, Inbetriebnahmen, Entwicklung, Do-
kumentation, Schulungen, usw.
- Art des Geschäfts (massenorientiert – auftragsorientiert)
o Auftragsabfolge (wiederkehrend – einmalig)
o Auftragsrhythmus (kontinuierlich – unregelmäßig)
o Komplexität des Kundenauftrags (hoch – niedrig)
- Charakteristika eigener Kernkompetenzen
o ‚Breite’ der Kernkompetenzen (Wie viel Wertschöpfungsstufen
werden kompetent abgedeckt, so dass sich daraus ein Wettbe-
werbsvorteil ergibt?)
o ‚Tiefe’ der Kernkompetenzen (Ist das Produkt gegen Wettbewer-
ber gesichert oder leicht imitierbar?)
- Charakteristika der Mitarbeiter (Partner)- Kompetenzen
o Überschneidungsfreiheit? (gleiche oder unterschiedliche Leistun-
gen der MA)
o Austauschbarkeit im Sinne der Verfügbarkeit (Wie kompatibel
sind die Teilleistungen, wer ist in der Lage welche Leistungen zu
erbringen?)
o Kosten für Partnertausch (auch nichtmonetär)
76 orientiert an: Wüthrich, Hans A., Philipp, Andreas F., Frentz, Martin H.: Vorsprung durch Virtualisierung. Lernen von virtuellen Pionierunternehmen, Wiesbaden, Gabler 1997, S. 232ff und S. 249ff und S.252
Andrea Flügel 36
o Abhängigkeit (Wie stark ist der Erfolg von einzelnen MA abhän-
gig?)
Im Folgenden werden die Gesprächsergebnisse zusammenfassend darge-
stellt und eine Einordnung in das Schema von Wüthrich (1997) unternommen,
um die grundsätzlichen Virtualisierungskriterien abzuklopfen und zu bestäti-
gen oder zu verwerfen.
4.2. Die Firma
Das Unternehmen ist ein Kleinstunternehmen der IT-Branche und arbeitet seit
mehr als zehn Jahren und inzwischen europaweit erfolgreich auf dem Gebiet
der Softwareentwicklung für Konzerne wie Bosch, VW, Siemens, Opel, IBM
und mittelständischen Logistikunternehmen in der gesamten Bundesrepublik
und Europa.
Die Firma beschäftigt sich mit der Entwicklung von leistungsfähigen Werkzeu-
gen für die Bereiche Service- und Lagerlogistik und Betriebsdatenerfassung
bzw. Qualitätssicherung. Derzeit gibt es drei wichtige Ausrichtungen des Un-
ternehmens, die sich kontinuierlich erweitert haben:
• Entwicklung von Instrumenten zur Qualitätsüberwachung, die wesentlich
im Bereich der Automobilindustrie ihren Einsatz finden,
• Entwicklung von Produkten für Logistiksysteme, die sich insbesondere mit
Lagerhaltung, –verwaltung und Servicelogistik beschäftigen und
• Produktschulung und Vertrieb.
Die Steigerung der Lieferbereitschaft, kürzere Lieferzeiten, flexibler Service,
Sicherstellung von Qualitätsstandards in der Produktion sowie Reduzierung
von Lagerhaltungs- und Beschaffungskosten sind Schwerpunkte des Kon-
zepts, wobei die Benutzerfreundlichkeit der Programme und die praxisge-
rechte Einführung Merkmale einer konsequenten Kundenorientierung sind.
Die Software ist auf unterschiedlichste Kundenanforderungen vorbereitet und
„Eine effektive Firma hat sehr viel mehr Ähnlichkeit mit dem Karneval in Rio,
als mit einer Pyramide am Nil.“ (Tom Peters)
Andrea Flügel 37
kann mit geringem Aufwand an vorhandene Unternehmensstrukturen ange-
passt werden77.
Die Unternehmensphilosophie der Firma A. setzt ein hohes Maß an Flexibilität
voraus, entsprechende interne Strukturen sollen dies gewährleisten.
Der Firmengründer und Geschäftsführer ist der innovative Kopf der Firma, alle
Entwicklungen entstehen an, bzw. laufen über seinen Tisch. Akquisetätigkei-
ten und Vertrieb sind ebenfalls eng mit seiner Person verknüpft.
Mit zunehmendem Auftragsvolumen und auf dem Hintergrund der Tatsache,
dass der Geschäftsführer fast ausschließlich das innovative Potential der
Firma stellt, hat in den letzten Jahren aber auch die Transparenz der Arbeits-
abläufe und die Überschaubarkeit der unterschiedlichen Projektstände und -
verläufe abgenommen, sowohl für die Führungskraft auf allen ihr obliegenden
Gebieten, als auch für die Belegschaft, die als „generalisierende Spezialisten“
im Zweifelsfall alle betrieblichen Aktivitäten bearbeiten können müssen.
Gleichzeitig ist die Zahl der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von anfänglich
zwei auf acht gestiegen, die inzwischen mehr als ausgelastet sind. Bei Auf-
tragsspitzen gibt es Partnerunternehmen, die vertragsorientiert, Teilaufgaben
übernehmen können.
4.2.1. Ergebniszusammenfassung und Schlussfolgerungen aus dem Expertengespräch
Die Firma hat einen nennenswerten Internatonalisierungsgrad, wobei es in
diesem Fall vor allem durch die Tätigkeit für große Automobilfirmen, die global
vertreten sind, automatisch weltweit Konkurrenten gibt. Da die Firma einen
sehr hohen Prozentsatz der Wertschöpfung direkt beim Kunden erbringt und
damit einen direkten Vorteil gegenüber anderen Anbietern hat, sind durch den
Firmensitz in Deutschland die Tätigkeiten der Mitarbeiter mit einer hohen Rei-
setätigkeit verbunden, die einen großen Kostenfaktor darstellen. Bisher er-
streckt sich das vor allem auf Europa (geographische Dimension). Es ist aller-
dings gerade ein Angebot für Mexiko in Arbeit, die eine Herausforderung dar-
stellt, weil hier die Fehlertoleranz besonders niedrig ist, also Kosten und
Nutzen für die Firma gut betrachtet werden müssen. Das Produkt darf nicht
viel teurer sein als ein gleiches Angebot in Europa, verursacht aber Mehr- 77 vgl.: Firmenbroschüre der Firma A. GmbH
Andrea Flügel 38
kosten durch Entfernung und Zeitaufwand. Sollte es trotzdem durchgeführt
werden, steht nicht der Gewinn im Vordergrund, sondern eher Image und
Marketing.
Die Zeit von der Produktidee bis zur Vermarktung spielt eine untergeordnete
Rolle. Die Produkte sind seit Jahren auf dem Markt eingeführt, sie besitzen
einen hohen Flexibilisierungsgrad, da die Wünsche und Erwartungen der
Kunden häufig wechseln oder durch erweiterte Dienstleistungen ergänzt wer-
den müssen. Im Gegensatz zur Konkurrenz ist bei der Firma A. die individu-
elle Beratungsleistung ein Wettbewerbsvorteil. Hier entstehen auch Ideen für
Innovationen und Verbesserungen des Produktes.
Die Produktqualität und der Preis bestimmen, ob der Kunde das Produkt kauft
und weiterempfiehlt. Zunehmend bekommt der Preis eine größere Bedeutung.
Neue Marktteilnehmer kommen mit Dumpingpreisen auf den Markt und sind
eine ernstzunehmende Konkurrenz. Die Servicequalität der Firma gewinnt hier
noch mal eine größere Bedeutung, so dass der Anteil der Betreuungs- und
Beratungsleistungen ständig steigt.
Hier sind wir beim größten Problem der Firma, da die begrenzte Anzahl der
Mitarbeiter natürlich auch diesem Thema Grenzen setzt, vor allem, wenn alle
Kunden gleichzeitig Unterstützung wollen. An dieser Stelle wird versucht die
Prozessqualität durch eine effektivere Projektverwaltung und –steuerung zu
verbessern. Hier könnten auch erste Virtualisierungsbausteine ansetzen.
