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Jazz nie gilt als Zeichen der Selbstsicherheit im histori- schen Prozeß, der nun nicht mehr ausschließlich im Pathos von Aufbruch, Aufbau und Ankunft darge- stellt wird. Doch zeigen, wie die Kritik an F. R. Fries, G. Kunert, I. Morgner belegt, Literaturpolitik und Literaturkritik auch nach 1965/66 noch Zurückhaltung gegenüber einer entschiedenen iro- nischen Distanzierung oder Verfremdung des All- tags der DDR in der Literatur. Erst in den 70er Jahren wird der durchgehende ironische Stil bei gesicherter Parteilichkeit als dialektisch-objektives Verfahren zu einer differenzierten literarischen Aneignung von Wirklichkeit akzeptiert. An V. Braun oder J. Bobrowski werden die Leistungen ironischer Verfremdung der Gegenwart und ironi- scher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gerühmt; literarische I. ermögliche ein produktives und erkenntnisreiches Verhalten gegenüber den überwundenen gesellschaftlichen Widersprüchen und gegenüber denen, die noch zu überwinden seien. Sie »hilft, einen differenzierten und sachlich- analysierenden Blick auf die wirklichen Widersprü- che der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung freizugeben« (U. Reinhold, a.a.O., S. 100). Ch. Wolfs Erzählungen »Unter den Linden« (1975) markieren in der ironischen Steigerung bedrohli- cher Elemente in der Wirklichkeit der DDR die noch nicht eingelösten Erwartungen des Indivi- duums an die sozialistische Gesellschaft. Die ironi- sche Verfremdung der sozialen Realität in I. Morg- ners » Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz« (1975) ermöglicht literarisch eine Kontrolle von Anspruch und Wirklichkeit, ohne jedoch die Positi- vität der sozialistischen Gesellschaft grundsätzlich in Frage zu stellen. In der Alltagspraxis ironischer Rede und ironischer Verfahren, in den Gebrauchs- texten für Rundfunk und Fernsehen, für das -^•Kabarett und die Bunten Abende werden die Ansprüche der Partei auf Führungsautorität und »planmäßige« Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft vielfach ironisch relativiert. Scheint in der DDR mit der verengenden Festle- gung von I. als Mittel satirischer oder humoristi- scher Aneignung der Wirklichkeit die Diskussion insgesamt noch nicht abgeschlossen zu sein, so wird in der Bundesrepublik das Phänomen der I. vor allem in seinen unterschiedlichen literaturkritischen und literaturtheoretischen Perspektiven vielfach erörtert. Neben Verfahren, die I. in ihrer Strategie als Sprechhandlung zu erklären, stehen Untersu- chungen im Vordergrund, die sich auf die histori- sche Entwicklung der Ironiekonzepte beziehen. Die gesellschaftliche und politische Bedeutung literari- scher Aspekte der I. im Verhältnis zu ironischen Verhaltensweisen im Alltag, beispielsweise in den Medien, in der—»- Werbung, in der politischen Rede, wird jedoch nur am Rande angesprochen. J. Schönen Literatur B. Allemann, I. und Dichtung, Pfullingen 1956 W. Preisendanz, R. Warning (Hrsg.), Das Komische, Mün- chen 1976, darin: W. D. Stempel, I. als Sprechhandlung, S. 205-235, und D. Wellershoff, Schöpferische und mechani- sche I., S. 423-425 A. P. Frank, Zur historischen Reichweite literarischer Iro- niebegriffe, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 30/31,1978, S. 84-104 M. Walser, Selbstbewußtsein und I. Frankfurter Vorlesun- gen, Frankfurt a. M. 1981 Jazz Historisch umfaßt der J. von seinen afroamerikani- schen Anfängen im Hot Play bis zu seinen heute weltweit praktizierten Stil- und Mischformen eine musikalische Entwicklung, deren Umfang und Viel- falt einen Oberbegriff so wenig zuläßt, wie etwa die vielfältigen Formen der europäischen Musiktraditi- on. Im Unterschied zur Musik der europäischen Kulturen ist die Geschichte des J. nicht schriftlich bewahrt, sondern wird in der schwarzen Bevölke- rung Amerikas mündlich überliefert und in den Aufnahmen der elektronischen Massenmedien Schallplatte, Magnetband und Film festgehalten. Über die mündliche Tradition des J. sind für die Zeit vor 1900 nur Mutmaßungen möglich. So beginnt die Geschichte des J. allgemein mit dem Aufkom- men der Tonträger. Seine Wirkung verläuft dagegen als ein Moment der Akkulturation verschiedener gesellschaftlicher Bereiche unabhängig von der musikalischen Geschichte des J. und kann aufgrund der Vermittlung durch die populäre Kultur, ein- schließlich der —»Schlager und Volksmusikreste, kaum im einzelnen bestimmt werden. J. ist eine zeitgenössische Musizierweise, deren Ursprünge in der Musik der nach Amerika ver- schleppten Afrikaner liegen. Diese originären Ein- flüsse machen sich noch heute in der rhythmischen Basis des J. geltend, in dem die Taktzeit jeweils verschieden betonenden beat des Schlagzeugs, das der europäischen Tradition fremd ist. Hierzu gehö- ren auch die individuellen und stiltypischen Ausbil- dungen der Phrasierung und Tonalität, die nicht mehr an die europäische Halbtonschrift gebunden sind. Die beiden weiteren Charakteristika des J., die für die einzelnen Stile jeweils typische Metrik und die individuelle oder kollektive Improvisation, kön- nen schon eher auf europäische Einflüsse zurückge- führt werden. Sie beziehen ihre Vorbilder aus den Liedschemata und freien Kadenzen, wie sie ebenso auf die kultischen Metrik- und Improvisationssche- mata der afroasiatischen Musik verweisen. Der J. ist eine Mischform aus Elementen sowohl afrikani- schen als auch europäischen Ursprungs, und als 287

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Jazz

nie gilt als Zeichen der Selbstsicherheit im histori-schen Prozeß, der nun nicht mehr ausschließlich imPathos von Aufbruch, Aufbau und Ankunft darge-stellt wird. Doch zeigen, wie die Kritik an F. R.Fries, G. Kunert, I. Morgner belegt, Literaturpolitikund Literaturkritik auch nach 1965/66 nochZurückhaltung gegenüber einer entschiedenen iro-nischen Distanzierung oder Verfremdung des All-tags der DDR in der Literatur. Erst in den 70erJahren wird der durchgehende ironische Stil beigesicherter Parteilichkeit als dialektisch-objektivesVerfahren zu einer differenzierten literarischenAneignung von Wirklichkeit akzeptiert. An V.Braun oder J. Bobrowski werden die Leistungenironischer Verfremdung der Gegenwart und ironi-scher Auseinandersetzung mit der Vergangenheitgerühmt; literarische I. ermögliche ein produktivesund erkenntnisreiches Verhalten gegenüber denüberwundenen gesellschaftlichen Widersprüchenund gegenüber denen, die noch zu überwindenseien. Sie »hilft, einen differenzierten und sachlich-analysierenden Blick auf die wirklichen Widersprü-che der sozialistischen Gesellschaftsentwicklungfreizugeben« (U. Reinhold, a.a.O., S. 100). Ch.Wolfs Erzählungen »Unter den Linden« (1975)markieren in der ironischen Steigerung bedrohli-cher Elemente in der Wirklichkeit der DDR dienoch nicht eingelösten Erwartungen des Indivi-duums an die sozialistische Gesellschaft. Die ironi-sche Verfremdung der sozialen Realität in I. Morg-ners » Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz«(1975) ermöglicht literarisch eine Kontrolle vonAnspruch und Wirklichkeit, ohne jedoch die Positi-vität der sozialistischen Gesellschaft grundsätzlichin Frage zu stellen. In der Alltagspraxis ironischerRede und ironischer Verfahren, in den Gebrauchs-texten für Rundfunk und Fernsehen, für das-^•Kabarett und die Bunten Abende werden dieAnsprüche der Partei auf Führungsautorität und»planmäßige« Entwicklung der sozialistischenGesellschaft vielfach ironisch relativiert.

