ein reportage-projekt über jugend und werte im heutigen ... · werden und geld zu verdienen.“...

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EIN REPORTAGE-PROJEKT ÜBER JUGEND UND WERTE IM HEUTIGEN RUSSLAND

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Herausgeber: Goethe-Institut Moskau, Programmabteilung Projektleitung, Redaktion: Dana RitzmannLektorat: Carmen EllerRussische Redaktion: Julia SpaginaDesign, Layout: Hans WinklerÜbersetzungen: Tino Künzel (S. 8, S. 11, S. 17, S. 22, S. 26, S. 38), Caroline Uhlig (S. 33, S. 42), Anna Brixa (S. 24, S. 30) Tatjana Muchametdinowa (S. 40), Nurija Fatychowa (S. 35), Olga Sasuchina (S. 20), Anna Litvinenko (S. 14) Alle hier abgedruckten Texte und Fotografien wurden im Rahmen des Reportagewettbewerbs „Das JETZT-Gefühl” zwischen Dezember 2006 und März 2007 eingesandt. Damit gewährten die Teilnehmer dem Goethe-Institut uneingeschränkte Nutzungsrechte an den Beiträgen.

Die Meinungen, die in den Wettbewerbstexten des „JETZT-Gefühls” geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder.

Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit dem Herausgeber gestattet. © 2007 Goethe-Institut Moskau

GI Moskau | Leninskij Prospekt 95a | 119313 MoskauTelefon +7 495 936 2457 ...60 | Fax +7 495 936 2232 E-Mail: [email protected] | Web: www.goethe.de/moskau

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Ein REpoRtagE-pRojEkt übER jugEnd und WERtE im hEutigEn Russl and

Zahlreiche programme der goethe-institute in Russland sprechen vor allem junge menschen an: konzerte elektronischer musik, ausstellungen zeitgenössischer kunst, aktuelles theater oder lesungen mit deutschen schriftstellern, die sich den themen der Zeit stellen. auch in unseren deutschkursen studieren viele junge Russen, die sich mit deutschland und der deutschen sprache auseinandersetzen.

Wie ist das lebensgefühl dieser jungen menschen in Russland heute? Wie erleben sie den alltag? Was sind ihre Ziele und träu-me? Wie gehen sie mit den Veränderungen der letzten jahrzehnte um? die texte des vorliegenden Reportage-Wettbewerbs „das jEtZt-gefühl“, den das goethe-institut in Russland im jahr 2007 ausgeschrieben hat, geben einen kleinen Einblick in das lebens-

gefühl junger Russen heute. schlaglichter aus moskau, krasno-dar, tscheljabinsk, krasnojarsk und anderen russischen städten verdeutlichen die geographische Weite des landes auch in der Vielfalt der stimmen die hier zu Wort kommen. originelle ideen, Fragestellungen und darstellungsformate zeigen, dass diese jungen menschen wach sind, dass sie sich mit ihrer lebenswelt und deren anforderungen intensiv und kreativ auseinandersetzen. Wir freuen uns, dass das goethe-institut mit dem „jEtZt-gefühl“ einen kleinen beitrag dazu leisten konnte und wünschen interes-sante und anregende lektüre.

Johannes EbertLeiter des Goethe-Instituts MoskauRegionalleiter Osteuropa/Zentralasien

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Junge Tschetschenen wollen nicht Krieg führen, sondern

bei dem Comedy-Sendung KWN mitmachen.

„Die Jungen fangen neu an. Sie sind die ,Generation Optimismus’.“

„Ich weiß eines ganz genau: Man kann mit absolut allen Menschen eine gemeinsame Sprache finden.“

„Wir begannen unser Erwachsenenleben gemeinsam mit dem neuen Russland,

und während es seine Richtung suchte, suchten wir die unsere.“

„Es ist ja nicht das Ziel, dass sie Schauspieler und Künstler werden. Wenn sie gute Menschen bleiben, reicht das schon.“

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Junge Tschetschenen wollen nicht Krieg führen, sondern bei dem Comedy-

Sendung KWN mitmachen.

„Wir haben weder mit den einen noch den anderen etwas am Hut, unser einziges Ziel ist, populär zu

werden und Geld zu verdienen.“

„Junge Tschetschenen wollen nicht Krieg führen, sondern bei der Comedy-Sendung KWN mitmachen.“

„Hoffen kann man alles Mögliche. Die Realität aber verpasst keine Gelegenheit, einem

eins auf die Ohren zu geben.“

„Für Russlands Jugend ist das Internet ein Labor, wo sie sich in virtuellen Tagebüchern eine neue Welt konstruiert und mit ihr den Menschen des ��. Jahrhunderts.“

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Vorwort 5Glossar 6

Unser Leben im Zeitraffer 8Links und rechts der Leninstraße ��Ein Zirkuszelt der Hoffnung ��Tanzen unter Grosnyjs Sternenhimmel �7 Von Optimisten und Querdenkern �0Ein Bierchen als Pläsierchen? ��Die Mädchen von morgen ��Harte Jungs statt heile Welt �6Das Design der Wirklichkeit �0Vampirliebe auf Sibirisch ��Von Blogomanie zu Demokratie �5Die Reise des Marco Porco �8Moskaus Kulturfabrikanten im Aufbruch �0Die Welt in unseren Augen ��

Ein Lebensgefühl in Bildern �5

Inhalt

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„die jugend von heute“ – das sagt sich leicht. aber wer ist das eigentlich genau? Sind es diese oberflächlichen, konsumorientierten teenager, die scharenweise in sogenannte „starfabriken“ stürmen? sind es die politischen jung-aktivisten, die mit wehenden Fahnen ihren heroen huldigen? oder ist es der gastarbeiter, der sein glück im fremden land sucht und dafür sogar hass und missgunst in kauf nimmt? Vielleicht ist es auch die karriere-versessene streberin, für die nichts außer ansehen und aussehen zählt? aber was zählt heute noch? Woran orientieren sich junge leute? Welche Werte sind ihnen wichtig?

Um dies herauszufinden, schrieb das Goethe-Institut Moskau einen Reportagewettbewerb zum thema „das jEtZt-gefühl – jugend und Werte im heutigen Russland“ aus. im laufe eines Vierteljahres gingen mehrere dutzend Einsendungen aus allen teilen des landes ein: Von st. petersburg bis astrachan und Engels, von smolensk bis nowosibirsk, von barnaul bis brjansk und perm, sogar am baikalsee, in jakutien und natürlich auch in moskau setzten sich junge Russen und jugendliche Russlanddeutsche mit ihrer generation und deren Werten auseinander.

die geschichten sind so facettenreich wie das leben selbst. sie erzählen von einer mückenforscherin in sibirien, von einer studentin aus tschetschenien, vom polit-nachwuchs in omsk ebenso wie einem alternativen Jugendtreff in Moskau. Sie beschreiben das Leben auf dem lande und die probleme der heranwachsenden, manche sind bebildert, andere sehr anschaulich formuliert. die meisten texte wurden auf Russisch geschrieben, einige teilnehmer schrieben ihre Reportagen sogar in der Fremdsprache, nämlich auf deutsch. und auch in ihrer länge sind sie sehr unterschiedlich – während dem einen die höchstgrenze von 15 000 Zeichen noch nicht reicht, formulieren andere ihre gedanken in wenigen sätzen oder verpacken sie in ungewöhnliche Formen, wie power-point-präsentationen oder Grafiken.

aus der Vielzahl der Einsendungen hat eine deutsch-russische jury aus journalisten, diplomaten, professoren und kulturmittlern schließ-lich die zehn besten beiträge ausgewählt und prämiert. diese wurden im internet auf www.goethe.de/moskau veröffentlicht, zusammen mit informationen über das gesamte projekt, das aus mehreren teilen be-stand. den auftakt bildete ein dreitägiger journalistenworkshop zum thema „jugendpresse und neue medien“ in moskau. hierbei wurde die Basis für die Zusammenarbeit mit dem Jugendmagazin „fluter.de“ gelegt, auf dessen Webseiten ebenfalls einige der Wettbewerbsbei-träge erschienen sind. Weiterhin organisierte das goethe-institut in kooperation mit der stiftung deutsch-Russischer jugendaustausch und lokalen partnern in der uralstadt perm ein deutsch-russisches medienforum mit nachwuchsreportern aus beiden ländern. den Rahmen für das insgesamt fast neunmonatige jugendprojekt „das jEtZt-gefühl“ bildete der gleichnamige Reportagewettbewerb.

das vorliegende buch nun bildet den abschluss des projekts. Wir vom goethe-institut wissen jetzt, wie es sich anfühlt, jung zu sein im heutigen Russland. Wir ahnen, was es ist, was es sein könnte – dieses „jEtZt-gefühl“. und wir meinen, dass es viele andere auch interessiert, wer die Jugend von heute ist, was sie hofft, wonach sie strebt und woran sie sich orientiert. aus diesem grund haben wir eine auswahl aus texten und Fotoreportagen zusammengestellt, die in ihrer komposition eine unterhaltsame und informative lektüre sein soll. dazu wurden alle texte übersetzt und wenn nötig gekürzt, um so viele perspektiven wie möglich abbilden zu können. jeder einzelne beitrag fokussiert auf einen bestimmten aspekt des jungseins in Russland, in ihrer gesamtheit funktionieren die texte und Fotos wie ein kaleidoskop: sie zeigen ein buntes bild aus optimismus und trübsal, lebensfreude, leidenschaft und Zuversicht.

Viel spaß beim lesen!

Dana Ritzmann, Projektleiterin

So fühlt es sich an jung zu seinMomentaufnahmen aus den Weiten Russlands

Vorwort

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Glossar

�. Schigulikult auf vier Rädern. der preisgünstige autoklassiker der sowjetunion wurde nach den schiguli-bergen in der nähe von togliatti benannt, wo er bis heute gebaut wird. in deutschland kennt man ihn vor allem unter dem namen lada.

�. Kopejkader erste aller schigulis bekam den liebevollen beinamen „kopejka“ – wegen der Zahl 1 auf der kopeke. diese ist nämlich eigentlich eine münze, der kleine bruder des Rubels. außerdem gibt es heutzutage eine supermarktkette namens „kopejka“, wo man günstig – also für kopeken - einkaufen kann.

�. Plow Ein Reistopf gegen Fernweh: obwohl dieses herzhafte gericht aus Reis, Fleisch und gemüse seinen ursprung in der zentralasiatischen küche hat, ist es von russischen speisekarten nicht mehr wegzudenken.

�. Chruschtschowkamit dem sowjetischen generalsekretär nikita Chruschtschow kam in den frühen 60-er jahren der soziale Wohnungsbau nach Russland: im gegensatz zu stalins prächtigen Prestigebauten, sollte nun möglichst viel Wohnfläche auf kleinstem Raum entstehen. Fortan hießen die schnell und billig hochgezogenen plattenbauten mit üblicherweise fünf stockwerken „Chruschtschowka“. im moskau der neuzeit werden die unkomfortablen mietskasernen zunehmend abgerissen und durch moderne Wolkenkratzer ersetzt.

5. Soljankaan dieser traditionell mit eingelegtem gemüse zubereiteten suppe wärmt man sich besonders gern im russischen Winter. in einer Fleischsoljanka sind angeblich nie we-niger als sieben verschiedene sorten Wurst und Fleisch. Es gibt die suppe aber auch als Fischvariante und nie ohne eine scheibe Zitrone und einen klecks saure sahne.

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6. KWN Verstehen Sie Spaß? Zappen Sie sich in diese Comedy-Kultsendung und finden Sie es heraus! die drei buchstaben stehen für „klub Wesjolych i nachodschewtschych“, was so viel bedeutet wie „der klub der lustigen und schlagfertigen“. Russischer humor – auf knopfdruck.

7. Fabrika Swjosdnoch so ein publikumsrenner auf Russlands mattscheibe. in dieser soge-nannten „Fabrik der sterne“ sucht das größte land der Welt seine superstars – wenn der Ruhm auch manchmal keinen sommer überlebt. klingt vertraut? ist auch nichts anderes als deutschlands „dsds“-staffeln, eben nur auf Russisch.

8. Jolkader Weihnachtsbaum – ist in Russland ebenso bunt geschmückt wie in deutsch-land. doch statt des Christkindes oder santa Claus legt hier Väterchen Frost die geschenke unter den baum und das auch erst in der silvesternacht. in den meisten Familien steht der baum bis zum 13. januar, dem neujahrsfest nach dem julianischen kalender.

9. Baltika 9Ein bier kommt selten allein, vor allem, wenn es sich um ein Erzeugnis der größten brauerei Russlands handelt. die palette des st. petersburger gerstensaftes reicht vom alkoholfreien Baltika 0 über diverse Zahlen mit spezifischen Charakteristika bis zur nummer 9, einem acht prozent starken lagerbier.

�0. Semetschki Von moskau bis Wladiwostok sind sie in aller munde: die getrockneten sonnenblu-menkerne. kinder wie kioskdamen lieben sie als snack für zwischendurch.

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Unser Leben im Zeitraffer

�97�geboren wurden wir auf dem höhepunkt der so genannten stagna-tion. unser schicksal war vorbestimmt durch den beruf und die stellung unserer Eltern. Von kindheit an konnten wir uns ausmalen, was uns erwartet. Eine eigene Wohnung und ein eigener „schiguli“ waren damals das Äußerste, von dem man träumte. auf auslandsrei-sen konnte man nur unter sehr glücklichen Umständen hoffen. Aber durch die sowjetunion zu reisen, war auch interessant – das riesige land hatte jede menge sehenswertes zu bieten. meine mutter legte von den gehältern, die sie und mein Vater als wissenschaftliche mit-arbeiter bezogen, zwei bis drei Rubel im monat zur seite und brachte es damit fertig, zwei urlaube pro jahr zusammenzusparen: im Winter in den bergen, im sommer am meer. die Eltern meiner Freundin – Fabrikarbeiter und ministerial-sekretärin – verdienten das doppelte, doch ihr lebensstandard war kaum höher.

�98�im herbst jenes jahres wurden wir in die pionierorganisation aufgenommen – und breschnew starb. Wie hätte man neunjäh-rigen schülern erklären sollen, was der tod eines staatsführers bedeutet, der 17 jahre an der macht war? sie freuten sich, weil am

Tag der Beisetzung der Unterricht ausfiel und die unteren Klassen nach hause gehen durften. Weniger glück hatten jene, die zu dem Zeitpunkt bereits pioniere waren. stolz darauf, im Vergleich zu ihren klassenkameraden etwas besonderes zu sein, mussten sie in der schule bleiben und die übertragung der beisetzung im Fernsehen anschauen. Eine echte Qual waren für uns die drei schweigeminuten, während derer im lande alles still stand. auch wir mussten stehen und den pioniergruß ableisten.

�985den aufstieg von gorbatschow an die spitze und den beginn der perestroika erlebten wir in der fünften klasse. die umwälzungen im lande fielen mit unserer eigenen Veränderung zusammen: der pubertät. Wir standen an der schwelle zum Erwachsenwer-den und fingen an, das eine oder andere zu begreifen. Eine Flut neuer informationen ergoss sich über die bildschirme und Zeitungsseiten. Wir saugten alles gierig auf, aber wir waren jugendliche – und das heißt: maximalisten. Wir lebten im Vor-gefühl großer Veränderungen, planten aber gleichzeitig unser leben entsprechend der sowjetischen Realität. Eine andere kannten wir schließlich nicht.

Anna Wyssozkaja��, Moskau

In diesem Jahr werden meine ehemaligen Mitschüler und ich 34. Wir können uns nicht beklagen. Es waren geruhsame Zeiten, in denen wir aufgewachsen sind. Die Schrecken des Großen Vaterländischen Krieges trafen unsere Großmütter und Großväter, in den Afghanistan-Krieg zogen unsere älteren Brüder, in Tschetschenien landeten die jüngeren. Bei uns gab es weder Kriege noch Hunger oder Entbehrungen. Wir haben uns lediglich inmitten radikaler Veränderungen wiedergefunden.

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�990Wir beendeten die schule, ein jahr, bevor das land, in dem wir geboren und groß geworden waren, zu existieren aufhörte. Wem es was genau nicht recht gemacht hatte, war uns unklar, doch in den Vordergrund rückten ganz andere sorgen. Wir studierten, und unseren Eltern wurden die löhne nicht ausbezahlt. also mussten wir etwas hinzuverdienen. kiosk-Verkäufer, telefon-dispatcher, sekretärin in einer Firma – das war alles, womit wir rechnen konnten. das studium stand hintenan. ob unsere ausbil-dung uns später von nutzen sein würde, war alles andere als gewiss.

�996das studium gehörte für uns zu der schönsten Zeit. das Einzige, was es von anderen unterschied, war die tatsache, dass wir keine Vorlesungen schwänzen mussten. die lehrkräfte sagten den unterricht selbst ab, weil sie kein geld hatten, um sich jetons für die metro zu kaufen.das land schlingerte von einer seite zur anderen, und wir wurden mitgeschlingert. aus dem Wunsch he-raus, wenigstens ein bisschen stabilität zu erlangen, gründeten wir Familien, brachten kinder zur Welt. die Familien zerbrachen, und wir wussten nicht, an was wir uns noch klammern konnten.Als wir unsere Diplome empfingen, träumten wir nur von einem: irgendeine Arbeit zu finden, bei der die gehälter regelmäßig gezahlt würden.

�000als kinder glaubten wir, im jahr 2000 würden die science-Fiction-bücher wahr. die Zukunft erschien uns hell und problemlos. am Ende stellte sich jedoch heraus, dass sich mit dem Wechsel aller vier jahres-zahlen rein gar nichts änderte. der schulabschluss lag nun zehn jahre zurück. Fast alle hatten inzwischen kinder, eine mehr oder weni-ger anständige arbeit, bei einigen zeigten sich bereits erste anzeichen von Wohlstand – eigene autos und mobiltelefone, die damals noch seltenheitswert besaßen.das jahr brachte uns nichts neues. Wir arbeiteten wie verrückt, versuchten uns zu beweisen, etwas erreichen und karriere machen zu können. nur die kindheitsbilder und die Vorstellung, dass wir die Wo-chenenden auf anderen planeten verbringen würden anstatt auf der datscha, ließen uns traurig lächeln.

�005den 15. jahrestag des schulabschlusses begingen wir im Restaurant. prahlten mit unseren Erfolgen, tauschten Visitenkarten aus. drei hatten ihre eigenen Firmen, ein mittelmäßiger schüler war personal-

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chef in einem großen staatsbetrieb geworden, ein gelernter boden-kundler arbeitete in der Wirtschaft, ein ingenieur und systemtech-niker als journalist, andere ingenieure waren manager in bekannten Firmen. nur zwei ausgebildete pharmazeuten arbeiteten in ihren berufen. kurz, alle waren versorgt und zufrieden mit ihrem schicksal. oder sie nahmen es einfach als gegeben hin, denn ändern konnten wir daran ohnehin nichts mehr.

