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Einführung in die Literaturwissenschaft
Tutorien
• Jana Wagner
& Katrin Listemann Do 16:00-18:00
• Katrin Becker Do 8:30-10:00
• Marlen Freimuth
& Florian Stolle Mi 16:00-18:00
• Juliane Heucke
& Wolfgang Rump Di 18:00-20:00
Themenübersicht
A Literarizität
B Zeichen und Referenz
C Rhetorik
D Narration
E Autorschaft und sprachliches Handeln
F Intertextualität und Intermedialität
Šklovskij / Maupertuis
unterschiedlicher Umgang mit kulturellen Konventionen:
Bei Maupertuis geht es darum, die Sprache von Irrtümern zu reinigen und zu einer angemessenen Unterscheidungvon Wahrnehmungen und zur wahren Ordnung der Dinge, wie sie gegeben sind, zurückzukehren. Es geht um das Was(›Ich sehe einen Baum‹, ›ich sehe ein Pferd‹ usw.).
Bei Šklovskij geht es darum, kulturelle Konventionen zu unterbrechen, um die Art und Weise des Sagenshervorzuheben. Es geht um das Wie (»Kunst als Verfahren«).
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)
Sudelbücher, Heft K:»Man schreibt sehr viel jetzt über Nomenklatur und richtigeBenennungen, es ist auch ganz recht, es muß alles bearbeitetund auf das Beste gebracht werden. Nur glaube ich, daßman sich zu viel davon verspricht, und zu ängstlich ist denDingen Namen zu geben die ihre Beschaffenheit ausdrücken.Der unermeßliche Vorteil den die Sprache dem Denken bringt besteht dünkt mich darin, daß sie überhaupt Zeichen für die Sache, als daß sie Definitionen sind. [...] Das Wort soll keine Definition sein, sondern ein bloßes Zeichen für die Definition, [...] [so] daß der Denker daher gewöhnt wird sich um das Zeichen, als Definition gar nicht mehr zu bekümmern«.
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)
»Es ist unglaublich wenig was ein solches definierendes
Wort leistet. Das Wort kann doch nicht alles enthalten und also muß ich doch die Sache noch besonders kennen lernen.Das beste Wort ist das das jedermann versteht. Also sei man ja behutsam mit der Wegwerfung allgemein verstandener Wörter, und man werfe sie nicht deswegen weg weil sie einen falschen Begriff von der Sache gäben! [...] es [ist] nicht wahr, daß es mir einen falschen Begriff gibt, weil ich ja weiß und voraussetze, daß das Wort diene die Sache zu unterschei-den[.] [...] [I]ch will aus dem Wort das Wesen der Sache nicht kennenlernen.«
Ideal des 18. Jahrhunderts:
»Das beste Wort ist das das jedermann gleich versteht.«
(Lichtenberg)
Dieses Ideal gilt im 18. Jahrhundert auch für die poetische
Sprache.
Sprachkritik und Literatur
»Also sei man ja behutsam mit der Wegwerfung allgemein verstandener Wörter!« (Lichtenberg)
Diese Warnung gilt einerseits einer Position wie der Maupertuis, der den Wörtern als Definitionen mißtraut.
Diese Warnung macht andererseits den großen Unterschied deutlich, der zur modernen Position eines Šklovskij besteht.Für Šklovskij ist das Verfahren der Literatur geradezu charakterisiert durch eine »Wegwerfung allgemein verstandener Wörter«!
Herta Müller: Niederungen (1984)
Die Straßenkehrer
Die Straßenkehrer haben Dienst.
Sie kehren die Glühbirnen weg, kehren die Straßen aus der
Stadt, kehren das Wohnen aus den Häusern, kehren mir
die Gedanken aus dem Kopf, kehren mich von einem Bein
aufs andere, kehren mir die Schritte aus dem Gehen.
Die Straßenkehrer schicken mir ihre Besen nach, ihre hüpfen-
den mageren Besen. Die Schuhe klappern mir vom Leib.
Ich gehe hinter mir her, falle aus mir heraus, über den Rand
meiner Vorstellungen.
»Die Straßenkehrer« nach Šklovskij
• Wegwerfung allgemein verstandener Wörter heißt hier nicht, daß an die Stelle alter Wörter neue gesetzt würden.
• Die alten Wörter werden hier vielmehr so eingesetzt, daß sie sich auf ungewöhnliche, befremdende Weise aufeinander beziehen.
• Das »Ich«, von dem bei H. Müller die Rede ist, gerät an »den Rand meiner Vorstellungen«.