Scheint in der DDR mit der verengenden Festle-gung von I. als Mittel satirischer oder humoristi-scher Aneignung der Wirklichkeit die Diskussioninsgesamt noch nicht abgeschlossen zu sein, so wirdin der Bundesrepublik das Phänomen der I. vorallem in seinen unterschiedlichen literaturkritischenund literaturtheoretischen Perspektiven vielfacherörtert. Neben Verfahren, die I. in ihrer Strategieals Sprechhandlung zu erklären, stehen Untersu-chungen im Vordergrund, die sich auf die histori-sche Entwicklung der Ironiekonzepte beziehen. Diegesellschaftliche und politische Bedeutung literari-scher Aspekte der I. im Verhältnis zu ironischenVerhaltensweisen im Alltag, beispielsweise in denMedien, in der—»- Werbung, in der politischen Rede,wird jedoch nur am Rande angesprochen.

J. Schönen

LiteraturB. Allemann, I. und Dichtung, Pfullingen 1956W. Preisendanz, R. Warning (Hrsg.), Das Komische, Mün-chen 1976, darin: W. D. Stempel, I. als Sprechhandlung, S.205-235, und D. Wellershoff, Schöpferische und mechani-sche I., S. 423-425A. P. Frank, Zur historischen Reichweite literarischer Iro-niebegriffe, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft undLinguistik, H. 30/31,1978, S. 84-104M. Walser, Selbstbewußtsein und I. Frankfurter Vorlesun-gen, Frankfurt a. M. 1981

Jazz

Historisch umfaßt der J. von seinen afroamerikani-schen Anfängen im Hot Play bis zu seinen heuteweltweit praktizierten Stil- und Mischformen einemusikalische Entwicklung, deren Umfang und Viel-falt einen Oberbegriff so wenig zuläßt, wie etwa dievielfältigen Formen der europäischen Musiktraditi-on. Im Unterschied zur Musik der europäischenKulturen ist die Geschichte des J. nicht schriftlichbewahrt, sondern wird in der schwarzen Bevölke-rung Amerikas mündlich überliefert und in denAufnahmen der elektronischen MassenmedienSchallplatte, Magnetband und Film festgehalten.Über die mündliche Tradition des J. sind für die Zeitvor 1900 nur Mutmaßungen möglich. So beginntdie Geschichte des J. allgemein mit dem Aufkom-men der Tonträger. Seine Wirkung verläuft dagegenals ein Moment der Akkulturation verschiedenergesellschaftlicher Bereiche unabhängig von dermusikalischen Geschichte des J. und kann aufgrundder Vermittlung durch die populäre Kultur, ein-schließlich der —»Schlager und Volksmusikreste,kaum im einzelnen bestimmt werden.

J. ist eine zeitgenössische Musizierweise, derenUrsprünge in der Musik der nach Amerika ver-schleppten Afrikaner liegen. Diese originären Ein-flüsse machen sich noch heute in der rhythmischenBasis des J. geltend, in dem die Taktzeit jeweilsverschieden betonenden beat des Schlagzeugs, dasder europäischen Tradition fremd ist. Hierzu gehö-ren auch die individuellen und stiltypischen Ausbil-dungen der Phrasierung und Tonalität, die nichtmehr an die europäische Halbtonschrift gebundensind. Die beiden weiteren Charakteristika des J., diefür die einzelnen Stile jeweils typische Metrik unddie individuelle oder kollektive Improvisation, kön-nen schon eher auf europäische Einflüsse zurückge-führt werden. Sie beziehen ihre Vorbilder aus denLiedschemata und freien Kadenzen, wie sie ebensoauf die kultischen Metrik- und Improvisationssche-mata der afroasiatischen Musik verweisen. Der J. isteine Mischform aus Elementen sowohl afrikani-schen als auch europäischen Ursprungs, und als

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Jazz

eine seiner ersten Formen gilt das Hot Play, das»heiße«, schnelle und schräge Musizieren vonLändlern, Walzern, Quadrillen und anderen euro-päischen Tänzen aus Frankreich, Italien und Eng-land.

Von den vielfältigen Frühformen des J. kam etwaum 1910 zunächst nur der Ragtime nach Deutsch-land. Mit dem »Tiger Rag« erschien 1919 auf»Homakord« die erste deutsche Jazzplatte. Rag, einschnell gespielter, synkopierter, der Form nach denPolkas und Märschen ähnlicher Viertelnotenbeat,galt allerdings zu Beginn der 20er Jahre in Deutsch-land lediglich als eine unter anderen Formen derTanzmusik.

Insofern J. vor allem eine individuelle Spielweiseist, beginnt seine Geschichte auch in Deutschlandmit den Namen stilprägender Bands und Band-leader. E. Borchard (Klarinette) und seine »Jazz-band« begründeten mit Auftritten in den BerlinerTanzpalästen und zahlreichen Schallplattenaufnah-men zwischen 1920 und 1925 die besondere deut-sche Geschichte des J. Sie ist bis heute durch ihregeringe Selbständigkeit geprägt, da zumeist die imUrsprungsland Amerika entwickelten Stile undSpielweisen übernommen wurden. Nach dem Zer-fall der »Borchard-Jazz-Band« wurde der J. voneiner Vielzahl weiterer Tanzorchester wie der»Fred-Ross-Jazz-Band«, der »Diamond-King-Jazz-Band« und den legendären »Weintraub Syn-kopeters« übernommen. Zwischen 1920 und 1930erschienen mehr als 160 Jazzplatten. Der Jazzhisto-riker H. H. Lange nennt dieses Jahrzehnt denn auchdas »Goldene Jazz-Zeitalter« in Deutschland.

Die 30er Jahre zeigen vor allem mit dem Aufkom-men des Swing international die musikalische Aus-breitung und Intensivierung des J. Dieser Stil, dervor allem mit den Namen Count Basies und B.Goodmans verbunden ist, beruht auf einem Viertel-notenbeat, der durch einen »walking bass«, eineSchlagzeugakzentuierung der ungeraden Taktzeitenund halbtaktigen Akkordfortgänge gekennzeichnetist. Die Hochphase der Ära des Swing fiel jedoch indie Zeit des Nationalsozialismus, in der J. als eineMusik galt, die dem deutschen Wesen »artfremd«sei. Schon in den ersten Monaten des Jahres 1933mußte die erste und einzige, 1928 an einem Frank-furter Konservatorium gegründete Jazzklasse aufBetreiben der Nationalsozialisten schließen. Aller-dings wurden die inzwischen überaus populärenJazzer wie T. Stauffer, W. Eisbrenner, K. Widmann,F. Thon, A. Ludskowski, W. Berking, F. Schultz-Reichel nicht sofort mit Spielverbot belegt. Sie durf-ten, trotz aller offiziellen Achtung des als »verjudeteNigger-Musik« denunzierten J., weiterspielen undkonnten sich immerhin in ersten Jazzclubs zusam-menschließen. Mit Kriegsbeginn 1939 aber wuch-sen die praktischen Schwierigkeiten, die eine geord-nete Entwicklung nicht mehr zuließen. Es wäre den-noch »purer Unsinn und leicht widerlegbar, wenn