Auftragsspitzen werden auch jetzt schon durch Partnerfirmen mit Hilfe eines
„Generalunternehmermodells“ aufgefangen. Damit ist gemeint, dass eine Teil-
aufgabe vertragsbasiert an ein anderes Kleinstunternehmen oder an Freibe-
rufler abgegeben wird, aber die Firma A. gegenüber dem Kunden die Verant-
wortung behält.
Die Innovationsintensität ist mittelmäßig ausgeprägt. Die Produktionszyklen
hängen eng an der Technologieentwicklung der Großkunden, wie Bosch,
Siemens oder VW.
Beispiel: Die Statistiksoftware wird von der Werkzeugkonstruktion führender
Hersteller beeinflusst und muss immer wieder an deren Produktinnovationen
gekoppelt werden78.
78 Die fortschreitende Innovation hinsichtlich der Quantität und Flexibilität der Datenausgabe der Werkzeugtypen droht das bisherige Datenmodell zu sprengen. Hierdurch werden immer höhere Anforderungen an die Programmiertechnik gestellt, was durch neue Softwaretechnologien (Stichwort Microsoft .Net) noch verstärkt wird
Andrea Flügel 39
Zusammengefasst und in nachfolgender Tabelle79 noch einmal bewertet ergibt
sich folgendes Bild:
Fragen: Charakteristika der Branche
Globalisierungs- Internationalisierungsgrad
- Geographische Reichweite
- Homogenität der Nachfrage
tief Hoch
Zeitintensivität - Time to market - Durchlaufzeiten
tief Hoch
Flexibilitätsgrad - Kundendruck - Wettbewerbsbedin-
gungen
tief hoch
Qualitätsanspruch - Prozessqualität - Produktqualität
tief Hoch
Kostensensitivität - Prozesskosten - Preisgetriebener
Wettbewerb
tief hoch
Innovationsintensität - Innovationsrhythmus - Technologieabhängig-
keit
tief hoch
Die Tabelle macht deutlich, dass die Brancheneignung vorhanden ist und im
Folgenden das auf die Firma zugeschnittene Virtualisierungsprofil erstellt
werden kann. Dabei hat sich die Autorin weiterhin an den Kriterien von
Wüthrich u.a. (1997) orientiert und diese etwas modifiziert, um dem Ziel einer
Modellentwicklung näher zu kommen. Die Ergebnisse sind tabellarisch als
79 Quelle: eigene Darstellung angelehnt an: Wüthrich, Hans A., Philipp, Andreas F. und Martin H. Frentz: Vorsprung durch Virtualisierung. Lernen von virtuellen Pionierunternehmen, Wiesbaden, Gabler 1997, S.222
Ausprägungsgrad
EEiiggnnuunnggssggrraadd ffüürr VViirrttuuaalliissiieerruunngg NNoottwweennddiiggkkeeiitt zzuurr VViirrttuuaalliissiieerruunngg
Andrea Flügel 40
Überblick dargestellt. Beim Expertengespräch ergab sich immer wieder eine
Vermischung von internen und externen Parametern. Deshalb sind auch in
den nachfolgenden Tabellen jeweils interne und externe Parameter vorhanden
und gewertet.
Auch bei den Wertvorstellungen des Geschäftsführers gab es Unterschiede
der Bewertung zwischen Externen Partnern und Mitarbeitern und Mitarbeite-
rinnen. Intern scheinen die Kooperationsbereitschaft und die Führungskultur
eher für eine Virtualisierung geeignet als bei der Sicht auf externe Partner. Es
ist zwar eine generelle Bereitschaft erkennbar, allerdings ist sie beim Ge-
sichtspunkt Risiko der Offenbarung von Firmengeheimnissen schwer vorstell-
bar. Die bisherigen Erfahrungen lassen es sich schwer vorstellen, dass eine
solche vertrauensbasierte Partnerschaft zu win-win-Situationen führen könnte.
Die Markposition wird vom Geschäftsführer als relativ sicher eingeschätzt.
Im Folgenden sind die Gesprächsergebnisse nach eigener Einschätzung zu-
sammengefasst tabellarisch dargestellt und bewertet. Die grau unterlegten
Felder zeigen die Virtualisierungseignung oder –notwendigkeit übersichtlich
an.
Fragen: Charakteristika eigener Wertvorstellungen
- Kooperationsbereitschaft (mental)
- Netzwerk - Steuerung
- Führungskultur (Partner-Beziehungen)
schwach macht- orientiert vertrags- orientiert
stark
wert- orientiert
vertrauens- orientiert
Fragen: Charakteristika der eigenen Position
Markposition - Marktanteil - Marktmacht
Netzwerkeinfluss (intern)
- Finanzkraft - Know- how
schwach gering
stark
hoch
Ausprägungsgrad
Ausprägungsgrad
Andrea Flügel 41
Fragen: Charakteristika der Gesamtleistung
- Investitionsintensität
- Risikostreuung
- Digitalisierungsgrad
gering gering gering
hoch
hoch
hoch
Bei der Beschreibung der eigenen Kernkompetenzen (Breite und Tiefe80) wur-
den relativ viele Wertschöpfungsstufen dargestellt, wohingegen die Imitierbar-
keit des Produktes in der Zwischenzeit als relativ hoch eingeschätzt wird.
Deshalb gibt dies in der Bewertung einen Mittelwert.
Bei der Einschätzung der Partnerkompetenzen standen die Mitarbeiter im
Vordergrund, da Erfahrungen mit Partnern auf einer Vertragsorientierung be-
ruhen und deshalb für den Geschäftsführer schwer einschätzbar waren.
Im letzten Jahr ist der Umsatz im Bereich Betriebsdatenerfassung (BDE) zu-
rückgegangen, da ein großer Konkurrent ein ähnliches Angebot macht. Im
Bereich Service-, Lagerlogistik bleibt der Umsatz seit Jahren etwa gleich, trotz
starker Konkurrenz, z.B. durch SAP.
Die interne Arbeitsorganisation ist projektorientiert gestaltet, wobei, wie bereits
oben erwähnt, Spezialgebiete an einzelne Mitarbeiter gebunden sind. Aller-
dings gibt es keine überschneidungsfreien Felder. Die Austauschbarkeit der
Mitarbeiter ist daher möglich.
80 Definition nach Wüthrich u.a.: a.a.O., S.235
Ausprägungsgrad
EEiiggnnuunnggssggrraadd ffüürr VViirrttuuaalliissiieerruunngg NNoottwweennddiiggkkeeiitt zzuurr VViirrttuuaalliissiieerruunngg
Andrea Flügel 42
Fragen: Charakteristika des Kundenauftrages
- Art des Geschäftes
- Auftragsabfolge
- Auftragsrhythmus bezogen auf Leistungs-erstellungsprozess
- Komplexität des Kundenauftrages
massen- orientiert wieder- kehrend kontinu- ierlich gering
auftrags- orientiert
einmalig
unregel- mäßig
hoch
Fragen: Charakteristika eigener Kompetenzen
- ‚Breite’ eigener Kernkompetenzen
- ‚Tiefe’ eigener Kernkompetenzen
viele Wert- schöpfungs- stufen hohe Ab- schirmbar- keit
wenige Wert- schöpfungs-
stufen
geringe Ab- schirmbar-
keit
Fragen: Charakteristika der Mitarbeiter (rsp. Partner)- Kompetenzen
- Überschneidungsfreiheit
- Austauschbarkeit der MA (Partner) im Sinne der Verfügbarkeit
- Kosten für Mitarbeiter-
(Partner)tausch
- Abhängigkeit von den MA (der Partner)
gering tief tief tief
hoch
hoch
hoch
hoch
Ausprägungsgrad
EEiiggnnuunnggssggrraadd ffüürr VViirrttuuaalliissiieerruunngg NNoottwweennddiiggkkeeiitt zzuurr VViirrttuuaalliissiieerruunngg
Ausprägungsgrad
Ausprägungsgrad
Andrea Flügel 43
Bei der Betrachtung der Tabellen kann der Eignungsgrad der Virtualisierung
bejaht werden. Eine Notwendigkeit könnte sich in der nächsten Zeit ergeben,
wenn z.B. die Internationalisierung der Kunden (siehe Mexiko- Auftrag) zu-
nimmt. Hier müsste evtl. über Partner in der Nähe der Kunden nachgedacht
werden, die über virtuelle Konzepte eingebunden werden. Aber auch bei der
Frage der Bindung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sollten Möglichkeiten
der Virtualisierungskonzepte überdacht werden.