• Mit Šklovskij könnte man hier von Verfahren der Verfremdung sprechen.
Russischer Formalismus
• Absage an den unmittelbaren Sinnbezug des
dichterischen Wortes• Entblößung literarischer Verfahren
Hauptvertreter u.a.:• Viktor Šklovskij (1893-1984)• Boris Ėjchenbaum (1886-1959)• Jurij Tynjanov (1894-1943)• Roman Jakobson (1896-1982)
Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik« (1960)
»Die Sprache muß in bezug auf die ganze Vielfalt ihrer
Funktionen untersucht werden.«
»Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG.
Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS,
auf den sie sich bezieht [...]; erforderlich ist ferner ein KODE,
der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem
Empfänger [...] gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch
eines KONTAKTS, [...] der es den beiden ermöglicht, in
Kommunikation zu treten und zu bleiben.« (S. 88)
Jakobson: »Linguistik und Poetik«
Kontext
Mitteilung
Sender -----------------------------------------------------Empfänger
Kontakt
Kode
Jakobson: »Linguistik und Poetik«
Jeder sprachlichen Äußerung liegen nach Jakobson diese
sechs Komponenten zugrunde. Sie gehen mit bestimmten
sprachlichen Funktionen einher. Die Verschiedenheit von
Äußerungen ergibt sich daraus, daß sie diese
Funktionen jeweils anders gewichten.
Literatur ist für Jakobson gekennzeichnet durch ein
besonderes Mischungsverhältnis der sechs verschiedenen
sprachlichen Funktionen.
Sprachliche Funktionen nach Jakobson
Kontext (referentielle Funktion)
Mitteilung (poetische Funktion)
Sender ----------------------------------------------------Empfänger(emotive Funktion) (konative
Funktion)
Kontakt (phatische Funktion)
Kode (metasprachliche Funktion)
Sprachliche Funktionen nach Jakobson
• referentielle Funktion: Bezugnahme auf einen Kontext• emotive Funktion: bringt die Haltung des Sprechers zum
Gesprochenen zum Ausdruck (zum Beispiel in Interjektionen)
• konative Funktion: Appell an den Empfänger; läßt sich nicht in den Kategorien wahr/falsch erfassen
• phatische Funktion: zielt auf die Gewährleistung des Kontakts mit dem Empfänger (»Hallo, hören Sie mich?«)
• metasprachliche Funktion: Thematisierungen des Kodes (»Ich verstehe nicht was Sie meinen.«)
• poetische Funktion: Ausrichtung auf die Botschaft
Die poetische Funktion nach Jakobson
Vergleich der poetischen Funktion mit der referentiellen
Funktion:
Während die referentielle Funktion sich auf Kontexte einer
Mitteilung bezieht, gilt die poetische Funktion der Art der
Mitteilung selbst.
Im einen Fall geht es um das Was, im anderen Fall um das
Wie einer Botschaft (»Dichotomie der Zeichen und Objekte«).
Jede Mitteilung hat diese Dimensionen. Ihre Gewichtungen
sind aber jeweils verschieden.
Die poetische Funktion nach Jakobson
»Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Verein-fachung. Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherr-schende und strukturbestimmende und spielt in allen anderen sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle. Indem sie das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet, vertieft diese Funktion die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte.« (S. 92-93)
Die poetische Funktion nach Jakobson
Die Zweiteilung von Zeichen und Objekten wird durch die poetische Funktion vertieft, indem sie zwei grundsätzliche sprachliche Operationen hervorkehrt, die jeder verbalen Äußerung zugrundeliegen.
1. Selektion: Aus einer Vielzahl von Zeichen, die einander ähnlich sind (Prinzip der Äquivalenz), muß ausgewählt werden (z.B. Kind oder Baby oder Knirps)
2. Kombination: Die ausgewählten Zeichen müssen in eine Reihenfolge gebracht werden. Daraus ergibt sich eine Sequenz (z.B. ein Satz).
Die poetische Funktion nach Jakobson
»Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben.« (S. 94)
Das heißt: Wenn man generell einen Satz dadurch bildet, daß man aus Gruppen von einander ähnlichen/äquivalenten Worten jeweils eins auswählt und dann die ausgewählten Worte zu einem Satz kombiniert, so führt die poetische Funktion dazu, daß sich in der Abfolge des Satzes selbst Ähnlichkeiten ergeben.
Beispiel für die poetische Funktion: der Reim
Das zu Sagende zu sagen
ist dem Künstler aufgetragen.