�006das jahr unseres 33. geburtstages. mit uns selbst und unserem lebensglück beschäftigt, erfuhren wir erst im dezember, dass im sommer unser einstiger klassenlehrer gestorben war – im alter von nur 47 jahren. Er hatte uns zusammengeschweißt, geformt, uns beigebracht, was er wusste, doch selbst vermochte er sich nicht zu verwirklichen und an die neuen bedingungen anzupas-sen. Er verließ die schule mit uns gemeinsam. Wir waren seine ersten und letzten schüler. damals erhielten die lehrer wie so viele andere berufstätige keinen lohn, und er fing in einer möbel-firma an. die letzten paar jahre arbeitete er als handelsvertreter und versicherte uns, dass ihm das nicht das geringste ausmache. unserem eigenen seelenfrieden zuliebe glaubten wir ihm. Wir organisierten unser leben und dachten, dass er, der uns gemein-sam mit unseren Eltern erzogen hatte, auf alle Fälle stärker und klüger war und dabei noch so jung, dass er seinen Weg finden würde. Er fand ihn nicht. sobald der schnee taut, werden wir uns auf den Weg machen zu seiner letzten Ruhestätte, um abschied zu nehmen.

Die Zeit ist reifEine bekannte, die genau zehn jahre jünger ist als ich, fragte mich einmal: „Wozu hast du eigentlich an der technischen hochschule studiert, wenn du als Redakteurin arbeitest?“ ich versuchte es ihr zu erklären, doch sie verstand nicht, wie das hatte passieren können. nur zehn jahre unterschied, doch diese jungen leute wuchsen bereits unter völlig anderen bedingungen auf. Wir begannen unser Erwach-senenleben gemeinsam mit dem neuen Russland, und während es seine Richtung suchte, suchten wir die unsere. das hat uns viel Zeit gekostet. der Weg erwies sich als kurvenreich, doch wir konnten es zu etwas bringen. auch wenn unter uns keine oligarchen sind und keiner die sterne vom himmel des showbusiness holt. sollte jemand weiter nach oben klettern wollen: Es liegt alles noch vor uns. Wir sind erst 33, und jetzt kommt unsere Zeit – die Zeit meiner generation. ganz entschieden jetzt, und ganz entschieden meiner generation. denn wir sind noch jung, haben aber den jugendlichen maximalismus und nihi-lismus bereits hinter uns gelassen. Wir wissen, dass es töricht ist, das Vergangene völlig zu verleugnen. Wir erinnern uns gut der geschichte unseres landes und der Erzählungen unserer großväter über den krieg, weshalb wir mit nationalismus und erst recht mit nazismus nichts zu tun haben wollen. Wir schauen uns die Welt gern mit eigenen augen an, doch leben werden wir in Russland und hier auch unsere kinder großziehen. Wir hoffen sehr, dass Drogen und religiöse Sekten einen bogen um sie machen. Wie verlockend für uns karriereziele auch sein mögen, unser leben ist undenkbar ohne Familie. Wir glauben an unsere Fähigkeiten, aber sind auf sämtliche schicksalsschläge gefasst. Vielleicht sind die meisten von uns Zyniker und pragmatiker geworden – doch zum glück haben wir noch nicht verlernt, zu träumen.

„Wir begannen unser Erwachsenenleben gemeinsam mit dem neuen Russland, und während es seine Richtung suchte, suchten wir die unsere.“

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Marina Aksenowa�0, Nowosibirsk

der minibus überquert eine brücke, die die beiden ufer der zugefro-renen bucht verbindet. am horizont, von der Wintersonne beschie-nen – ein panorama stattlicher Einfamilienhäuser, die sich die „neuen Russen“ in der siedlung mit dem schönen namen „die smaragdene“ gebaut haben. unter der brücke – Yachten und boote in Erwartung der sommersaison, vorn ein posten der Verkehrspolizei und das Wohnviertel „nord“ mit seinen grauen blocks, in die viele umgezogen sind, als es mit dem Wohnungsmarkt bergab ging.noch ein stück – und der minibus biegt in die wichtigste straße dieser einstigen kleinen industriestadt in sibirien ein, die lenin-stra-ße. Eine typische straße sibiriens. geschäfte, die post, das gericht. schilder in den Fenstern der Wohnhäuser: hier das notariat, da der Friseur, dort ein schönheitssalon. auf halber höhe der straße das kulturhaus und das lenin-denkmal: der Führer des proletariats reckt einen arm in die Ferne.

Iljaden spitznamen bulldogge hat der 20-jährige ilja vor einem jahr wegen seiner rundlichen Wangen und seiner kleinen blauen augen verpasst bekommen. außerdem gibt er sich bei prügeleien nie geschlagen und verbeißt sich in seinen gegner wie ein kampfhund. letztes Frühjahr haben zehn männer bei einem improvisierten Treffen am Lenin-Denkmal einen Spitznamen erhalten: Bonja, Seryj, andron, Fantomas und so weiter. ihrer meinung nach war das damals ein bedeutsames Ereignis für die lenin-straße: sie gründeten eine

organisation für den kampf gegen die „anderen“: die usbeken und Tadschiken, die den jungen Leuten in jüngster Zeit immer häufiger auf „ihrem territorium“ begegneten.am geburtstag der „Weißen bruderschaft“ sieht der stämmige ilja in seiner schwarzen lederjacke und den dunklen jeans, die in hohen militärschuhen mit weißen schnürsenkeln stecken, nicht übel aus. Erst versuchen die jungs gemeinsam „mein kampf“ zu lesen, doch dann haben sie keine lust mehr. sie besorgen sich bier und setzen sich in den Vorortzug, um zu den „skins“ nach nowosibirsk zu fahren, die dort immer sonntags zusammenkommen.

ilja, der nicht lange die schulbank gedrückt hat und als Verladearbei-ter in einer Privatfirma arbeitet, schlägt eines Tages der Gruppe vor, „ein ding zu drehen“ und die nichte des ewig betrunkenen nachbarn, des Rentners onkel sascha, zu rächen. der hatte tags zuvor sein leid geklagt. Ein usbekischer arbeiter aus einem Werk für gehwegplatten habe seine 18-jährige nichte geschändet. ilja erörtert das problem mit der „bruderschaft“. sie entscheiden sich für Rache.Ein jahr später, als ilja im gerichtsaal auf das urteil wartet, fällt es ihm schwer, den Verlauf der Ereignisse zu rekapitulieren: wann und wie sie sich getroffen, worüber sie geredet und womit sie die verängstigten menschen aus Zentralasien mit den dunklen haaren und augen geschlagen haben. die jungs versperrten ihnen einfach den Weg, lauerten ihnen in schlecht beleuchteten gassen am Rande der lenin-straße auf. Einem älteren mann, der eine russische

Links und rechts der Lenin-Straße Es gibt sie praktisch in jeder russischen Stadt und sie gleichen sich bis heute, so wie es sich die sowjetischen Planer einst ausgedacht haben. Die Lenin-Straße, eine Institution, gleichsam ein Symbol für die Heimat. Doch auch wenn sie sich ähneln, so unterscheiden sie sich doch durch ihre Bewohner. Die nämlich sind alle verschieden, haben ihre eigenen Erinnerungen, Träume und Hoffnungen. Dies sind die Geschichten von Ilja, Sadyk, Max, Lena und Natascha – vier jungen Leute, die nichts außer ihrer Adresse verbindet. Und die es trotzdem so überall in Russland geben könnte.

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Frau am arm hatte, verpassten sie 22 messerstiche. Warum? Was hatten ihnen die Zugereisten getan? diese Fragen stellten sich die skinheads nie.„ich fühle überhaupt nichts, die Zeit scheint stehen geblieben zu sein. ich habe keine Wünsche. Will nur so schnell wie möglich erfahren, wie viele jahre ich einsitzen muss. leid tut’s mir für meine mutter und meinen stiefvater“, sagt ilja mit gedämpfter stimme zu den Journalisten, während er im „Käfig“ für die Verhafteten sitzt.bis der Richter erscheint, bleibt noch eine minute. im saal warten schon die anwälte der neun angeklagten ehemaligen „Weißen brüder“. Endlich verkündet der Richter im bedrohlich schwarzen mantel das urteil: „im namen der Russischen Föderation …“ die journalisten, die Rechtsanwälte, die neun angeklagten, die Wachleute, die Eltern – alle hören angestrengt zu. draußen heult in dem moment ein Vorortzug vorbei und verschluckt die leise, monotone stimme des Richters. alle schauen sich an – wer wie lange hinter gitter muss, hat niemand verstanden. noch eine minute – und alle neun mitglieder der organisation sind der nationalistischen hetze für schuldig befunden und zu unter-schiedlich langen haftstrafen verurteilt. die stille im Raum wird vom Weinen der Eltern überlagert. die Wachen legen den „Weißen brüdern“ handschellen an. in die lenin-straße kehren sie erst in acht jahren zurück. dann vielleicht schon in ein anderes leben.

Sadykder 22-jährige arbeitslose, sadyk, singt gern ein tadschikisches liebeslied vor sich hin, wenn er die lenin-straße entlang spaziert. in buchara, wo er herstammt, werden solche gedehnten, zärtlichen Weisen oft gesungen.Er bewohnt im Zentrum der kleinen sibirischen stadt eine mietwoh-nung beinahe ohne möbel. in der lenin-straße lebt er mit seiner schwester diljara, die in diesem jahr ihren schulabschluss macht, und der mutter. sie verkauft obst auf dem zentralen markt. die mutter ist zufrieden – sie hat arbeit, und sie alle halten sich in dieser kalten gegend über Wasser.Während er durch den knirschenden schnee läuft, denkt sadyk an

seine straße in buchara zurück, wie sie im sommer mittagsruhe hält. in den einstöckigen häusern ist es dann trotz 50 grad außentempe-ratur kühl. die menschen haben seit der morgendämmerung bereits in ihren Vorgärten gearbeitet und auf dem basar gehandelt, um Reis, Fleisch und gemüse zu kaufen sowie gewürze, nach denen man in sibirien lange suchen kann. jetzt trinken sie tee in ihren lauben, die mit Weinreben überhangen sind.seine straße in buchara ist international. im haus gegenüber zum beispiel leben usbeken, ein stück weiter koreaner, nebenan tadschiken und am Ende der straße, heißt es, sei ein waschechter kurde aus dem iran eingezogen. Wie der in usbekistan gelandet ist, weiß keiner. dafür haben alle mindestens einen Verwandten, der in Russland arbeitet. Wenn der mal nach hause kommt, richtet er vom dort verdienten geld eine hochzeit aus, ein Fest für die Verwandt-schaft, schnappt sich seine Frau – und fährt wieder nach Russland.„Wenn bei uns einer 50 dollar verdient, ist das gut“, sagt sadyk. „die Familien in usbekistan sind groß und laut, aber jederzeit bereit, alles zu teilen. Es kam vor, dass schon morgens die nachbarin herbeieilte und sich ein stück seife für die Wäsche borgte oder eine schachtel streich-hölzer, um das gas in der küche anzuzünden und plow zu kochen, der herrlich duftete. aber hier in sibirien gibt es solche nachbarn nicht, die leute sind überhaupt kalt – die grüßen sich ja kaum.“Was sucht sadyk, ein gut aussehender schlanker junger mann in akkuraten blauen jeans und einem weißem pullover, der seine dunkle gesichtsfarbe vorteilhaft unterstreicht, in diesem entlegenen sibirischen städtchen? „Wir werden schrittweise vorgehen. Erst lassen wir uns die nötigen papiere ausstellen, nehmen die russische staatsbürgerschaft an, dann klappt es vielleicht auch mit der arbeit. ich habe schließlich bei uns die Verkehrsfachschule absolviert, da tut es weh, hier keine arbeit zu haben“, sagt er.hier in sibirien hat er seine erste und, wie ihm scheint, einzige liebe kennen gelernt: die gleichaltrige Russin lena, die tochter der Vermieterin. „lena gibt mir interessante bücher. diesen Winter habe ich viel gelesen, während ich zu hause saß und auf arbeitssuche war. mein Russisch ist inzwischen auch gut. in der ersten Zeit habe ich kaum etwas verstanden. Vielleicht lebe ich mich irgendwann auch in sibirien ein.“

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Maxmax ist 33. Wissenschaftler. Chemiker. oft im ausland. Er beherrscht fünf Fremdsprachen: deutsch, Englisch, Französisch, spanisch und japanisch. in anderthalb jahren hat er sich an der universität tokio 2 000 japanische schriftzeichen angeeignet. als er von einem wissenschaftlichen symposium in tokio in seine kleine Zweizimmerwohnung in einer fünfgeschossigen „Chruscht-schowka“ in der Lenin-Straße zurückkehrt, holt er aus dem Koffer einen strahlend blauen Frauenkimono mit blumenmuster hervor. Ein geschenk für seine mutter.die mutter, früher krankenschwester und heute Rentnerin, hat aus gegebenem anlass seine geliebte honigtorte mit Walnüssen gebacken, die so zart ist, dass sie im mund zerläuft. ihren stolz darüber will sie gar nicht verbergen – nicht umsonst hat sie den sohn viele jahre allein durchgebracht, indem sie im krankenhaus in zwei schichten arbeitete. Für die Chemie hat er sich von selbst begeistert. schon in der schule brachte er alle möglichen mittelchen und Reagenzgläser mit nach hause und führte Experimente durch. Einmal hätte er fast die Wohnung in brand gesetzt, weil er die Chemikalien nicht in der gebotenen Reihenfolge mischte.max hat große pläne. Er plant alles im Voraus – Vorlesungen an der uni-versität, Treffen mit Freunden, Arbeit am Wochenende, die Teilnahme an Wettbewerben zur Vergabe von stipendien. „Zurzeit beziehe ich drei stipendien. Für mich ist das die norm, um geld zu verdienen“, sagt er.alles, wonach sich neben der karriere zu streben lohnt, ist in seinen augen die harmonie mit sich selbst und den menschen um sich herum. „die armseligkeit der lenin-straße fällt mir gar nicht auf, genauso wenig wie die kälte oder der mangelnde komfort im nahverkehr. das alles be-rührt mich kaum, weil ich an etwas zu arbeiten habe, weil ich ausgefüllt bin, tausend ideen für die lösung wissenschaftlicher problemstellungen im kopf habe, die mich tag und nacht beschäftigen“, sagt er.„Einmal im monat zum beispiel kommt mich ein Freund vom lande besuchen, mit dem wir dann soljanka essen in einem Café an der Ecke. Weißt du, die kochen da gar nicht mal schlecht. natürlich nicht so gut wie in deutschland: Wenn man dort isst, dann richtig – die portionen sind ungewöhnlich groß, lecker und machen satt.“schon in zwei monaten lässt max die lenin-straße wieder einmal

hinter sich und fährt auf die kanaren, wo er in einem projekt an der universität arbeiten wird. und wo die Wege vor seinem haus nicht mit birkenzweigen gefegt werden, sondern mit zusammengebun-denen palmenblättern.

Lena & Nataschanatascha und lena wohnen in einem alten Ziegelbau. sie leben zusammen wie mann und Frau. ihre beziehung behalten die 30-jährigen jedoch für sich. lena arbeitet in der größten Firma der stadt als rechte hand des direktors und spricht Englisch. natascha ist dj bei der lokalen Radiostation, sie moderiert die morgenshow.„als ich lenka auf einem Festival in moskau gesehen habe, war mir sofort klar, dass wir zusammen gehören. sie hat in der hauptstadt stu-diert und lange gearbeitet. Von dort weg zu gehen, fiel ihr nicht leicht. aber ich habe darauf bestanden. bei mir lief mit der arbeit alles wie am schnürchen. deshalb bin nicht ich zu ihr, sondern sie hat moskau aufgegeben und ist zu mir gezogen“, erzählt natascha, die bereits ihr ganzes leben in der lenin-straße wohnt.lena gefällt die straße nicht, genauso wenig wie das sibirische städt-chen. „Weißt du, ich kann mich in der provinz irgendwie nicht eingewöh-nen. mir scheint, dass es überhaupt nicht geht, nach moskau irgendwo am Ende der Welt zu arbeiten. die leute denken anders, lassen dauernd ihre gefühle sprechen, können sich noch nicht einmal verständlich artikulieren“, sagt lena.sie und natascha wollen in ein anderes land ziehen. Weil sie glauben, dass sich ihr lebensmodell früher oder später herumspricht und sie dann keine nachsicht erwarten können – hier versteht man solche gleichgeschlechtlichen beziehungen noch nicht, verurteilt und fürchtet sie deshalb.

lena schweigt sich auf der arbeit aus und spricht von natascha wie von einem mann: „Er sagte“, „er machte“. natascha schaut lena mit verliebten augen an, sichtlich hin und weg von allem, was ihre lebensgefährtin tut. „Wir wissen noch nicht, wie das mit uns weitergehen wird, aber in den zwei jahren haben wir uns noch nie gestritten. Wir leben einträchtig miteinan-der, und natürlich wollen wir kinder. ich möchte nur nicht, dass sie in dieser stadt und dieser straße aufwachsen“, sagt natascha.

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Ein kleiner junge mit aufgemalten, erstaunten augenbrauen und einem charmanten lächeln fährt Einrad, läuft auf einer großen kugel und springt so hoch, als ob er Flügel hätte. und das alles mitten in einer bunten, jonglierenden, rollenden kinderwelt. noch vor einer halben stunde saß er in seinem kleinen langweiligen häuschen auf der bühne und scheute sich vor der großen, schön runden Welt, die er jetzt entdeckt hat. „Rundes märchen“ heißt das stück, das der Zirkus gerade im Moskowski-Familienzentrum aufführt. aus dem dunkel des Zuschauersaals hört man ab und zu klatschen und lachen. Es ist ziemlich schwer, die Zuschauer – ebenfalls kinder „aus schwierigen Familienverhältnissen“ wie sie offiziell heißen – zum lachen zu bringen. doch den artisten des Zirkus upsala gelingt es. sie treten oft in petersburger kinderheimen, behinderteneinrich-tungen und Familienzentren auf. jeden sommer geben sie gastspiele in deutschland. sie erzählen den Zuschauern heitere geschichten von der Entdeckung ihrer Welt, von kleinen und großen Wundern, die jedem begegnen können, wenn er nur offen und lebensfreudig bleibt. die namen ihrer stücke lassen auch Erwachsene träumen: „Wolken in mir“, „Die Stadt im Koffer“ oder eben „Rundes Märchen“.die lebensgeschichten der meisten upsala-artisten sind dabei alles andere als märchenhaft – es sind vor allem straßenkinder. noch vor einiger Zeit beschränkte sich ihre kleine Welt auf petersburger Hinterhöfe, aufs Betteln, Flaschen sammeln und Klebstoff schnüffeln. die meisten upsalaner sind nicht wirklich obdachlos. sie haben theo-retisch ein Zuhause: eine verkommene Familie mit alkoholsüchtigen

Eltern oder ein unfreundliches kinderheim – dahin will man abends nicht zurückkehren. manchmal hören die pädagogen grausame geschichten darüber, was die kids in ihrem leben schon erlitten haben – es reicht von gewalt bis drogen. doch hier in diesem hellen schulsportsaal, wo die upsalaner jeden tag hinkommen, scheinen sich alle gespenster ihres alltagslebens in luft aufzulösen: der Zirkus upsala, der vor sechs jahren in der newa-stadt von der berlinerin astrid schorn ins leben gerufen wurde, reicht solchen kindern in not die hand.