Ein weiteres Ergebnis des Expertengespräches war die mögliche zukünftige
Weiterentwicklung des Unternehmens. Hier ergaben sich drei mögliche Sze-
narien, die als Grundlage für die Modellentwicklung angenommen werden:
1. Flexibilitätserhöhung durch interne Virtualisierung,
2. Neue Geschäftsfelder durch virtuelle Kooperation
3. Der Geschäftsführer verlegt seinen Wohnsitz aus familiären Gründen
ins europäische Ausland, bei Beibehaltung des Geschäftssitzes in
Deutschland
In der nachfolgenden Abbildung sind die Ist- Situation und die Ziele noch ein-
mal schematisch zusammengefasst:
8 M it a rb e it e r I n n e nB ü r o a r b e it s p lä tz e a m F irm e n s it z u n d a r b e ite n b e im K u n d e n
T e c h n ik a u s s ta t tu n gla p to pIn te r n e tIn t r a n e tT e le k o m m u n ik a t io n ( H a n d y , F a x )T o o ls z u r S o f tw a r e - E n tw ic k lu n g
a r b e it s t e i l ig e A r b e it s o r g a n is a t io nP r o je k t le i tu n g r o t ie r e n d , je n a c h A u f t r a g
8 M it a rb e it e r I n n e nB ü r o a r b e it s p lä tz e a m F irm e n s it z u n d a r b e ite n b e im K u n d e n
T e c h n ik a u s s ta t tu n gla p to pIn te r n e tIn t r a n e tT e le k o m m u n ik a t io n ( H a n d y , F a x )T o o ls z u r S o f tw a r e - E n tw ic k lu n g
a r b e it s t e i l ig e A r b e it s o r g a n is a t io nP r o je k t le i tu n g r o t ie r e n d , je n a c h A u f t r a g
D ie F i r m aIs t - Z u s t a n d
D ie F i r m aD ie F i r m aIs t Is t -- Z u s t a n dZ u s t a n d
1 .1 .F le x ib i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h F le x ib i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h
in t e r n e V i r t u a l is ie r u n gin t e r n e V i r t u a l is ie r u n g
2 . 2 . N e u e G e s c h ä f t s f e l d e r d u r c h N e u e G e s c h ä f t s f e ld e r d u r c h
v i r t u e l le K o o p e r a t io n e nv i r t u e l le K o o p e r a t io n e n
3 . 3 . U m z u g d e s G e s c h ä f t s f ü h r e r sU m z u g d e s G e s c h ä f t s f ü h r e r s
in s e u r o p ä is c h e A u s la n din s e u r o p ä is c h e A u s la n dB e ib e h a l t u n g d e s G e s c hB e ib e h a l t u n g d e s G e s c h ää f t sf t s --
s i t z e ss i t z e s in D e u t s c h la n din D e u t s c h la n d
S o l lS o l l -- E n t w ic k lu n g :E n t w ic k lu n g :
Quelle: eigene Darstellung
in den nachfolgenden Kapiteln werden zunächst einige für die Firma A. be-
sonders interessante Virtualisierungsbausteine vorgestellt, die bei der Modell-
entwicklung eine Rolle spielen. Die Auswahl erfolgte aus pragmatischen
Gründen, mit dem Ziel einen einfachen Umsetzungsvorschlag zu entwickeln.
Andrea Flügel 44
Dabei sollte nicht sofort eine völlig neue Firma entstehen, sondern beste-
hende Strukturen berücksichtigt werden. Hilfreich waren dabei Kenntnisse
über die Aufgabenstruktur und die groben Arbeitabläufe, die ich im laufenden
Prozess unbürokratisch erfragen konnte.
4.3. Ausgewählte Virtualisierungsbestandteile
Wie schon in Kapitel 3.1 beschrieben organisieren klassische Organisations-
formen arbeitsteilige Aufgaben anhand von räumlicher Nähe. Als einen ersten
Schritt der Virtualisierung kann eine räumliche und zeitliche Entkopplung
bspw. durch Telearbeit erreicht werden.
Telearbeit kann bei entsprechender Organisation die Arbeit in virtuellen
Teams Unternehmensübergreifend begünstigen oder einen Grundstein für
eine solche Arbeitsorganisation darstellen. Eine Form der Telearbeit ist allen
Mitarbeitern der Firma A. vertraut. Die Arbeit von unterwegs oder beim
Kunden sind Standardsituationen der Kundenbetreuung. Der Aufbau einer
Online-Verbindung zur Firma aus Hotels gehört ebenso dazu, wie regelmäßi-
ger telefonischer Support für Kunden und Kollegen.
Im Folgenden sollen weitere Möglichkeiten der Telearbeit genauer beschrie-
ben werden. Dabei sind es gleichzeitig Modellgrundsteine für die Firma A.
4.3.1. Telearbeit als virtueller Baustein Telearbeit wird an folgenden Kriterien orientiert:
o Eine Online- und Telefonverbindung zwischen dem Arbeitsort und dem
Zentralrechner des Unternehmens
o Freigewählter Arbeitsort
o Freie Einteilung der Arbeitszeit
o Mindestens die Hälfte der Arbeitszeit findet nicht im Unternehmen
statt.81
81 vgl.: Orlikowski, Borris: Management virtueller Teams. Der Einfluss der Führung auf den Erfolg, Dissertation Universität Kiel, 2002, Wiesbaden 2002, S.9
Andrea Flügel 45
Entsprechend positive Gestaltungsrichtlinien82 vorausgesetzt, bietet Telearbeit
eine Möglichkeit einen oder mehrere Tage zu Hause, in lokalen Bürogemein-
schaften oder unterwegs zu arbeiten.
Telearbeit verknüpft Elemente der Flexibilisierung und wird definiert als Ar-
beitsform die,
- die zeitlichen Strukturen der Arbeit verändert sowohl hinsichtlich einer
möglichen Erweiterung als auch einer günstigeren Verteilung und hö-
herer Selbstbestimmung,
- einen Wechsel zwischen abhängigen und selbstständigen Formen der
Arbeit ermöglicht,
- den Wandel der Arbeitsformen hinsichtlich Auftragserteilung, Kontrolle
und Ergebnisbewertung beschleunigt
- die Mobilität steigert oder als Folge von Mobilität erforderlich ist,
- die Weiterbildung neben der Berufstätigkeit ermöglicht und
- funktionale Arbeitsabläufe zeitlich und räumlich neu verteilt.83
Verschiedene Grundformen von Telearbeit84 können unterschieden werden: a.) Teleheimarbeit:
- Verlagerung von Arbeit in den Wohnbereich mit der entsprechenden Aus-
stattung eines Arbeitsplatzes zu Hause.
- Alternierende Telearbeit, die eine zeitliche und räumliche Teilung der Ar-
beitsvorgänge bedeutet, d.h. die Arbeit kann z.B. an zwei Tagen der Wo-
che zu Hause und in der übrigen Zeit in der Firma oder beim Kunden
stattfinden. Wenn die benötigte Ausstattung auf mehrere Orte verteilt ist
kann sie von mehreren Beschäftigten genutzt werden.
- Telearbeit auf selbstständiger Basis. Dabei wird ausschließlich zu Hause
oder beim Kunden gearbeitet, aber für mehrere Arbeitgeber.
b.) Mobile Telearbeit:
Tragbare Computer und Telekommunikationseinrichtungen ermöglicht das ar-
beiten ortsunabhängig zu gestalten, also beim Kunden, zu Hause, in der
Firma, unterwegs usw.