Wahre Größe freilich zeigen
jene, die selbst dies ver
(Robert Gernhardt)
Die poetische Funktion nach Jakobson
Die poetische Funktion beschränkt sich nicht auf Literatur,
sondern sie liegt jeder sprachlichen Äußerung zugrunde,
auch den nicht literarischen – allerdings in geringerem
Maße.
Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß die poetische
Funktion deutlich akzentuiert ist. Dies geschieht, indem
›Resonanzen‹ in der Abfolge von Worten oder Zeichen
hervorgebracht werden, etwa in der Weise des Reims.
Dadurch wird der Abstand zwischen Zeichen und Objekten,
die Kluft zwischen Worten und Dingen betont.
Noch einmal: »Die Straßenkehrer«
»Die Straßenkehrer haben Dienst.
Sie kehren die Glühbirnen weg, kehren die Straßen aus der
Stadt, kehren das Wohnen aus den Häusern, kehren mir
die Gedanken aus dem Kopf, kehren mich von einem Bein
aufs andere, kehren mir die Schritte aus dem Gehen.
Die Straßenkehrer schicken mir ihre Besen nach, ihre hüpfen-
den mageren Besen. Die Schuhe klappern mir vom Leib.
Ich gehe hinter mir her, falle aus mir heraus, über den Rand
meiner Vorstellungen.«
»Die Straßenkehrer« nach Jakobson
• Durch das wiederkehrende Verb kehren werden innerhalb der Sätze und zwischen ihnen Äquivalenzen erzeugt.
• Durch die Wiederholung wird der Abstand zwischen den Worten und den Kontexten, auf die sich die Worte beziehen, vergrößert. Es geht z.B. nicht um die Darstellung ›realer‹ oder auch nur vorstellbarer Straßenkehrer.
• Die ›Straßenkehrer‹ selbst erfüllen in Herta Müllers Texte eine ›poetische Funktion‹: Sie verbinden das Lebende mit dem Toten, das Immaterielle mit dem Materiellen, das Städtische mit dem Ländlichen usw.
Jakobson und Šklovskij
Jakobson knüpft an Šklovskij an.• Es geht ihm ebenfalls um das Wie des Sagens und nicht
um das Was des Gesagten, das heißt er fragt nach Verfahren.
• Dabei strebt er eine strenge linguistische Formalisierung sprachlicher Verfahren an.
• Indem die Zweiteilung von Zeichen und Objekten vertieft wird, findet auch im Zusammenhang mit Jakobsons poetischer Funktion eine Entautomatisierung des Verstehens, eine Verfremdung stand.
Jakobson und Šklovskij
• Die strikte Trennung zwischen literarischer Sprache und praktischer Sprache wird relativiert. Beide unterscheiden sich nur graduell, indem auch an der praktischen Sprache die poetische Funktion teilhat und indem die poetische Funktion in der Literatur nur in besonders hohem Maße verwirklicht wird.
• Zugleich differenziert Jakobson deutlicher zwischen poetischen Verfahren und metasprachlichen Funktionen.
Metasprache und Literatur
• Bei Šklovskij sind metasprachliche und literarische Verfahren nicht deutlich getrennt. Wenn z.B. in Tolstois Landvermesser das Pferd darüber nachdenkt, was ›mein‹ und ›dein‹ bedeutet, so ist das für Šklovskij ein Verfahren der Verfremdung. Es ist aber zugleich eine metasprachliche Operation.
• Dagegen Jakobson: »Dichtung und Metasprache sind […] diametral entgegengesetzt: in der Metasprache dient die Sequenz zur Aufstellung einer Gleichung, in der Dichtung hingegen dient die Gleichung zum Bau einer Sequenz.«
Was die poetische Funktion NICHT ist
Die Bestimmung der poetischen Funktion geht bei
Jakobson also mit einer Reihe von Ausschlüssen einher:
• Die poetische Funktion bringt NICHT die persönliche Stimmung eines Subjekts zum Ausdruck: ≠ emotive Funktion
• Sie soll NICHT eine bestimmte Stimmung des Rezipienten erzeugen oder ihn zu etwas bewegen: ≠ konative Funktion
• Sie dient NICHT der Herstellung eines Kontakts zwischen Autor und Leser: ≠ phatische Funktion
• Sie kommentiert NICHT den Kode: ≠ metaprachliche Funktion
• Sie stellt NICHT Bezüge zu Kontexten her, sondern vertieft die Kluft zwischen Zeichen und Objekten: ≠ referentielle Funktion