Jedes Kind hat seine Stärken, es muss sie nur entfalten dürfenjeden tag außer am Wochenende kommen die 26 kinder nachmit-tags zum training in die schule nr. 25 nahe der metrostation tschka- lowskaja. manche, wie zum beispiel die brüder kolja und mischa, legen dafür täglich einen vierstündigen Weg zurück. bei „upsala“ lernen sie nicht nur, dass Fluchen unanständig, Klebstoff schädlich und schuleschwänzen unvernünftig ist – sie lernen auch sich selber kennen. „jedes kind hat seine stärken, seine talente, man muss sie nur entfalten können“, sagt die junge Regisseurin larissa afanasjewa, die den Zirkus zusammen mit astrid schorn aufgebaut hat. der kleine kyrill übt seit einer halben stunde konzentriert, auf stelzen zu laufen, während alle andere kinder mit dem akrobaten jaroslaw mitrofanow neue Räder und salti erlernen. kyrill ist eigenwillig und lässt sich kaum führen. heute vermeidet er sprünge: Er will mit

Ein Zirkuszelt der Hoffnung Der Petersburger Straßenkinder-Zirkus Upsala will seinen jungen Artisten mehr als nur eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung bieten: Das deutsch-russische Projekt gibt Heranwachsenden aus schwierigen Verhältnissen eine Chance für die Zukunft. Jetzt bereitet man sich auf die Sommersaison vor.

Anna Litvinenko�5, St. Petersburg

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den stelzen klar kommen. der wendige junge ist schon oft hingefallen, doch jedes mal steht er lachend wieder auf und übt fleißig weiter. Endlich ist er soweit und ruft stolz Larissa, um ihr sein können zu zeigen. „gut gemacht“, lobt ihn lächelnd die pädagogin. „Wenn du noch dazu jonglieren könntest, das wäre cool!“ in ein paar minuten hat kyrill sich schon bälle ausgesucht und macht sich begeistert an die neue aufgabe.

Ständig auf der Suche nach Geld, Kleidung und einem Dach überm Kopfobwohl ihnen mit den kindern so manche Verwandlung gelingt, sind die gründerinnen des petersburger straßenkinderzirkus‘ keine ausgebildeten Zauberkünstlerinnen. astrid schorn hat in berlin sozialpädagogik studiert. durch ein praktikum in st. petersburg lernte sie viele sozial benachteiligte kinder kennen, aber auch menschen, die ihnen helfen wollen. „als mein praktikum zu Ende war, kam ich mit vielen ideen und großem Enthusiasmus nach deutschland zurück und begann sponsoren für das neue projekt zu suchen“, erzählt die 30-jährige. so wurde der Zirkus upsala geboren – dessen name übrigens nichts mit der stadt uppsala in schweden zu tun hat, sondern die russische Entsprechung von „hoppsala“ darstellt: Es wurde ein Upsala-Verein in Deutschland gegründet, denn man musste ständig Geld finden, um Essen und kleidung für die kinder zu besorgen, Requisiten zu kaufen und einen trainingsraum zu bezahlen. die stadt st. petersburg, in der laut statistik etwa 10 000 kinder auf der straße leben, hat das projekt bislang kaum unterstützt. die upsalaner mussten immer wieder neue trainingsräume su-chen und es gab Zeiten, in denen sie völlig obdachlos waren. „Wir haben aber beschlossen, dass wir keinen tag training ausfallen lassen, selbst wenn wir uns unter freiem himmel versammeln mussten,“ erzählt larissa.

heute haben sie dank des direktors der schule nr. 25 auf der petrograder seite nachmittags drei Räume zur Verfügung, darunter auch ein kleines büro. hier arbeitet jeden tag ein team, beste-hend aus der leiterin larissa afanasjewa, der direktorin marina demahowskaja, zwei sozialpäda-goginnen, zwei professionellen akrobaten und mehreren deutschen und russischen Volontären. karl mund ist zum beispiel erst vor wenigen Wochen aus bayreuth angekommen und hat gleich das Vertrauen der kinder gewonnen – sie hängen bereits sehr an ihm. upsala hat alle Erwar-tungen des deutschen Studenten übertroffen: „Ich dachte nicht, dass hier alles auf so einem professionellen niveau gemacht wird.“

Wenn ein Funke in den Augen zum Feuer wird um sieben fängt das training bei der zweiten gruppe an. Es sind kinder, die schon seit langem im Zirkus sind und viel können. ihre Flick-Flacks sind für die neuankömmlinge atemberaubend, ihr auftreten auf der bühne – ein Vorbild. der 16-jährige kolja, der im stück „Rundes märchen“ die Hauptfigur spielt, ist einer der „Alten“. Er ist ein kleiner, etwas schüchterner Junge mit einem sonnigen lächeln. „mir gefällt die gesellschaft hier, und das, was wir tun“, sagt kolja. „ich bin

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schon seit sechs jahren dabei,“ fügt er stolz hinzu. „kolja war einer der schweren Fälle,“ erzählt astrid. Während der ersten zwei jahre verschwand er immer wieder. tagelang musste man ihn in den hinterhöfen und auf dachböden suchen, immer wieder aufs neue zur Rückkehr überreden und vom Klebstoffschnüffeln entwöhnen.„man kann eigentlich in den augen eines kindes gleich sehen, ob es noch zu retten ist,“ sagt die Wahl-petersburgerin. in den augen von kolja verbarg sich damals anscheinend noch ein lebensfunke, der nach acht Jahren täglicher Arbeit zu einem kleinen Feuer aufloderte. in diesem jahr beendet kolja die schule und schwärmt schon von einer Zirkus-ausbildung. „ich denke daran, artist zu werden“, erläutert er etwas schüchtern seinen traum und streicht sich seinen schelmischen pony aus der stirn. nur sein sonniges lächeln lässt in ihm den gestrigen bühnen-helden erkennen, der für seine pantomime im moskowski-Familien-zentrum so viel beifall erhielt. „ich mache mir sorgen, was nach dem Zirkus aus ihnen wird“, sagt larissa. sie sitzt in einem kleinen büro, das mit Requisiten und papier vollgestopft ist, aber mit den pfiffigen Kinderfotos und Zeichnungen an den Wänden sehr gemütlich wirkt. „die erste generation der kin-der ist inzwischen groß geworden. Wenn sie nun aber wieder aus den gleisen geraten? dann war das alles umsonst. Wichtig ist, dass sie die Werte, die wir versuchen, ihnen beizubringen, auch weiter leben“, sagt die Regisseurin nachdenklich. Es sei schwer für die erwachse-nen upsalaner plötzlich selbstständig zu werden.

Wie weiter nach der Zeit im Kinderzirkus?Doch sie schaffen es bisher, die Balance nicht nur auf der Bühne, sondern auch im leben zu halten. die 19-jährige natascha arbeitet mit behinderten kindern in peterhof, der 20-jährige mischa wird bald

seine lehre als tischler abschließen. sergej, schon 21, hat sich ei-nen alten traum erfüllt: Er lernt buchbinder. Wenn larissa über sergej spricht, dann strahlt sie. astrid nennt ihn „die seele von upsala“. der junge galt in seiner schule für zurückgebliebene kinder als aus-sichtsloser Fall. auch bei upsala dachte man zuerst, es sei unmög-lich, ihm etwas beizubringen. doch einer der deutschen Volontäre hat an sergej geglaubt und ihm mühsam einfache tricks beigebracht. „sergej hat sich mit der Zeit als großartiger schauspieler erwiesen“, erzählt larissa. Vor kurzem hat er sogar ein jahr in dresden bei einem Zirkusprojekt verbracht. doch er will nicht wie kolja Zirkus-künstler werden, er mag schöne bücher gestalten. „Es ist ja nicht das Ziel, dass sie schauspieler und künstler werden. Wenn sie gute menschen bleiben, reicht das schon“, sagt larissa überzeugt.die ebenso stämmige wie lebhafte Regisseurin muss jetzt zum training in den sportsaal. sie beginnt heute mit einer besprechung der gestrigen Aufführung. Denn „Zirkus muss clever sein“, wie die gebürtige Sibirierin zu sagen pflegt. Er muss Anstoß zum Fühlen und zum denken geben. „die hauptsache ist, dass ihr auf der bühne die nachbarschulter spürt. Euer nachbar muss euch vertrauen können und wissen, dass ihr den Ball auffangt, den er geworfen hat!“, sagt larissa. die kinder, die einer kleinen rastenden Vogelschar gleichen, hören ihr aufmerksam zu. „und jetzt los, zum springen!“, ruft sie strahlend und im nächsten moment wird der saal zu einem Feuer-werk der fliegenden Upsalaner. Im Frühling wollen sie endlich ihr prächtiges orangeblaues Zirkuszelt beziehen, das jetzt im ver-schneiten schulhof verborgen ist, um regelmäßig vor dem petersbur-ger publikum auftreten zu können. denn ein gutes märchen muss ja rund sein: Es soll nicht enden, sondern immer weiter gehen.

„Es ist ja nicht das Ziel, dass sie Schauspieler und Künstler werden. Wenn sie gute Menschen bleiben, reicht das schon.“

www.upsala-zirk.org

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Wer sich frühmorgens auf dem Weg nach Grosnyj befindet, den macht die schönheit der berge sprachlos. schneebedeckt und wolkenumkränzt. die tschetschenin hawa hasmagomadowa, eine angehende journalistin, schaut aus dem Fenster des sammeltaxis ernst zu ihnen auf. mag sein, dass die berge früher ein symbol gros-nyjs waren. doch bei ihr wecken sie lediglich Erinnerungen an eine nicht gerade gewöhnliche kindheit. „Wir haben uns hier während des krieges versteckt“, sagt sie so ruhig, als ob das in einer fernen Vergangenheit gewesen sei.hawa studiert in krasnodar. das letzte mal war sie vor einem halben jahr in ihrer heimatstadt. in dieser Zeit kann sich vieles verändern. Es heißt, in der tschetschenischen hauptstadt hätten gleich zwei Cafés und ein Kino eröffnet – also kann man den seltenen Gästen et-was zeigen. Einstweilen fahren wir aber auf kaputten straßen, wo uns nur die porträts des lächelnden Ramsan kadyrow begegnen. unsere mobiltelefone haben plötzlich keinen Empfang mehr, in grosnyj unter-hält nur eine Firma ein netz. und das bild eines gemütlichen neuen Cafés löst sich in unseren Köpfen langsam auf. Draußen fliegen häuser vorbei, die ungeheuern ohne augen gleichen. „siehst du, das ist das Erbe des krieges“, sagt hawa, ohne die stimme zu heben. sie wäre eher überrascht, befände sich an diesem ort ein neues Café. doch meine begleiterin weiß nur zu gut: die kriegsschäden sind noch immer so gewaltig wie die berge.der Eindruck, den die häuser in grosnyj hinterlassen, dürfte unver-gesslich sein. Es stellt sich das seltsame gefühl ein, als sprächen die Wände hier eine eigene sprache. da ist zum beispiel iwanowa, ein

stadtbezirk von grosnyj. hier lebt hawas Familie. die dreistöckigen häuser, in den 70er jahren gebaut, ähneln einander – nicht nur vom Typ her, sondern auch, was die Kriegsschäden betrifft. Die Hasma-gomadows haben riesiges glück gehabt. ihr haus kam bei der sanie-rung als erstes im stadtbezirk dran. mit seinen getünchten Wänden und dem neuen Vordach über der außentreppe wirkt es wie nicht ganz von dieser Welt. Wann die anderen häuser an der Reihe sind, steht noch nicht fest. in grosnyj wartet vieles auf den Wiederaufbau. Abends in der Küche werden häufig zwei Themen diskutiert: wessen tochter geheiratet hat und wessen haus instand gesetzt wurde. dabei bedeutet „instandsetzung“ beileibe nicht, dass im haus danach ideale bedingungen herrschen. nur beschwert sich einfach keiner, wenn die Warmwasser- oder die lichtversorgung unterbrochen sind. Während des krieges war an licht überhaupt nicht zu denken.hawa sitzt in der schlecht beleuchteten küche und versetzt sich in ihre kriegskindheit zurück. die intensivste Erinnerung hat sie an die beeren, die sie mit ihrer schwester und ihren zwei brüdern in den bergen sammelte. die beeren waren runzelig und sauer, doch ihren geschmack werden sie kaum je wieder vergessen. „jetzt verstehst du sicher, warum tschetscheninnen keine diät anfangen“, lacht hawa.ansonsten unterscheidet sich das mädchen nicht groß von ihren russischen Freundinnen, mit denen sie ein Zimmer im studenten-wohnheim in krasnodar teilt. sie trägt jeans und begeistert sich für Capoeira, eine brasilianische kampfsportart. junge tschetschenische Frauen haben langsam aber sicher ihre gleichberechtigung mit den männern durchgesetzt. das Recht auf bil-

Tanzen unter Grosnyjs Sternenhimmel Silvester in Grosnyj sollte dem gesamten Land zeigen, dass die Stadt jetzt anders ist – jung, modern und vor allem friedlich. Die Studenten, die für die Ferien hierher kommen, halten sich mit Urteilen erst einmal zurück. Für sie ist es nach wie vor die Stadt ihrer Kindheit.

Tatjana Petschnikowa��, Krasnodar

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dung macht ihnen bereits niemand mehr streitig. und im neuen grosnyj werden sich die Männer auch damit abfinden müssen, dass die Frauen verstärkt arbeiten. „ich bin vermutlich eine karrieristin“, sinniert hawa. „Wenn ich wüsste wo, würde ich schon jetzt arbeiten.“ leider ist sie bei weitem nicht die Einzige, der das „Wo“ zu schaffen macht. Im Moment kommen für junge Leute vor allem freie Stellen als bauarbeiter und Wachleute in Frage. junge tschetschenen wollen nicht etwa krieg führen, sondern bei der Comedy-sendung „kWn“ mitmachen. grosnyjs mannschaft der kWn-komödianten heißt „die tschetschenische spur“ und steht bei Ramsan kadyrow hoch im kurs. in der beliebtheit rangiert sie auf dem zweiten platz hinter dem premier, der sogar Ehrenpräsident von kWn in tschetschenien ist. doch auch hier herrscht eine bedauerliche ungerechtigkeit: kWn ist in grosnyj bislang reine männersa-che. über dem prospekt, der den namen von achmed kadyrow trägt, hängt ein plakat mit einem Foto des halb zerstörten grosnyj und den Worten „so sah es aus“. daneben steht ein bild des wiederhergestellten prospekts: „das ist daraus geworden.“ auf den früheren lenin-prospekt, der erst vor kurzem umbenannt wurde, kann man tatsächlich journalisten einladen. der asphalt ist gleichmäßig, es gibt laternen und Fußwege aus dekorativen gehwegplatten. Vor den neujahrs-feiertagen wurde entlang des prospekts eine girlande mit verschiedenfarbigen lämpchen gespannt, von denen allerdings schon nach ein paar tagen viele fehlten. hier steht auch der zentrale tannenbaum der Republik. am 31. dezem-ber haben in seinem schatten die stars von „Fabrika swjosd“ gesungen, und Ramsan kadyrow tanzte im kostüm von Väterchen Frost. der junge premier zog zum jahresende 2006 eine erste bilanz des programms „nein zu den spuren des krieges“ und gratulierte dem tschetschenischen Volk zu den Ergebnissen.hawa und ihre Freunde haben derweil ein neues hobby entdeckt. sie halten auf ihren handys „spuren des krieges“ fest, die es eigentlich nicht mehr geben dürf-te. Da verbirgt sich beispielsweise um die Ecke eines kürzlich eröffneten Ladens ein Haus mit zerfleddertem Dach oder es kommt eine zerlöcherte Wand hinter einem verzierten Rundbogen zum Vorschein. diese aufnahmen machen dann auf den handys genauso die Runde wie jene vom tanzenden kadyrow.neben der hübsch herausgeputzten „jolka“ erfreut sich am prospekt auch das museum des großen Vaterländischen krieges großer beliebtheit. bisher werden in ihm nur soldatenbriefe und Zeitungen aus den 40er jahren aufbewahrt. doch das gästebuch wimmelt von danksagungen tschetschenischer schüler: „haben sie vielen dank! ich war noch nie in so einem museum.“

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In ein weiteres – bisher offiziell noch geschlossenes – Museum, das nationalmuseum der tschetschenischen Republik, gewährt uns der junge und galante pförtner muhammed Einlass. auf dem boden liegen die künftigen Exponate: bilder von künstlern aus grosnyj und patronenhülsen aus dem ersten tschetschenischen krieg. Wenn das Museum seine Tore öffnet, werden auch hierher sicher Exkursionen von schülern aus grosnyj führen. die lässt man einstweilen aufsätze schreiben. Zum thema: „Ramsan kadyrow – ein held unserer Zeit“.hawa und ich machen letztendlich doch noch die beiden neuen Cafés ausfindig. Leider ist weder in dem einen noch in dem anderen auch nur ein einziger tisch frei. „jetzt weiß man eben, wohin man gehen kann“, erklärt mir hawa. „Früher kamen wir nach grosnyj und saßen einfach zu hause.“Fast ein wenig enttäuscht gehen wir ins „jolki-palki“, eine typisch russische Restaurant-kette. heute herrscht in grosnyj kein mangel mehr an Cafés, Restaurants, schaschlik-buden und pizzerien. hier trifft man sich zum Rendezvous, sitzt mit Klassenkameraden zusam-men oder isst einfach lecker. Für letzteres haben die groß gewor-denen „kinder von grosnyj“ eine besondere schwäche. die Cafés und Restaurants werden vor allem tagsüber besucht. abends haben vorsichtige Eltern noch immer angst, ihre kinder zum spazierengehen aus dem haus zu lassen. ungeachtet der Verbote fahren hawa und ihre mitschülerinnen zum tannenbaum von grosnyj, um sich anzuschauen, wie er in der dunkelheit strahlt. der Weg führt

über die Staropromysslowskoje Chaussee. Hier befindet sich einer der wichtigsten straßenposten der russischen armee. unser auto wird von zwei jungen Russen gestoppt, die uns bitten, ihnen auf dem Rückweg bier mitzubringen. „tschetschenen hätten einfach geld verlangt“, grinst hawas klassenkamerad hasir.das abendliche grosnyj sieht aus wie die Favelas von Rio de janeiro, so traurig dieser Vergleich klingen mag. hier und dort blinken die Worte „alles gute im neuen jahr!“ dass solche glück-wünsche an jedem gebäude im Zentrum der stadt angebracht werden, hat Ramsan kadyrow persönlich angeordnet. „dieses gebäude hier wird wahrscheinlich nicht instand gesetzt, das lässt man als mahnmal stehen.“ die jungen leute zeigen auf einen riesigen betonklotz, von dem nur die Wände übrig geblieben sind: keine Fenster, keine türen, kein dach. daneben entfaltet sich das Feiertagsvergnügen. Ein blick darauf erklärt, warum grosnyj keine nachtklubs braucht. Wenn die tschetschenen etwas zu feiern haben, dann tanzen sie dort, wo sie wollen. inzwischen auch unter dem tannenbaum. und sie tanzen, als handele es sich um einen Wettbewerb. auf dem Rückweg vergessen wir das bier. Zum glück erinnern sich auch die wachsamen hüter der abendlichen Ruhe nicht mehr an ihre bitte. um ehrlich zu sein, ist abends in grosnyj bloß eines schau-rig - wenn in einem vielstöckigen haus nur zwei oder drei Fenster erleuchtet sind.