82 Ein Beispiel für ungeschriebene Gesetze in Unternehmen über den Zusammenhang von Zeit am Arbeitsplatz und Karrierechancen sowie die damit verbundene Vereinbarkeit von Beruf und Familie bietet Arlie Russel Hochschild in ihrer empirischen Studie aus den USA über die Situation berufstätiger Eltern zwischen den Anforderungen einer globalisierten Arbeitswelt und denen des Familienlebens (Russel Hochschild, Arlie: Keine Zeit. Work- Live- Balance. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Opladen 2002) 83 vgl.: Hochgerner, Josef: Flexibilisierung durch Telearbeit, S. 176f, in: Zilian, Hans Georg und Jörg Flecker (Hrsg.): Flexibilisierung – Problem oder Lösung? Berlin 1998, S.175 - 192 84 die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Hochgerner, a.a.O., S.183f
Andrea Flügel 46
c.) Arbeiten in Telezentren
Telezentren sollen multifunktional angelegt sein. Sie sollen sowohl Arbeits-
möglichkeiten bieten, als auch Dienstleistungen, wie Fortbildung, öffentliche
und kulturelle Angebote. In einem solchen Rahmen kann Flexibilität und Mobi-
lität in Bezug auf Arbeitszeit, -form und –beziehung, aber auch neue Organi-
sationsformen und soziale Solidarität entwickelt werden. Sie liegen in der
Nachbarschaft und sind als Einzel- oder Gemeinschaftsbüros organisiert mit
Personen aus eigenen oder fremden Firmen. Hier kann die Organisation zu
ganz neuen Synergieeffekten führen.
d.) Satellitenbüros
Diese Auslagerungen fassen extern Abteilungen oder Aufgabenblöcke von
Unternehmen zusammen und sollen den Mitarbeitern das Pendeln zum Fir-
mensitz ersparen. Sie unterscheiden sich von Zweigstellen dadurch, dass die
back office Funktionen in der Zentrale bleiben und ein direkter organisatori-
scher Zusammenhang erhalten bleibt.
Telearbeit ist ein Element virtueller Unternehmensstrukturen, die Arbeitsplätze
umgestaltet und möglicherweise örtlich verlagert. Hier ist zu berücksichtigen
dass die Informations- und Kommunikationstechnologien effektiv eingesetzt
werden, soziale Komponenten der reibungslosen Zusammenarbeit des Teams
aktiv unterstützt werden, so dass die Einspareffekte nicht durch höhere Kos-
ten durch Missverständnisse aufgehoben werden. Dabei ist Vertrauen in die
Kooperationsbereitschaft der anderen Gruppenmitglieder eine Grundvoraus-
setzung virtueller Zusammenarbeit85
Für die Veränderung der Arbeitsorganisation der Firma A. würde sich m.E.
nach die alternierende Telearbeit anbieten, mit einer entsprechenden Aus-
stattung zu Hause. Mobile Telearbeit wird schon umgesetzt und ist eine Vor-
aussetzung der Kundenbetreuung und eine Stärke der Firma.
Die weiteren Vorschläge von Telearbeit könnten in einem späteren Schritt bei
der vermehrten Einbindung von Partnerunternehmen oder Freiberuflern in
Erwägung gezogen werden. Für einen ersten Schritt sind sie aber nicht geeig-
net.
Ein weiterer Baustein von Virtualisierungskonzepten ist die Frage der Entloh-
nung, wenn diese nicht mehr durch das Element Zeit am Arbeitsplatz oder
beim Kunden allein bestimmt werden kann.
85 Vgl.: Orlikowski a.a.O., S.24
Andrea Flügel 47
4.3.2. Entlohnung in virtuellen Unternehmen
Ein weiterer viel diskutierter Virtualisierungsbaustein ist die Entlohnung. Dabei
wird eine Leistungs- oder erfolgsdifferenzierte Entlohnung, gekoppelt mit
Leistungsbeurteilungen oder Zielerreichungsgesprächen vorgeschlagen.
Das Vorbild stellen Vertriebsbeauftragte, oder Außendienstmitarbeiter dar,
deren Entlohnung an die Erreichung bestimmter Zielmargen, oder eines be-
stimmten Umsatzes geknüpft werden. Es wird eine Verknüpfung fester und
variabler Gehaltsbestandtteile diskutiert, die eine
- leistungsorientierte Bezahlung in Anlehnung an Tarifverträge und
- Beteiligungsoptionen an Unternehmen (Aktien)
als Teil der Selbststeuerung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beinhalten.
Eine Kultur des Interessenausgleichs, also eine win- win- Orientierung ist für
den Erfolg eine Voraussetzung.
In der folgenden Tabelle werden mögliche Formen der materiellen Mitarbei-
terbeteiligung übersichtlich dargestellt. Als wesentliche Bedingung für den
Erfolg materieller Beteiligungssysteme gilt die gleichzeitige immaterielle Betei-
ligung der Mitarbeiter. Daher empfiehlt sich die gleichzeitige Einführung parti-
zipativer Elemente, damit die materielle Beteiligung die angestrebten Effekte
erzielt.86
Mitarbeiterbeteiligungsmodellen als Teil materieller Anreizsysteme wohnen
verschiedene personalpolitische Funktionen inne. Vorrangiger Zweck solcher
Systeme ist die Erhöhung der Mitarbeitermotivation. Zudem kommt ihnen eine
Selektions- und eine Koordinationsfunktion sowie, je nach Ausgestaltung, eine
Personalgewinnungs- und –bindungsfunktion zu.87.
86 vgl. dazu detailliert: Kay, Rosemarie: Materielle Mitarbeiterbeteiligung in der Mittelständischen Wirtschaft. Erfüllen sich hoch gesteckte Erwartungen? S. 47, in: Markus Söder/Peter Stein (Hrsg.): Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 39, München 2003, S. 43 – 54, veröffentlicht im Internet 87 Winter, Stefan: Prinzipien der Gestaltung von Managementanreizsystemen, Wiesbaden 1996, S.39f.
Andrea Flügel 48
Quelle: Kay, Rosemarie: Materielle Mitarbeiterbeteiligung in der Mittelständischen Wirtschaft. Erfüllen sich hoch gesteckte Erwartungen? S. 44, in: Markus Söder/Peter Stein (Hrsg.): Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns. Argumente und Materialien zum Zeit-geschehen 39, München 2003, S. 43 - 54
Im Moment ist die Entlohnung in der Firma in einem Arbeitsvertrag klassisch
durch Anwesenheit und Qualifikation geregelt. Überstunden werden möglichst
zeitnah „abgebummelt“ oder ausgezahlt88. Projektziele richten sich nach den
Anforderungen der Kunden und sind daher oft auch mit Zeitdruck (short
terminism) verbunden. Daher könnte aus meiner Sicht in einem ersten Schritt
über Zeitkonten (Zeitwertpapiere) als Anreizsystem nachgedacht werden. Die
Einführung von Zeitkonten könnte Spielraum für Sabbaticals, oder Familien-
zeiten schaffen, aber auch als verzinstes Kapital angesammelt oder ausge-
zahlt werden. Dieses Modell könnte die Flexibilitätsansprüche des Unterneh-
mens und die Sicherheitsbedürfnisse der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ver-
söhnen helfen (siehe auch Kapitel 2.5).
88 Für die meisten Mitarbeiter der Firma ist dies eher unbefriedigend, da diese Zeit als Freizeit oder Geld nicht geplant werden kann.
Virtuelle Aktien
Zeit- Wertpapiere
Aktien-optionen
Leistungs- beteiligung
Ertrags- beteiligung
Gewinn- beteiligung
Formen der Mitarbeiterbeteiligung
materielle immaterielle
Freiwil-lige Parti-zipation
Erfolgs-beteili-gungen
Kapitalbe-teiligung
Sonstige Beteili-
gungsformen
Gesetzl. Mitbestim
mung
Fremdkapital- beteiligung
Eigenkapital- beteiligung
Andrea Flügel 49
4.4. Modellvorschlag 1: Interne Flexibilisierung als Virtuelles Netzwerk
Das Ziel der jetzigen Arbeitsorganisation ist es, möglichst zeitnah Kundenauf-
trage zu erfüllen. Dabei werden schon heute Leistungen direkt beim Kunden
erstellt. Zudem sind die Kapazitäten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seit
geraumer Zeit zu mindestens 100% ausgelastet. Die Mitarbeiter sammeln da-
her in Stoßzeiten viele Überstunden an, die sich schwer „abbummeln“ lassen.