heute behauptet wird, Deutschland sei zwischen1933 und 1939 vom J. und Swing völlig abgeschnit-ten gewesen. Wer sich für diese Musik interessierte,konnte alles bekommen, was er nur wollte« (H. H.Lange, S. 89). Von den kriegsbedingten Einschrän-kungen abgesehen, konnten die Musiker der zwei-ten deutschen Jazzgeneration, zu der neben denschon genannten auch K. Edelhagen, M. Greger, G.Fuhlisch, W. Dobschinski und H. Zacharias zählen,nach 1945 wieder dort beginnen, wo sie vor demKrieg aufgehört hatten. Die Vorkriegszentren des J.,Berlin und Frankfurt, erreichten schnell wieder ihrealte Bedeutung. Nun wurden aber auch die neuge-gründeten Tanzorchester populär, deren Leiter undSolisten sich aus den Jazzmusikern der Vorkriegs-zeit rekrutierten und neben ihrer Verpflichtung zurgefälligen Unterhaltungsmusik den Big-Band-Jazzpflegen konnten. W. Müller wurde Leiter des»ÄL4S-Tanzorchesters«, K. Edelhagen gründeteein Orchester im Bayrischen Rundfunk, E. Lehn das»Süd/unfc-Tanzorchester«, F. Thon erhielt die Lei-tung des Rundfunktanzorchesters des NWDR. Orteder Auseinandersetzung mit der jeweils aktuellenEntwicklung des J. aber waren sowohl die zahlrei-chen Jazzclubs als auch Gaststätten und Bars, indenen vor allem junge Jazzmusiker im ersten Nach-kriegsjahrzehnt für wenig Geld »tingelten«, in einerZeit, die auch als »Kellerghetto« des J. bezeichnetwird. Wichtige Anreger des West Jazz waren zudemdie Tourneen der amerikanischen Jazzgrößen L.Hampton, St. Kenton oder D. Brubeck, die stets inausverkauften Hallen stattfanden. Der erste Aus-tausch unter Jazzmusikern der Bundesrepublikwurde durch die schon in den 50er Jahren von F.Rau durchgeführten Tourneen gefördert. DieserAufbruch des modernen J., der immerhin viele,auch international anerkannte Jazzmusiker wie A.Mangelsdorf (Posaune), A. v. Schlippenbach (Kla-vier), K. Doldinger (Saxophon), E. Weber (Baß), M.Schoof (Trompete) hervorbrachte, wurde unterbro-chen, als weltweit eine neue Generation sich zuartikulieren begann und der Rock and Roll und dieBeatles triumphierten.

Der J. befand sich auch in der Bundesrepublikplötzlich in der Lage des quasi Etablierten, deskünstlerisch Wertvollen (vgl. M. Naura, 1979). Fürden J. nach dem Krieg läßt sich festhalten, daß er,bis auf die Beeinflussung jugendlicher studenti-scher Randgruppen in den 50er Jahren, als sozialpo-litisches Phänomen im Sinne einer durch ihn her-vorgerufenen Änderung von Wahrnehmungsfor-men oder Verhaltensweisen größerer Gruppen derBevölkerung keine oder doch nur geringe Wirkun-gen zeigte.

In der Sowjetischen Besatzungszone wurde 1947K. Henkels mit seinem Orchester vom Sender Leip-zig engagiert. Es blieb dort für lange Zeit das einzigeder Jazztradition verpflichtete Orchester. Nach derStaatsgründung 1949 lösten sich die in der DDR

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Journalismus

noch erhaltenen Jazzclubs auf. Anfang der 50erJahre geriet der J. in der DDR zunehmend unterideologischen Druck des auf die Kanonik desSozialistischen Realismus verpflichteten VerbandesDeutscher Komponisten und Musikwissenschaftler,in dessen Veröffentlichungen der »dekadente«,»westliche«, »spätimperialistische« Charakter desJ. unterstrichen wurde. Viele bedeutende Jazzmusi-ker, die sich in der DDR niedergelassen hatten,verließen das Land, so zwei komplette Big-Bands,die Orchester H. Kretzschmar und K. Walter.

Nach dem Tode J. W. Stalins trat zunächst eineWende ein. In der FDJentstanden »Jazz-Arbeitsge-meinschaften«, die, wenn auch mit Unterbrechun-gen, heute noch bestehen, und die Rundfunkpro-gramme richteten erstmals besondere Jazzsendun-gen ein. Als » Produkt der Auflehnung einer von denKapitalisten unterdrückten Klasse« wurde der J.nunmehr offiziell gefördert.

Die Auswirkungen der XX. Parteitages derKPdSU brachten abermals eine Wende. Ob dieGründe darin zu suchen sind, daß die jungen Jazz-musiker mit ihrer Musik eine systemkritische Hal-tung fördern wollten, oder ob die staatliche ^Kul-turpolitik der DDR dies nur befürchtete, festzuhaltenbleibt, daß zwischen 1957 und 1961 der J. offiziellkaum existierte. 1958 trat die Anordnung über dieProgrammgestaltung bei Unterhaltungs- und Tanz-musik in kraft, die, 1973 als Diskothekenordnungerweitert, besagt, daß bei öffentlicher Präsentationvon Unterhaltungsmusik 60 v. H. der Titel vonKomponisten aus der DDR oder anderen sozialisti-schen Staaten stammen müssen, 40 v. H. dagegen»westlicher« Herkunft sein dürfen. Nach der Lok-kerung seit der Schließung der Grenzen im August1961 konnte sich in der DDR mit F. Schönfeld, C.Bauer, G. Sommer und E. L. Petrowski trotz allemeine auch international beachtliche Jazzszene her-ausbilden. Inzwischen wurde dem J., dessen geringepolitische Wirkung sich offenbar zur Genüge erwie-sen hat, im Rahmen der vielfältigen Musikpflegeder DDR ein gleichberechtigter Platz neben denanderen Formen und Stilen der Weltmusikkultur(B. Noglik, H. J. Lindner, 1978) zugewiesen.

Jazzmusiker der DDR sind im Unterschied zudenen der Bundesrepublik in der Regel Musikhoch-schulabsolventen und haben Anspruch auf Kran-kenversicherung und Altersversorgung. Seit Mitteder 70er Jahre legt die staatliche Plattenfirma »Ami-ga« verstärkt historische und aktuelle Jazzplattenauf, dies aber, wie es auch für die übrigen Spartender populären Musik zutrifft, in so geringen Aufla-gen, daß das erfolgreiche Jazzprogramm praktischimmer vergriffen ist. Im Unterschied zur Bundesre-publik nimmt in der DDR der Dixielandjazz einengrößeren Platz in der Gunst des Publikums ein. SeitJahrzehnten veranstaltet Dresden jährlich Europasgrößtes Dixieland-Festival (-^-Festpiele). Verschie-dene Theater der DDR haben kleinere Säle für

regelmäßige Jazzworkshops geöffnet (»J. in derKammer« in Berlin (Ost); »Jazz-Szene« am Volks-theater Rostock). Seit 1977 veranstalten RadioDDR, Stimme der DDR und Berliner Rundfunk alsmodernes Kontrastprogramm zum Dresdner Dixie-land-Festival die sogenannte »Jazz-Bühne« alsFestival zeitgenössischer Strömungen des J.

Trotz vielfältiger Bemühungen konnten die Jazz-festivals der DDR bislang aber nicht den internatio-nalen Standard erreichen, den in Jazzkreisen dasFestival in Moers, die Westberliner Jazz-Tage oderetwa das Warschauer Jazz-Jamboree erlangt haben.