„Junge Tschetschenen wollen nicht Krieg führen, sondern bei der Comedy-Sendung

KWN mitmachen.”

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in der sowjetzeit hatte die kommunistische partei das politische Erziehungsmonopol auf die russische jugend. heute schwingen sich politiker zu moralaposteln auf. sie erheben den anspruch, die jungen leute zu steuern und zu regieren. aber lässt sich die junge generati-on Russlands noch für ideologien und parteien vereinnahmen?Zur Zeit der Blüte der kommunistischen Partei fing die politische Erziehung der jugend bereits in den ersten schulklassen an. sieben- und achtjährige wurden in die „oktoberjugend“ aufgenommen. damit begann ihre politische prägung und manchmal auch ihre karriere. theoretisch durfte man die Zwangsmitgliedschaft ablehnen, praktisch war es unmöglich. alle jugendlichen durchliefen drei stufen der politischen unterweisung: „oktoberjugend“, „pioniere“, „komsomolzen“. danach wurden sie für das „parteileben“ zugelas-sen. alle gingen in Reih und glied mit einem roten pionierhalstuch und sangen „immer lebe die sonne!“.seit der perestroika und glasnost sind fast zwei jahrzehnte ins land gegangen. pluralismus, demokratie und marktwirtschaft sind in dem maße vorhanden, dass sich das land auf augenhöhe mit den anderen industrienationen fühlen darf. nur die russische Zivilgesell-schaft ist noch unterentwickelt. Viele Russen haben nur eine blasse Ahnung, was dieser Begriff bedeutet und kennen ihn höchstens aus den nachrichten. doch für die Förderung des politischen Engage-ments fallen den politikern nur die Rezepte aus ihrer komsomolzen-zeit ein. bei der Regierungspartei „Einiges Russland“ gibt es die jugendab-teilung „junge garde“. man verspricht den mitgliedern Zugang zur politik und langfristig ein warmes plätzchen in der duma. tatsächlich werden die meisten mitglieder nur als beweis für die demokratische und zivilgesellschaftliche normerfüllung Russlands im ausland

gebraucht. ansonsten sind die jungen aktivisten der „jungen garde“ schlichtweg laufburschen der mutterpartei. in Zeiten des Wahl-kampfes muss das jungvolk Fahnen schwenken oder den jour-nalisten weismachen, dass es mit der politik der Regierung völlig zufrieden ist. der 22-jährige Rustam karimow ist Wahlkampfhelfer. Vor dem oms-ker Einkaufszentrum steht er sich mit zwei kollegen die Füße in den bauch und versucht Wahlwerbung an die passanten zu verteilen. Rustam ist scheu und möchte lieber keine Fragen beantworten. doch die neugier siegt. „Wir wissen eigentlich nicht so viel über die partei selbst. Wir erfüllen hier unsere aufgabe und bekommen ein bisschen geld dafür. das ist alles“, erzählt er. Wie viel geld er verdient, will er nicht sagen. mit parteigesinnung hat sergej tschernakow nichts am hut. Er ist Chefredakteur der omsker studentenzeitung „new’ton“, die mit einer Auflage von 7 000 Exemplaren in der Stadt zirkuliert. Vor zwei Jahren kam sergej auf die idee, eine Zeitung für jugendliche zu machen. „junge leute brauchen informationen, die extra für sie aufgearbeitet sind“, sagt der 24-jährige. als er selbst student war, habe es keine medien dieser art in seiner heimatstadt gegeben. mit der jugendorganisation „junge garde“ steht sergej auf kriegsfuß. In einer der letzten Ausgaben veröffentlichte er einen satirischen artikel über eine missglückte massenveranstaltung der putin-treuen jugend. der autor des artikels mit dem künstlernamen „Van gogh“ verglich die „junge garde“ mit den pionieren der sowjetzeit – kein überraschender Vergleich, wenn sogar die führende politzeitschrift „macht“ nach putins münchner Rede an den sowjetischen generalse-kretär nikita Chruschtschow erinnert. der protest zu dem artikel in der studentenzeitung „new’ton“ ließ nicht lange auf sich warten. kari-

Von Optimisten und Querdenkern

Olga Sasuchina��, Omsk

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na belbass, eine glühende Verfechterin der „jungen garde“ in omsk, rief Chefredakteur tschernakow an und verlangte eine gegendarstel-lung. sergej lehnte ab. mehr Ärger gab es nicht - fast nicht. denn als ökonomisch denkender Chefredakteur möchte auch sergej sein gehalt mit anzeigen aufbessern. die Wahl des gebietsparlaments ist für alle Zeitungen im omsker gebiet eine willkommene gelegen-heit die portokasse aufzufüllen. doch der zahlungskräftigste kunde „Einiges Russland“ hat kein interesse beim „nestbeschmutzer“ zu inserieren. „auch gut“, denkt sich sergej, dann hat er mehr platz für kritische artikel. Er hat sich entschieden, eine politisch unabhängige Zeitung zu führen, in der Zensur nicht stattfindet.Jugendliche schaffen viel in Russland. Die junge Generation unterscheidet sich von den Erwachsenen dadurch, dass sie keine angst hat, etwas zu verlieren. die jungen fangen neu an. sie sind die „generation optimismus“. sie wollen keine oligarchen werden, sie wollen nicht betteln gehen, sondern eine sichere, friedliche Welt nach ihren Vorstellungen und Werten aufbauen. im gegensatz zu ihren Eltern hat die russische jugend heute die möglichkeit über den tellerrand zu schauen – ins ausland. das territorium Russlands liegt auf zwei kontinenten – Europa und asien. seit jeher orientierte sich Russland an Europa, aber in der letzten Zeit hat sich die situation ein bisschen verändert, zumindest hinter dem ural. Viele schauen nicht in die europäische, sondern in die asiatische Richtung. die russisch-chinesischen beziehungen entwickeln sich nicht nur auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. persönliche kontakte nehmen zu.an der pädagogischen universität omsk gibt es seit kurzem den internationalen jugendklub „multikulti“. jeden Freitag um 18 Uhr treffen sich Einheimische und ausländische Studenten zum

abendbrot in der uni, um gemeinsame projekte zu besprechen. auf die idee kam die omsker studentin tanja pismenko. die 22-jährige wird dabei vom theodor-heuss-kolleg der Robert bosch stiftung unterstützt. Zu ihren stammgästen gehören viele chinesische studenten. Einige von ihnen studieren in Russland linguistik, andere sind nur drei monate in omsk, um sibirien kennen zu lernen. trotz der Sprachbarriere findet Verständigung auf witzige Weise durch spiele und gemeinsames kochen statt. „ich spreche selbst kein Chi-nesisch, aber ich möchte andere kulturen kennenlernen“, sagt die initiatorin. interkultureller austausch werde in einer globalisierten Welt immer wichtiger. diesen austausch sollte die russische jugend nicht verschlafen, meint sie.der jugendklub „multikulti“ hilft Vorurteile abzubauen. angst vor der „gelben bedrohung“ hat keiner der einheimischen studenten im Jugendklub. Im Gegenteil. Wissensdefizite werden durch ein Frage-antwort-spiel beseitigt. so möchte der chinesische student lun wissen, warum die jungen Frauen in Russland selbst im Winter Röcke tragen. in China sei so etwas nicht zu sehen. darauf kontern die russischen mädchen mit einer gegenfrage: „gibt es in China überhaupt schnee?“ und lun antwortet: „na klar, mehr als genug.“ „und wir tragen Röcke, weil wir schön aussehen wollen“, sagen die russischen mädchen.dascha und mascha lernen Chinesisch und helfen bei der Verständigung. dass China eine Chance sein kann, haben die beiden erkannt. „jetzt ent-wickeln sich die handelsbeziehungen zwischen China und Russland sehr rasch. übersetzerinnen für Chinesisch sind auf dem arbeitsmarkt sehr gefragt“, sagt mascha. und ihre Freundin dascha fügt hinzu: „ich habe ein großes interesse an China und würde gerne dorthin reisen. aber leben will ich hier in Russland. hier ist meine heimat.“

„Die Jungen fangen neu an. Sie sind die ,Generation Optimismus’.“

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Der kleine Kerl lag auf der Seite. Aus seinem halb offen stehenden Mund sickerte dickflüssiger Speichel, er hatte einen Schluckauf und kam noch nicht einmal von selbst auf die beine. ich hockte mich hin und drehte den jungen um. Zehn oder zwölf mochte er sein. Eine Fla-sche rutschte ihm aus der kraftlosen Hand. Aus Neugier griff ich nach ihr und betrachtete das Etikett. Ein starkbier. in einer großen Flasche.

Wissen sie, ich bin kein brutaler typ, aber wenn ich in dieser sekun-de gewusst hätte, von welchem kiosk dieses Zeug stammte, wäre ich hingelaufen und hätte die scheibe eingeschlagen. oder hätte dem Verkäufer ordentlich die meinung gegeigt. irgendwas muss man ja tun. man muss!Zieht die miliz solche Verkäufer etwa zur Verantwortung? das sehen sie ja selbst … Wir versuchen es. anstelle der milizionäre.Ein 14-jähriger, der auch aussieht wie 14, ist schnell gefunden. Wir drücken ihm geld fürs bier in die hand und schicken ihn zum erstbe-sten kiosk. Er geht hin, zieht selbstbewusst das geld aus der tasche.„Zwei Flaschen ,klinskowo’ hell. aber kalt sollten sie sein.“„die aus dem kühlschrank sind alle. Es gibt nur noch welche mit Zimmertemperatur. nimmst du die auch?“„in ordnung …“

das war’s? das war’s! so einfach, verstehen sie, ist das! die Ver-käuferin hat nicht gezögert, hat nicht gezweifelt, nicht den ausweis verlangt, nicht damit gedroht, alles den Eltern zu erzählen … hat im grunde einem kind einfach so bier ausgehändigt. Zugegeben, keinen

Wodka. aber wissen sie auch, dass laut statistik der bieralkoholis-mus heute bei jugendlichen den ersten platz einnimmt? und sie hat alle probleme dieser jugend in ihrer kasse. hauptsache gewinn. können sie sich überhaupt noch erinnern, wann sie zum letzten mal gehört haben, dass der Verkäufer von einem jugendlichen den ausweis erbeten hätte? oder zumindest gefragt hätte, wie alt der ist, wenn er alkoholische getränke kaufen will?

Wir machen uns auf den Weg zu einem zweiten, einem dritten kiosk. dasselbe bild. die Verkäuferin des vierten kiosks steckt, bevor sie das gewünschte verkauft, den kopf heraus, offenbar, um sich zu vergewissern, dass keine inspektoren in sachen minderjährige in der nähe sind. uns kann sie nicht sehen: der Fotograf und ich hocken hinter den büschen. sie ist beruhigt und schiebt unserem lockvogel eine 1,5-liter-Flasche gin tonic „bitter lemon“ rüber. ich kenne das von mir selbst: diese anderthalb liter pusten dir das hirn weg. am nächsten morgen ist es wieder da. aber schwer durchgeschüttelt.

und wissen sie … solange das denken aussetzt, ist einem ja nicht bewusst, was man anstellt. später dann sind die kioskverkäufe-rinnen untröstlich und fragen sich, woher eigentlich die unholde kommen, die ihnen, diesen unglücklichen seelen, die läden aufbrechen und die kassen stehlen … Es ist alles so simpel wie eine apfelsine: sie züchten sie selbst heran. brauchen die schuld auf niemanden anderes zu schieben. sollen sie mal schlottern in

Ein Bierchen als Pläsierchen?

Artem Litawrin�5, Berdsk

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ihren kiosken, nachdem sie einer mordsfidelen bande minderjähriger banausen bier verkauft und diese sich ein plätzchen neben dem kiosk ausgeguckt haben. Wenn die sich betrinken, halten sie auch mal ein streichholz ran. na und? das bier sorgt schließlich dafür, dass sie furchtbar viel spaß haben. Furchtbar ist dabei das schlüsselwort.

der präsident spricht währenddessen von der demographie und davon, dass die geburtenrate erhöht werden muss. das hilft auch nichts. Wenn wir die gebur-tenrate um das Zehnfache erhöhen, dann verzehnfacht sich die kundschaft der bierkneipen und die Zahl der schnapsdrosseln. Eine gesunde jugend fällt nicht einfach vom himmel.

damit wird es nur etwas, wenn jeder, absolut jeder Verkäufer weiß, dass der Verkauf von tabak und alkohol an kinder untERsagt ist! Verkauft er trotzdem etwas, wird er bestraft. Verkauft er weiter, wird er noch strenger bestraft. das alles steht schon heute im gesetz – im kodex über administrative Rechtsverletzungen. doch an die paragraphen, die den Verkauf von Waren an minderjährige zum inhalt haben, hält sich schlicht und ergreifend keiner. Vielleicht, weil man unterschätzt, welche Bedeutung dies für die Zukunft hat? Wer weiß. Ich hoffe, dass es begriffen wird. und dass es dann nicht zu spät ist.

der kleine junge übergab sich lange und qualvoll. sein gesicht lief von den krämp-fen blau an, er würgte, röchelte und hustete. Wissen sie, ich würde mir wünschen, dass er nie vergisst, wie schlecht es ihm ging. Wobei die Hoffnung, dass er des-wegen seine erste Erfahrung mit dem alkohol niemals wiederholen möchte, sehr schwach ist. um genau zu sein, gibt es bisher wirklich keine.

Wenn wir die Geburtenrate um das Zehnfache erhöhen, dann verzehnfacht sich die Kundschaft der Bierkneipen und die Zahl der Schnapsdrosseln.

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Die Mädchen von morgenEinmal lobte eine stadtbekannte ältere Fernseh-moderatorin in meiner gegenwart die nachkriegszeit: „natürlich war das leben nicht leicht, doch die Menschen waren fröhlich, offen und gut, sie verstanden es genauso, zu arbeiten, wie sich zu entspannen. das war damals ganz anders als heute.“ Ein junges mädchen, das damit nicht einverstanden war, konterte mit einem sprichwort: “die jugendjahre sind eben immer die besten”.und wirklich: in manchen Worten spiegelt sich die Weisheit einer ganzen Generation, hauptsächlich der ewige Konflikt zwischen Kin-dern und ihren Eltern. soziale ungleichheiten, politische instabilität und jedes noch so profane alltägliche problem müssen vor diesem einen Wort kapitulieren – der jugend.das ganze land baut sich seine Zukunft auf. möge sie auch für den groß-teil schemenhaft und verschwommen sein, ein jeder ist sich sicher, dass noch so vieles vor ihm liegt… es stockt einem förmlich der atem! und eben wir – die Zukunft dieses landes – verändern und vermögen alles. jeder auf seine art, im Rahmen seiner Fähigkeiten und möglichkeiten. Aus einem Aufsatz der Elftklässlerin Viktoria Sajzewa„meine generation strotzt vor mobilität und kreativität. sie hat keine angst, in der gegenwart zu leben, und sie hat viel selbstvertrauen. und wo Zuversicht ist, da gibt es auch Raum für die liebe – wo liebe ist, ist glück – und das heißt, es ist eben kein platz da für die angst. Wir sagen nicht, dass wir keine probleme und schwierigkeiten hätten. Wir sehen ihnen einfach nur mit leichtigkeit ins gesicht. und sie lassen sich alle lösen. Ja, im Prinzip sind alle Probleme dieser unbegreiflichen Welt zu lösen! Warum unbegreiflich? Na, weil nicht klar ist, was uns morgen erwartet. aber wir werden mit allem fertig werden. unsere Zukunft liegt in unseren händen. und das wichtigste gefühl der gegenwart – das ist die Zuversicht… solche orientierungspunkte wie die mama, die Familie, die Freunde, die karriere, liebe, aufrichtigkeit

werden nie aus der mode kommen. aber ich muss auch zugeben, dass es manchmal so scheint, als ob meine gegenwart, unabhängig davon, dass ich alles habe, sehr stark mit Einsamkeit verbunden ist. und hier kann einem dann schon keiner mehr helfen, wenn man mit sich selbst nicht mehr klar kommt. Aber es gibt Hoffnung. Und alles wird gut.“ Ein Lächeln macht alles freundlicherDie Familie Iwanow kennen in Krasnojarsk fast alle. Die große Hoff-nung der Eltern ist ihre 22-jährige tochter anja – assistentin eines abgeordneten, präsidentin der jugendorganisation „talant“, eine talentierte stylistin, und außerdem – behindert. die diagnose des jungen mädchens: kinderlähmung. obwohl sie nicht aus dem Rollstuhl aufstehen kann, führt sie ein derart aktives und vielfältiges leben, dass viele völlig gesunde leute sie nur darum beneiden können. als anja der große schicksalsschlag ereilte, bekam sie eine schwere depression, und nur das künstlerische Schaffen half der Krasnojarskerin, wieder zu sich selbst zu finden. Millionen von Menschen in ganz Russland haben bereits ihre bilder und bastelarbeiten bewundert. „Eines tages rief man uns aus der bezirksverwaltung an und sagte: Wir wissen, dass sie eine behinderte tochter haben, und da wir gera-de eine ausstellung organisieren, wollten wir um einige ihrer arbeiten bitten. Vielleicht ist sie ja in der lage, irgendetwas zu machen, und wenn es auch nur eine ganz einfache bastelarbeit ist?”, erzählt anjas mutter. „als die organisatoren die arbeiten meiner tochter sahen, waren sie sehr erstaunt. Von diesem Zeitpunkt an kam es zu großen Veränderungen in unserem leben. diesen Weg wieder zu verlassen, war schon nicht mehr möglich. das leben ist wie ein schneeball – es wälzt sich immer weiter vorwärts.“ 2005 bekam anja eine auszeichnung des bürgermeisters in der ka-tegorie „junge talente“ und 2006 den internationalen preis „philanth-rop“. sie war bereits in moskau und sogar in China. heute tauscht

Natalja Dubaschinskaja��, Krasnojarsk

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sich das mädchen ganz selbstverständlich mit den wichtigsten politikern der Region aus, nimmt aktiven anteil an der jugendpolitik in krasnojarsk und schreibt artikel für Zeitungen.„ich habe jetzt die möglichkeit und den Wunsch, meine ideen zu realisieren“, sagt Anja. „Vor gar nicht langer Zeit habe ich begriffen: man muss immer ,das seine’ erreichen. gute beziehungen und ein lächeln können berge versetzen. ich weiß eines ganz genau: man kann mit absolut allen Menschen eine gemeinsame Sprache finden. das Wichtigste ist, festzustellen, was dir im leben am Wichtigsten ist. Wenn deine ideen wirklich originell sind, wenn sie mindestens für einen anderen menschen von nutzen sind, dann gilt es zu handeln.“ Bei unserem letzten Zusammentreffen erzählte mir Anja, dass sie bald in die Schweiz fahren werde, um an der Eröffnung eines Reitla-gers für behinderte kinder teilzunehmen. das sei das nächste Ziel. darüber hinaus sei es das Wichtigste, „dass es den leuten, die um mich herum sind, gut geht, und natürlich, dass ich eine ausbildung machen kann – eine soziale und juristische”.Außerdem haben die Ärzte Anja, als sie in China war, Hoffnungen gemacht, dass sie eines tages wieder würde gehen können.