Der Möglichkeit für Weiterbildung und Wissensmanagement kann aus Zeit-
gründen kaum nachgegangen werden. Dies könnte in absehbarer Zeit zu
einem Problem für die Innovationsfähigkeit und Qualitätssicherung neuer Pro-
dukte werden. Die Nutzung fortschrittlicher IuK-Vernetzungen als Kommuni-
kations- und Steuerungsinstrument werden innerhalb des Unternehmens all-
täglich eingesetzt (Intranet). Die Nutzung des Internet scheitert bisher an den
Auftraggebern, da die Öffnung der jeweils eigenen Netzwerke den Geheim-
haltungsbedürfnissen der Kunden zuwider laufen. Hier gibt es auf absehbare
Zeit keine Möglichkeiten der Optimierung.
Während klassische Organisationsformen arbeitsteilige Aufgaben anhand von
räumlicher Nähe organisieren, impliziert das Prinzip der Entkopplung eine
erste Stufe der Virtualität, bei der die Wertschöpfung temporär oder auch dau-
erhaft an global verteilten Orten stattfinden kann. (siehe Kapitel 3.1.)
Mein Vorschlag ist als ersten Schritt traditionelle und virtuelle Elemente der
Arbeitsorganisation sinnvoll zu vermischen.
Dabei sollten Elemente der Telearbeit als alternierende Teleheimarbeit (siehe
4.3.1) auf freiwilliger Basis für die Mitarbeiter eingeführt werden. Die Einfüh-
rung von Zeitkonten, könnte die Weiterbildungsmöglichkeiten der Mitarbeiter
in ihre eigene Regie legen und die Fahrkosten zum Betriebsstandort vermin-
dern. Die Gestaltungsspielräume der Mitarbeiter würden sich vergrößern und
möglicherweise die Motivation zur kreativen Problemlösung und Zielerrei-
chung erhöhen.
Die konkreten Bestandteile des Modells sind in der nachfolgenden Abbildung
übersichtlich dargestellt.
Andrea Flügel 50
8 M i t a r b e i t e r I n n e nB ü r o a r b e i t s p lä t z e a l sT e le a r b e i t s p la t z u n d a r b e i t e n b e im K u n d e n
T e c h n ik a u s s t a t t u n gla p t o pI n t e r n e tI n t r a n e tT e le k o m m u n ik a t i o n T o o l s z u r S o f t w a r e -E n t w i c k l u n g
a r b e i t s t e i l ig e A r b e i t s o r g a n i s a t io nP r o j e k t l e i t u n g r o t i e r e n d , j e n a c h A u f t r a g
8 M i t a r b e i t e r I n n e nB ü r o a r b e i t s p lä t z e a l sT e le a r b e i t s p la t z u n d a r b e i t e n b e im K u n d e n
T e c h n ik a u s s t a t t u n gl a p t o pI n t e r n e tI n t r a n e tT e le k o m m u n ik a t i o n T o o l s z u r S o f t w a r e -E n t w i c k lu n g
a r b e i t s t e i l ig e A r b e i t s o r g a n i s a t io nP r o je k t l e i t u n g r o t i e r e n d , j e n a c h A u f t r a g
D i e F i r m a1 .
F l e x i b i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h i n t e r n e V i r t u a l i s i e r u n g
D i e F i r m aD i e F i r m a1 .1 .
F l e x i b i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h F l e x i b i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h i n t e r n e V i r t u a l i s i e r u n gi n t e r n e V i r t u a l i s i e r u n g T e l e a r b e i t : A r b e i t e n z u H a u s e b e iT e l e a r b e i t : A r b e i t e n z u H a u s e b e i
A u s b a u d e r t e c h n i s c h e n V e r n e t z u n g A u s b a u d e r t e c h n i s c h e n V e r n e t z u n g u n d K o m m u n i k a t i o n s f ä h i g k e i tu n d K o m m u n i k a t i o n s f ä h i g k e i t
E l e m e n t e d e r A r b e i t s o r g a n i s a t i o nE l e m e n t e d e r A r b e i t s o r g a n i s a t i o n
r e g e l m ä ß i g e A r b e i t s t r e f f e n r e g e l m ä ß i g e A r b e i t s t r e f f e n a m F i r m e n s i t za m F i r m e n s i t z
A b w e c h s e l n d A b w e c h s e l n d m g l wm g l w . r o t i e r e n d . r o t i e r e n d e i n b i s z w e i M A v o r O r te i n b i s z w e i M A v o r O r t
+ A d m i n i s t r a t i o n+ A d m i n i s t r a t i o n
U n v e r ä n d e r t e A r b e i t s v e r t r ä g e , a b e r U n v e r ä n d e r t e A r b e i t s v e r t r ä g e , a b e r A u s b a u d e r P r o j e k t d o k u m e n t a t i o nA u s b a u d e r P r o j e k t d o k u m e n t a t i o n
Quelle: eigene Darstellung
Aufgabenbereiche, die genügend klar spezifiziert sind, können verlagert wer-
den, so dass sie auch über räumliche Distanzen verteilt erstellt werden
können. Ziel ist hier auch die Zusammenarbeit in virtuellen Teams zu fördern.
Nicht nur aus Arbeitnehmersicht hätte dieser erste Schritt zur Virtualisierung
Vorteile. Auch das Unternehmen könnte Verpflichtungen zur Weiterbildung
(siehe auch Kapitel 2.4 und 3.4.1) verantwortlich in die Hände der Mitarbeiter
legen, die Selbstverantwortungsbereitschaft noch weiter erhöhen und eine
vertrauensbasierte Unternehmenskultur fördern, auch durch die Einführung
und Erprobung von Vertrauensarbeitszeit89. Diese Formen der Arbeitsgestal-
tung können ohne große Risiken erprobt werden. Die Mitarbeiter sind auch
jetzt schon mit den technischen Möglichkeiten zur Arbeit beim Kunden aus-
gestattet. Sie könnten durch relativ wenig Aufwand durch Elemente der visu-
ellen Kommunikation (bspw. Videokonferenzen) ergänzt werden.
Sinn und Zweck virtueller Teams ist die Dezentralisierung der Produktion und
eine anforderungsspezifische Ressourcenallokation. Dies erfordert die Zuwei-
sung von Autonomie und Selbstverantwortung an die dezentralisierten Ein-
heiten bzw. Mitarbeiter, wobei zentrale Steuerung durch Selbststeuerung er-
setzt wird.90
In der nachfolgenden Tabelle sind die Vorteile noch einmal kurz zusammen-
gefasst.
89 Vgl. Kapitel 3.3.2 90 vgl.: Orlikowski, Borris: Management virtueller Teams. Der Einfluss der Führung auf den Erfolg, Dissertation Universität Kiel, 2002, Wiesbaden 2002, S.118
Andrea Flügel 51
8 M ita r b e it e r In n e nB ü r o a r b e i t s p lä tz e a lsT e le a r b e it s p la tz u n d a r b e i te n b e im K u n d e n
T e c h n ik a u s s ta t t u n gla p to pIn te r n e tIn t r a n e tT e le k o m m u n ik a t io n T o o ls z u r S o f tw a r e -E n tw ic k lu n g
a r b e it s te i l ig e A r b e it s o r g a n is a t io nP r o je k t le itu n g r o t ie r e n d , je n a c h A u f t r a g
8 M ita r b e i te r In n e nB ü r o a r b e it s p lä tz e a lsT e le a r b e i t s p la tz u n d a r b e ite n b e im K u n d e n
T e c h n ik a u s s ta t tu n gla p to pIn te r n e tIn t r a n e tT e le k o m m u n ik a t io n T o o ls z u r S o f tw a r e -E n tw ic k lu n g
a r b e i t s te i l ig e A r b e i t s o r g a n is a t io nP r o je k t le i tu n g r o t ie r e n d , je n a c h A u f t r a g
D ie F i r m aF le x ib i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h
in t e r n e V i r t u a l is ie r u n g
D ie F i r m aD ie F i r m aF le x ib i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h F le x ib i l i t ä t s e r h ö h u n g d u r c h
in t e r n e V i r t u a l is ie r u n gin t e r n e V i r t u a l is ie r u n gK o s t e n e in s p a r u n g e nK o s t e n e in s p a r u n g e n
V o r t e i le f ü r M A u n d U n t e r n e h m e nV o r t e i le f ü r M A u n d U n t e r n e h m e n
U m w e l tU m w e l t
W e n ig e r U n t e r b r e c h u n g e n /W e n ig e r U n t e r b r e c h u n g e n /S t ö r u n g e n b e i k o n z e n t r a t io n sS t ö r u n g e n b e i k o n z e n t r a t io n s --
in t e n s iv e n A r b e i t e nin t e n s iv e n A r b e i t e n
H ö h e r e F le x ib i l i t ä t . . .?H ö h e r e F le x ib i l i t ä t . . .?