W. Hagen

LiteraturH. H. Lange, J. in Deutschland, Berlin (West) 1966C. Bohländer, H. Holler, Reclams Jazzführer, Stuttgart1977B. Noglik, H. J. Lindner, J. im Gespräch, Berlin (Ost) 1978J. Wölfer, Handbuch des J., München 1979M. Naura, Der Moderne J. in der Bundesrepublik Deutsch-land, Jazz Podium, Jg. 28,1979, H. 12, S. 16 ff.J. E. Berendt, Das Jazzbuch. Vom Rag bis Rock, Frankfurta.M.25198O

Journalismus

I. Vielfalt der journalistischen Erschei-nungsformen - II. Einflüsse der Besat-zungsmächte - III. Journalismus zwischenMarkt und gesellschaftlicher Kontrolle - IV.Die Ausbildung zum sozialistischen Journa-listen

I. Vielfalt der journalistischenErscheinungsformen

Obwohl der J. seit dem 18. Jh. eine ähnliche Vielfaltder Produktion und Breite der Erscheinungsformenaufweist wie die -^Literatur, gibt es dazu fürDeutschland keine zusammenhängende geschicht-liche Darstellung des J. Die im Jahr 1845 von R. E.Prutz veröffentlichte »Geschichte des deutschen J.Zum ersten Male vollständig aus den Quellen gear-beitet« blieb unvollendet und ohne Nachfolge. Ihrlag ein weites, funktionales Verständnis zugrunde,das den J. als das »Selbstgespräch, welches die Zeitüber sich selber führt«, definierte. »Er ist die tägli-che Selbstkritik, welcher die Zeit ihren eigenenInhalten unterwirft; das Tagebuch gleichsam, inwelches sie ihre laufende Geschichte in unmittelba-ren, augenblicklichen Notizen einträgt« (Hannover1845, S. 7). Eine solche Sicht muß neben Zeitungen,Zeitschriften und den elektronischen Medien auch

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Rockkultur

tivismus und Popperismus in der Arbeiterbewegungübernommen. Als Oberbegriff wird Sozialdemokra-fti/WM.y verwendet. Den linksopportunistischen Kon-zeptionen der sogenannten Reformsozialisten wirdeine besondere Bedeutung zugemessen. Hätten sieursprünglich, wie ihnen W. I. Lenin noch zugestand,in vielen Fragen an marxistischen Auffassungenfestgehalten, so erfüllten sie inzwischen, wie amBeispiel E. Mandels, A. Gorz' und P.v. Oertzensdemonstriert wird, objektiv die Funktion ideologi-scher Handlanger des Kapitalismus zur Eindäm-mung des Klassenkampfes. Ihre Auffassungenseien deshalb nicht nur utopisch und illusionär,sondern zugleich »objektiv reaktionär«.

Bei der Verwendung des Begriffs R. in der Bun-desrepublik und in der DDR gibt es keine Annähe-rung. Es wird sie auch nicht geben können, weil sichDDR und SED allein als Erben der Traditionen undals Vollstrecker der Ziele der deutschen Arbeiterbe-wegung begreifen, ein Selbstverständnis, über das,da es unmittelbar zur Begründung der Staatlichkeitder DDR gehört, eine Diskussion auch nicht mög-lich ist.

H. Grebing

LiteraturM. Jänicke, Der dritte Weg. Die antistalinistische Opposi-tion gegen Ulbricht seit 1953, Köln 1964P. Ch. Ludz, Ideologiebegriff und marxistische Theorie,Opladen 1976H. Grebing, Der R. Von Bernstein bis zum »Prager Früh-ling«, München 1977H. Heimann, Th. Meyer (Hrsg.), Bernstein und der Demo-kratische Sozialismus, Berlin (West), Bonn 1978S. Papcke, Der Revisionismusstreit und die politischeTheorie der Reform, Stuttgart 1979Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK derKPdSU und Akademie für Gesellschaftswissenschaftenbeim ZK der SED, Die entwickelte sozialistische Gesell-schaft. Wesen und Kriterien - Kritik revisionistischer Kon-zeptionen, Berlin (Ost) 1980

I. Kulturimport

Die Geschichte des Rock in der Bundesrepublik istin ihren ersten anderthalb Jahrzehnten dieGeschichte eines Kulturimports. So wie die Kon-zerttourneen amerikanischer Bigbands in den spä-ten 40er und frühen 50er Jahren den -^Jazz wiedernach Deutschland brachten, so war es die Präsenzdes amerikanischen Radios in den ehemaligenWestsektoren und zumal die Tournee des Rock'n-Roll-Sängers Bill Haley 1958, die in der Bundesre-publik die ersten Anfänge einer R. begründeten.

Rock'n Roll, wie das Wort —*Jazz ein sexuellaufgeladener Slangausdruck, ist in den 50er Jahrendie den Rock begründende Stilrichtung. Er entwik-kelte sich durch Elvis Presley, Bill Haley, BuddyHolly, Gene Vincent. Sie verbanden den amerikani-schen Rockabilly, eine Mischung des schwarzenRhythm & Blues mit weißem Hill-Billy, die Country-music der weißen Farmer und die Formen des CityBlues der schwarzen Musiker, die in den 30er und40er Jahren aus dem Süden in die Städte eingewan-dert waren. Bis auf wenige Ausnahmen wie ChuckBerry, Bo Diddley von weißen Interpreten gespielt,war Rock'n Äo//innerhalb der amerikanischen Mas-senkultur das erste Ausdrucksmittel der jungenNachkriegsgeneration, die ihn als Ausdruck ihrernonkonformistischen, aber keineswegs systemkriti-schen Protesthaltung verstand. Historisch gesehenentwickelte sich durch den Rock'n Roll das ersteeigenständige Jugendidiom in den westlichenGesellschaften.

Zu ihm gehört, neben der schnellen, rhythmusbe-tonten Musik, eine Körpersprache des -^Tanzes,der Haartracht (»Tolle«), eine Kleidermode mitRöhrenhosen, Petticoats, zudem eine Entsublimie-rung der Sexualität in den Texten, Protest gegen dieunbeweglichen, kleinbürgerlich-prüden Lebensfor-men des amerikanischen Mittelstandes und einepositive Einstellung gegenüber den aufkommendenWerten einer Überflußgesellschaft: große Autos alsStatussymbol und sexualisierter Freiheitsmythos.

Rockkultur

I. Kulturimport - II. Kulturindustrielle Vor-aussetzungen - III. Eigenständige Grup-pen und die Einflüsse neuer Formen - IV.Ablehnung und Integration in der DDR -V. Ästhetische und ideologische Prämis-sen - VI. Die Bestimmung des gesell-schaftlichen Nutzens - VII. Rockkultur inbeiden deutschen Staaten

II. Kulturindustrielle Voraussetzungen

Der Rock'n Roll, Mitte der 50er Jahre in fast allenamerikanischen Staaten mit tausenden von Bandsheimisch, rief nicht nur einen musikalischen Stil,sondern zugleich die gesamte R. ins Leben, unterder jenes weitverzweigte System aus Studios, Plat-tenfirmen, Herstellern elektroakustischer Bauteileund Apparate, Plattenläden, Radiostationen, Verla-gen, Filmfirmen, Agenturen, Veranstaltern, Promo-tern, Clubs und Tanzsälen zu verstehen ist, das denRock produziert und verbreitet. Dazu gehört auchein je nach Stilrichtung wechselndes Heer von De-signern, Modemachern, Musikjournalisten undWerbeagenten. Die Ära des Rock'n Roll in den

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Rockkultur

Vereinigten Staaten ließ die beteiligten Industrienerstmals das volkswirtschaftlich bedeutsameUmsatzpotential -^Jugend entdecken. Da abereben diese Industrien grundsätzlich auf optimaleVerwertung und damit zur Konformität jedes Pro-dukts tendieren, bleibt und blieb die Entwicklungdes Rock innerhalb der R., von der sie untrennbarist, widersprüchlich. Die Gewinninteressen der Pro-duktions- und Distributionsindustrien der R. gerie-ten periodenweise immer wieder in einen Gegensatzzur musikalischen Entwicklung und zu den sie tra-genden Bedürfnissen der jugendlichen Konsumen-ten. In den einzelnen Facetten der R., den Studios,Clubs oder lokalen Musikszenen, lagern sich, nebenden herrschenden Trends, neue, zunächst unver-wertbare Stile und musikalische Produktionen ab,die den für die R. generell typischen Undergroundbilden und schubweise das ganze System mit neuen»Hypes« oder »Hits« versorgen.