Mama, Papa, Sohnemannunser Wassja ist schon anderthalb jahre alt. so sagen nicht nur die Eltern des krabbelkindes voller stolz, sondern auch noch zwei urgroßmütter, ein urgroßvater, zwei großmütter, ein großvater, drei tanten und zwei onkel, die um ihn herumschwirren. nur brüder und schwestern hat der kleine bisher noch keine: Wassilek ist der erste Vertreter einer neuen generation.und gerade weil um ihn herum so viele fürsorgliche Erwachsene sind, wächst Wassja zu einem sehr offenen und lieben Kind heran. man mag es kaum glauben, doch seinen Willen bekommt dieses kind nicht mit Weinen und schreien, sondern mit einem lächeln. obwohl

die Eltern des kleinen mannes gleich zwei typische probleme junger paare in Russland teilen, die nicht selten in kombination auftreten: das problem mit dem eigenen Zuhause und das mit dem nachwuchs.mama nastja und papa serjoscha sind noch blutjung – um heiraten zu können, mussten sie zuerst nastjas Volljährigkeit abwarten. nur ein jahr später wurde ihr söhnchen Wassja geboren. deshalb stehen sie jetzt nicht, wie so viele andere junge Familien, vor der Frage: kind oder hypothek? das kind ist ja schon da. und einen kredit wollen sie vorerst nicht aufnehmen.„Eigentlich ist es so, dass meine Zukunft und meine gegenwart zusammen fallen,“ sagt nastja. „Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir die Zukunft nicht konkret vorstellen. sie ist sehr abstrakt. denken sie nicht, dass ich fantasielos bin, aber an eine Zukunft denken, in der keine eigene Wohnung vorkommt, das will ich nicht. glauben sie mir, es ist schrecklich – kein eigenes Eckchen zu haben, kein nest, wie turgenew gesagt hätte. das kind mit spielzeug, Essen und kleidung versorgen, das schaffen wir. Aber einen Kredit aufnehmen – nein. Wenn Wassja nicht wäre, könnten wir es. doch andererseits hätten wir ihn dann wohl gar nicht erst bekommen. meine Freunde zahlen so hohe Zinsen auf ihre hypothek, dass sie gar nicht an ein kind denken können. Wenn ich mal über die Zukunft nachdenke, sehe ich mich immer in einer neuen Wohnung, aber eigentlich kann ich mir gar nicht vorstel-len, wie das in die tat umgesetzt werden soll. deswegen sage ich auch, dass das alles so schwierig ist. aber für mich ist jetzt nur die Familie wichtig. und alles, wonach ich strebe, alles, woran ich denke, alles tue ich für sie – für meinen sohn und für meinen mann. aber, wissen sie, ich bin kein besonders gutes beispiel. schließlich haben nicht viele eine Familie, bevor sie 20 sind. deswegen kann es gut sein, dass viele meiner altersgenossen meine orientierungen und Wertvorstellungen nicht unterschreiben würden.“

„Ich weiß eines ganz genau: Man kann mit absolut allen Menschen eine

gemeinsame Sprache finden.“

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soziologen zufolge hat die gruppe den staat ersetzt. aktuelle und ehemalige mitglieder organisierter krimineller Vereinigungen reden nicht gern über sich. auch von ihren siegen und niederlagen erzählen sie nichts, kritisieren lieber andere: „das saugen sich doch die journa-listen alles aus den Fingern, dichten sich etwas mit hilfe der staats-anwaltschaft zusammen.“ Viele versuchen, als geschäftsleute ihren Schnitt zu machen: „Du riskierst kaum etwas, und das Geld fließt.“ Vor sieben jahren hatte mein Freund die nase voll davon, tag für tag wegen seiner nicht zu verbergenden homosexualität verprügelt zu werden. Er verließ die heimat und vor allem seine brutalen alters-genossen. Vor kurzem kam er aus berlin zu besuch und wunderte sich. Es schien ihm, als ob „das leben besser, das leben heiterer“ geworden sei und er sich jetzt verlieben könne, ohne angst haben zu müssen. die früheren glatzen lassen sich heute die haare wachsen und fahren, anstatt den besuchern von schwulenclubs aufzulauern, lieber zum kellnern nach amerika.Doch die Euphorie verflog schnell. Seine Cousine erzählte, dass sie ihren gewalttätigen Freund von der straße nicht loswerden kann, obwohl er sich regelmäßig an ihr vergreift – keiner würde sie in schutz nehmen. anfangs hatten ihr seine zur schau gestellte männlichkeit und sein getuntes auto imponiert, jetzt weiß sie nicht, wohin sie weglaufen könnte, er kennt alle ihre Wege aus der uni. Vor dem Wiedersehen mit ihrem Cousin übercremt katja ihre blauen Flecken. und er kann sich wieder nicht als „echter mann“ beweisen.

Lenar und Alexander „Lektionen aus dem Treppenhaus“ – so heißen die Videofilme, die den alltag der skins in schillernden Farben schildern – werden in kasan, wo sie ursprünglich herkommen, kaum angeschaut. das mag daran liegen, dass sowohl die „echten kerle“ als auch jene, die nicht dazu zählen, ohnehin wissen, wie man sich „was zum Rauchen erballert“, „ein handy erarbeitet“, „alternative und kaukasier auf-klatscht“, „Ziegel vom balkon wirft“ und so weiter in der hitliste aller möglichen scheußlichkeiten. Etwas neues dazu haben auch juron und Rownyj, im wirklichen leben lenar und sascha (ihre Familiennamen behalten sie lieber für sich), nicht gesagt. sie gehörten nie zu irgendwelchen gruppie-rungen, zumindest auf den ersten blick sind sie anständige junge leute. dafür lässt ihr – ich gebrauche das Wort mit Vorsicht – „tun“ zahlreiche interessierte aus moskau, st. petersburg und anderen russischen großstädten alles andere als kalt. nachdem der erste Film ins netz gestellt war, sorgte der buschfunk dafür, dass die Zahl der klicks, also der besucher, binnen zwei tagen von 8 000 auf 9 000 wuchs und in weniger als einem monat auf 70 000. Fast gleichzeitig hat jedoch der blog von lenar wegen unverhohlener gehässigkeit mehr als die hälfte seiner „Friends“ verloren.

Um zu sehen, wer hinter den berühmten Videofilmen steht, traf ich mich mit den protagonisten und produzenten der Clips in einer bar in der kasaner innenstadt.

Harte Jungs statt heile Welt„Von der Straße“ zu sein bedeutet für viele, sich irgendwie durchzuschlagen. Am Strand der Siedlung Werchnij Uslon zum Beispiel, an dem der Stadt gegenüber liegenden Ufer der Wolga, sind Halbwüchsige ohne Tätowierung die Ausnahme. Fast alle waren schon einmal im Gefängnis, und jene, die bisher „davongekommen“ sind, stellen sich darauf ein. Ein Bericht aus einer anderen Welt.

Janina Achmetowa �7, Kasan

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„pfui, was verkehrt denn hier für publikum – alles alternative“, be-schwerten sich meine gesprächspartner, lenar und alexander.„und ihr – sagt bloß, ihr seid wirklich von der straße?“alexander: „Wir sind normalos. nur hassen wir alternative noch mehr als glatzen. das ist alles eine herde, die außer dem geburtstag von kurt Co-bain nichts weiß, aber sich als intellektueller underground positioniert.“„,glatzen’, ,alternative’ – das sind doch irgendwie unreife schubladen, verlogene Verallgemeinerungen … übertreibt ihr nicht?“lenar: „ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe jeden tag mit denen zu tun. lies doch die argumente unserer Feinde – totaler Quatsch. und dabei benutzen sie härtere ausdrücke als kriminelle. aber zu uns zu kommen und ihre interessen richtig zu verteidigen, die sachen wie unter männern zu klären und uns die Fresse zu polieren, das kriegen sie nicht gebacken. als ich vor laufender kamera ein t-shirt mit dem porträt von Viktor Zoj angezündet habe, das angeblich von einem verprügelten Fan stammte, wurde ich bedroht wie nichts. aber wie sie sehen, bin ich heil und unversehrt.“„Das heißt, Kritik trifft euch doch?“lenar: „Wir sind einfach für totalitarismus. dem Fernseher sagst du ja auch nicht: ,du bist debil!’ das alles läuft nur einseitig. ich verspreche eine Wende im bewusstsein.“„Lieber nicht. Vor unserem Treffen habe ich gehofft, von euch etwas zu hören in der Art von: ,Wir decken die Defizite der Gesellschaft auf, legen ihre Engstirnigkeit bloß, appellieren an mitmenschlichkeit und gesunden menschenverstand’ …“lenar: „Wozu sollten wir lügen? Für uns ist das reine Egomanie. Wer kann schon sonst noch von sich behaupten, dass sich 20 000 leute mit interesse angesehen haben, wie er im treppenaufgang pinkelt?“„Vielleicht wäre es besser, sich durch Verstand hervorzutun oder talent?“

lenar: „klar ist das besser, aber das interessiert niemanden. ich würde mit Freuden über kandinsky oder Rodtschenko diskutieren oder darüber, wie ich alle museen der früheren sowjetunion abgefahren bin, in denen es ausstellungen zum sowjetischen konstruktivismus gibt. oder wie ich gay disco gespielt habe, meiner meinung nach die positivste und heiterste musik. doch in kasan ist die jugend dermaßen ,progressiv’, dass sie sich bei gay disco, wo man einfach nicht stillstehen kann, auf der Tanzfläche nicht rührt. Letztes Jahr hat mich eine angesehene holländische Zeitschrift unter die 15 besten komponisten des jahres gewählt, ich habe auf dem transmedial-Fe-stival in berlin gespielt. aus einem angesagten kasaner Club bin ich dagegen rausgeflogen.“ „ist das deine art, mit einem kindheitstrauma fertig zu werden?“lenar: „mit mir ist alles in ordnung. und warum sollte ich es nicht ausnutzen, wenn es eine riesige nachfrage nach einem in einem Rutsch mit der digitalkamera abgedrehten Filmchen über halunken gibt? ich sitze in einer teuren karre und sage: ,jungs, macht es wie ich, zeigt es denen da draußen, dann könnt ihr euch auch einen Westwagen leisten.’ und die glauben wirklich, ich hätte unser ding ganz groß aufgezogen und mich auf kleinkriminelle sachen einge-lassen. die überwiegende mehrheit kapiert nicht, dass wir sie nur auf die schippe nehmen. Einem klugen kopf ist natürlich klar, dass wir nur ulk verzapfen, manchmal können wir uns das lachen kaum verkneifen.Von uns meint man, wir würden ernsthaft kaukasier vermöbeln, doch unser nächstes projekt heißt ,kaukasier mischen skinheads auf’. die drogenkonsumenten werden wir auch noch durch den kakao ziehen. Wir haben weder mit den einen noch den anderen etwas am hut, unser einziges Ziel ist, populär zu werden und geld zu verdienen.“alexander: „genauso lustig, wenn uns illegales product placement

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vorgeworfen wird, z.b. ,belomor‘ (Zigaretten) und ,baltika 9’, die in der szene total beliebt sind. Wir haben uns entschieden, noch weiter zu gehen und in jedem Film ungefragt Werbung für ,Rbk’ zu machen. sollen die sich doch den kopf zerbrechen, was das zu bedeuten hat.“* „dennoch ist es nicht gerade ehrenhaft, mit dem thema der ,primi-tiven und beschränkten’ zu spielen. und dabei zuzusehen ist auch unangenehm. mir wurde vor kurzem eine tasche entwendet, meinen bruder hat man über den Winter um zwei telefone ,erleichtert’ …“alexander: „Ein mitschüler von mir wurde unlängst erschlagen, nur weil er ein ,stubenhocker’ war.“lenar: „mir wollten zwei im aufzug das telefon abknöpfen. das Ende vom lied war, dass ich ihre einkassiert und bei der miliz abgeliefert habe. aber dort hat das keinen gekümmert.“„also könntet ihr doch lieber selbstverteidigung propagieren!“lenar: „da braucht es nicht uns dafür. und das ist auch wenig effektiv. Versteht doch, wir provozieren um der Provokation willen, mich interessieren die prozesse der Veränderung des gesellschaft-lichen bewusstseins. Wie wir mit unserem kopeken-budget so einen skandal ausgelöst haben.“„aber ihr gebt ja auch nicht nur irgendwelche harmlosen schlechten Ratschläge. Ich hatte sehr gehofft, ihr würdet die Verantwortung übernehmen für mögliche Folgen.“alexander: „Verantwortung wofür?“„dafür, dass ihr kinderhirne attackiert. Filme wie ,klub der kämpfer’ wecken den Wunsch, irgendwem in die Fresse zu hauen. dieses ,mach’s mir nach und rette Russland“ ist für euch keine propaganda?“alexander: „ich bin in der ausbildung zum juristen. uns kann keiner etwas.“„Werden eure Eltern oder Freundinnen nicht hellhörig, was ihr da für ein krudes hobby habt?“

lenar: „meine mutter hat sogar geweint, mein Vater lacht darüber, weil er einsieht, dass das alles nicht ernst gemeint ist. und die Freundin sagt, ich würde blödsinn treiben.“„Woher wisst ihr eigentlich so gut bescheid über das leben der halsbrecher?alexander.: „Weil wir in eine halsbrecherische schule gegangen sind und weil wir umgeben sind von ihnen. auch uns hat man zeitweise das leben schwer gemacht.“

Kostjas Geschichtekostja, der sich als dj versucht und ein erklärter gegner der „trep-penhaus-Videos“ ist, hatte ich extra eingeladen, zu dem gespräch mit lenar und alexander. dabei sein wollte er nicht, erzählt hat er trotzdem - die geschichte eines aussteigers.„der quatscht zu viel. Er sollte lieber dafür einstehen, dass er über-legungen zum Warum und Wieso anstellt“, sagt kostja über lenar. „mach dich nicht lächerlich, würde ich ihm entgegnen, seit ich vor fünf jahren wie durch ein Wunder aus einer bande ausgestiegen bin.“„Was war das für ein Wunder?“„mein Vater hat Wind von der sache bekommen und sich eines alten Freundes erinnert. als erwachsener und respektierter mensch konnte er jedes meiner probleme mit einem anruf lösen. als die mich auf der straße angehalten und gefragt haben, zu wem ich wohl gehöre, haben sie zur antwort gekriegt: ,Zu niemandem. und um meine angelegenheiten kümmert sich …’ damit war das gespräch beendet. Im Prinzip flaute damals alles schon spürbar ab. Nach der Schule be-schlossen viele meiner Freunde, dass es auch ohne ,anführer’ geht.außerdem glaube ich, dass die allgemeine Verbesserung der lage sich positiv ausgewirkt hat. ich komme ja aus nabereschnyje tschel-ny, wir hängen dort alle davon ab, wie sich kamas fühlt. als die Fahrzeugwerke nach luft japsten, suchte sich die jugend ,alternative

* RBK ist eine große russische Wirtschaftsnachrichtenagentur mit angegliedertem Business-TV.