Quelle: eigene Darstellung Dieses Modell stellt aus meiner Sicht einen ersten Schritt und ein Übungsfeld
dar für eine Erweiterung der Stammbelegschaft durch Freiberufler und im
nächsten Schritt virtuelle Kooperationen mit Partnerfirmen dar. Diese Modell-
vorschläge finden sich im Folgenden näher erläutert.
4.5. Modellvorschlag 2: Die Firma bleibt hier und will expandieren und neue Geschäftsfelder identifizieren
Wie schon in Kapitel 3.3 erläutert gibt es für Kleinstunternehmen gute Gründe
sich Kooperationspartner auf Zeit für Großprojekte zu suchen. Aber auch für
die Entwicklung neuer Geschäftsfelder kann es gute Gründe geben nach
Partnern zu suchen deren Kernkompetenzen im eigenen Betrieb nicht vor-
handen und daher erst kostenintensiv erfunden werden müssen. In diesem
Fall soll unter Kooperation eine „Zusammenarbeit zwischen rechtlich und wirt-
schaftlich selbstständigen Unternehmen, die der Förderung eines gemeinsa-
men Zieles dient und durch wechselseitige Abstimmung (Koordination) oder
gemeinsame Erfüllung von Teilaufgaben erfolgt“,91 verstanden werden. Die
Förderung des gemeinsamen Ziels soll auf freiwilliger Basis vereinbart wer-
den.
91 Vornhusen, Klaus: Die Organisation von Unternehmenskooperationen – Joint Ventures und strategische Allianzen in Chemie- und Elektroindustrie, Frankfurt am Main 1994, S.29f, zit.nach: Rautenstrauch, Thomas, Generotzky, Lars und Tim Bigalke: Kooperationen und Netzwerke. Grundlagen und empirische Ergebnisse, Köln 2003, S.5f
Andrea Flügel 52
Chancen, Risiken und Grenzen von Kooperationen sind in der nachfolgenden
Tabelle kurz zusammengefasst:
Chancen Risiken Grenzen - Risikostreuung und
dadurch –minderung für einzelne Unter-nehmen
- Kostenvorteile (z.B. Verteilung von Ent-wicklungskosten)
- Ressourcenvorteile (z.B. durch Synergie-effekte)
- Zeitvorteile (z.B. durch Markterschlie-ßung)
- Konzentration auf individuelle Kern-kompetenzen
- Aufgabe eines Teils der wirtschaftlichen Selbstständigkeit in-nerhalb der Kooperati-onsfelder;
- Langfristige und res-sourcenbindende Ab-stimmungsprozesse und –kosten
- Keine alleinige Nut-zung des durch die Kooperation erzielten Gewinnes;
- Offenbarung von Betriebsinternas und –geheimnissen und die Gefahr des unkontrol-lierten Informationsab-flusses
- Keine Erfolgsgarantie möglich;
- Kein Ausschluss des unternehmerischen Ri-sikos durch eine Ver-teilung und Minderung des Risikos
- Kein Ausgleich für feh-lende Unternehmer-qualifikationen;
- Kein Sanierungsinstru-ment für Unternehmen in Krisensituationen
Quelle: in Anlehnung an Rautenstrauch, Thomas, Generotzky, Lars und Tim Bigalke: Kooperationen und Netzwerke. Grundlagen und empirische Ergebnisse, Köln 2003, S.105f
Noch einmal zur Erinnerung werden die Erfolgskriterien virtueller Zusammen-
arbeit konkretisiert:
- Virtualität bedeutet intern eine gleichberechtigte, nicht hierarchische
Zusammenarbeit mit starker räumlich unabhängiger Beziehungsgestal-
tung, und Vertrauen in die eigene Leistungserstellung, keine Standort und
– zeitbindung sowie die Integration durch Moderatoren. Eigenverantwort-
lichkeit und Selbsteinschätzung sind wichtige Merkmale der Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen
- nach außen bildet es für den Kunden eine transparente Hierarchie.
Gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Flexibilität, Variabilität,
Schnelligkeit und breite Kommunikation92.
Auf dieser Grundlage sieht der Modellvorschlag 2 folgendermaßen aus:
92 vgl. Kapitel 3.5
Andrea Flügel 53
Quelle: eigene Darstellung
Vor der Suche nach strategischen Partnern ist es die Aufgabe der Firma, neue
Geschäftsfelder zu suchen. Im Anschluss daran kann der Kooperationsbedarf
identifiziert werden und ein konkretes Anforderungsprofil des potentiellen
Partners erstellt werden. Bei der Partnersuche können verschiedene Medien
eine Hilfestellung sein, wie z. B.
- vorhandene Beziehungsgeflechte,
- Kooperationsbörsen der Industrie- und Handelskammern,
- Technologietransferzentren der Universitäten,
- Regionale Entwicklungsagenturen (in Niedersachsen z.B. RESON),
- und natürlich das Internet93.
Bei Kooperationen von selbstständigen Unternehmen handelt es sich um
einen dynamischen Prozess, der nur bis zu einem gewissen Grad planbar ist.
Die von Rautenstrauch (2003) vorgeschlagenen Handlungsempfehlungen für
das Kooperationsmanagement sind für Klein- und Mittelunternehmen gedacht
und als Leitlinie aufzufassen (vgl. nachfolgende Tabelle).
Die Autoren beschreiben die zu durchlaufenden Phasen zur Initiierung, For-
mierung, Führung und Beendigung virtueller Kooperationspartnerschaften.
93 Beispielhaft ist im Internet ein Kompetenzzentrum Netzwerkmanagement zu finden, die z.B. Checklisten für Kooperationsvereinbarungen und –verträge anbieten. (http://www.kompetenzzentrumnetzwerkmanagement.de)
Neue Geschäfts-
felder identifizieren
+ Strategische
Partner suchen
Die Firma
Koope-rations-partner
Koope-rations-partner
Moderation
Klare „Spielregeln“
Gemeinsame Interessen formulieren
Virtuelle Strukturen
Vertrauen aufbauen
Andrea Flügel 54
Ein zentraler Baustein von Kooperationen ist der Aufbau von Vertrauen sowie
die Entwicklung von Spielregeln für kooperatives Verhalten, woraus Verhal-
tensrichtlinien abgeleitet werden können.
Die Herstellung von Vertrauen ohne direkte Kenntnisse über die Partner kann
funktionieren durch die Gewährung eines Vertrauensvorschusses, der sich
aus anderen positiven Situationen speist und dann im Erfolgsfall nach und
nach bestätigt wird.94
Kick-off-Meetings oder andere Möglichkeiten sich persönlich kennen zu ler-
nen (Zweckbestimmte Identitätsstiftende Maßnahmen) erhöhen die Erfolge
virtueller Teams. Ebenso wichtig sind regelmäßiges Feedback und Mitgestal-
tungsmöglichkeiten bei der Zweckdefinition95.