Der Rock'n Roll traf in der BundesrepublikDeutschland Ende der 50er Jahre auf eine erhebli-che Nachfrage, da vor allem proletarische Jugendli-che in den Großstädten über die amerikanischenMilitärsender von diesem neuen, ersten Jugend-idiom der Nachkriegszeit erfahren hatten und sichschnell mit ihm identifizierten. Es fehlten aber alleVoraussetzungen auf Seiten der Unterhaltungsindu-strie und der öffentlich-rechtlichen Medien, die derbreiten Basis der amerikanischen R. hätten ver-gleichbar sein können. So war die Integration desRock'n Roll etwa in Produktionen des deutschen-^Schlagers zu Anfang der 60er Jahre bei PeterKraus, den Blue Diamonds oder Nora Nova eherdürftig; die Platten Bill Haleys, Gene Vincents oderBuddy Hollys wurden zunächst nicht veröffentlicht.

Noch weit in die 60er Jahre hinein galt es indeutschen Musikerkreisen regelrecht als unfein,sich mit dieser Musik näher zu beschäftigen. Inzwi-schen hatte sich mit den Beatles, den Rolling Stones,den drogen- und kultorientierten Gruppen der ame-rikanischen Westküste Moby Grape, Grateful Dead,mit Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who und denKinks eine Breite und Vielfalt musikalischer Stile inder amerikanischen und englischen R. durchgesetzt.Sie verlieh sowohl den unpolitischen Mobilitäts-konflikten {-^-Mobilität) der Arbeiterjugendlichenals auch dem intellektuell orientierten Protest derbeginnenden Studentenbewegung Ausdruck undkonnte von den Plattenkonzernen und Medien inder Bundesrepublik nicht länger ignoriert werden.1967 / 68 beginnen die deutschen Rundfunkanstal-ten, Jugendprogramme mit entsprechendem Rock-musikanteil einzurichten, die Rolle des in Amerikaschon zwanzig Jahre üblichen Diskjockeys wirdübernommen, Plattenkonzerne richten Abteilungenfür Rockmusik ein, ausländische Rockgruppenabsolvieren überaus erfolgreiche Tourneen.

Dennoch blieb, nicht nur aufgrund fehlendersachlicher Voraussetzungen, die Übertragung der

angloamerikanischen R. auf die Bundesrepublikvor allem musikalisch ein Problem. Rock'n Roll,Mersey Beat, Rhythm & Blues, Acid Rock, Motown-oder Detroit-Sound, alle Stilarten des Rock wurdenimportiert und kopiert. In der Bundesrepublikschätzt man, daß es 1970 etwa 500 aktive Bands gab,die den professionellen Ansprüchen ihrer amerika-nischen und englischen Vorbilder genügten. Aberdie Identifikationsmuster und Themen des Rock,Alltagssituationen wie Kennenlernen, Trennung,Verliebtheit, Tagträume, Reisephantasien, Drogen-erfahrungen wurden englisch vorgetragen. Mit derSprachbarriere entstand so eine musikimmanenteBegrenztheit, die von den Musikern und großenTeilen der Fans selber als ein Widerstandsgefühlund eine andere, zumal Älteren unverständlicheGeheimsprache übernommen wurde. Der Importals solcher wurde bewußt akzeptiert und gegen dieÖde und Langeweile des deutschen Schlagersgesetzt. Es entstand eine Trennung zwischen Rockund Schlager, die in angloamerikanischen Ländernin dieser Schärfe nicht besteht. So rückte eineBesprechung der ersten Platte der NürnbergerGruppe Ihre Kinder, die 1969 in der ZeitschriftSounds erschien, den Versuch, Rock mit deutschenTexten zu verbinden, in die Nähe der »pseudoambi-tiösen Chansons« einer H. Knef und stufte die erste»deutsche« Rockband unter das Prädikat »pein-lich« ein. Nationalen Erfolg hatten allein solcheGruppen, die wie Amon Düül, Agitation Free oderCan ihre Musik an englischen oder amerikanischenUndergroundvorbildern orientierten.

III. Eigenständige Gruppen und dieEinflüsse neuer Formen

Nähe zur Studentenbewegung der späten 60er undfrühen 70er Jahre hatte die R. wesentlich dadurch,daß die Diskriminierung aller »Langhaarigen«,»Provos« und »Hippies« auch die Fans der ameri-kanischen und englischen Rockgruppen traf.Deutschsprachige Rockgruppen entstanden zuBeginn der 70er Jahre, ohne kommerziell erfolg-reich zu sein, dann auch aus diesem politischenUmfeld. Ton Steine Scherben, Lokomotive Kreuz-berg oder Floh de Cologne versuchten auf unter-schiedliche Weise, auch die Tradition deutscherPolit- und Agitpropsongs der 20er und 30er Jahre indie neuen Formen des Rock miteinzubeziehen.Internationalen Erfolg hatten zur selben Zeit nursolche deutsche Gruppen, die wie Can, TangerineDream, Kraftwerk entweder überhaupt nicht odernur mit sehr wenig Text arbeiteten.

Zwischen 1972 und 1976 erlebte die deutsche R.zwar eine Verbreiterung durch englischsprachigeGruppen wie Jane, Eloy, Birth Controll, Kraan,Scorpions, es gab aber mit der Ausnahme Udo Lin-denbergs keinen weiteren gelungenen Versuch,

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Rockkultur

deutsche Texte mit Rockmusik zu verbinden. UdoLindenbergs anspruchslose, eigenwillige und ganzan seinen Interpretationsstil gebundenen Texte wie»Alles klar auf der Andrea Doria« erzielten ihreWirkung dadurch, daß seine Band den inzwischenvon der deutschen Unterhaltungsindustrie über-nommenen Weg des Aufbaus einer »Supergruppe«akzeptierte, wie ihn die angloamerikanischenMedienkonzerne mit den Gruppen Supertramp,Genesis, Peter Frampton oder Linie Feat als nahezuausschließlichen Standard durchgesetzt hatten.

Genau diese Praxis der die R. beherrschendenMedienkonzerne geriet mit dem Aufkommen desPunk'm London und New York 1975 bis 1977 in dieKrise. Der Punk, eine schnelle, harte, alle Professio-nalitätsmaßstäbe hintansetzende Musik der proleta-rischen Jugendlichen, verbreitet von den Sex Pistolsin England, Ramones und Richard Hell & the Voi-doids in den USA, formulierte die Maßstäbe derinternationalen R. von Grund auf neu. Abkehr vonder Praxis des »entfremdeten« instrumentalen Per-fektionismus, Wiederherstellung des direkten Kon-takts zwischen Musiker und Publikum, Kürze undÜberschaubarkeit des Songs, Verständlichkeit undAlltäglichkeit der Texte, Spontaneität, ein musikali-scher Anarchismus und Situationsbezogenheit sindseine Hauptmerkmale. Mit seinen No Future- undBlank-Generation-Parolen setzt sich der Punk expli-zit gegen spätkapitalistische Konsum- und Lebens-muster ab. Zerschlissene Kleidung, Ketten, provo-zierende Verletzungen der eigenen Körperlichkeit,Hakenkreuze und Judensterne sind nur einige Bei-spiele einer Umwertung gesellschaftlicher Symboleund Mythen, die der Punk in seiner kurzenGeschichte vollzog.