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Verdienstquellen’, steckte ihre Reviere ab. die gruppierungen wurden in der Regel von seriösen leuten geleitet. die brauchten natürlich jüngere typen als laufburschen. die wiederum hatten ihre ,jungen’ und so weiter in der hierarchie. unsere stadt ist aggressiver als kasan, wegen der höheren konzentration von Jugendlichen. Konflikte wurden bei verabredeten Treffen ausgetragen, und zwar so, dass man schnell eins auf die birne kriegt oder einer ein messer zieht. dabei waren bei diesen erbitterten bandenkriegen mitunter auch 14-jährige dabei. meine nachbarn haben irgendwelche glatzköpfe mit ,Fremden’ verwechselt und zu invaliden gemacht.“„und was dann, hat man ihnen den schaden kompensiert?“„klar. die haben ihnen bier hingestellt. ,tut uns leid, jungs.’“„das ist doch furchtbar. und es gab kein Entkommen?“„Bei mir fingen die Probleme so etwa in der fünften Klasse an. Mir wurde verkli-ckert, dass es ,Frischlinge’ gibt, das ‚Fußvolk’, die ‚anführer’ und die ‚kasse’, dass man den ,kodex’ zu kennen und zu befolgen habe. mit elf jahren klingt ,kodex’ ziemlich albern. doch viele trabten zu den älteren jungs und wurden deren ,jün-gere’. normale ,anführer’ kamen dir zu hilfe, wenn man dich verprügelt oder beklaut hatte. das aber nur gesetzt den Fall, dass du sie im Verlaufe des gesprächs nicht enttäuscht und dich auch sonst richtig verhalten hattest. Wenn du selbst schuld warst, dann konnte es passieren, dass dir noch die eigenen leute an die Wäsche gingen. Wenn dir zum beispiel jemand dumm gekommen war, dann musstest du ihm unbedingt die Visage behandeln. hast du das nicht getan, warst du nach dem „kodex“ im unrecht. dämlich, aber so ist es.und das Wichtigste: du musstest immer für deine jungs den kopf hinhalten. und dafür, dass die Älteren manchmal probleme für dich lösten, galt es zu bezahlen. manchmal buchstäblich. nehmen wir an, du bist zwischen 12 und 14 und der anführer sagt, dass er bis zum abend geld braucht. dann haben sich alle in die spur begeben. Wer kein geld hatte, musste es von denen eintreiben, die welches hatten. mit der Zeit musste man solche sachen nicht mehr veranstalten. doch bis dahin hatten viele schon Wohnungen ausgeräumt oder Radios aus autos geklaut.“

„Wir haben weder mit den einen noch den anderen etwas am Hut, unser einziges Ziel ist, populär zu

werden und Geld zu verdienen.“

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Das Design der WirklichkeitMonologe aus dem „Café Europa“

Pawel, ��: Nihilismus„heute ändert sich alles mit schallgeschwindigkeit. das wiederholen wir ständig. aber wir sind nicht in der lage, den sinn dieses satzes zu begreifen – na ja, es ändert sich eben alles, aber doch nicht bis zum letzten. oder doch bis zum letzten. und sogar noch weiter. und es ändert sich nicht nur alles, sondern absolut alles. Es gibt keine unendlichen Werte, keine unendliche Liebe. Liebe – das ist der Zusammenfall von Ziffern zweier Indika-toren, und diese Ziffern verändern sich pausenlos, und die Anzeigen der Indikatoren beeinflussen sich wechsel-seitig. Wenn du das begreifst, fängst du schon nicht mehr an, dich darüber zu wundern, dass es keine ewige Liebe gibt, sondern dass die Liebe – ein Zusammenfallen von Ziffern – überhaupt im Stande ist, eine Zeitlang zu halten. Von allen objekten in unserer umgebung ändert sich der mensch am schnellsten. man kann ihn nicht lieben. man kann ihn höchstens lieb gewinnen – nur ändert er sich bis morgen schon wieder unwiderruflich. Und du selbst veränderst dich und wunderst dich: Wie konnte ich nur? der mensch ändert sich, und deswegen ist es unmöglich, ihn zu lieben, zu hassen, zu verurteilen oder zu bestrafen. all das setzt Wissen über ihn voraus. aber unser Wissen ist immer ein gestriges – wer er jetzt ist, das finden wir erst später heraus, und dann ist es wieder zu spät. Jeden Morgen wird die Welt neu geboren, eine neue Welt mit neuen Regeln. Sie ist unbegreiflich, weil wir jedes mal, wenn wir aufwachen, nicht wissen, wie sie heute ist. Wir wissen nicht einmal, wie das Wetter ist.Zum beispiel darf man im haus eines blinden keinen stuhl verstellen, weil sein bewohner nur dann ruhig leben kann, wenn er weiß, wo die möbel stehen. Für den sehenden ist das schwer nachzuvollziehen. doch in einem gewissen sinne sind wir alle blind. und so versuchen wir ein stückchen dieser Welt für uns zu reklamieren, in dem niemand die „stühle“ bewegt.

„Ich bin �� Jahre alt, aber ich fühle mich jung.“

o.E. oschepkow, Vize-gouverneur in perm

Das „Café Europa“* ist ein Informationsprojekt, das ein gewöhnliches Café in einen Ort des freien Austauschs verwandelt – zwischen jungen Leuten aller Nationalitäten, in allen Sprachen und in Bezug auf alle möglichen Fragen. Hier schwirrte die Jugend einen Tag lang grenzenlos umher, hat gelesen, gegessen, geraucht, geflirtet, gearbeitet und in nicht enden wollenden Gesprächen über die Zukunft diskutiert. Hierher kamen junge Journalisten, ihre schon nicht mehr ganz so jungen Vorgesetzten, Studenten waren bunt gemischt mit ihren Lehrern, junge Kadetten mit Schulterklappen neben hochrangigen Gästen, Diplomaten, Politikern.

Vera Kolkutina�7, Perm

* Ein Projekt des Goethe-Instituts in einigen russischen Städten im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft.

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Wir bemühen uns vergebens. die stühle bewegen sich doch. und in diesem sinne sind wir genauso blind; niemandem von uns ist es gegeben, in die Zukunft zu sehen. Wir sind alle gleich verdammt zu Verrat und betrug. jeden morgen muss man alles von vorne beginnen – seine liebsten verwöhnen, das Wohlwollen der Vorgesetzten ge-winnen. alle Entscheidungen werden noch einmal kritisch überprüft. Frühere Verdienste zählen nicht für die Endabrechnung. alle um uns herum interessiert lediglich, wie sehr sie dich gerade brauchen, und ob du ihnen in Zukunft noch nützlich sein kannst. Wenn man so darüber nachdenkt, versteht man im Endeffekt, was Kraft bedeutet – das ist ein geheimnisvoller Begriff, der weder in der physik noch in der psychologie eine richtige bedeutung hat. derje-nige, der keine angst vor Veränderungen hat, ist stark. man kann lieben und sich binden, sich mit aller kraft an den bäumen festhal-ten, die hinter dem Waggonabteil vorbei ziehen. das ist schwäche. man kann den verräterischen betrug der Welt erkennen und sich in sich selbst zurückziehen. aufhören zu lieben. sich nicht mehr binden. niemandem glauben. keine schlösser mehr bauen, die morgen zu Staub zerfallen. Als Erster weggehen, damit es niemand schafft, sich vorher von dir abzuwenden. aber auch das ist schwäche. kraft – das ist, einer katze milch einzugießen, obwohl du weißt, dass sie schon morgen von dir fortgeht. Zu lieben, unabhängig davon, ob man dich vielleicht morgen verrät. der schwache hasst Veränderungen, weil er angst hat, das zu verlieren, was er besitzt; doch der starke sieht mit Hoffnung in die Dunkelheit, die vor ihm liegt, und erwartet neue Bekanntschaften und neue Angebote. Im Endeffekt ist der Weg des schwachen ein Weg des Verlustes, der Weg des starken aber ist voll von Entdeckungen.“

Semjon, �0: Zigaretten„Russland ist jetzt vielleicht nicht das größte land der Raucher, aber trotzdem ist Russland „verqualmt“. Es scheint fast so, als ob mittlerweile wirklich alle rauchen, und das von kindesbeinen an. du guckst so, da geht eine junge mutter, schiebt mit der einen hand den kinderwagen, in der anderen eine kippe... denken sie, dass ich sie verurteile? nein. Wenn die Weltgemeinschaft einen menschen endlich juristisch gesehen für volljährig erklärt hat, und das passiert mit 21, dann hat man die freie Wahl: was, wie, wann, mit wem und wozu. mit 21, nicht mit 14 oder 18! Ich werde Sie nicht dazu auffordern, sofort mit dem Rauchen anzu-fangen, und genauso wenig, es schleunigst aufzugeben. Wenn sie eine Zigarette rausholen, werde ich ihnen ein Feuerzeug anbieten – wenn sie tabakqualm nicht ertragen können, werde ich in ihrer gegenwart nicht rauchen. so einfach ist das. Einfach, weil wir alle wissen, was schädlich ist und was gesund. Wasser aus der leitung ist wegen seiner chemischen Eigenschaften tödlich für lebende organismen, zu denen wir ja noch zu zählen sind. aber wir trinken es, kochen uns tee damit und freuen uns des lebens. das Wichtigste ist eben, alles mit lust zu machen. und dazu gehört auch das Rauchen, falls sie schon einmal in diesen genuss gekommen sind.die propaganda für das Rauchen ist genauso wie die antipropaganda eine sinnlose anstrengung, solange das leben selbst nicht „drängt“. solange das noch nicht passiert ist, hören sie auf, sich wegen jeder einzelnen Zigarette zu quälen. Rauchen ist ein historischer prozess. natürlich waren sie nie ein pferd, und ein krümelchen nikotin wird sie nicht umbringen! noch nicht einmal das passivrauchen wird sie umbringen, wenn sie sich in Zukunft etwas weniger über dieses thema aufregen, ihrem gesprächspartner mit der Zigarette zulächeln

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und einsehen, dass vor ihnen nicht bloß ein rauchender mensch sitzt, sondern vielleicht auch ein interessanter, scharfsinniger mensch mit einem guten sinn für humor. lächeln sie ihn an.“

Albina, �8: Informationsflut„Es ist eine aktuelle tendenz, dass jeder versucht, wirklich alles absolut interessant zu machen. das interesse hat sich von einem naturgegebenen bedürfnis des menschen, zu erkennen, zu einer künstlichen Entbindung mit einem gleichzeitigen stimulierenden kaiserschnitt durch das gehirn entwickelt. hunderte und tausende von menschen auf der ganzen Welt würgen informationen hervor und versuchen dabei, alles so interessant wie möglich zu machen. die lebendige, aufrichtige neugier hört irgendwo unter der gürtelli-nie oder über der taille auf. Wenn es um stars geht, so müssen die unbedingt nackt sein, Politiker zumindest schwul, sonst schaffen es ihre Reformen noch nicht mal durch die erste Runde, denn wen interessiert schon der standart? die nachrichten vom total eingeschneiten amerika, von einer dürre in den subtropen, vom Ende der Welt oder parallelen Welten erlö-schen vor der Entblößung eines star-busens während einer absolut unspektakulären Veranstaltung. „nein, haben sie das gesehen?!“ interesse, spekulation, leuchtende augen und ein hochgejagter puls, das ist besser als alle Vitamine und biozusätze. schönheit fordert eben gewisse opfer, aus irgendwelchen gründen auch intellektuelle.“

Die Jugend. Eine Kettenreaktion.man könnte meinen, dass der moderne mensch nichts weiter ist als ein glied in einer globalen kette, das eine mehr oder

weniger effektive kommunikation betreibt. Zu einem großen teil geben wir die erhalten informationen auch weiter - von einem kettenglied zum nächsten. manches sammeln wir an, dann löschen wir es, weil es unwichtig wurde. Es ist einfacher, etwas irgendwo zu finden, als selbst darüber nachzudenken; leichter, es zu kopieren, als es selbst zu schreiben. dieser totale mix ist die illusion eines eigenen schöpfertums. man kommt sich leicht wie ein interessanter gesprächspartner vor, wenn man ein und dieselbe irgendwo aufgeschnappte erheiternde banalität zehn verschiedenen leuten erzählt. Versuch mal, für einen anderen interessant zu bleiben, wenn du dich tagtäglich mit ihm austauschst. die heutige intensität von kommunikation gleicht, wie auf einer Waa-ge, den sozialen Qualitätsfaktor der jeweils vom generierenden und vom übertragenden aufgenommenen information an. Es ist einfach, sich mit Informationen überfluten zu lassen, und schwierig, sie zu verarbeiten. manchmal entsteht der Eindruck, dass einige von uns informative abführmittel schlucken. der ausweg? der standpunkt der jugend: nicht ihre schaffens-kraft, sondern eben dieser kreative austausch hat aus affen menschen gemacht! spontane Reaktionen anstatt konditionierter Reflexe – die orientierung auf den mehrwert. Wir fragen uns: ist es wirklich so, dass unsere Fantasie zum atavismus wird, und die kreativität sich ohne anstrengung über die leitfähigkeit der kette kompensiert? und wir antworten uns selbst: strengt Eure gehirne an, macht es so, dass man, wenn man euch zuhört, debattieren und zitieren will, denn schließlich entwickelt sich die gesellschaft in der auseinandersetzung mit uns.

„Menschen würgen Informationen hervor und versuchen dabei, alles so interessant wie möglich zu machen.“

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Was menschen nicht alles aus liebe zur Wissenschaft tun! mit schon fast 80 jahren führte der akademiker iwan pawlow am eigenen leibe schwierige und gefährliche Experimente durch. der astronom johannes keppler lebte 30 jahre wie ein Einsiedler in einem schloss und studierte den sternenhimmel. die tomsker biologin oxana stumpf züchtet seit sechs jahren zu hause mücken und nährt sie von ihrem eigenen blut. dabei empfand oxana nie eine besondere Zuneigung zu den zwei-flügeligen Vampiren. Sie hätte sich früher kaum vorstellen können, dass sie sich nicht nur in sie verlieben, sondern sich auch als einzige Forscherin in ganz sibirien mit den ‚Cules pipiens molestus’ – den hausmücken – auseinandersetzen würde. „ich war einfach scho-ckiert, als mein professor mir im zweiten studienjahr dieses thema vorschlug“, erinnert sich oxana heute lächelnd. in den letzten jahren hat die biologin einige dutzend bücher über mücken gelesen, einige hundert seiten mit ihren beobachtungen beschrieben und jede kleinigkeit über den körper der blutsauger studiert. mit beginn der aspirantur entschied sie sich, die „mücken-Geschichte“ zu Ende zu bringen und herauszufinden, wie man die menschheit von den blutsaugern befreien könnte. in jedem dritten haus kommen sie vor, schwirren das ganze jahr über durch die Wohnungen und stechen schonungslos deren bewohner. die west-sibirische stadt tomsk hat es in dieser hinsicht besonders schwer. dort gibt es viele häuser, die auf moorgebiet gebaut wurden, so dass in den kellern das Wasser steht – ein wahres mückenparadies. manchmal leben dort hunderttausende insekten; jemandem ohne spezialausrüstung ist das betreten schlichtweg unmöglich. um mehr über die tückischen angewohnheiten der blutsauger zu

erfahren, ließ oxana einige hundert Exemplare bei sich zu hause einziehen. aber auf dem tiermarkt verkauft niemand mücken, also musste die tapfere Wissenschaftlerin einen spaziergang durch die tomsker keller unternehmen. gleich der erste Versuch endete erfolglos – obdachlose verscheuchten die arme. „Es verschlug mich in einen keller“, erzählt oxana, „und als ich gerade meinen kescher nehmen wollte, da sah ich zwei männer auf den Rohren sitzen, die sich kratzten und mich keines blickes würdigten. ich bekam es mit der Angst, schlug die Tür zu und flüchtete.“das nächste mal ging sie in begleitung eines Freundes auf die jagd. das Wichtigste sei, meint sie, dass man ein strenges gesicht macht, wenn man einen keller betritt und laut sagt: „Freunde, wir sind vom hygiene- und seuchendienst, stört uns nicht bei der arbeit.“ nach solchen Worten würden die obdachlosen still sitzen. nach und nach entwickelte sich zwischen oxana und den kellerbe-wohnern eine fast nachbarschaftliche beziehung. Einmal, als sie gerade wieder larven in den pfützen suchte, kam jemand zu ihr und beugte sich leise über ihre schulter. der jungen Frau rutschte das herz in die hosentasche: „Wer sind sie, warum erschrecken Sie mich?“, flüsterte sie. „Ich lebe hier, ich dachte die Polizei sei gekommen und da habe ich mich versteckt. komm, ich helfe dir, die mücken zu fangen“, bot der obdachlose an. in den kellern herrscht völlige Finsternis, die das schwache licht der lämp-chen kaum erhellen kann. ab und zu watet man kniehoch durchs Wasser; Ratten jagen an den beinen vorbei. aber der gedanke daran, dass sie diese ganze Quälerei zum Wohl der Wissenschaft erträgt, lässt oxana weiterma-chen. in den vergangenen sechs jahren ist sie einige hundert keller hinab gestiegen und hat diese sogar in eine karte eingetragen.

Vampirliebe auf SibirischEine Mückenforscherin ernährt ihre Sprösslinge buchstäblich mit eigenen Händen

Tatjana Marschanskich��, Tomsk

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In knapp 30 Minuten schafft es die junge Frau im Wasser an die Hun-dert larven zu sammeln und sorgsam, um nicht zufällig eine zu zer-drücken, schon ausgewachsene insekten an den Wänden zu fangen. Zuhause verteilt sie diese auf die „Käfige“ – Drahtkästen, die mit Netz bezogen sind. die mücken müsse man den ganzen tag beobachten, sagt sie, um nicht auch nur einen moment ihres aufregenden lebens zu verpassen. Welchen Experimenten oxana ihre sprösslinge nicht schon ausge-setzt hat! sie konfrontierte sie mit extremer kälte, kreuzte Vertreter unterschiedlicher arten, unterbrach sogar die Fütterung. solche Versuche überleben nur die kräftigsten, deshalb muss der schwarm beständig mit neuen tieren aufgefüllt werden. die mücken werden in gefangenschaft gefüttert – mit haferbrei. Ein bisschen getreide vermischt mit Wasser reicht für ein paar monate – die hausfrau ruiniert sich damit also nicht. in der nähe des breis steht immer ein Schüsselchen mit gefiltertem Wasser. Und als dessert gibt die junge Frau ihren schützlingen honiggetränkte Watte – derlei leckerbissen lieben vor allem die männlichen mücken. aber allein von haferbrei wird man nicht satt, deshalb ist das tägliche hauptgericht der Versuchstiere frisches blut. im übrigen stammt das blut von oxana und ihren Freunden. diese haben sich schon an die ungewöhnliche leidenschaft der Forscherin gewöhnt, obwohl sie anfangs schon mit den händen an den schläfen wedel-ten und fragten, ob es nicht besser sei, sich einen hund anzuschaf-fen. mittlerweile stecken oxana und ihre Freunde abends die hände in den Käfig – und die Mücken genießen das Abendbrot. Nur die Weibchen trinken blut, ansonsten könnten sie keine Eier legen.