Phase 1:Phase 1:InnitiierungInnitiierung
Phase 2:Phase 2:FormierungFormierung
Phase 3:Phase 3:FührungFührung
Phase 4:Phase 4:BeendigungBeendigung
1.1 Kooperationsbedarf identifizieren1.1 Kooperationsbedarf identifizieren1.2. Kooperationsziele definieren1.2. Kooperationsziele definieren1.3. Eigen- u. Fremdleistungen innerhalb der Kooperation aufteilen1.3. Eigen- u. Fremdleistungen innerhalb der Kooperation aufteilen1.4. Anforderungsprofil potenzieller Partner beschreiben1.4. Anforderungsprofil potenzieller Partner beschreiben1.5. Partnersuche und -1.5. Partnersuche und -auswahlauswahl
2.1 Ziele und Inhalte der Kooperation abstimmen2.1 Ziele und Inhalte der Kooperation abstimmen2.2 Kooperationsarchitektur festlegen und – 2.2 Kooperationsarchitektur festlegen und – vereinbarungenvereinbarungen treffen treffen2.3 Kooperationsmanagement initiieren2.3 Kooperationsmanagement initiieren
3.1 Beteiligte Personen auf die Kooperation vorbereiten3.1 Beteiligte Personen auf die Kooperation vorbereiten3.2 Kooperationsplanung, -3.2 Kooperationsplanung, -steuerung steuerung und –und –kontrolle kontrolle durchführendurchführen3.3 Controlling in Unternehmenskooperation/ -3.3 Controlling in Unternehmenskooperation/ -netzwerkennetzwerken3.4 Krisen-/ Konfliktmanagement und Wissensmanagement als3.4 Krisen-/ Konfliktmanagement und Wissensmanagement als Herausforderungen Herausforderungen
4.1 Ursachen der Kooperationsbeendigung identifizieren und 4.1 Ursachen der Kooperationsbeendigung identifizieren und analysieren analysieren4.2 Beendigungsmaßnahmen durchführen und kommunizieren4.2 Beendigungsmaßnahmen durchführen und kommunizieren
Quelle (leicht modifiziert): Rautenstrauch, Thomas, Generotzky, Lars und Tim Bigalke: Kooperationen und Netzwerke. Grundlagen und empirische Ergebnisse, Köln 2003, S.101
94 vgl.: Orlikowski, Borris: Management virtueller Teams. Der Einfluss der Führung auf den Erfolg, Dissertation Universität Kiel, 2002, Wiesbaden 2002, S.26 95 vgl.: Orlikowski, a.a.O., S.120
Andrea Flügel 55
4.6. Modellvorschlag 3: Wechsel des Wohnsitzes des GF ins Ausland
Bei diesem Modell ist es das Ziel, eine virtuelle Unternehmensorganisation96
zu entwickeln, bei der die Modelle 1 und 2 zusammenfließen müssten. Das
hätte allerdings eine gute Vorbereitung zur Voraussetzung. Zunächst müsste
m.E. Modell 1 umgesetzt werden, um eine neue Aufgaben- und prozessbezo-
gene Integration der Arbeitsplätze aufzubauen. Der begonnene Weg der
Entwicklung einer Projektdokumentation, die es jedem Mitglied des Projektes
ermöglicht auch ohne Anwesenheit der Projektleitung, den Stand der Dinge zu
erfahren ist dabei auszubauen. Die Möglichkeiten von Informations- und
Kommunikationstechnologien, wie Videokonferenzen in den Alltag einzu-
bauen, sind dann nicht eine Kann- Leistung sondern müssten zum Standard
werden. Das würde zwar die Reisetätigkeiten der Mitarbeiter und auch des
Geschäftsführers nicht überflüssig machen aber auf ein Minimum beschrän-
ken. Vor allem für Kundenkontakte, die immer noch überwiegend im direkten
Gespräch erfolgreicher sind, ist die Anwesenheit des Chefs oder/ und der
Projektleitung natürlich unverzichtbar. Die Mitarbeiter könnten mit den Erfah-
rungen aus mehr eigenverantwortlicher Arbeit aus den ersten Virtualisie-
rungschritten ihre Kompetenzen stetig erweitern. Die nötigen Absprachen mit
der Geschäftsführung könnten mittels Videokonferenzen regelmäßig erfolgen.
Da, wie oben festgestellt, Telearbeit orts- und zeitunabhängig gestaltet wer-
den kann, ist gegen einen Umzug ohne Verlagerung des Firmensitzes nichts
einzuwenden.
Grundlage ist Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und die der Mitar-
beiter und Mitarbeiterinnen und die Verbindlichkeit von Absprachen. Vielleicht
ist hier die Ergänzung durch eine den Firmengegebenheiten angepasste
leistungsabhängige Entlohnung ein kreatives Anreizsystem für die Mitarbei-
terführung.
96 Eine virtuelle Organisation ist ein Temporärer Netzwerkverbund, zur Erbringung einer bestimmten wirtschaftlichen Leistung, unter Nutzung informationstechnischer Möglichkeiten (vgl. Kapitel 3.1)
Andrea Flügel 56
Quelle: eigene Darstellung
Die drei Modelle bilden ein aufeinander aufbauendes System der Umgestal-
tung von traditioneller zu virtueller Arbeits- und Unternehmensorganisation.
Sie lassen sich aber auch unabhängig voneinander in anderer Modulkombina-
tion umsetzen.
Die Methode der Umsetzung sollte eine sinnvolle Verknüpfung von Change-
managementprozessen und Organisationsentwicklungsbausteinen enthal-
ten.97
Kernanliegen der Organisationsentwicklung sind:
• die kulturelle Identität der sich entwickelnden Organisation bewahren,
• Betroffene zu Beteiligten machen, sie in die Entwicklung und Umset-
zung von Lösungen einzubinden, sowie
• Veränderungsmaßnahmen kontinuierlich und prozesshaft zu gestalten
und zu steuern.
Im Gegensatz dazu werden Changemanagement- Methoden eingesetzt, um
tiefgreifende, sprunghafte Umwälzungen oder Krisen zu bewältigen.98 Motor
für Veränderung ist hier nicht mehr das Reflexionspotential der betroffenen
Organisationsmitglieder, sondern die Energie der Führungskräfte, die den
Wandel betreiben.
97 vgl.: Janes, Alfred, Prammer, Karl und Michael Schulte- Derne: Transformations- Management. Organisationen von Innen verändern, Wien usw. 2001, S.3ff 98 Beispielhaft lässt sich hier die Krise der amerikanischen und europäischen Automobilindustrie in den 90er Jahren oder die harten Einschnitte in die Organisationen bei der Privatisierung von der Deutschen Post oder British Airways, anführen.
Konflikt-manage-
ment
Koope-rations-partner
Koope-rations-partner
Koope-rations-partner
Vertrauensbasierte Zusammenarbeit intern und extern
Koope-rations-partner
definierte Spielregeln
Effektiver Einsatz der IuK- Techno-logien
Der vernetzte Geschäfts-
führer
Integrierte Prozess- u. Aufgabenstruktur
Moderato-rInnen
Die Firma
Definier-te Ge-schäfts-felder
Die Firma Die Firma
Andrea Flügel 57
Eine externe Unterstützung bei der Umsetzung oder eine professionelle Mo-
deration des Umsetzungsprozesses scheint mir empfehlenswert.
In der folgenden Abbildung ist ein mögliches Zukunftsbild der Firma A. bildlich
dargestellt.
Die Firma 2006
Flexibilitätserhöhung Flexibilitätserhöhung durch durch
interne interne VirtualisierungVirtualisierung
Neue Geschäftsfelder Neue Geschäftsfelder durch durch
virtuelle virtuelle KooperationenKooperationen
Umzug Umzug des des
GeschäftsführersGeschäftsführersins ins
europäische Auslandeuropäische Ausland
Beibehaltung Beibehaltung des des
GeschGeschääftssitzes in ftssitzes in DeutschlandDeutschland
Quelle: eigene Darstellung
Andrea Flügel 58
5. Schlussbetrachtungen - Fazit
Meinem Erkenntnisinteresse lag die These zu Grunde, dass sich die Entwick-
lung der Arbeits- und Unternehmensorganisation nicht grundsätzlich von der
Entwicklung der Gesellschaft unterscheidet und die Zeit reif ist, konkreter und
vermehrt über die Umsetzung der vorhandenen virtuellen Möglichkeiten in die
Arbeitswelt nachzudenken. Die Informations- oder Netzwerkgesellschaft als
zentrales Leitbild des 21. Jahrhunderts wird in der sozialwissenschaftlichen
Literatur mit sich teilweise widersprechenden Szenarien beschrieben. Die ge-
sellschaftliche Entwicklung in Richtung Globalisierung und Individualisierung
trägt zur Auflösung traditioneller Erwerbs- und Lebensbiographien bei. Die
Möglichkeiten und Optionenvielfalt der Menschen in der westlichen Welt ist
anscheinend noch nie so groß gewesen wie heute.