Neben der Einfachheit des rüden proletarischenPogo, eines körperlich aggressiven Tanzstils zu denschnellen Rhythmen und provozierenden Songs desPunk, erlaubte der dezidierte Antiprofessionalismusdieser Musik auch Experimentalisten und ambitio-nierten Avantgardisten wie Throbbing Gristle, DNAden Weg in die Öffentlichkeit. Die Anspruchslosig-keit dieser Musik hinsichtlich Technik und Ausstat-tung ermöglichte es überdies, daß die Bands zumeistihre Platten selbst produzierten und in geringenAuflagen verbreiteten. Die neu formulierten Maß-stäbe dieser neuen Welle richteten sich also auchgegen die erstarrten hierarchischen Strukturen derR. und dessen konformistische Ideologie der Super-stars.

Mit einer gut einjährigen Verzögerung kam derPunkin die Bundesrepublik. Jetzt sangen die Bandsvon vorneherein deutsch, weil anders der Kontaktzwischen Publikum und Musiker, die Verständlich-keit und Unmittelbarkeit der Texte nicht zu realisie-ren waren. 1979 gab es in Hamburg, Berlin (West),Hannover und Düsseldorf schon gut 1000, meistbewußt dilettantisch spielende Amateurbands. IhreTexte und musikalischen Stile hatten sich weitge-

hend von überkommenen Traditionen der Rockge-schichte freigemacht und knüpften an Themen desdeutschen Schlagers der 20er und 30er Jahre wie anAusdrucksformen der Undergroundbands in NewYork oder London an. Genannt seien Mittagspause,Mania D, Fehlfarben, Hans-a-Plast. Aus diesenAnfängen hat sich seit 1980 die auch kommerziellüberaus erfolgreiche Neue Deutsche Welle entwik-kelt, die mit ihren Exponenten Deutsch-Amerikani-sche Freundschaft, Fehlfarben, Ideal oder Extrabreitder in einer schweren Identitäts- und Ausdrucks-krise steckenden Jugendkultur der Bundesrepublikmit Titeln wie »Eiszeit«, »Wir sind die Türken vonmorgen«, »Ernstfall es ist längst soweit« Gehörverschaffen. Im Zug der Ausbildung dieser NeuenDeutschen Wellehat sich die Basis der deutschen R.,vor allem durch die Einrichtung hunderter kleinerStudios, Veranstaltungsorte und Clubs erheblicherweitert. Insgesamt entwickelt sich die deutsche R.,25 Jahre nach ihrem Import, inzwischen genausowie in anderen Ländern der westlichen Welt. Sie istgebunden an das freie Spiel des kapitalistischenMarktes und folgt einer seit nunmehr vierzig Jahrentypischen Dialektik zwischen Provokation undAnpassung. Insofern sind Versuche staatlicher Stel-len, den Rock durch Bereitstellung öffentlicher Mit-tel zur Plattenproduktion zu subventionieren, wie esin Berlin (West) geschieht, fragwürdig. Rock wäre ineine staatliche Subventionspolitik nur zu integrie-ren, indem man ihn, wie in der DDR, seinerGeschichte beraubte und als ein Mittel ideologi-scher Massenbeeinflussung benutzte.

IV. Ablehnung und Integration in der DDR

In der DDR ist die Geschichte der Rockmusik dieder Integration einer ursprünglich kapitalistischenMassenkultur (—*Kulturindustrie und Massenkultur)in die -^-Kulturpolitik eines sozialistischen Staates.Mit ihr verbindet sich der bislang einzigartige Ver-such, eine als fremd empfundene Sparte populärerMusik eigener Ideologie dienstbar zu machen, einsich üblicherweise antiautoritär gelierendes Kunst-genre ins Affirmative umzulenken. In rund zweiJahrzehnten kulturpolitischer Auseinandersetzungmit dem Kapitalismus wurden gegenüber dessenvitalstem Kunst-Botschafter, dem Rock, alle ästheti-schen und ideologischen Barrieren abgebaut, mehrnoch, man beförderte dieses spektakulärsteMedium der Popularkultur sogar zum wirkungs-vollsten und offiziell hoch gelobten Zweig derUnterhaltungskunst (—• Unterhaltung). Rockmusikder DDR wird nach Jahren kontinuierlicher, aberauch widerspruchsvoller Entwicklung zunehmendinternational anerkannt. Als ein internationalesPhänomen der Klassenauseinandersetzung wird siein der DDR danach bemessen, inwieweit sie untersozialistischen Bedingungen musikalisch und tech-

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Rockkultur

nisch dem jeweils aktuellen internationalen Stan-dard entspricht.

Als Ende der 50er Jahre westliche Rundfunksta-tionen Rock'n Roll in ihre Musikprogramme auf-nahmen, erreichte er auch die Hörer in der DDR.Hier bildeten sich spontan kleine Combos, die miteinfachen Instrumentarien die neuartigen Spielwei-sen aufnahmen und Konzerte improvisierten. Alsdie eher solistische Darbietungsform des Rock'nRoll in den Kellern englischer Hafenstädte zurEnsembleleistung reifte und sich zusammen mitanderen Stilformen zum Beat verdichtete, wirktedies inspirierend auf junge Amateurmusiker in derDDR. Der weltweite Erfolg der Beatles und ihrerAntipoden, der Rolling Stones, ließ viele Bands ent-stehen, bei deren Auftritten in Stadtparks und aufMarktplätzen sich die Jugendlichen zahlreich ver-sammelten. Es kam zu Kollisionen mit der Staats-macht, der Beat geriet in die Vernehmungsproto-kolle der Polizei und in die Akten der Kulturbehör-den, die über die Imitation des ungewollten Musik-imports den ideologischen Bann verhängten. Das,was damals terminologisch unsicher als »Gitarren-Sound« oder »Big Beat« erfaßt wurde, galt alsBeispiel westlicher ^Dekadenz und Unkultur. ImRock'n Rollund Beatsah man ein Mittel psychologi-scher Kriegführung der NA TO, der ideologischenDiversion des Gegners. Nach dem 11. Plenum desZentralkomitees der SED im Dezember 1965,anläßlich dessen viele Intellektuelle, Schriftstellerund Künstler, unter ihnen W. Biermann, gemaßre-gelt wurden, stoppte man jene »hektische, aufpeit-schende Musik«, die nach den Worten E. Honek-kers die moralische Zersetzung der Jugend begün-stigte. Die Presse begann eine massive Einschüchte-rungskampagne gegen Musiker und Fans.

Zugleich aber ermunterte die Administrationjunge Musiker, Komponisten und Texter, eineeigenständige, deutschsprachige Beatmusik zu ent-werfen. Viele der angesprochenen Künstler hattensich in der für die DDR typischen Singebewegung,einer Verbindung aus politischem Lied mit Folklore(—>L;ed), einen Namen gemacht. Doch ließ sich diean angloamerikanischen Vorbildern orientierte Ent-wicklung des Beat nicht aufhalten. Es kam zu einerideologischen Kehrtwendung, bei der nun die Beat-musik als Zeugnis proletarischer Kultur entdecktwurde. Die Beatles und andere Gruppen stilisierteman zu Kritikern kapitalistischer Verhältnisse. Aberdie DDR wollte sich anläßlich der X. Weltfestspieleder Jugend und Studenten 1973 als weltoffen undim Einklang mit dem Rhythmus einer internationa-len Populärmusik darstellen. Unter Anleitung undBeobachtung zahlreicher Institutionen, Entwick-lungsgruppen und Beratergremien kam die landes-eigene Beat- und Rockmusik auch international zuhohem Ansehen und wurde den Vertretern desSchlagerschaffens als mustergültig und beispielhaftgepriesen.

V. Ästhetische und ideologischePrämissen

Nach rund zehn Jahren staatlicher Förderung undLenkung entdeckten Musikwissenschaftler »jeneeigentümliche Dominanz des Liedhaften in denRockstrukturen« (P. Wicke, Rockmusik in derDDR, in: Informationen der Generaldirektion fürUnterhaltungskunst 2, 1981, S. 5) als Besonderheitder Populärmusik der DDR. Man würdigt die Ver-suche, großformatige Werkkonzeptionen mit Anlei-hen an die sogenannte E-Musik vorzuführen, ver-mißte indes den experimentellen Versuch, Rockmu-sik weiterzuentwickeln.