„Früher wollte der arm während der Fütterung zuschlagen“, erzählt oxana, „die haut juckt, alles ist gerötet und mit blasen übersät. mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und fühle nicht einmal mehr die saugrüssel der mücken.“ gleich nachdem die insekten getrunken haben, muss der „blutspen-der“ die haut mit alkohol abreiben, sonst kann es zu einer infektion kommen. Die boshaften Vampire fliegen vom Tier zum Menschen, vom kranken zum gesunden und verbreiten alle möglichen Wehweh-chen. und doch, da ist sich oxana sicher, dürfe man nicht sagen, dass die mücken nur schaden bringen. auch wenn die junge biologin nach mitteln sucht, wie man die blutsauger bekämpfen kann, betont sie ihre nützlichkeit als glied in der nahrungskette. momentan bereitet sich oxana auf die Verteidigung ihrer disser-tation vor – sie weiß schon genau, wie gegen mücken vorzugehen ist. „ich habe viel experimentiert und verstanden, dass man einfach kalkmörtel in die pfützen geben muss, in denen mückenlarven leben. die larven ersticken und sterben. noch besser ist es, die keller sauber und trocken zu halten, dann verirren sich mücken gar nicht erst dahin.“ auf der grundlage ihrer Rechercheergebnisse möchte sie nun ein Buch über die geflügelten Vampire schreiben.mehrmals schon haben oxanas Verwandte in deutschland sie aufge-fordert, zu ihnen in die „historische heimat“ überzusiedeln. aber die Wissenschaftlerin hat es nicht eilig Russland hinter sich zu lassen. schließlich kenne sie die sprache nicht, fürchte das fremde land und, ja, mit den mücken wäre es bei den deutschen vielleicht auch etwas schwierig. und die mücken sind nun mal ihre lebensaufgabe.

„Mücken muss man den ganzen Tag beobachten, um nicht auch nur einen Moment ihres aufregenden Lebens zu verpassen.“

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Von Blogomanie zu Demokratie

„Es ist so gut zu wissen, dass jemand an dich denkt. ich schaue in mein tagebuch und sehe, dass mir heute wirklich viele leute geschrieben haben. das ist super!”, schreibt eine 22-jährige unter dem pseudonym Irkutjanka in ihre virtuellen aufzeichnungen. die sibirierin aus irkutsk am baikalsee ist nur eine von vielen millionen jungen Russen, die tagtäglich im internet unterwegs sind und auf www.li.ru über sich selbst und ihr leben erzählen, über ihre gedan-ken und träume. selbst wenn man einige tage lang das online-tagebuch von Irkutjan-ka liest, weiß man hinterher kaum etwas über sie: ist sie studentin oder arbeitet sie? Womit beschäftigt sie sich? man erfährt, dass sie offenbar sehr sensibel ist, englische Popmusik mag, ihr die Politik egal ist, und sie wohl ziemlich einsam ist.

man klickt auf „nächster blog“ und lernt wieder neue leute kennen, die zu Hauptfiguren in ihrem eigenen Buch geworden sind. Fast jeder junge russische blogautor hat seine „memoiren“ mit einfachen, kurzen und ein wenig verschlüsselten nachrichten begonnen. später dann geraten die Einträge immer mehr zur beichte.der student MuIIIEHb hat drei jobs. Er arbeitet in einem supermarkt, als Wachmann an der universität und in der Firma seiner mutter. Er hat probleme mit seinem Vater und weiß einfach nicht, wofür er lebt.

im internet teilt er mit, dass er am 14. januar 2007 versucht hat, selbstmord zu begehen. „tja, hab’s halt überlebt =) wer sterben will_ mehr als 2 päckchen von den tabletten … müsstet ihr schlucken =) aber bleibt doch lieber am leben! Wenn ich ehrlich bin, bleibe ich nur am leben, weil ich es versprochen habe.“RexxX ist ganz anders drauf, obwohl auch er stress mit seinen Eltern hat: „gestern haben wir endlich Flugtickets gekauft. Wir fahren nach Indien zu einem Lehrer. Jetzt wird die Hoffnung endlich Wirklich-keit. Zu hause aber wartet das ketzergericht auf mich… mutter ist besonders dagegen. Es ist doch komisch, warum wir uns so schwer tun, Fremdes zu akzeptieren. aber bin ich denn schlechter geworden, nur weil ich den Weg des buddhismus oder von bono gehe? Wohl kaum… “der science-Fiction-Fan Andvary, der in einem Verlag arbeitet, gab sogar ein richtiges online-interview, als Reaktion auf eine Frage in seinem blog. Er erzählte über sein leben und darüber, dass ihn vor kurzem sein job in eine große krise gestürzt hatte. „als ich vier oder fünf stunden gearbeitet hatte, wurde ich plötzlich melancholisch. ich fühlte mich nutzlos und nichtig, und das nicht etwa, weil die arbeit nervig war. aber was ist denn zu hause? ich liege auf dem sofa, schlafe ein, spiele zum vierten mal „akademie“, lese zum wer weiß wievielten mal tolkien auf Englisch. ach ja. am liebsten würde ich

Was die russische Jugend in ihren Blogs veröffentlicht, erzählt mehr über sie als umfangreiche Studien. Es zeigt, was sie vom Leben halten und was ihnen wichtig ist. Und vor allem gibt das Internet ihnen die Freiheit, sich offen zu allen möglichen Themen zu äußern. Schon spricht man in der Wissenschaft von einer „Netz-Demokratie“.

Nurija Fatychowa��, Tscheljabinsk

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nach unten gehen und den südlich aussehenden lastenträger fragen, ob ich auch was tragen darf. stattdessen sitze ich hier und kann mich kaum auf meinen text konzentrie-ren, suche einen ausschnitt von dowlatow, den ich schon viermal in einem Ein-mann-stück von Fillipenko gehört habe. das ist scheußlich, meine herrschaften!“

und neben den leuten mit echten problemen, im job oder im leben, gibt es dann auch solche wie die modebewusste junge dame mit dem interessanten pseudonym Эволюция весов (Evolution der Waage), die sich hauptsächlich um ihr Äußeres sorgt und das im internet zur sprache bringt: „hilfe! Was hat das solarium mit meinen beinen gemacht? iiiiiiih. so weiß war ich ja seit drei jahren nicht mehr. ist das vielleicht eine übersättigung?“ Iriskin ist schon im vierten semester und kopiert ihre Essays aus der uni in ihren blog. das thema ist immer das gleiche – die liebe. in ihrer Freizeit träumt die studentin da-von, im sommer nach spanien und portugal zu reisen und sie geht dreimal pro Woche ins Fitnessstudio. dort hatte sie ein komisches Erlebnis, das sie gleich in den Rechner tippt: „heute war an stelle von sascha plötzlich irina Wladimirowna da!!! sie war meine geschichtslehrerin in der schule. ich wäre fast umgefallen, als ich sie gesehen habe. sie hat mich auch erkannt und die ganze Zeit gelächelt. sie unterrichtet jetzt striptease, latino-tanz und Yoga. komisch. Was sie wohl von der geschichte abgebracht hat?“Eines der populärsten pseudonyme junger Frauen im russischen internet ist der name Walkiria (Walküre). und er generiert anscheinend klicks. so hat eine Valkiria666 auf www.li.ru ungefähr 300 besucher pro tag auf ihrer seite. Vermutlich experimentiert sie damit, ihre träume nachzuerzählen: „jetzt habe ich schon eine Woche lang keine märchen mehr geträumt. stattdessen von meiner mutter, meiner sterbenskranken mut-ter, die sich vor schmerzen krümmt. in meinen armen. und der Rettungswagen kommt nicht! idiotisch wie alles in diesem land… ich erwache von meinen schreien, die außer mir niemand hört.“ und noch eine andere Valkiria denkt an die letzte aktion der abgeordneten:„sie lächeln süß, schenken uns blumen und wackeln mit dem kopf zu irgendeinem un-verständlichen trash. klar, morgen wird gewählt! aber denken die denn, wir wählen sie wegen der blumen? ich habe jedenfalls meine eigenen glücksmomente. hab nämlich endlich den bauchnabelring gefunden, den ich schon so lange gesucht habe.“

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Texte wie diese liefern nicht nur Stoff für psychoanalytische Studien, sondern sie sind vor allem ein stück identität der russischen jugend. diese sieht ihr land hauptsächlich durch das prisma des persön-lichen Erlebens. und je nachdem was der autor ausdrücken will, so gestaltet er auch seinen blog – inhaltlich und graphisch. der eine benutzt schablonen, ein anderer versucht selbst kreativ zu sein. besonders die Fotos oder „ikönchen”, wie sie in der internetsprache heißen, geben einiges an Einblicken. Während junge Frauen als „ikönchen“ oft die silhouette einer reifen Frau im negligé wählen oder Fotos bekannter stars, mögen jungs eher einen dunklen hinter-grund. sie wählen helden aus der Computerwelt, oft mit gewehren oder auch vieldeutige symbole.

Auf zur Demokratie!Schon ein kurzer Ausflug in die russische Blogosphäre zeigt, dass sie zu einer unersetzlichen neuen kultur- und sozialsphäre geworden ist. heute erzählen sich die jugendlichen Witze im internet, beten mu-sikidole an, streiten über politik und philosophieren über das leben. und was ist morgen? Vielleicht können die kids das netz morgen gar nicht mehr verlassen, weil sie sich dort verwirklichen und von der virtuellen Welt abhängig geworden sind?

Big Lebovski schreibt: „hier sitze ich also und klicke mich durch die kennenlernseiten. Wissen sie, dort gibt es so viele hübsche mäd-chen. ich wüsste gerne mal, warum die alle einen mann im internet suchen? haben die denn in der echten Welt keine Chance jemanden

zu finden? Oder gibt es im wahren Leben keine echten Männer, weil sie alle in der virtuellen Welt leben? oder trauen sich vielleicht diese schönen Frauen gar nicht raus aus ihrer Computer-Welt?“und Надюшонок (nadjuschonok), eine 27-jährige managerin und mut-ter schreibt: „ich wollte mein tagebuch lesen, klicke es auf und siehe da - niemand hat mir geschrieben, es gibt keine Einträge mehr. das war es also mit dem tagebuch. Es ist vorbei, zusammengeklappt wie ein taschenmesser. aber was da alles von mir drin steht… Furchtbar!“

die blogomanie in Russland hat aber auch ihre guten seiten. so spricht man zum beispiel davon, dass eine netz-demokratie entstanden ist, die sogar schon zum thema wissenschaftlicher konferenzen wurde. das internet als perfekte plattform für politik! und was bedeutet das für die jugendlichen? die so genannte netz-demokratie eröffnet ihnen eine Realität, die sie so bisher nicht erlebt haben. sie gibt ihnen ein stück Freiheit von den „alten“, von der gesellschaft, vom staat. diese Form der unab-hängigkeit im netz wirkt sich auf jeden Fall auch positiv auf die russische demokratie aus. Für Russlands jugend ist das internet ein labor, wo sie sich in virtuellen tagebüchern eine neue Welt konstruiert und mit ihr den menschen des 21. jahrhunderts. hier versuchen die jungen leute, sich von den ihnen aufgezwungenen Vorstellungen zu befreien und individuelle und gesellschaftliche komplexe abzustreifen. sie lernen, sich zu artikulieren, tolerant zu sein und machen sich auf die suche nach dem sinn ihres lebens. Vor allem ihres lebens in Russland.

„Für Russlands Jugend ist das Internet ein Labor, wo sie sich in virtuellen Tagebüchern

eine neue Welt konstruiert und mit ihr den Menschen des ��. Jahrhunderts.“

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Er ist 16, ein „problemkind“. teilnehmer am deutsch-russischen „pfad ins leben“, einem programm zur umerziehung verhaltensauf-fälliger deutscher minderjähriger in sibirien.

als wir an der mittelschule nr. 15 von mundybasch im bezirk Taschtagol eintreffen, lungert Marco in einem schicken gestreiften anzug vor den türen der schule herum. Ein kleiner kerl mit dunkler gesichtsfarbe, sympathischem gesicht und schlips.„Wo hast du zu sein?“, fragt ihn die schuldirektorin streng.„na und? ich will was essen!“, erwidert marco, trollt sich aber folg-sam in Richtung klassenräume.15 minuten später sitzt er bereits mit uns am tisch und erzählt – teils auf Russisch, teils auf deutsch – mit expressiver italienischer gestik: „als sie mir beigebracht haben, dass ich nach sibirien fahren würde, habe ich mich gewehrt: nein! sibirien kannte ich vom Fern-sehen – das verhieß nichts gutes. kälte! schnee! dann habe ich mir überlegt, dass mir das vielleicht etwas Wichtiges geben könnte, was sich in Europa nicht findet. Angst hatte ich keine, habe aber auch nicht gedacht, dass mich nur gutes erwartet. mein hauptziel hier ist, die schule zu absolvieren. in deutschland hatte ich damit probleme, habe drei jahre nicht die schulbank gedrückt. aber ohne schulab-schluss kann ich ja keinen beruf erlernen.“„Was willst du denn werden?“, frage ich und bin verblüfft über die antwort.„tischler, Fotograf und Friseur.“„Er hat sich noch nicht festgelegt“, lacht sein mentor und übersetzer Wladimir schmidt. „Ein italiener eben! Will alles und sofort.“marco lacht ebenfalls, posiert gern für die kamera und antwortet auf Fragen zu seiner Vergangenheit, ohne sich groß zu zieren. „meine Eltern sind aus italien nach deutschland gezogen, als ich noch klein

war. dann haben sie sich scheiden lassen und mich ins kinderheim gesteckt. in vier jahren bin ich in fünf davon gewesen. das hing mir dermaßen zum halse raus! dann ist Frank aufgetaucht (Frank kröner, leiter des projektes „pfad ins leben“) und hat mir vorgeschlagen, nach sibirien zu fahren.“marco erzählt seine geschichte nur in groben Zügen. Wladimir wird sie uns genauer schildern. beide Elternteile gründeten neue Familien. die bisherigen kinder – marco und sein bruder – waren im Wege. sie landeten im kinderheim. manchmal holte die mutter marco zu sich nach hause. Ein Foto von ihr trägt marco in der brieftasche bei sich. Eine italienerin von erstaunlicher schönheit. sie schlug den sohn mit dem kopf gegen die badewanne. Ein notarztwagen musste ihn ins krankenhaus bringen. der kopf war voller narben. sibirien ist für marco die Chance, noch einmal von vorne anzufan-gen. Wenn er nach deutschland zurückkehrt, bekommt er eine kleine Wohnung, hat Frank ihm versprochen. das Erste, was marco in sibirien fand, waren Freunde. oder, um genauer zu sein, Freundinnen. Viele auf einmal und alle ein paar jahre älter als er. marco ist seine popularität bei den Einheimischen recht. aber eine Russin später zur Frau haben, das möchte er nicht. auch keine deutsche. Er sagt: „ich bin ja selbst schwarz, wie sie sehen. und ich brauche auch eine Frau mit dunklerer hautfarbe, mit schwarzen haaren. Eine spanierin, italienerin. Wie meine mutter …“natürlich hat er auch Freunde unter den jungs. mit ihnen teilt er sich die Zigaretten, von ihnen hat er ein bisschen russischen jargon aufgeschnappt, mit ihnen fährt er durch mundybasch in einem alten, blauen „kopejka“.„marco, was gefällt dir hier?“, frage ich ihn.

Die Reise des Marco Porco Wie ein junger Russe mitten in Sibirien auf einen deutschen Teenager trifft

Andrej Iwanow�6, Kemerowo

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„die leute“, antwortet er im selben atemzug. „in Russland kann man zu besuch kommen und wird garantiert bewirtet, selbst wenn es das letzte ist, was es an Essen im hause gibt. in deutschland dagegen sagt dir der gastgeber: schön, dass du gekommen bist. aber das Essen rühr’ nicht an, das ist mein Frühstück.“anfangs wohnte marco im dorf scheregesch. gleich am ersten tag fühlte sich irgendein Betrunkener verpflichtet, dem Nichtrussen die Visage zu polieren. dann wurde ihr haus dreimal ausgeraubt – aufge-brochene türen, eingeschlagene Fenster … und marco legte derweil einen garten nach deutscher manier an, mit Ziegelwegen zwischen den Beeten, hegte und pflegte Tomaten, Gurken, Mohrrüben, Kartoffeln …„Oh, das ist alles toll gewachsen“, freut sich Marco. „Die Kartoffeln hat man uns allerdings dann geklaut. Aber was soll’s, Kartoffeln sind hier billig. in scheregesch haben wir auch noch ein haus in schuss gebracht - und eine banja gebaut.“ die wiederholten diebstähle aber wurden marco zu viel. alle drei mo-nate musste er nach Riga fliegen, um sein Visum zu verlängern. Und wenn er zurückkam, war sein Zuhause zerlegt. Eines tages sagte er: „Es reicht!“ Er und Wolodja, wie er seinen betreuer liebevoll nennt, zogen nach mundybasch um. dort fand marco, wie er sagt, eine „zweite mutter“ – die schuldirektorin Walentina satejewna kabano-wa. Er nennt sie Walentina. und überhaupt spricht er alle lehrer mit „du“ und mit dem Vornamen an. Zu marco und Wladimir nach hause laufe ich über das Eis des zugefrorenen sees. ihr haus steht auf dem steilufer und ist ein ge-wöhnliches dorfhaus, mit abbröckelndem putz, niedriger decke und ohne sanitäre annehmlichkeiten. „schau“, zeigt mir marco den Weg zum klo. „das große ist meine, da habe ich alles schön gemacht.“ Er seufzt wehmütig. und plötzlich bricht es aus ihm heraus: „Was für miese klos! ich wünsche mir so sehr eine normale toilette wie in

deutschland. im Warmen.“Für die gäste opfern marco und Wolodja zu hause das letzte päck-chen Pfefferminztee „direkt aus Deutschland“. Sie berichten vom alltag im haushalt. marco schaltet musik ein – englischsprachigen hip-hop. Russische musik hört er keine. sagt, dass er die texte nicht versteht, und ohne texte mache es keinen sinn. Wladimir bringt ihm das gitarrespielen bei. gerade übt er „die Zigeunerin“ und „das tannenbäumchen friert im Winter“. Marco fotografiert auch sehr gern. Er hat ganze Stapel von Foto-grafien. Er möchte auf Zelluloid bannen, was ihn interessiert. Oder aufschreiben. Er schreibt ein buch, das er „die Reise eines italieners durch Russland“ nennt. Und hofft, dass es veröffentlicht wird. Einige momente aus dem buch erzählt er nach: „ich bin das erste mal mit dem trolleybus gefahren, in moskau. und dort sitzt ein mädchen, das semetschki isst und die schalen auf den boden spuckt.“ Für marco damals unglaublich. „marco, wirst du auch in deutschland weiter Russisch lernen?“„Wozu?“, fragt er. „kannst es doch gebrauchen.“„ach ja!“ marco hüpft auf dem stuhl herum und macht große augen. „In Deutschland geraten Russen häufig in die Hände der Polizei. Da können sie dann nichts erklären, weil sie die sprache nicht kennen. ich werde sie von der polizei loseisen – gegen geld!“Wir lachen. als wir abfahren, wird der Frost strenger. die mundybascher thermometer nähern sich minus 30 grad. marco und Wladimir wünschen uns, dass wir auf dem nachhauseweg nicht unter der kälte zu leiden haben. „und ihr? Wie haltet ihr den Frost aus?“, frage ich und erwarte eine emotionale antwort. marco zuckt mit den schultern: „der Frost? man zieht sich einfach warm an. keine große sache.“