Luhmann sagt dazu, dass Änderungen in Medien und Kommunikationstechni-
ken keine marginalen Veränderungen sind. „Das System der Gesellschaft besteht aus Kommunikation. Es gibt keine an-
deren Elemente, keine weitere Substanz als eben Kommunikation. Die Ge-
sellschaft besteht nicht aus menschlichen Körpern und Gehirnen. Sie ist
schlicht ein Netzwerk von Kommunikationen. Wenn sich daher Medien und
Kommunikationstechniken ändern, (…) dann werden neue Strukturen möglich
und vielleicht notwendig, um die neue Komplexität zu bewältigen.“99
Zu Beginn der Virtualisierungsdiskussion wurden vor allem positive Effekte
beschrieben, wie die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die Möglichkeiten ver-
trauensbasierter, selbstverantwortlicher und hochqualifizierter Arbeit, die Ver-
netzung mit Kooperationspartnern und damit die Erschließung neuer Produkte
und Märkte.
Die neueste Literatur ist gekennzeichnet durch eine größere negative Sicht-
weise auf die Risiken einer solchen Entwicklung vor allem für die Arbeitsbe-
ziehungen und die Entgrenzung von Arbeitszeit.
Hier wird auf die Gefahr des Abbaus von Stammbelegschaften und die Margi-
nalisierung des Normalarbeitsverhältnisses hingewiesen und ein Anstieg 99 Luhmann, 1989, a.a.O., zitiert nach: Diemers, Daniel: Die virtuelle Triade. Cyberspace, Maschinenmensch und künstliche Intelligenz, Bern usw., 2002, S.70
„Wir können nur sicher sein, dass wir nicht sicher sein können, ob irgendetwas von dem, was wir als
vergangen erinnern, in der Zukunft so bleiben wird, wie es war.“ (Niklas Luhmann)
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(Schein-)Selbstständiger und freiberuflich arbeitender Menschen befürchtet.
Die Forderung nach individueller Mobilität und Flexibilität wird kritisch bewer-
tet, weil sie hochqualifizierte, gut gebildete und mobile Menschen bevorzugt,
für die Mobilität im Rahmen von Globalisierung und Informationsgesellschaft
zum Synonym für einen zeitgemäßen Arbeits- und Lebensstil wird. Negative
Auswirkungen auf das Gemeinwesen sowie die sozialen Beziehungen und
Familienstrukturen stehen im Mittelpunkt dieser Kritik.
Positive Auswirkungen können so sehr schwer ausgemacht werden. Dabei
gerät die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Gegenläufigkeit, die sozialem
und gesellschaftlichem Wandel immanent anhaftet, oft genug aus dem Blick.
Hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nutzen die neuen
Kommunikationsmedien als selbstverständliche Ressource und suchen eine
sinnhafte Beschäftigung, die Arbeitszeit und Freizeit sinnvoll verknüpfen hilft.
Sieht man Virtualisierungsbestrebungen aus diesem Blickwinkel, halten sich
beide Seiten der Medaille die Waage. Es kommt also auf die Gestaltung und
auf die Thesen an, die ihr zugrunde liegen. Eine einseitige Ausrichtung auf
Flexibilität, Mobilität und effektive Zeitausnutzung oder auch nur Aspekte der
Erhöhung von Lebensqualität sind hierfür nicht ausreichend.
Die Modellvorschläge zur Einbindung von Virtualisierungsbestandteilen in die
Unternehmensorganisation der Firma A. versuchen diese win – win Orientie-
rung im Auge zu behalten. Dabei wurde in Gesprächen mit Mitarbeitern und
Mitarbeiterinnen deutlich, dass sowohl die Erhöhung von Entscheidungsspiel-
räumen als auch der sichere Arbeitsplatz hohe Güter sind, die nicht aufgege-
ben werden wollen. Die Möglichkeiten Entlohnung durch Erfolgsbeteiligungen
(wie Zeitgutscheine, Erfolgsprämien oder Gewinnbeteiligung) zu ergänzen,
scheint aber durchaus Interesse geweckt zu haben.
Virtualitätskonzepte kombinieren die Bildung von Netzwerken und der neuen
Informations- und Kommunikationssysteme zu konstruktiven Modellen von
Arbeits- und Unternehmensorganisation.
Der Aspekt, der bei der neueren Literatur im Mittelpunkt steht, sind die Gefah-
ren durch Vereinzelung, Vereinsamung und entgrenzter Zeit hochqualifizierter
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Sicher sind diese Risiken vorhanden und ja auch teilweise empirisch unter-
mauert. Solange aber lange Arbeitszeiten gesellschaftlich ein hohes Ansehen
genießen, Familienzeiten und soziales Engagement hingegen kaum, wird eine
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Diskussion über eine andere Verteilung von Zeit in demokratischen Gesell-
schaften wohl Kosmetik bleiben. Die Verbindung von engagierter selbstbe-
stimmter Arbeit und einer Einbindung in soziale Geflechte von Nachbarschaft,
Kommune etc. bleibt dann vielleicht eine Utopie. Zivilgesellschaft ohne Teil-
nehmer oder Demokratie ohne Bürger und Familien ohne Eltern, könnten das
negative Zukunftsszenario sein.
Hier bedarf es Anpassungsbewegungen, die eine grundsätzliche Diskussion
über Arbeit als Erwerbsarbeit und Bürgerarbeit weiterführen. Der New work
Ansatz von Frithjof Bergmann oder die Diskussion um Bürgerarbeit von Beck
sind dazu Ansätze. Die Frage wie sich diese Gesellschaft weiterentwickeln
soll, ist dazu zentral.
Ich möchte nicht sagen, dass Virtualisierungskonzepte die einzige Möglichkeit
sind, die „Welt“ zu verändern. Aber sie bieten Ansatzpunkte für eine produk-
tive Verknüpfung von Erwerbsarbeit und Freizeit.
Enden möchte ich mit einer Handlungsempfehlung von Wüthrich u.a. (2002):
o „Geht nicht gibt’s nicht!
o Wer nie aus dem Rahmen fällt, kann keine neuen Bilder erzeugen.
o Es gibt viel mehr Denkzwänge als Sachzwänge.“100
100 Wüthrich, Hans A., Winter Wolfgang und Andreas F. Philipp: Die Rückkehr des Hofnarren. Einladung zur Reflexion nicht nur für Manager, Herrsching am Ammersee, 2. durchges. Aufl. 2002, S.131
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Dank Besonderer Dank gilt Herrn Ralf Uetze für die Ermöglichung und kreative
Unterstützung bei den Expertengesprächen in seinem Unternehmen. Es er-
möglichte eine praktische Sicht auf die Dinge.
Desweiteren möchte ich mich bei meinem Mann Carsten Böger bedanken für
die ständige Unterstützung bei den back office Aktivitäten und seiner Geduld
während des gesamten Studiums, dem technischen Support und immerwäh-
render Gesprächsbereitschaft zu allen erdenklichen Zeiten vor allem bei
„Sackgassen“, der emotionalen Unterstützung und natürlich auch für seinen
fachlichen Rat.
Meiner Freundin und Kollegin Christina Piper möchte ich danken für die kon-
struktiven Gespräche, die analytischen Bemerkungen und dem Korrekturle-
sen. Meiner Kollegin Tanja Hollemann danke ich für die grammatische Über-
arbeitung, trotz sehr kurzfristiger Termine.
Zu guter Letzt möchte ich mich bei Herrn Dr. Philipp bedanken, der mir einen
positiven Blick auf das Thema ermöglicht hat. Seine Seminar- Veranstaltung
hat mich so motiviert, dass ich diesem Thema sicher auch noch nach dieser
Arbeit verfallen bleibe.
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