Das Stilspektrum reicht vom Hard Rock derGruppen Prinzip, Babylon, Formel 1, den Formendes Blues bei St. Diestelmann, J. Kerth, Engerling,Monokel, H. Biebl, Karussell, Reggae bei ReggaePlay, Electronic Rock der Gruppen Kleeblatt, Gongund bei R. Lakomy zu den Spielweisen, die dasGenre Schlager kreuzen bei den Puhdys, Kreis, Silly,Wir, Karat, Elefant und Schöbet + Gruppe. VieleGruppen fühlen sich von dem inspiriert, was welt-weit new wave genannt wird und sich in schnellenStakkati, unbekümmerter Alltagspoesie und redu-zierter Instrumentation äußert, so NO 55, Pankow,Neumis Rock-Circus, Brigitte Stefan und Meridian,City II, Keks, Dialog. Während zwei Dutzend Spit-zenformationen aus dem etwa 650 Gruppen umfas-senden Profilager Rundfunk, Fernsehen undSchallplattenmarkt versorgen, spielen rund 4600Amateurtanzkapellen bei zunehmender Konkur-renz mobiler Diskotheken im Hinterland Live-Musik. Häufig gehen gerade von den Amateurenwichtige Impulse für die Gesamtszene aus.

Als Teilbereich sozialistischer Unterhaltungs-kunst erwies sich Rockmusik als idealtypisch undeffektiv. Sie gilt als massenwirksam, emotionalanregend, dabei entspannend, realitätsbezogen undaktuell in ihren Texten, zugleich vorzeigbar als kol-lektive Leistung, die in ihrer Präsentation im Kon-zert auch kollektiv rezipiert wird. Über die Schall-platte beeinflußt der Rock Geselligkeit und Tanz,verbale und visuelle Kommunikation, setzt Normenfür Habitus und Kleidung, schafft sich typischeEnvironments. »Rockmusik war von Anbeginn annicht auf die Erfahrung von Individualität, sondernganz im Gegenteil auf die Erfahrung von Kollektivi-tät angelegt« (P. Wicke, Rockmusik - Aspekte einerFaszination, in: Weimarer Beiträge, 27. Jg., 1981,H. 9, S. 106). Sie deckt sich folglich mit dem soziali-stischen Prinzip, das Individuen nur als Träger vonGemeinschaft akzeptiert. Rockmusik, so H. Hanke,wird auch in Zukunft Hauptgebiet der ideologi-schen Auseinandersetzung sein (H. Hanke, Ent-wicklungstendenzen musikalischer Bedürfnisse, in:Musik und Gesellschaft, H. 11,1981, S. 644 ff). Diegriffige Formel dabei lautet Dialektik der Einheitvon Weltbild und Notenbild. Seit Herbst 1981 wer-

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Rockkultur

den Rockgruppen aufgefordert, Lieder zur Frie-densinitiative ihres Landes zu verfassen. Allerdingswird dabei die Parole »Frieden schaffen ohne Waf-fen« abgewandelt in »Der Frieden muß bewaffnetsein«.

VI. Die Bestimmung des gesellschaftlichenNutzens

Rockmusik bestimmt als Teil einer internationalenKultur das musikalische Interesse von etwa 84 v. H.der Schüler und Studenten der DDR. Sie ist derbevorzugte Kunstbereich der zwölf- bis fünfund-zwanzigjährigen. Mit der massenhaften Verbreitungvon Schallplatten und Musikkassetten, mit ihrerallzeitigen Verfügbarkeit durch den Rundfunk undder Möglichkeit, sie durch Mitschnitt jederzeit zureigenen Verfügung zu haben, gehen neue Formender Rezeption einher. Die massenhafte Existenzkopierter Originale bedingt, daß die Vervielfälti-gung wie ein Original benutzt und wahrgenommenwird. Rockmusik wird als Symbiose von Technikund den Institutionen der—»Massenkommunikationdefiniert. »Das weist über die Schranken des bür-gerlichen Kulturzusammenhangs und die kapitali-stische Formbestimmtheit dieser Prozesse weit hin-aus, markiert eine soziale Qualität von musikali-scher Praxis, die dem in den Massenmedien erreich-ten Vergesellschaftungsgrad der Musikproduktionadäquat ist« (P. Wicke, Rockmusik - Aspekte einerFaszination, a. a. O., S. 112 f.).

Die Funktion von Populärmusik, nicht nur ästhe-tisches Vergnügen oder niveauvolle Unterhaltungzu sichern, sondern auch Geselligkeit zu steuern,bedingt einen immensen Verbrauch von Rockmu-sik. Etwa 110 Profi- und sechs- bis achttausendAmateur-Diskjockeys, Schallplatten-Unterhalterund Discomoderatoren in der Terminologie derDDR tragen bei steigender Nachfrage dazu bei,rund 600000 Tanzveranstaltungen mit 120 Mio.Besuchern pro Jahr zu gestalten. Da alle öffentli-chen Konzerte, Discoabende und Radiosendungen60 v. H. Musikanteil Autoren der DDR oder dessozialistischen Auslands aufweisen müssen undhöchstens 40 v. H. von Komponisten und Texternkapitalistischer Länder sein dürfen, sind Musikerder DDR zu ständiger Produktion angeregt. DieBegrenzung des westlichen Anteils ist dabei nichtnur eine ideologische, sondern hinsichtlich derLizenzkosten auch eine wirtschaftliche Frage.

In Sendungen des Fernsehens wie »rund« oder»Jugendklub« und des Rundfunks wie »DT 64«oder »Hallo« wird politische Information und Agi-tation neben Rockmusik gebracht und besser kon-sumierbar gemacht. Fernsehen und Radio habenextensive Sendezeiten, sogenannte »Jugend-Schie-nen«, die beim Hörfunk bis zu zehn Stunden täglichbetragen.

Knapp ein Viertel der Bevölkerung der DDR,etwa 3,3 Mio. Einwohner, ein relativ hoher Anteilalso, ist zwischen 10 und 25 Jahren alt und damit dieZielgruppe für Rockmusik. Um dieses Mediumeffektiv politisch-ideologisch nutzen zu können,wurde eine Fülle von Institutionen geschaffen, dieden Gesamtbereich der Talentsuche und -förde-rung, Ausbildung, Qualifikation, Honorarordnung,Sozialgesetzgebung und des Wettbewerbs anläßlichdiverser Leistungsschauen und Werkstattage regeln.Vom Komitee für Unterhaltungskunst, das demMinisterium für Kultur unterstellt ist und die Spit-zenkünstler betreut, über die bezirklichen Konzert-und Gastspieldirektionen bis zu den lokalenBezirkskommissionen für Unterhaltungskunst sorgtein engmaschiges Netz für intensive Verbreitung desRock auf staatlich legitimierten Pfaden. Jeder Inter-pret und Musiker muß im Besitz einer staatlichenSpielerlaubnis sein, jedes Showprogramm unter-liegt einer Prüfung durch spezielle Gremien.

Der—>• Hörfunk ist, anders als in der Bundesrepu-blik, nicht nur ein Distributionsapparat, sondernHauptproduzent für Rockmusik. In dieser Eigen-schaft konkurriert er mit dem Monopolunterneh-men VEB Deutsche Schallplatten. Förderung ver-langt jedoch auch Staatstreue und Immunität gegen-über den, wie es heißt, Manipulationsversuchenwestlicher Meinungsmacher. Jeder Unterhaltungs-künstler benötigt den Rat von Spezialisten, dasUrteil von Fachleuten, die Meinung der Wissen-schaftler, wenn es um eigene Maßstäbe für dieBewertung von ideellen Gehalten und sozialenWertorientierungen geht, die von der bürgerlich-ka-pitalistischen Massenkultur verbreitet werden.