„In Russland kann man zu Besuch kommen und wird garantiert bewirtet, selbst wenn es das Letzte ist,

was es an Essen im Hause gibt.“

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Moskaus Kulturfabrikanten im AufbruchEin alternatives Kunstprojekt führt junge Kreative zusammen

Eine gasse, ziemlich schmal. alte häuser, grau und traurig, als ob sie sich verkriechen wollten. hier ist nichts lebendig, nichts laut. Ein gebäude, dunkel, beinahe ohne jedes lebenszeichen. davor ein eisernes gitter, vielleicht drei meter hoch. auf einmal tauchen ein paar jugendliche an der Ecke auf: Flink schubst einer von ihnen den hohen Zaun auf und die Clique verschwindet im durchgang.jenseits des tores liegt ein großer hof mit dutzenden türen, die in das alte, schäbige Gemäuer führen. Fenster stehen offen, der putz bröckelt. am Eingang parken autos, daneben rauchen ein paar jugendliche und quatschen. aus einer der türen dröhnt musik und lebhaftes geplauder. herzlich willkommen in der Fabrik! ach, sie wissen noch gar nicht, was das ist? hier kann ihnen jeder erklären, was das „projekt Fabrika“ ist.die von außen düsteren hallen waren einst die papierfabrik „oktjabr“. nachdem die produktion eingestellt worden war, stand der ort eine Weile leer, bis er von seinen jetzigen besitzern entdeckt wurde. Vor etwa zwei jahren fand dann die alternative künstlerszene hier ihre heimat. die jungen Wilden kamen mit neuen ideen und zogen die projekte durch, die von manch spießigem prestige-Club zuvor als „nicht formatgerecht“ abgelehnt worden waren. die „Fabrik“ zählt sich zum underground - ein modewort, das inzwischen schon ziemlich abgenutzt ist. Es ist noch gar nicht so lange her, da galt die Fabrik als halb legaler ort. heute allerdings werden ihre Veranstaltungen in allen Zeitschriften und im internet groß angekündigt. das eiserne tor am Eingang – eine art symbol, ein „grenzübergang“, der die Ruhe liebenden nachbarn vor den krachenden partys der jugendlichen schützt.

aber was gibt’s überhaupt in der Fabrik? der zentrale schauplatz ist die aula – eine initiative von drei Veranstaltern: der tanztheateragen-tur „Zech“, des „kinoteatr.doc“ und der „avant music“.die geschichte von „Zech“ beginnt im jahr 2000, als ein paar freie Choreographen und tänzer aus moskau eine künstlervereinigung gründen. Ein jahr später wird der Verein Zech mit unterstützung der Ford Stiftung offiziell registriert und in eine nicht kommerzielle, nicht staatliche organisation umgewandelt. heute ist es ein Ziel der agentur, die freie tanzszene in Russland zu unterstützen. das „kino-teatr.doc“ vereint junge russische Regisseure, die in ihren Werken das wahre leben darstellen und eigene themen setzen. „kinoteatr.doc“ gibt es seit januar 2005. Es entstand aus einem gleichnamigen Filmfestival. „avant“ wurde zur unterstützung junger russischer musiker gegründet. die bandbreite reicht von pop, Rock und deren Experimentalschienen – post-Rock, indi-Rock, indi-Elektronik, neofolk – bis zu vielfältigen Formen der elektronischen musik. Während der drei jahre ihres bestehens organisierte „avant“ zahlreiche auftritte von musikern aus aller Welt.

das so genannte pag&aRm, eine große zweistöckige halle, ist das wohl unbekannteste Fleckchen in der Fabrik. Hier trifft man die „Feuermeister mit den wirbelnden Flammen“. sie proben ihre show: tricks mit brennenden kugeln und balancierstangen. Wer darauf brennt, kann sich in der kunst des Feuerspiels unterweisen lassen. daneben spielt einer saxophon, ein anderer macht unter dem dach, auf einem seil schwebend, Yoga. typen mit dreadlocks sind in ihre

Als in Moskau noch der Kommunismus regierte, wucherten die Fabriken und Betriebe bis mitten ins Stadtzentrum. Heute wandeln sich immer häufiger massive Industriehallen zu alternativen Kulturzentren. Wo etwa in Moskau einst Papier gewalzt wurde, proben heute Feuerspucker und zeigen Dokumentarfilmer ihre neuen Werke. Zu Besuch beim „Projekt Fabrika“.

Julia Belowa�8, Moskau

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japanischen stäbchen vertieft. man sagt, es gäbe hier auch ständige bewohner – so etwas wie eine künstler-Community. das sind sie also, die „kultur-Fabrikanten“. ihre generation versteht es, sich einen Weg zu bah-nen, sich nicht unterkriegen zu lassen von Gleichgültigkeit und Profitsucht. Sie finden Gleichge-sinnte, entdecken neue themen, verwirklichen sich selbst und verändern die Welt – wenn auch nur ein ganz kleines bisschen. sie glauben an Freundschaft und ihre eigenen möglichkeiten. hierher kommen ganz verschiedene junge leute – selbstzufriedene und ziemlich verzweifelte, fröhliche szenegänger und scheue kunstinteressierte. hören sie selbst!

Mann mit bunter Mütze: „also, die Fabrik ist so etwas wie ein tornado, der herumgewirbelt ist und sich nun gelegt hat. alle diese kreativen partikel, diese winzigen geladenen teile, die der orkan unterwegs mitgenommen hat, haben hier Fuß gefasst und sind angewachsen. das ist eine enorme kraft, wenn viele kreative menschen zusammenkommen und anfangen etwas zu tun. Die Tür ist immer offen für jeden, der versteht, wo er hinkommt.“

Jana, eine Suchende: „Warum ich hierher gekommen bin? gute Frage… Eigentlich schäme ich mich. ich arbeite in einer bank… hier bei euch sind alle so kreativ, denken sich immer irgend-etwas aus, reden über dinge, die ich nur zur hälfte verstehe. kurzum, ich habe das gefühl, auf der anderen seite zu stehen. ich hasse meinen job. jeden tag irgendwelche papiere irgendwo hintragen, immerzu das gleiche. und man darf nicht weg – das praktikum ist wichtig fürs diplom. manchmal denke ich: Es ist total doof, so zu leben. hierher hat mich meine Freundin, eine schauspielerin gebracht. Wahrscheinlich muss sich was ändern … mit mir …“

Das Märchen-Mädchen: „durch das spiel erneuert sich der organismus immer wieder. die persönlichkeit entwickelt sich in einem kreislauf vom kind zum Erwachsenen und wieder zum kind. ich glaube, die ganze gesellschaft muss diesen bogen schlagen. deshalb gibt es diese spiele, sie sind wie eine Rückkehr zu unseren Wurzeln. gerade eben haben wir uns über eine neue Aufführung Gedanken gemacht. Man muss den Menschen – unseren Zuschauern – die möglichkeit geben, sich zu entfalten. in jedem von ihnen lebt ein kind. Wenn man es zu wecken vermag, kann der Mensch etwas sehr Schönes erschaffen. Genialität ist eigentlich Freiheit. Wir lieben das spontane theater: Wenn du einfach auf die straße gehst und plötzlich anfängst zu spielen, sodass die leute gleich mitmachen. besonders das spontane ist oft viel spannender und offener als das lange Durchdachte und Ausgeklügelte. Der Fehler liegt einfach darin, dass dem menschen beigebracht wurde, er müsse etwas konkretes erreichen, und das leben sei schwer. Wenn du aber deinen Weg gehst, wenn du dir selbst gegenüber ehrlich bist, und weißt, was du willst, dann gelingt dir alles ganz einfach und gut.“

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Der Anfang. Ich bin jung. ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich denke gern über generationen nach, darüber, dass hunderttausend andere menschen, verstreut über den Erdball, oder zumindest in den grenzen eines landes, ein ähnliches lebensgefühl haben, oder sogar eine richtige botschaft für die Welt. der glaube daran hat etwas Fesselndes. du denkst – welche botschaft tragen wir wohl in uns, was müssen wir (ja genau, müssen wir!) sagen oder tun? auf jeden Fall kehrst du zurück in das jahr deiner geburt: 1984, bekannt geworden durch die düsteren prophezeiungen george orwells. und die Vertreter der jahre 1983 und 1985 – sie sind doch fast Verwandte? oder gehören sie nicht in diese generation? danach verfolgst du konsequent deinen Weg aus der Vergangenheit bis in die gegenwart: Wie war diese entfernte kindheit (mit perestro-ika und gorbatschow, den ersten Fernsehserien, lustiger kinderklei-dung), wie waren die schuljahre (als den ganzen monat über jung-pionierabende waren, als putschversuche und umstürze unbemerkt an uns vorbeigingen, wie die gesamten 90er jahre und mit ihnen die Privatisierung, Voucherisierung und sogar die Deflation). Während unsere älteren genossen für ein neues leben kämpften, in trüben Wassern erfolgreich fischten, gingen wir ungerührt zur Schule und genossen das neue leben mit schokolade, kaugummis und anderen Freuden. Wir wuchsen in einem land auf, das wir nie sahen, das für uns praktisch nicht existierte. so kam es, dass die neue Etappe in unserem leben – die studienzeit – auch ein neuer abschnitt in der geschichte unseres landes wurde. als wir das studium begannen, war Wladimir putin schon im zweiten jahr präsident. Für uns blieb diese phase abermals unbemerkt. Natürlich diskutierten wir über Politik. Der Mehrheit von uns gefielen weder die amtierenden politiker noch ihr eingeschlagener kurs. aber es gab keinen dieser momente, in denen irgendjemand gesagt

hätte: „Es hat sich etwas geändert!“ heute ist für meine Freunde und mich die Welt klarer definiert, aber die Perspektiven sind nebulös geblieben.auf eigenartige art und Weise verbindet sich die abneigung gegenü-ber der politik mit dem Wunsch nach Veränderung (nach möglichkeit zum besseren). an der universität fühlte ich mich dem „machtkampf“ sehr nahe – dem historischen, in der abteilung politologie wohlge-merkt. Es ist kein unglück, dass die mehrheit meiner mitstudenten heute nicht in ihrem eigentlichen berufsfeld arbeitet. die meisten von ihnen arbeiten im handel, und das ist wahrscheinlich gut so, denn gute händler sind besser als schlechte politiker. schade, dass sogar die besten von uns heute keine Verbindung zu der Welt haben wollen, die zu verstehen wir fünf jahre studiert haben. übrigens, selbst wenn es verboten ist, über politik nachzudenken, über sie schreiben muss man. so lernte ich die tjumener journa-listen kennen. dieser beruf, der von neugier, aufmerksamkeit und Fragestellungen lebt, ist in kombination dieser Eigenschaften sinn-bild für die jugend – und das sollte man ernst nehmen! nicht eine signifikante Neuigkeit entwischte unserer Aufmerksamkeit – immer gab es jemanden zu kritisieren, zu verspotten oder ausdrucksvoll totzuschweigen. Wir hatten und haben immer etwas zu bedauern, mit dem wir nicht zufrieden sein können. keiner meiner jungen journa-listenkollegen möchte gern den platz mit denen tauschen, über die er schreiben muss. außer dem journalismus gibt es noch einen bereich, in dem das denken und schreiben über politik (mehr noch über die heutige ge-sellschaft) möglich und sogar unabdingbar ist – in der Wissenschaft. unsere generation erwischt gerade das Ende jener Zeit, als die Welt der Wissenschaft von millionen menschen verehrt wurde und die Wissenschaftsfantasie die Erschließung des Weltalls vor augen hat-te. im 21. jahrhundert, versprach man uns, würde die Wissenschaft

Die Welt in unseren Augen

Andrej Semenow��, Tjumen

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Früchte tragen – mikro- und nanotechnologie, gentechnologie und andere Wunder. als der glaube an die Wissenschaft verloren ging, blieb der glaube an Wunder bestehen. um die geistes- und sozialwissenschaften ist es noch schlimmer bestellt: ich und einige meiner Freunde vertrauen aufrichtig ihrer kraft und der autorität der gelehrten – woran man natürlich nichts verdient. Es scheint aber, dass die heutigen abiturienten und studienanfänger nicht einmal mehr der Hochschulausbildung trauen – wie soll da die Wissenschaft Respekt finden? so sind wir – ich und die, die mich umgeben. politologen ohne politische Zukunft, journalisten ohne Redefreiheit, junge Wissenschaftler ohne Wissenschaft. Es ist ein irrtum, all jene als „junge intelligenz“ zu bezeichnen. mit drei jahrzehnten lebenserfahrung wissen wir, was das Wort „Ent-täuschung“ bedeutet, und mehr noch, dass es kaum bezauberndes gab.

Die Gegenwart ist für uns alle gleich.die mehrzahl von uns hat es zu kurzsichtigkeit gebracht, so dass wir eine brille tragen müssen, um die gegenwart klar und deutlich zu sehen. Vielleicht ist so die notwendigkeit entstanden, gründlich abzuwägen oder bis zu Ende zu denken, weil man mit schwachem augenlicht nicht weit blicken kann. im übrigen ist ein besonders scharfes sehvermögen nicht notwendig: alles, was der zeitgenössische junge mensch dringend braucht, ist mit ausgestreckter hand erreichbar – mit einer Reise oder einem telefonanruf. die gegenwart ist für uns alle gleich, unabhängig von Erfahrungen, Zielen, alter, ausbildung und karrierechancen. unsere Wirklichkeit, das sind unterhaltungszentren, kinos, bars und Clubs, Klamotten für jeden Geschmack, Elektronik nach Wahl. Wir leben in einer Welt des Überflusses, in einer Welt der überflüssigen Gegenstände. Ich weiß nicht, wie lang es diese Welt geben wird, aber sie gefällt uns allen.Wir haben viele möglichkeiten, sogar mehr, als wir uns vorstellen können. Wir dürfen wählen, zumal alles notwendige für ein „normales“ leben vorhanden ist, oder aber man muss sich anstren-gen und mehr als gewöhnlich dafür arbeiten. Wir, die über städte und länder verstreute jugend, leben und atmen die gleichen lieder und Filme, denn in jedem land der Welt sind die produkte der globalisierten Welt zugänglich. uns verbinden mittlerweile mehr dinge, als uns trennen. spra-che und distanz sind keine hindernisse mehr. die letzte hürde sind wir selbst. Unsere Gegenwart bezeichnen viele als „offener“. Wir können erreichen, was wir wollen. Eine Reise oder ein stipendium, eine ausbildung im ausland oder austauschprogramme, internationale

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Festivals und kongresse, das internet mit seinen grenzenlosen kom-munikationsmöglichkeiten über Chats, Foren und blogs. jemanden aus einem anderen Land zu finden, mit einer anderen Einstellung und einer anderen Sprache, ist eine Frage weniger Mausklicks. Alles ist offen, aber sind wir selbst es auch?Vor lauter Offenheit verschlägt es einem den Atem. Das geht bis zur starre: möglichkeiten und Wege gibt es viele, die auswahl ist riesig. nur etwas auszuwählen heißt auch, andere möglichkeiten auszu-schlagen und dazu die Verantwortung für die eigene Entscheidung zu übernehmen. diese Wahl fällt uns schwerer als alles andere. mir fällt es nicht schwer an unsere Vorgänger in der geschichte zu denken, junge leute, die nach grundlegenden Veränderungen in ihrem leben, ja im leben des ganzen staates strebten. junge Revolutio-näre, Ökologen, studenten. ihre leistungen werden unterschiedlich bewertet, aber sie hatten wenigstens etwas, wofür sie kämpften. sie hatten keine angst zu wählen, zu handeln und dafür gerade zu stehen. sind wir dazu fähig? solche Fragen stellen wir uns – und noch mehr: Wären wir in der lage, etwas Neues zu schaffen? Was würden wir wollen? Was würden wir vorschlagen? könnte man sich auf uns verlassen? Was würden wir tun? auch wenn die mehrheit von uns es nicht laut ausspricht oder nicht darüber nachdenkt: diese Fragen stellen dann andere, jüngere. auch sie werden in ein paar jahrzehnten damit fertig sein.

Anstelle eines Fazits. Die Zukunft.Häufig wird gesagt, „Die Jugend, das ist unsere Zukunft“. Warum sind wir eigentlich nicht die gegenwart, ganz einfach die gegenwart? Es

ist doch dumm, das, was ist, auf später zu verschieben. Wir gestalten die gegenwart schon jetzt und in Zukunft werden wir nur noch mehr lieder, Filme, gebäude und ganze städte, nützliche programme, meisterwerke der kunst und produkte für den massenkonsum produ-zieren. ob wir aber eine neue gesellschaft gestalten, eine gesellschaft basierend auf den Idealen Freiheit, Offenheit und Toleranz? um auf mich zurückzukommen – ich bin verwirrt. da gibt es meine stadt, mein land und dahinter die große weite Welt. Wie ich meinem land helfen kann – und ob das überhaupt notwendig ist, weiß ich nicht. ich glaube nicht, dass wir, die jugend, konkrete Vorbilder haben, denen wir folgen können. Somit sind wir zum Schaffen verdammt, die Frage ist nur, auf Basis welcher Werte wir schaffen werden. Viel einfacher ist es Verwandten, nachbarn und Freunden zu helfen, die konkrete taten fordern. Vielleicht wird sie so sein, unsere Zukunft: eine gesellschaft der gegenseitigen hilfe und solidarität. die lösung der probleme anderer, obwohl wir nicht einmal in der lage sind, unsere eigenen probleme zu lösen. schon jetzt sind wir voneinander abhängig, unsere schicksale – die einzelner menschen und die ganzer Staaten – sind ineinander verwoben. Hoffen kann man alles Mögliche. die Realität aber verpasst keine gelegenheit, einem eins auf die ohren zu geben. Wir sind noch jung, uns muss man belehren und etwas erklären. aber wer wird sich dessen annehmen? Vor allem, um zu erklären und nicht einfach die ideologische keule wieder zu schwingen. ich will nicht für alle sprechen, nicht irgendjemanden wiederholen. ich möchte vorangehen, aber aus einem mangel an tradition ist der einzige ausweg – noch einmal von vorn zu beginnen.

„Häufig wird gesagt, ,Die Jugend, das ist unsere Zukunft’. Warum sind wir eigentlich nicht die Gegenwart, ganz einfach die Gegenwart?“