VII. Rockkultur in beiden deutschenStaaten

Rockmusik in der Bundesrepublik Deutschlandumfaßt das Spannungsfeld zwischen den gewinn-orientierten Produkten der Vergnügungsindustriebis zu den esoterischen und avantgardistischenKlangexperimenten der Gegenkultur und der Viel-zahl politisch motivierter Stilvarianten. Rock orga-nisiert und vervielfältigt sich privat, selten nur gibtes staatliche Förderprogramme. Rock unterliegt kei-ner Kontrolle, sofern geltendes Recht nicht verletztwird oder die Massenmedien die Publizierungbestimmter Schallplatten unterbinden. Die derzei-tige Neue deutsche Welle des Rock, die mit geringe-ren Produktionsmitteln auskommt, ermöglicht es,Rockmusik auch außerhalb der Reglements vonPlattenkonzernen aufzunehmen und zu vervielfälti-gen. Diese Musik ist mithin eher imstande, dasLebensgefühl gesellschaftlicher Gruppen authenti-sch auszudrücken.

Nach dem Selbstverständnis der DDR kann esdort keine —>Alternativkultur geben, da schon die

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Sammler, Sammeln

offizielle Kultur alle Bereiche menschlicher Exi-stenz im Sozialismus einbeziehe. Durch die Überhö-hung des Rock zur staatstragenden Kunst bindet dieSED gerade jenen noch am wenigsten angepaßtenund etablierten Teil der Bevölkerung, die 12- bis25jährigen. Der Eigeninitiative der Musiker wirdnur die Beschaffung der Instrumente und Devisenkostenden Verstärkeranlagen überlassen, den unab-dingbaren, aber nur von westlichen Herstellern ver-triebenen Produktionsmitteln also, die auf grauenMärkten gehandelt werden.

Die autoritäre Dominanz staatlicher Kulturpoli-tik führte in der DDR bei vielen Interpreten desRock zu Konflikten und zum Bruch mit ihrer Hei-mat, so bei Renft, Magdeburg, Veronika Fischer,Franz Bartzsch und U. Schikora. Rockmusik, prak-tiziert in den sozialen Freiräumen, wird als Gegen-entwurf zum konfliktgeladenen, repressiven -^All-tag nur für die kapitalistischen Länder akzeptiert.Die Differenz zwischen dem normierten Leben derJugendlichen »und der im Musikerlebnis spontaneSelbstverwirklichung gleichsam antizipierendenKlangsinnlichkeit hat zwar massenhaft zu Bewußt-sein gebracht, daß die bürgerliche Existenz des ein-zelnen eben jene Lebensformen ausschließt, indenen Phantasie und Kreativität, Sinnlichkeit undGemeinschaft frei von bürgerlichen Deformationenverwirklichbar sind, den sich darin artikulierendenProtest zugleich aber auf die politische Utopie indi-vidueller Selbstverwirklichung in schrankenloserSpontaneität und außerhalb gesellschaftlicher Not-wendigkeiten (sie!) abgeleitet« (P. Wicke, Rockmu-sik - Aspekte einer Faszination, a. a. O., S. 107). ObRockmusik nicht auch in der DDR als Gegenent-wurf nötig wäre, sei dahingestellt. Die politischeUtopie der Selbstverwirklichung wird noch stets ander abstrakten Formel gesellschaftlicher Normengebrochen.

Der Begriff R. ist für die DDR nicht gültig. Erverpflichtet auf ein künstlerisches Environmentunter Einbeziehung der Literatur, des Films, derPhotographie, Malerei, Graphik, Postern und Plat-tencovern, Presse, Theater, Mode und immer stär-ker Video, er bedingt Dienstleistungsbetriebe wieStudios, Beleuchtungsverleih und Roadie-Ntrmitt-lung sowie Distributionszentren für Equipment undTonträger. All das gibt es in der Bundesrepublik,aber wenig oder gar nicht in der DDR. Dort über-wiegt indes die theoretische Auseinandersetzungmit der Rockmusik unter ästhetisch-soziologischenAspekten, die sehr ausführlich und mit hohemNiveau in den Medien betrieben wird. Und wäh-rend sich in der Bundesrepublik Kritiker des Rocküberwiegend mit emotionsgesteuerten Vokabelnund im Idiom der Szene artikulieren, wird er in derDDR mit gleichen Maßstäben wie die klassischeMusik rezensiert. Dominierend aber bleibt die ideo-logische Einschätzung des Rock, seiner Trends undAusdrucksvarianten. Sie entscheidet über Annahme

oder Ablehnung neuer Spielweisen. So könne esbeispielsweise Punk in der DDR nicht geben, weildiese vital-zerstörerische Musik ihre Ursachen undTriebkräfte einem sozialen Umfeld verdanke, das esin der DDR vermeintlich nicht geben könne.

W. Hagen (I-III), O. Leitner(IV-VII)

LiteraturP. Wicke, Rockmusik in der DDR, Erfahrungen-Tenden-zen-Perspektiven, in: Informationen der Generaldirektionbeim Komitee für Unterhaltungskonst Nr. 2 / 1981, Beilageder Zeitschrift »Unterhaltungskunst« Nr. 5 / 1981Ders., Rockmusik - Aspekte einer Faszination, in: Weima-rer Beiträge, 27. Jg., 1981, H. 9, S. 98 ffJ. Hagen, Unterhaltungskunst - fest mit dem sozialistischenLeben verbunden, Zu einigen Fragen der Entwicklung derUnterhaltungskunst in der DDR und Aufgaben nach demX. Parteitag der SED, in: Informationen der Generaldirek-tion beim Komitee für Unterhaltungskunst Nr. 4 /81 , Bei-lage der Zeitschrift »Unterhaltungskunst« Nr. 11 / 1981St. Lasch, PS: Rock-Musik, Berlin (Ost) 1980O. Leitner, Rockszene DDR, Entwicklung-Tendenzen-Analysen einer Massenkultur im Sozialismus, Reinbek1982K. Humann, C. Reichert (Hrsg.), Euro Rock, Länder undSzenen, Reinbek 1981

Sammler, Sammeln

S. ist eine weitverbreitete Beschäftigung in der—^Freizeit, die allerdings in der Forschung bishernur wenig Beachtung fand. Nach Schätzungen sam-melt fast jeder dritte Bundesbürger. Unter S. wirddas Zusammentragen von gleichartigen Gegenstän-den, auch von Informationen verstanden. Zu denMotiven, die zum S. veranlassen, gibt es die unter-schiedlichsten Erklärungen. So entspricht das S. ei-ner Ureigenschaft des Menschen, die sich frühge-schichtlich in dem Typus »S. und Jäger« geäußerthat; darüber hinaus gilt das S. als Sublimations-handlung für erfahrene Verluste; eine Reduktionerfährt das S. im übersteigerten Besitzdenken, daszur Verselbständigung tendiert; das S. gilt aber auchals Ausdruck dekadenter, endzeitlich gestimmterGesellschaften, wie am europäischen Bürgertumgegen Ende des 19. Jh. zu beobachten ist; schließ-lich erscheint S. als Ausdruck eines Weltbildes, dasÜberschaubarkeit, totale Erfaßbarkeit und dieMöglichkeit der vollständigen Rekonstruktion desVergangenen erlaubt. Ein weiterer Ansatzbeschreibt den S. als Sonderfall des Historiogra-phien, als gesellschaftlichen Dokumentator undspricht damit die nicht zu unterschätzende Bedeu-tung des S. als Aufbewahren von an sich dem Ver-fall anheimgegebenen Zeugnissen gesellschaftli-chen Lebens an.

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